Alles andere als eine Erfolgsgeschichte des Rechtsstaats
Während Opfer der NS-Militärjustiz jahrzehntelang um ihre Rehabilitierung kämpfen mussten, machten ehemalige Wehrmachtjuristen wie Richard Börker, Hans Filbinger, Ernst Mantel und Erich Schwinge in der Bundesrepublik eine zweite Karriere als Richter, Staatsanwälte, Beamte oder Dozenten.
Renommierte Historiker und Juristen rücken die Folgen der personellen Kontinuitäten für die demokratische Rechtsordnung und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen ins Bewusststein: Die Amnestie von Schreibtischtätern wurde durchgesetzt, Verfahren wegen Justizverbrechen endeten mit Freisprüchen oder wurden eingestellt. Selbst-entlastungen früherer Kriegsrichter stützten die Legende von der »sauberen« Wehr-macht, eingeschlossen die Wehrmachtjustiz. Der politische Widerstand gegen Hitler, der vor allem auf die Wiederherstellung der Geltung des Rechts gerichtet war, da-gegen galt z.B. 1956 noch immer als strafrechtlich zu ahndendes Verbrechen. Erst über 50 Jahre nach Kriegsende hob der demokratische Gesetzgeber in mehreren Anläufen – zuletzt mit der Annullierung der Norm des Kriegsverrats – sämtliche Unrechtsurteile des Hitler-Regimes auf und gab den Opfern damit ihre Würde zurück.
Hoch aktuell ist die differenzierte Auseinandersetzung mit Überlegungen zur Wieder-einführung einer Militärjustiz in der Bundesrepublik.
Über Wolfram Wette und Joachim Perels
Wette, Wolfram, Prof. Dr. phil., geboren 1940, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie, Promotion 1971 in München, Habilitation 1991 in Freiburg i. Br.; von 1971 bis 1995 Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg i. Br.; seit 1998 apl. Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung (AKHF); Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der »Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V.«.
Joachim Perels, geb. 1942, Politikwissenschaftler, seit 1971 an der Universität Hannover, seit 1983 dort Professor für Politische Wissenschaft (inzwischen emeritiert). Arbeitsgebiete: Demokratische Verfassungstheorie, Herrschaftsstruktur des Staatssozialismus, Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Nachwirkungen des NS-Systems in der Bundesrepublik Deutschland, Ahndung von Staatsverbrechen, Politische Implikationen von Theologie.Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift »Kritische Justiz«, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Fritz Bauer Instituts und Mitglied der internationalen Expertenkommission für den Ausbau der Gedenkstätte Bergen-Belsen, stellvertretender Direktor des Instituts für Föderalismusforschung.
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Mit reinem Gewissen
Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer
Herausgegeben
von Joachim Perels
und Wolfram Wette
Die zeitgeschichtliche Forschung hat in den letzten Jahren einiges Licht in die Kontinuität deutscher Funktionseliten über die Zäsur von 1945 hinaus gebracht. Vereinzelt ist auch darauf hingewiesen worden, dass Wehrmachtjuristen in der Bonner Republik eine zweite Karriere machen konnten.
Die Herausgeber haben die für sie überraschende Entdeckung gemacht, dass sich in Deutschland derzeit nicht wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mit Aspekten des Fortwirkens ehemaliger Juristen der NS-Diktatur auseinandersetzen. Den geeigneten Anlass, die Forschungen zusammenzuführen und zu einem Austausch ihrer Ergebnisse anzuregen, bot das Symposium »Der Kampf um die Vergangenheit. Das Wirken ehemaliger Wehrmachtjuristen im demokratischen Rechtsstaat aus der Sicht der Opfer«, das am 17. und 18. April 2010 im Leibniz-Haus der Universität Hannover stattfand. Es wurde veranstaltet zu Ehren des Gründers des Forums Justizgeschichte, Helmut Kramer, der die Geschichte der NS-Justiz und die Nachkriegskarrieren NS-belasteter Juristen seit Langem ins Zentrum seiner Forschungen gestellt hat und der wahrscheinlich der beste Kenner der Materie ist.
Gefördert und unterstützt wurde das Symposium von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, vom Forum Justizgeschichte e. V., von der Redaktion der Kritischen Justiz, vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., von der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, vom Arbeitskreis Historische Friedensforschung und von der Holtfort-Stiftung.
Da die Wehrmachtjustiz 1945 ihr Ende fand und nach der Gründung der Bundeswehr im Jahre 1955 keine neue Militärjustiz ins Leben gerufen wurde, vollzog sich das Weiterwirken ehemaliger Wehrmachtjuristen nicht im institutionellen Rahmen einer militärischen Sonderjustiz, sondern hauptsächlich in anderen Bereichen der bundesdeutschen Justiz.
Während der Tagung wurde die berechtigte Frage gestellt, weshalb dieses Thema nicht schon vor drei oder vier Jahrzehnten untersucht worden sei, als die ehemaligen Militärjuristen noch in hohen Ämtern des demokratischen Staates tätig waren, allen voran der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger. Ein Grund war und ist zweifellos die prekäre Quellenlage. An viele Personalunterlagen kamen die Historiker nicht oder nur schwer heran. Allerdings spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass der Einfluss der aus der NS-Zeit überkommenen Funktionselite der Militärjuristen auf die Geschichte der zweiten Republik beträchtlich war und eine kritische Beschäftigung mit der Materie behinderte.
Es hat mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, bis sich die Forschung mit der Geschichte bestimmter Funktionseliten des NS-Staates beschäftigte, und noch länger, bis eine größere Öffentlichkeit von den Resultaten Notiz nahm. Dies geschah meist erst dann, als jene Funktionseliten aus dem Amt geschieden waren. Erinnert sei an die Geschichte der Wehrmacht, an die Rolle von Historikern, Medizinern, Germanisten, von Mitarbeitern der Max-Planck-Gesellschaft und Vertretern anderer akademischer Disziplinen in der NS-Diktatur, ebenso an die Geschichte des Bundeskriminalamts, des Bundesnachrichtendienstes und neuerdings an die Geschichte des Auswärtigen Amts.
Das umfangreiche Werk von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann »Das Amt und die Vergangenheit« (München 2010) beschreibt die Rolle des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit sowie die Nachkriegskarrieren von NS-Diplomaten. Ungeachtet früherer, nur begrenzt wahrgenommener Studien wie der von Hans-Jürgen Döscher wurde mit großer öffentlicher Wirkung dargestellt, in welchem Umfang »Das Amt« durch diplomatische Abschirmung und eigenes Handeln den NS-Staat gestützt und insbesondere durch die Einwilligung in die Deportation für eine Etappe im Prozess der Vernichtung der Juden verantwortlich war. Zumindest ebenso großes Aufsehen erregte der Befund der Historiker, dass 1951, als das Auswärtige Amt wieder gegründet wurde, zwei Drittel der führenden Diplomaten ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, dass sie über ein wirkungsvolles Netzwerk verfügten, mit dessen Hilfe sie die eigenen Leute protegierten und gleichzeitig Wege fanden, externe Konkurrenten, die im Widerstand gegen Hitler gestanden hatten oder aus Deutschland emigriert waren, den Eintritt in dieses einflussreiche Ministerium zu verwehren. Weder die alliierten Siegermächte noch einige kritisch eingestellte deutsche Presseorgane noch der Deutsche Bundestag konnten verhindern, dass die Personalrekrutierung für das neue Auswärtige Amt ganz im Geiste des alten geschah und die »Ehemaligen« führende Positionen besetzten.
Konrad Adenauer, der sich ursprünglich für einen wirklichen Neuaufbau des Auswärtigen Amts eingesetzt, dann aber die Wiederverwendung der Diplomaten des Hitler-Regimes nicht verhindert, sondern gefördert hatte, ermahnte den SPD-Abgeordneten Fritz Erler im Oktober 1952 im Bundestag in bezeichnender Weise. Man solle mit der »Nazi-Riecherei« doch endlich Schluss machen, denn »wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört«. Damit artikulierte Adenauer den herrschenden Zeitgeist der frühen 1950er-Jahre. Die meisten Deutschen, allen voran die Funktionseliten Nazideutschlands, wollten von Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Belastungen fast nichts mehr hören. Die NS-Vergangenheit wurde überwiegend verdrängt.
Nach 1945 suchten Diplomaten der NS-Diktatur nach Wegen, sich in die neue Zeit hinüberzuretten. Zunächst legten sie den Mantel des Schweigens über ihre Überzeugungen und Handlungen in der Zeit des Nationalsozialismus und versuchten sich gegenseitig reinzuwaschen. Sodann entwickelten sie die Legende, das Auswärtige Amt sei »sauber« geblieben, ja, es sei geradezu ein Hort des Widerstands gewesen, zumindest heimlich. Wir haben es mit einem Konstrukt zu tun, das eine große Ähnlichkeit mit der Legende von der »sauberen« Wehrmacht aufweist, die bald nach 1945 von ehemaligen Generälen in die Welt gesetzt wurde und die, seit den 1960er-Jahren von vielen historischen Studien vor allem zum Zusammenwirken von Wehrmacht und Einsatzgruppen widerlegt, erst in den 1990er-Jahren breitenwirksam überwunden werden konnte.
Das Erscheinen des Buches »Das Amt« im Jahre 2010 wurde zum Medienereignis. Einer größeren historisch-politisch interessierten Öffentlichkeit waren die dargestellten Fakten offenbar kaum bekannt. Sie lösten bei ihr daher ein erschrockenes Staunen aus. Von wissenschaftlicher Seite wurde einerseits Lob, aber auch heftige Kritik an der Interpretation artikuliert. Offenbar hat das Werk einen Nerv getroffen. Es stellte sich der These von der Erfolgsgeschichte der Bonner Republik insbesondere deswegen entgegen, weil die Vorkehrungen der Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amts dafür gesorgt hatten, dass nationalsozialistische Verbrecher der Strafverfolgung entzogen wurden.
Die vorgelegten Studien über die Karrieren und das Wirken ehemaliger Wehrmachtjuristen in der Bundesrepublik sind ihrerseits geeignet, empirisch fundiert die ideologischen Hindernisse zu beschreiben, die sich durch die personelle Kontinuität des Justizapparats der NS-Diktatur für die Konstituierung der demokratischen Rechtsordnung ergaben.
Ungeachtet der grundlegenden Tatsache, dass der westdeutsche Staat Funktionseliten der NS-Diktatur weiter verwendete, wird die Geschichte der Bundesrepublik von vielen Zeithistorikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen überwiegend als gelungene Konstituierung einer rechtsstaatlichen Demokratie beschrieben. Ralph Dahrendorf, der 1960 eine kritische Untersuchung zur sozialen Struktur der Richterschaft veröffentlicht hatte, drückte dies in einer Rede zum Gedenken an den Widerstand des 20. Juli 1944 folgendermaßen aus: Die Entwicklung der Bundesrepublik sei gekennzeichnet durch »eine demokratische Erfolgsgeschichte, die kaum ihresgleichen hat«. Andere Autoren wie Edgar Wolfrum und Manfred G. Schmidt erklären die Bundesrepublik zu einer »geglückte[n] Demokratie«, deren Institutionen sich »sensationell erfolgreich« zu einem durchgängig rechtsstaatlichen »Machtverteilungsstaat« entwickelt hätten. Demgegenüber wurde der Begriff der Restauration, den Walter Dirks und Eugen Kogon zu Beginn der 1950er-Jahre in den »Frankfurter Heften« als Epochenbegriff zur Charakterisierung des Gewichts der einstigen Funktionseliten des Hitler-Regimes – der Wirtschaft, des Staatsapparats, der Justiz und der Universitäten – einführten, verworfen und zu einem, wie Rudolf Morsey schreibt, »destruktiven Interpretationskonzept« erklärt. Entsprechend heißt es bei Edgar Wolfrum im »Handbuch der deutschen Geschichte«, dass »in den 1950er-Jahren der Erfolgsweg zur demokratischen Gesellschaft begonnen« habe. Dabei war für diese Zeit die vielfache Blockierung der demokratischen Rechtsordnung charakteristisch, was vor allem im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen zum Ausdruck kam. Deren Verfolgung ging Anfang der 50er-Jahre stark zurück. Nach einer Auskunft des Justizministeriums gegenüber dem SPD-Abgeordneten Walter Menzel beruhte diese Tendenz zur Strafvereitelung darauf, dass man im Ministerium angesichts der Erörterungen über eine Generalamnestie für NS-Verbrechen Anfang der 1950er-Jahre »an eine Art Trend in der Öffentlichkeit [glaubte], auf die Verfolgung jener Delikte nicht mehr so Wert legen zu müssen«.
Die These von der Erfolgsgeschichte hat freilich auch ihr Recht, wenn man die Funktionsfähigkeit des Parlamentarismus, den Wechsel der politischen Leitungen in Bund und Ländern durch allgemeine und freie Wahlen, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Wahrerin der Grundrechte vor allem gegenüber der Exekutive, aber auch gegenüber einem die Grundrechtsbindung missachtenden Parlament ins Auge fasst.
Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts beruhte in der ersten Phase der Bundesrepublik wesentlich darauf, dass sich etwa die Hälfte der dort tätigen Richter während der NS-Diktatur dem Regime – sei es in der Emigration oder in Deutschland – auf unterschiedliche Weise entgegengestellt hatte. Der überwiegende Teil des Justizapparats unterschied sich jedoch vom liberaldemokratischen Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts.
Die liberaldemokratisch eingestellten Juristen im Bundesverfassungsgericht hatten ein starkes Gewicht. Das Gericht konnte, wenn auch zum Teil uneinheitlich, der zentralen verfassungsrechtlichen Festlegung, wonach alle Zweige der öffentlichen Gewalt an die Grundrechte gebunden sind (Art. 1, Abs. 3 GG), über Jahrzehnte hinweg zur Wirksamkeit verhelfen. Diese Rechtsprechung steht in direktem Gegensatz zur Aufhebung der persönlichen und politischen Freiheitsrechte durch die Reichstagsbrandverordnung der NS-Diktatur vom 28. Februar 1933, der »Verfassungsurkunde« (Fraenkel) des Dritten Reichs, auf die insbesondere die Einweisung in die Konzentrationslager gestützt wurde.
Ein großes Exempel für die Durchsetzung der Freiheitsrechte gegenüber einer autoritär werdenden Exekutive stellt das Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1961 dar. Es qualifizierte die weitgehende Aufhebung der Meinungsfreiheit durch eine von der Regierung Adenauer beherrschte Deutschland-Fernseh-GmbH als Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 5 GG und wehrte damit den politischen Angriff auf das wichtigste, die Demokratie konstituierende Grundrecht ab. Der Schutz der Grundrechte, der in vielen Entscheidungen zum Ausdruck kommt, war für die Verfassungsrichter mit der – von Rechtfertigungsinteressen ungetrübten – Erkenntnis verbunden, dass das Hitler-Regime ein rechtsstaatlich fundiertes System war. Das Gericht konstatierte in den 1950er-Jahren, im Gegensatz zur seinerzeit in der Rechtslehre und der Justiz herrschenden Sicht, dass die Beamten des Regimes eine integrale Funktion in der NS-Herrschaft innehatten. Ihre Mitwirkung in der Diktatur reichte von der Normierung antisemitischer Gesetze, der Drangsalierung der Bekennenden Kirche bis zur terroristischen Anwendung des politischen Strafrechts gegen Vertreter der Arbeiterbewegung und des bürgerlichen Widerstands. Vor diesem Hintergrund erklärten die Verfassungsrichter die Rechte der Beamten des NS-Staats mit der Kapitulation vom 8. Mai 1945 für erloschen.
Vom rechtsstaatlich-demokratischen Bezugsrahmen des Bundesverfassungsgerichts unterschied sich vielfach die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichtsbarkeit, deren Träger zu drei Vierteln aus dem Justizapparat der NS-Diktatur ins Rechtssystem der Bundesrepublik übernommen wurden. Die Folgen der Justizkontinuität und der Wiederaufstieg der einstigen rechtswissenschaftlichen Professoren sind jedoch in der Forschung über viele Jahre eher bagatellisiert als erkannt worden. Noch Horst Dreier, der im Jahre 2000 als Hauptreferent der Tagung der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer über den Gehalt und die Funktion des nationalsozialistischen Staatsrechts sprach, behauptete, es habe keine nennenswerten Nachwirkungen des NS-Rechtsdenkens im verfassungsrechtlichen Diskurs und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik gegeben. Er schloss damit an einen einflussreichen Aufsatz von Hermann Lübbe an, der 1983 in der »Historischen Zeitschrift« veröffentlicht wurde. Die Frage nach der Wirkung des Nationalsozialismus im Bewusstsein der Gegenwart beantwortete Lübbe mit der – von vielen Autoren aufgegriffenen – These, »dass die Erbschaft nationalsozialistischer Vergangenheit, die diese Republik zu tragen hatte, […] ihr nicht hinderlich gewesen« sei.
Wie wenig dies zutreffend ist, zeigen etwa Untersuchungen von Wolfgang Abendroth, Thilo Ramm und Heinrich Hannover zur Kontinuität nationalsozialistischen Rechtsdenkens im Verfassungsrecht, im Arbeitsrecht und im politischen Strafrecht. Carl Schmitts im NS-Staat besonders wirksam gewordenes Theorem, im Ausnahmezustand trete das Recht zurück, die Ordnung bliebe aber erhalten, diente der Bundesregierung bei der Einbringung des Notstandsverfassungsgesetzes im Jahre 1960 als Legitimation dafür, dass – anders als in westlichen Demokratien wie den USA – Kernprinzipien des demokratischen Rechtsstaats – wie die Sicherung der Stellung des Parlaments und der Grundrechte – im Ausnahmezustand suspendiert werden sollten. Das Ideologem von der Volksgemeinschaft, das den sozialen Gegensatz von Kapital und Arbeit aufzuheben vorgab, bildete in der frühen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Leitmotiv. Bei der Praktizierung des politischen Strafrechts von 1951 war die auf die Gesinnung anstelle der Erfüllung konkreter Tatbestände gestützte Pönalisierung politischen Verhaltens (zumeist von Kommunisten, die z. B. am 1. Mai eine rote Nelke trugen, die von der Justiz als Ausdruck von Staatsfeindlichkeit gewertet wurde), sehr verbreitet. Methodisch war die politische Justiz mit der nationalsozialistischen Strafrechtsdogmatik in mancher Beziehung vergleichbar. In der NS-Diktatur wirkte die Abwesenheit einer nationalsozialistischen Rechtsgesinnung strafbegründend, selbst wenn kein Rechtsgut verletzt wurde.
Die Problematik einer Kontinuität nationalsozialistischen Rechtsdenkens, die in den meisten Untersuchungen zur Geschichte der Bundesrepublik als bloßes Randphänomen erscheint, wird in diesem Band – auch mit der Erschließung bisher nicht zugänglicher Quellen – an einzelnen exponierten Wehrmachtjuristen, die in der Justiz und in der universitären Rechtswissenschaft tätig waren, untersucht. Die Ergebnisse, die wir vorlegen, sind bemerkenswert.
Im allgemeinen Bewusstsein wurde fast völlig verdrängt, dass sowohl die Alliierten als auch deutsche politische Kreise einen Bruch mit dem Justizapparat der NS-Diktatur anstrebten. Die Ansätze zur rechtsstaatlich-demokratischen Umgestaltung der gerichtlichen Institutionen in der ersten Nachkriegsperiode schlugen sich beispielsweise in einer frühen Äußerung Heinrich v. Brentanos nieder, des späteren Außenministers unter Adenauer und CDU-Fraktionsvorsitzenden: »Die deutsche Justiz hat zum großen Teil zu den Verbrechen des Dritten Reichs geschwiegen; sie hat zu großen Teilen die Verbrechen des Dritten Reichs gedeckt und sie hat zu großen Teilen Verbrechen begangen.« Zu dem von allen politischen Kräften – bis auf starke Kräfte in der FDP – intendierten Neubeginn gehörte der bis Anfang der 1950er-Jahre tätige Oberste Gerichtshof der Britischen Zone, dessen Rechtsprechung sich am Begriff des »gesetzlichen Unrechts« (Gustav Radbruch) orientierte.
Das Ziel einer institutionellen Abkehr vom nationalsozialistischen Justizsystem verlor erst durch eine Gegenbewegung an Bedeutung, die Ende der 1940er-Jahre vor allem von rechtswissenschaftlichen Professoren, von Beamtenverbänden und von maßgeblichen Kräften der CDU und der FDP getragen wurde. Die wichtige Rolle, die einstige Wehrmachtjuristen dabei spielten, wurde lange nicht erkannt, folgten ihre geschichtspolitischen Aktivitäten doch der These, die Wehrmacht habe – entsprechend den weitverbreiteten Memoiren von Albert Kesselring und Erich v. Manstein – mit den Massenverbrechen des NS-Systems nichts zu tun gehabt. Der Wehrmachtjustiz wurde rechtsstaatliche Distanz zur nationalsozialistischen Führung und besonders zu Hitler zugeschrieben. Kritik an der Rolle der Wehrmachtjuristen konnte sich nach 1945 kaum herausbilden, zumal auch bei den Besatzungsmächten, vor allem bei den Briten, die Auffassung verbreitet war, dass sie eine rechtlich korrekte Rolle gespielt hätten.
Wie neuere Forschungen zeigen, führte die Inkorporation von Wehrmachtjuristen in die Justiz des demokratischen Rechtsstaats dazu, dass sie zentrale Entscheidungen prägen konnten. Dabei brachten sie Elemente der juristischen NS-Doktrin, die sich an den politischen Zielen des Regimes – zumal gegen bestehende Rechtsschranken – orientiert hatten, vielfach erneut in Geltung.
Die Beiträge des Bandes beziehen sich im Wesentlichen auf drei miteinander verbundene Fragen: die Rolle der Militärjustiz in der NS-Diktatur, den Umgang mit ihr in der Bundesrepublik und der Rolle früherer Wehrmachtjuristen in der Nachkriegsperiode Westdeutschlands, verbunden mit einem kurzen Blick auf die DDR.
Im Vordergrund steht zunächst eine an rechtsstaatlichen Maßstäben orientierte Darstellung der Wehrmachtjustiz und ihrer Adepten wie der vormaligen Gerichtsherren Kesselring, Eduard Schörner und Erich v. Manstein. Der frühere Kriegsrichter Otto Peter Schweling vertrat in einer Studie die Ansicht, bei der Wehrmachtjustiz habe es sich um eine unabhängige Gerichtsbarkeit gehandelt, die sich von den politischen Zielen des Hitler-Regimes klar unterschieden habe und allein nach rechtsstaatlichen Prinzipien verfahren sei. Diese Auffassung herrschte in der Justiz und der Wissenschaft lange vor. So war es konsequent, wenn bei einer Stellenbewerbung einem Wehrmachtjuristen eine besondere Befähigung für die neu aufzubauende Justiz zugesprochen wurde und nicht wenige führende Wehrmachtjuristen in der Justiz und in rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Bundesrepublik eine zentrale Rolle zu spielen begannen.
Die Wiederverwendung von Wehrmachtjuristen führte dazu, dass die Opfer der Militärjustiz des Dritten Reichs wie oppositionelle Offiziere oder einfache Soldaten, die wegen Wehrkraftzersetzung – und das hieß die Infragestellung von Hitlers Krieg, in dem das Völkerrecht mit Füßen getreten wurde – angeklagt und meist zum Tode verurteilt wurden, unter den Bedingungen der Geltung des Völkerrechts in der Rechtsordnung der Bundesrepublik (Art. 24 GG) weiter als Verräter galten und lange Zeit keine Entschädigungszahlungen erhielten. Die machtstaatliche Struktur der Wehrmachtjustiz wurde in der Bundesrepublik vor allem unter dem Einfluss von Erich Schwinge, dem früheren Kommentator des Militärstrafgesetzbuchs und späteren Strafrechtler an der Universität Marburg, weiter wirksam. Nicht wenige Verfahren wegen Justizverbrechen und völkerrechtswidriger Handlungen der Wehrmacht endeten mit Freisprüchen bzw. der Einstellung des Verfahrens. Das Ermittlungsverfahren gegen den Generalrichter Roeder, der im Reichskriegsgericht als Untersuchungsführer gegenüber Dietrich Bonhoeffer und der Widerstandsgruppe »Rote Kapelle« fungierte, endete auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit der Einstellung des Verfahrens. Die Begründung des Lüneburger Staatsanwalts, der seit 1938 im Amt war, lautete, dass der politische Widerstand gegen Hitler, der vor allem auf die Wiederherstellung der unabdingbaren Geltung des Rechts gerichtet war, ein strafrechtlich zu ahndendes Verbrechen sei.
Die Legitimation der Militärgerichtsbarkeit des NS-Regimes wurde erst 1991 durch ein Urteil des Bundessozialgerichts beendet. Die Entscheidung rezipiert Ernst Fraenkels klassische rechtstheoretische Analyse des nationalsozialistischen Maßnahmenstaats (»Der Doppelstaat«), für den Rechtspositionen – ausgenommen das für sogenannte Arier geltende Privatrecht – keinerlei Schranken bildeten. Zugleich orientiert sich das Urteil an den bahnbrechenden historischen Forschungen Manfred Messerschmidts, der sich im vorliegenden Band mit den Opfern der Militärjustiz befasst. Messerschmidt hatte gezeigt, dass die Wehrmachtjustiz den politischen Vorgaben des Regimes folgte ungeachtet einiger Ausnahmen wie des – von Otto Gritschneder erforschten – Kampfes gegen ein geplantes Todesurteil gegen einen Halbwüchsigen.
NS-Militärjuristen entfalteten – und auch dies ist bisher kaum im öffentlichen Bewusstsein – in Schlüsselfragen der allgemeinen Rechtsentwicklung eine prägende Wirkung. Die im Buch genauer analysierte Tätigkeit der ehemaligen Wehrmachtrichter Ernst Mantel, Rudolf Börker und Werner Massengeil, die am Bundesgerichtshof und an einem Amtsgericht tätig waren, lässt sich zeigen, in welchem Maße sie an der Auflösung rechtsstaatlicher Positionen beteiligt waren.
Die Anwendung nationalsozialistischen Ausmerzungsrechts gegen Widerstandskämpfer wie Admiral Canaris und General Oster, die Anfang April 1945 in einem Schnellverfahren im Konzentrationslager Flossenbürg zum Tode verurteilt wurden, galt dem Bundesgerichtshof 1956, in dem der frühere Wehrmachtrichter Mantel als Berichterstatter fungierte, als rechtmäßig, weil man auch dem nationalsozialistischen Staat das »Recht auf Selbstbehauptung« nicht absprechen könne. Es war kein Zufall, dass die Frage, ob das SS-Gericht »gesetzliches Unrecht« (Radbruch) praktizierte, nicht aufgeworfen wurde, obgleich dies angesichts der Durchbrechung rechtsstaatlicher Verfahrensregeln – des Fehlens eines Verteidigers, des Einsatzes eines KZ-Kommandanten als Beisitzer, der kraft Amts für die Zerstörung der Freiheit der Person zuständig war – geboten war.
Für die gerichtliche Absicherung einer von der Ministerialbürokratie in einem Nebengesetz versteckten, vom Deutschen Bundestag 1968 ermöglichten Amnestie von Schreibtischtätern der SS, die in der Neufassung des § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs verborgen war, spielte der ehemalige Wehrmachtrichter Börker eine zentrale Rolle. Er war 1968/69 Berichterstatter des 5. Senats des Bundesgerichtshofs. Da die neue Norm zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen unterschied, war es möglich, die Besserstellung von Beamten des Reichssicherheitshauptamts, die massenhafte Tötungen vor allem von Juden angeordnet hatten, herbeizuführen. Tötungsbürokraten wiesen »lediglich« tatbezogene, nicht aber täterbezogene Merkmale auf. Befehlstaten konnten wegen der Verjährungsfrist von 15 Jahren nach 1960 nicht mehr verfolgt werden. Dabei wurden die für die Ingangsetzung der Tötungen Verantwortlichen gegenüber den Tatausführenden privilegiert und der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt, an den auch die Justiz gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG). Für den Berichterstatter und ehemaligen Wehrmachtrichter spielte dies jedoch keine Rolle. Entsprechend wurde der Kriminalbeamte der Sicherheitspolizei in Krakau, der die Tötung von Juden angeordnet hatte, vom Bundesgerichtshof außer Verfolgung gesetzt, obgleich eine Expertise des Generalbundesanwalts Martin vorlag. Martin hatte in einem Beitrag für die »Neue Juristische Wochenschrift« dargelegt, dass die Interpretation des neuen § 50 Abs. 2 StGB sich nach den Maßstäben des Gleichheitssatzes zu richten habe, die eine Bevorzugung derer, die Mordbefehle erteilen, ausschließt.
Eine vergleichbare Rolle wie die beiden erwähnten Richter spielte der Wehrmachtrichter und spätere Amtsgerichtsdirektor Massengeil. Er entwickelte die These, jene Richter, die als überzeugte Nationalsozialisten ihre Opfer aufs Schafott geschickt hatten, hätten keinen Vorsatz für eine Rechtsbeugung besessen, denn sie hätten mit ihrer gesetzlich festgelegten Rolle vollständig übereingestimmt. So wurde gerade der überzeugte Nationalsozialist exkulpiert. Gegen diese Argumentation, die dem grundrechtsnegierenden NS-System unter den Bedingungen der Geltung der Freiheitsrechte weiterhin Geltung zusprach, wandten sich vor allem Günter Spendel und Fritz Bauer. Die Frage der Rechtsbeugung ist nach rechtsstaatlichen Kriterien und nicht nach den Maßstäben des Systems planmäßiger Willkür zu beurteilen. Das bedeutet: Eine Beugung des Rechts auf Leben, das der NS-Staat umfassend zur Disposition stellte, das aber das Grundgesetz (Art. 2 GG) garantiert, impliziert nach den Kriterien des Rechtsstaats mindestens bedingten Vorsatz. Rechtsblindheit, die in der Übernahme der NS-Herrschaftsdoktrin besteht, schließt insofern den Vorsatz nicht aus. Doch diese Position spielte bei der durchgängigen Einstellung von Verfahren gegen NS-Richter und Staatsanwälte keine Rolle.
Über 50 Jahre nach Kriegsende hob der demokratische Gesetzgeber, beginnend im Jahre 1998, in mehreren Anläufen – zuletzt mit der Annullierung der Norm des Kriegsverrats, der auch auf Retter von Juden angewandt wurde – sämtliche Unrechtsurteile des Hitler-Regimes auf. Für viele Opfer und ihre Angehörigen kam die Entscheidung zu spät. Sie lebten nicht mehr. Gleichwohl ist die gesetzliche Entlegitimierung der NS-Justiz auch für eine kritische Analyse der Geschichte der Bundesrepublik relevant. Sie liefert rechtsstaatliche Maßstäbe für die Analyse der Justiz der frühen Bundesrepublik, die lange Jahre die Menschenwürde der Opfer der NS-Justiz missachtete, als gäbe es das Grundgesetz nicht.
Die Ausschaltung des Justizapparats der NS-Diktatur und die Außerkraftsetzung ihrer Normen war – neben vielen anderen Maßnahmen – eine Grundvoraussetzung für den demokratischen Neubeginn nach 1945. Im Vergleich zu anderen Regimewechseln bestand eine geschichtlich neue Lage. Die Transformation des wilhelminischen Obrigkeitsstaats in die Demokratie von Weimar war bekanntlich mit der Übernahme des Personals der Justiz des Kaiserreichs verbunden, die fatale Auswirkungen hatte. Die meisten Gerichte negierten, wie schon die Statistik zeigt, in politischen Strafsachen die Gleichheit vor dem Gesetz zulasten der politischen Linken.1 Aber die Justiz des Obrigkeitsstaats unterschied sich, trotz ihrer klassenpolitischen Orientierung, grundlegend von der NS-Justiz. Dies zeigt sich etwa an der Differenz der im Ersten und im Zweiten Weltkrieg von der Militärgerichtsbarkeit verhängten Todesstrafen. Im Dritten Reich waren es 19 600, nach 1914 waren es 48.2 Schon aus diesen Zahlen der durch NS-Militärjustiz verfügten exorbitanten Tötungen ist ersichtlich, dass das Problem der Auswechselung des Personals der Gerichte der NS-Diktatur eine noch tief greifendere Bedeutung hatte als nach 1918. Der Obrigkeitsstaat war eine teilweise, etwa im Verwaltungsgerichtsverfahren, rechtlich gebundene Ordnung, das NS-System war durch eine »bürokratisierte Rechtlosigkeit« (Fraenkel) bestimmt, deren Beseitigung für die Konstituierung einer rechtsstaatlichen Demokratie unabdingbar war. Folgerichtig wurde dies von Vertretern des politischen Widerstands und der Alliierten ins Zentrum gerückt.
Im politischen Widerstand steht die Aufhebung der rechtsstaatsfeindlichen NS-Normen im Vordergrund, die Auswechselung des nationalsozialistischen Justizapparats wird nur zum Teil zum Thema. Die wesentlich von der SPD, der SAP und der KPD getragene Volksfrontproklamation von 1936, die u. a. die Unterschriften von Rudolf Breitscheid, Wilhelm Pieck, Willy Brandt und Heinrich Mann trägt, zielt auf die »Aufhebung aller Ausnahme- und Terrorgesetze« und die Abschaffung der Konzentrationslager.3 Der Kreisauer Kreis fordert 1943 die »Bestrafung der Rechtsschänder […] zur Wiederaufrichtung der Herrschaft des Rechts«, dessen Verletzung »nach Art, Ausmaß und Willensrichtung schwerwiegend und verabscheuungswürdig« ist.4 Der Kerngedanke des von Johannes Popitz in Absprache mit Ludwig Beck und Ulrich v. Hassel entworfenen vorläufigen Staatsgrundgesetzes von 1943, demzufolge »die bisherige Staatsführung […] einen Zustand der Verfassungs- und Rechtlosigkeit herbeigeführt [hat]«5, wird im Aufruf der Verschwörer des 20. Juli 1944 aufgenommen: Weil »Hitler das Recht zerstört und das Glück von Millionen vernichtet hat«, ist es erforderlich, wie es in der geplanten Regierungserklärung heißt, »die Majestät des Rechts wiederaufzurichten«.6
Zu dem Neubeginn gehört – dies wird von Vertretern des Widerstands klar gesehen – die Ausschaltung des bisherigen, für das System der Rechtlosigkeit verantwortlichen Herrschaftsapparats. Die Grundsatzerklärung des Kreisauer Kreises von 1943 enthält die Forderung: »Aus wichtigen Stellungen sind alle irgendwie führenden Nationalsozialisten grundsätzlich zu entfernen.« In dem erwähnten Entwurf von Popitz ist von der »Reinigung der Beamtenschaft von ungeeigneten Personen« die Rede, die »ihr Amt mißbraucht« haben.7
Die Ausschaltung von juristischen Trägern des Regimes sollte auch durch die Ahndung von Straftaten des Staatsapparats erfolgen. In den Ausarbeitungen des Kreisauer Kreises werden die Tatbestände für die Ahndung nationalsozialistischer Staatsverbrechen im Einzelnen bestimmt. In einem Text vom Sommer 1943 heißt es unter der Überschrift »Bestrafung der Rechtsschänder«: »Es ist […] die Schaffung einer rückwirkenden deutschen Strafbestimmung nötig, welche im ordentlichen Strafrechtszuge den Rechtsschänder mit Freiheitsstrafe […] belegt.«8 Diese Regelung entspricht dem später von den Alliierten im Londoner Statut vom 8. 8. 1945 geschaffenen Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der gegeben war, wenn die Ermächtigungen der NS-Diktatur die Zerstörung zivilisatorischen Rechts legitimierten. Auch der exkulpierende Rekurs der Nazitäter auf den staatlichen Befehl wurde – wiederum in gewisser Parallele zu den späteren Normierungen der Alliierten – in weitem Maße ausgeschlossen: »Bei einer auf Befehl begangenen Rechtsschändung ist der Befehl kein Strafausschließungsgrund, es sei denn, dass es sich um eine unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben des Täters handelt […] Insbesondere ist der Befehl kein Strafausschließungsgrund, wenn der Täter durch sein Verhalten vor, bei und nach der Tat erwiesen hat, dass er den Befehl billigt.«9 In der geplanten Regierungserklärung der Verschwörer des 20. Juli wird schließlich festgelegt, dass verantwortliche Personen des Hitler-Regimes, die das Recht dadurch gebrochen haben, dass sie Straffreiheitsverfügungen für strafwürdige Handlungen durchgesetzt haben, zur Rechenschaft gezogen werden.10
Deutlicher als in der Opposition in Deutschland wird in der Programmatik der SPD im Exil die Ausschaltung des Justizapparats der NS-Diktatur ins Zentrum gerückt. Das Prager Manifest von 1934, das von Rudolf Hilferding, dem theoretischen Kopf der SPD, verfasst wurde, spielt für die Orientierung der sozialdemokratischen Widerstandstätigkeit eine wichtige Rolle. Die Forderungen des Manifests, die wenige Monate nach der Entfernung von Republikanern und Juden aus dem Staats- und Justizdienst aufgestellt werden, sind eindeutig: »Aburteilung der Staatsverbrecher, ihrer Mitschuldigen und Helfer in der […] Justiz wegen Verfassungsbruchs, Mords und Freiheitsberaubung […] Besetzung aller entscheidenden Stellen durch Vertrauensmänner der revolutionären Regierung, grundlegende Umgestaltung der Justiz durch Verstärkung des Laienelements.«11
Diese Linie findet in einem in England veröffentlichten Artikel von Wolfgang Abendroth von 1946 eine detaillierte Fortsetzung. Abendroth trat in dieser Zeit, auch in Abgrenzung zum Stalinismus, in die SPD ein, für deren führende Theoretiker wie beispielsweise Richard Löwenthal er ein wichtiger Diskussionspartner war. Zuvor hatte ihn sein in der Arbeiterbewegung verankerter politischer Widerstand gegen die NS-Diktatur vier Jahre ins Zuchthaus wegen sogenannten Hochverrats gebracht. Abendroth schrieb: »Im Dritten Reich wurde [der Richter] […] – wenige Ausnahmen bestätigen die Regel – gehorsamer Diener der nationalsozialistischen Rechtlosigkeit […] Die werdende neue Demokratie findet diese Juristenschicht vor. In ihrer Hand wäre die richterliche Unabhängigkeit eine Waffe gegen die Demokratie und ihre Träger. […] Deshalb darf diese Schicht nicht die Richter des neuen Staats stellen. […] Das Volk darf kein Vertrauen in einen Richter setzen, der Mitglied der NSDAP war, der in politischen Prozessen des Dritten Reiches tätig wurde oder in den Jahren von Weimar den Sturz der Republik vorbereiten half. Es darf auch keinem Leiter der Justizverwaltung vertrauen, der von der Notwendigkeit radikaler Säuberung des Richterstands nicht überzeugt ist. […] Mit den Schlüsselstellungen in der Justiz – den Justizministerialposten, den Präsidenten der Oberlandesgerichte und Landgerichte, den leitenden Positionen der Staatsanwaltschaft – müssen Juristen betraut werden, deren positiv demokratische Haltung durch ihre frühere politische Tätigkeit bewiesen ist, nicht aber ›unpolitische‹ Fachleute, die ihre alten Vorurteile durch formale Bedenken verdecken.«12
Die von den Alliierten nach der Kapitulation Nazideutschlands betriebene Politik der Aufhebung der NS-Herrschaft zielte insbesondere auf die Außerkraftsetzung der nationalsozialistischen Gesetze und ihres gerichtlichen Durchsetzungsapparats.
Die weitreichenden Maßnahmen, die der Kontrollrat und einzelne Besatzungsmächte ergriffen, werden erst verständlich, wenn man sie auf dem Hintergrund der großen juristischen Analysen der NS-Diktatur betrachtet, die in den USA vor allem von Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann vorgelegt wurden. Diese Arbeiten hatten, wie die im amerikanischen Außenministerium erstellten Expertisen der wesentlich von Juristen gebildeten Gruppe um Franz L. Neumann, John Herz und Otto Kirchheimer für die Deutschlandplanung der Regierung Roosevelt zeigen, einen starken politischen Einfluss auf die Erkenntnis der nationalsozialistischen Herrschaft und die Wahrnehmung der Probleme ihrer Überwindung in den Vereinigten Staaten.13 Fraenkel entwickelte in seinem 1938 abgeschlossenen, 1941 auf Englisch erschienen Buch »Der Doppelstaat«14 einen bis heute relevanten Schlüsselbegriff für das NS-System. Bis auf die Sphäre der kapitalistischen Wirtschaft, in der die Rechtsregeln des Privatrechts, allerdings nicht für Juden, gelten, die durch den sogenannten Normenstaat geschützt werden, ist die Justiz Teil des sogenannten Maßnahmenstaats, der sämtliche Rechtsgarantien von den Grundrechten bis zum Zivil- und Verwaltungsrecht zur Disposition der NS-Führung stellt. Bei Fraenkel heißt es: »Im politischen Sektor des Dritten Reichs gibt es weder ein objektives noch ein subjektives Recht, keine Rechtsgarantien, keine allgemein gültigen Verfahrensvorschriften und Zuständigkeitsbestimmungen – kurzum, kein auch die Betroffenen verpflichtendes und berechtigendes Verwaltungsrecht. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen.«15 Die Normbindung wird von der Justiz überwiegend zugunsten der politischen Vorgaben des Regimes beiseitegeschoben. Über Fraenkels Kategorie des für den politischen, nicht für den ökonomischen Sektor bestimmenden Maßnahmenstaats hinausgehend, begreift Neumann in seinem 1942 erschienen Buch »Behemoth« die NS-Herrschaft als System uneingeschränkter Rechtlosigkeit: »Das nationalsozialistische Rechtssystem ist nichts anderes als eine Technik der Manipulation der Massen durch Terror. Die Strafgerichte sind heute im Verein mit der Geheimen Staatspolizei, der Staatsanwaltschaft und den Henkern in erster Linie Praktiker der Gewalt und die Zivilgerichte sind primär Vollzugsagenten der monopolistischen Wirtschaftsverbände.«16
Die antirechtsstaatliche Struktur des NS-Systems hat viele Seiten. Sie reichen von Blankettnormen wie der Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden von 1941, die Repressionsakte ohne begrenzende Tatbestandsmerkmale direkt mit den »Staatsnotwendigkeiten« der Besatzungsdiktatur legitimiert, bis zur herrschaftskonformen Umdeutung des tradierten Hochverratstatbestands, dessen zentrales Merkmal des gewaltsamen Angriffs auf den Staat zum Verschwinden gebracht wird, um regimekritische Äußerungen oppositioneller Gruppen der Arbeiterbewegung – in Zehntausenden von Verfahren – sanktionierbar zu machen. Ein außerordentliches Exempel der Rechtszerstörung durch die Justiz ist das Resultat der von Reichjustizminister Schlegelberger einberufenen Konferenz vom April 1941 zur justiziellen Absicherung des Anstaltsmords. Die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte lassen sich dazu verpflichten, die strafrechtliche Garantie des Rechts auf Leben außer Kraft zu setzen und Klagen – Graf Galen hatte 1941 in einer Predigt Strafantrag wegen Mord gegen Verantwortliche des Regimes gestellt – niederzuschlagen. So wird die sogenannte Justizelite zum Komplizen der rechtswidrigen Tötung von über 70 000 Menschen.17
Die NS-Diktatur war kein bloß autoritäres Regime, nicht einmal eine klassische Tyrannis, die ihre Gegner bekämpft. Sie war ein System antizivilisatorischer, durch keinerlei Rechtsschranken begrenzter Gewalt, das die propagandistisch zu Feinden Erklärten – wie die psychisch Kranken, die Juden, die Roma und Sinti und andere – verfolgt und ausrottet. Die Überwindung dieses Systems sollte auf dem Feld des Rechts und der Justiz eine Form annehmen, die die Despotie von Grund auf beseitigt.
Die Voraussetzung für den strukturellen Bruch mit der NS-Herrschaft wurde dadurch geschaffen, dass die Alliierten nach der bedingungslosen Kapitulation in der Erklärung vom 6. Juni 1945 die oberste staatliche Gewalt auf legislativem, exekutivem und judikativem Gebiet übernahmen und damit die Ausübung der nationalsozialistischen Staatsgewalt beendeten. Diese Entscheidung hatte für die Überwindung des Hitler-Regimes konstitutive Bedeutung. Hans Kelsen, aus der Kölner Juristischen Fakultät 1933 unter Mithilfe von Carl Schmitt entfernt, Hochschullehrer in den USA, hat die mit der Übernahme der Staatsgewalt durch das Kondominium der Alliierten verbundene Intention klar formuliert: »Nachdem die Periode des Kondominiums beendet ist und die Souveränität Deutschlands wiederhergestellt ist, wäre Deutschland rechtlich ein neuer Staat. Es bestünde keine Kontinuität zwischen dem zerstörten Nazi-Staat und dem neuen demokratischen Deutschland. Nur als ein Gemeinwesen, das durch keine legale Verbindungen mit Nazi-Deutschland verknüpft ist, sollte das demokratische Deutschland in die internationalen Organisationen nach diesem Krieg eintreten.«18
In den auf der Übernahme der deutschen Staatsgewalt beruhenden Normierungen des alliierten Kontrollrats steht die Neuordnung des Rechtssystems im Zentrum. Bestimmend sind die Aufhebung des nationalsozialistischen Normengefüges und die daran geknüpften Sanktionen gegen die Machtträger der NS-Diktatur und die personelle Ausschaltung ihres Justizapparats. Die Dimension dieser Aufgabe hat ein britischer Besatzungsoffizier 1945 in die Worte gefasst: »Die beste Lösung [ist] die Schließung der deutschen Gerichte auf zehn Jahre […] und die zwischenzeitliche Erziehung einer neuen Richtergeneration.«19 Tatsächlich steht die Ausbildung einer durch den Nationalsozialismus nicht kompromittierten Juristenschicht in allen Besatzungszonen – und nicht nur in der SBZ – im Vordergrund.
In der amerikanischen Deutschlandplanung wird der Grundsatz des Vorrangs einer weitreichenden Entnazifizierung vor der technischen Effizienz des neuen Staatsapparats aufgestellt.20 In der Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12. 1. 1946 heißt es ausdrücklich, dass politisch zuverlässige und möglicherweise sachlich weniger geeignete Bewerber für die Justiz herangezogen werden sollen.21 Abendroth entwickelt konkrete Vorschläge für eine Umgestaltung der Justiz. Er plädiert 1946 von England aus dafür, zuverlässige demokratische Kräfte aus der Bevölkerung für Justizaufgaben auszubilden. »In mehrmonatlichen Kursen kann den erfahrenen und gereiften, besonders intellektuell begabten Menschen aus dem Volke [z. B. dem früheren Gewerkschaftsfunktionär] so viel Rechtskenntnis und juristisches Denken gelehrt werden, dass er im Bereich amtsgerichtlicher Zuständigkeit erfolgreich sein kann.« Im Blick auf die Effizienz eines neu zu bildenden Justizapparats argumentiert Abendroth ähnlich wie der Kontrollrat, dessen Haltung in der amerikanischen Deutschlandplanung vorgeformt wurde. Es sei besser, Laien heranzuziehen, »als wenn bewusst oder unbewusst auf Grund antidemokratischer Vorurteile Recht gesprochen wird«.22
Die Umgestaltung der Justiz wird von den Alliierten im Einzelnen normiert. In den »Grundsätzen für die Umgestaltung der Rechtspflege« der Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats vom 30. 10. 1945 heißt es: »Mit der Ausschaltung der Gewaltherrschaft Hitlers durch die Alliierten Mächte ist das terroristische System der Nazigerichte abgeschafft worden. An seine Stelle muss eine Rechtspflege treten, die sich auf die Errungenschaften der Demokratie, der Zivilisation und der Gerechtigkeit gründet.«23 Im Gesetz Nr. 1 vom 20. 9. 1945, im Gesetz Nr. 11 vom 30. 1. 1946 und im Gesetz vom 20. 6. 1947 werden die grundrechtsfeindlichen Normen des Hitler-Regimes aufgehoben. Außer Kraft gesetzt werden, um nur einige Beispiele zu nennen, die Reichstagsbrandverordnung vom 28. 2. 1933, die die Freiheitsrechte zur Disposition der nationalsozialistischen Staatsgewalt stellte und als Grundlage für die Einweisungen ins Konzentrationslager fungierte, das Gesetz über die Geheime Staatspolizei, das die Gestapo zur unkontrollierbaren Speerspitze des NS-Staats machte, die Nürnberger Gesetze, die die Geltung des Gleichheitssatzes zulasten der Juden beseitigten, das Heimtückegesetz, das die Einschränkung der Meinungsfreiheit legitimierte, und die Kriegssonderstrafrechtsverordnung mit ihren drakonischen Strafandrohungen für Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht.24
In der Proklamation Nr. 3 vom 30. 10. 1945 wird gefordert, dass »Verurteilungen, die unter dem Hitler-Regime ungerechtfertigterweise aus politischen, rassischen und religiösen Gründen erfolgten, aufgehoben werden«25 müssen. Dies geschieht in der amerikanischen Zone durch das »Gesetz zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege« vom 8. 5. 1946, durch das beispielsweise das Todesurteil gegen Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg, dessen Kommandant in dem Verfahren als Beisitzer fungierte, seine Gültigkeit verliert.26
Die Aufhebung der Nazi-Normen ist verbunden mit der Ausschaltung des Justizapparats der Diktatur. Im Gesetz Nr. 4 vom 30. 10. 1945 wird der Grundsatz aufgestellt, dass das deutsche Gerichtswesen »auf der Grundlage des demokratischen Prinzips, der Gesetzmäßigkeit und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied von Rasse, Staatsangehörigkeit oder Religion umgestaltetet werden muss«. Das führt zu der Konsequenz, »dass alle früheren Mitglieder der Nazi-Partei, die sich aktiv für deren Tätigkeit eingesetzt haben, und alle anderen Personen, die an den Strafmethoden des Hitler-Regimes direkten Anteil hatten, ihres Amtes als Richter und Staatsanwälte enthoben werden. Sie dürfen nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden.«27 Aus dieser Zielsetzung resultierten entsprechend der Direktive Nr. 24 vom 12. 1. 1946 zahlreiche Einzelmaßnahmen gegen jene Träger des Justizapparats, »die nationalsozialistische Verbrechen, Rasseverfolgungen und ungleichmäßige und ungerechte Behandlung gutheißen oder an solchen Taten willig teilgenommen haben«28.
Die aus ihren Stellungen entfernten Personen behalten, entsprechend der Direktive Nr. 24 vom 12. 1. 1946, keinen Anspruch auf Ruhegehälter oder andere Beamtenrechte. Die Maßnahmen, die in der Direktive auf einer Stufe mit dem Vorgehen gegen29