Editorische Notiz

Über seine Kindheit hat Erich Kästner eine wunderbare autobiographische Erzählung geschrieben – Als ich ein kleiner Junge war. Das Berlin der frühen Zwanziger Jahre hat er in einem Roman für Kinder festgehalten – Emil und die Detektive – und in einem Roman für Erwachsene – Fabian. Den Roman über die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte aber, den er eigentlich hat schreiben wollen, den müssen sich seine Leser selbst zusammenstellen – aus seinem Tagebuch Notabene 45, aus Briefen, Zeitungsartikeln, Glossen, aus »Reden und Vorreden«.

Sein ganzes Leben ließe sich auf diese Weise rekonstruieren. Erich Kästners Werk ist prall gefüllt mit autobiographischen Details. In fast allen seinen Texten erzählt er von sich und seiner Zeit – als einer der wichtigsten Chronisten des vergangenen Jahrhunderts, als humorvoller Beobachter und scharfzüngiger Mahner von nicht bremsbarer Aktualität. Ein dickes Buch ließe sich damit füllen, ein ganz dickes. Aber Erich Kästner mochte keine dicken Bücher, »schwer wie Ziegelsteine«. Seine ganze Liebe gehörte »den schmalen, handlichen Büchern mit ihrem Vorwort«. Ein solches haben Sie in der Hand. Es erzählt das Leben eines Weltfreundes in seinen Texten, ergänzt durch Beobachtungen seiner Freunde Carl Zuckmayer, Stefan Heym, Hermann Kesten und Luiselotte Enderle. So zusammengestellt, dass Sie es wie einen Roman lesen können – mit den Quellenangaben ganz am Schluss.

Martin Mühleis

Was auch immer geschieht: 1

Nie dürft ihr so tief sinken,

von dem Kakao, durch den man euch zieht,

auch noch zu trinken!

Vorwort

Erich Kästner habe ich erst sehr spät in meinem Leben so richtig kennengelernt. Das lag vielleicht daran, dass mein Vater zwar Professor für Germanistik war, die Literatur des 20. Jahrhunderts ihn aber nicht wirklich interessierte. So standen die gesammelten Werke von Schiller, Fontane und Goethe bei uns im Bücherregal, von Tucholsky hingegen fand sich nur ein Bändchen und von Erich Kästner, soweit ich mich erinnere, gar keines. Möglicherweise war das aber auch mein Glück, denn dafür ist Erich Kästner in den letzten Jahren umso stärker in mein Leben getreten, und je öfter ich ihn lese, desto besser wird er. Er kommt unaufgeregt und unaufdringlich daher, seltene Eigenschaften in unserem hastigen 21. Jahrhundert, mit freundlichem Blick, aber voll unerbittlicher Klarheit. Die Gemeinheiten, die Schwächen, der ganze Wahnsinn unserer modernen Welt werden seziert und zum Betrachten ausgelegt, ohne Zynismus, Rechthaberei oder Abscheu. Dabei hegt er eine große Zuneigung, ja Liebe zu den Menschen, vor allem zu den sogenannten »kleinen Leuten«, beschreibt die Seele, Verführungen und Wünsche ebenso wie die Abgründe, den Hass und die Unterdrückung.

Kästners müheloses Durchleuchten der schillernden Oberflächen, seine radikale Sicht jeweils auf den Kern, den Ursprung, verbunden mit einer menschlichen, wirklich lebbaren, im echten Sinne unstrengen Moral, ja, auch Ethik, fasziniert mich, macht ihn mir fast unentbehrlich. Ganz nebenbei besitzt Erich Kästner eine große sprachliche Eleganz. Seine Ausdrucksweise ist sehr reich, dabei immer verständlich, nie will er mit seinem Können angeben, will nicht blenden, sondern er bleibt seinem Thema verhaftet. In diesem Buch bekommt der Leser einen Einblick in diese Welt, einen Wanderstab sozusagen, der einen Weg weisen kann, wenn er ihm denn folgen will.

Bald zweihundert Mal stand ich in den letzten Jahren in einer Bühnenbearbeitung von Kästners autobiographischer Erzählung Als ich ein kleiner Junge war auf der Bühne, und, Hand aufs Herz, es ist mir noch nie langweilig geworden. Im Gegenteil, immer neue Einblicke haben sich aufgetan. Vom Kleinmaleins des Seins wird der nächste spannende Ausflug in Erich Kästners Welt werden. Ich würde mir wünschen, dass es Ihnen dabei geht wie mir.

Walter Sittler

I

Dresden war eine wunderbare Stadt, voller Kunst und Geschichte und trotzdem kein von sechshundertfünfzigtausend Dresdnern zufällig bewohntes Museum. Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang. Eigentlich müsste es heißen: Zweiklang. Und mit der Landschaft zusammen, mit der Elbe, den Brücken, den Wäldern und mit den Gebirgen am Horizont, ergab sich sogar ein Dreiklang. Geschichte, Kunst und Natur schwebten über Stadt und Tal, vom Meißner Dom bis zum Großsedlitzer Schlosspark, wie ein von seiner eignen Harmonie bezauberter Akkord. […] 2

Meine Eltern sind im Jahre 1895 nach Dresden gezogen. Mein Vater, der so gerne selbständiger Sattler-Meister geblieben wäre, wurde Facharbeiter. Das Maschinenzeitalter rollte wie ein Panzer über das Handwerk und die Selbständigkeit hinweg. Die Schuhfabriken besiegten die Schuhmacher, die Möbelfabriken die Tischler, die Textilfabriken die Weber, die Porzellanfabriken die Töpfer, und die Kofferfabriken die Sattler. Die Maschinen arbeiteten schneller und billiger. Schon gab es Brotfabriken und Wurstfabriken und Hutfabriken und Marmeladefabriken und Papierfabriken und Essigfabriken und Knopffabriken und saure Gurkenfabriken und tote Blumenfabriken. Die Handwerker lieferten ein zähes Rückzugsgefecht, und sie wehren sich heute noch. Es ist ein bewundernswerter, aber aussichtsloser Kampf.

In Amerika ist er schon entschieden. Zum Herrenschneider, der gründlich Maß nimmt und zwei bis drei Anproben braucht, gehen dort nur noch ein paar Millionäre. Die anderen Männer gehen rasch in ein Geschäft hinein, ziehen den alten Anzug aus und einen nagelneuen an, legen Geld auf den Tisch und stehen schon wieder auf der Straße. Es geht wie das Brezelbacken. Aber nicht wie das Brezelbacken beim Bäcker, sondern in der Brezelfabrik.

Der Fortschritt hat seine Vorteile. Man spart Zeit, und man spart Geld. Ich gehe lieber zum Maßschneider. Er kennt meinen Geschmack, ich kenne seinen Geschmack, und Herr Schmitz, der Zuschneider, kennt unsern Geschmack. Das ist umständlich, teuer und altmodisch. Aber uns drei Männern ist es recht. Und während der Anproben wird viel gelacht. Erst vorgestern war ich wieder einmal dort. Es wird ein hellblauer Sommeranzug, federleicht, das Material heißt »Fresko«, lockerer Jackensitz, zweireihig, nur ein Paar Knöpfe, der zweite Knopf innen zum Gegenknöpfen, Hosenweite über den Schuhen vierundvierzig Zentimeter, – oje! da fällt mir ja ein, dass ich zur Anprobe muss! Stattdessen sitze ich an der Schreibmaschine! Dabei gehöre ich gar nicht hierher!

So. Da bin ich wieder. Es wird ein schöner Anzug. Wir drei sind sehr zufrieden. Und wo war ich stehengeblieben? Richtig, bei meinem zukünftigen Vater. Bei Emil Kästners ausgeträumtem Traum. Der alte Spruch »Handwerk hat goldnen Boden« war nicht mehr wahr. Die eigne Werkstatt, dicht neben der Wohnung, existierte nicht mehr. Die Lehr- und Hungerjahre, die Hunger- und Wanderjahre, die drei Meister- und Kummerjahre waren vergeblich gewesen. Der Traum war aus. Das Geld war fort. Schulden mussten abgezahlt werden. Die Maschinen hatten gesiegt.

Morgens um sechs Uhr rasselte der Wecker. Eine halbe Stunde lief der junge Mann, über die Albertbrücke, quer durch Dresden bis in die Trinitatisstraße. Bis zur Kofferfabrik Lippold. Hier arbeitete er mit anderen ehemaligen Handwerkern an Lederteilen, die zu Koffern zusammengenäht und -genietet wurden, bis sie einander glichen wie ein Ei dem andern. Abends kam er müde zu seiner Frau nach Hause. Samstags brachte er die Lohntüte heim. Neue Anschaffungen, alte Schulden, das Geld reichte nicht.

Da sah sich auch Ida Kästner, geborene Augustin, nach Arbeit um. Nach einer Arbeit, die sie zu Hause tun konnte. Denn sie hasste die Fabriken, als wären es Gefängnisse. Sie fand es schon schlimm genug, dass ihr Mann in die Fabrik ging. Es war nicht zu ändern. Er hatte sich unters Joch der Maschinen beugen müssen. Aber sie? Niemals! Und wenn sie sechzehn Stunden hätte daheim schuften müssen statt acht Stunden in der Fabrik, ihr wär es recht gewesen! Und es war ihr recht.

Sie begann, für eine Firma im Stücklohn Leibbinden zu nähen. Derbe, breite, korsettähnliche Leinenbinden für dicke Frauen. Sie schleppte schwere, unförmige Pakete mit vorfabrizierten Teilen dieser Binden nach Hause. Bis spät in die Nacht hockte sie an der Nähmaschine mit Fußantrieb. Manchmal sprang der Treibriemen aus den Rädern. Oft zerbrachen die Nadeln. Es war eine Schinderei für ein paar Pfennige. Aber hundert Leibbinden brachten eben doch ein paar Mark ein. Das half ein wenig. Es war besser als nichts.

Im Spätherbst des Jahres 1898 unterbrach Ida Kästner diese Heimarbeit und nähte stattdessen Babywäsche. Immer schon hatte sie sich ein Kind gewünscht. Nie hatte sie daran gezweifelt, dass es ein kleiner Junge sein werde. Und da sie es ihr Leben lang liebte, recht zu behalten, sollte sie auch diesmal recht haben.

Am 23. Februar 1899, morgens gegen vier Uhr, nach fast siebenjähriger Ehe, brachte sie, in der Königsbrücker Straße 66, einen kleinen Jungen zur Welt, der den Kopf voller goldblonder Locken hatte. Und Frau Schröder, die resolute Hebamme, meinte anerkennend: »Das ist aber ein hübsches Kind!« […]

Ich lag in der Wiege und wuchs. Ich saß im Kinderwagen und wuchs. Ich lernte laufen und wuchs. Der Kinderwagen wurde verkauft. Die Wiege erhielt eine neue Aufgabe: Sie wurde zum Wäschekorb ernannt. Mein Vater arbeitete noch immer in Lippolds Kofferfabrik. Und meine Mutter nähte noch immer Leibbinden. Von meinem Kinderbett aus, das vorsorglicherweise mit einem Holzgitter versehen war, schaute ich ihr zu.

Sie nähte bis tief in die Nacht hinein. Und von dem singenden Geräusch der Nähmaschine wachte ich natürlich auf. Mir gefiel das so weit ganz gut. Doch meiner Mutter gefiel es gar nicht. Denn die Lebensaufgabe kleiner Kinder besteht, nach der Meinung der Eltern, darin, möglichst lange zu schlafen. Und weil der Hausarzt, Sanitätsrat Dr. med. Zimmermann aus der Radeberger Straße, derselben Ansicht war, hängte sie die Leibbinden an den Nagel. Sie stülpte den polierten Deckel über Singers Nähmaschine und beschloss kurzerhand, ein Zimmer zu vermieten.

Die Wohnung war schon klein genug, aber das Portemonnaie war noch kleiner. Ohne Nebenverdienst, erklärte sie meinem Vater, gehe es nicht. Der Papa war, wie fast immer, einverstanden. Die Möbel wurden zusammengerückt. Das leer gewordene Zimmer wurde ausstaffiert. Und an die Haustür wurde ein in Winters Papiergeschäft erworbenes Pappschild gehängt. »Schönes, sonniges Zimmer mit Frühstück ab sofort zu vermieten. Näheres bei Kästner, 3. Etage.«

Der erste Untermieter hieß Franke und war Volksschullehrer. Dass er Franke hieß, hat sich für meinen ferneren Lebensweg nicht als sonderlich wichtig erwiesen. Dass er Lehrer war, wurde für mich von größerer Bedeutung. […]

Alle fühlten sich pudelwohl. Und Herr Franke erklärte: Nie im Leben werde er ausziehen. Und nachdem er das ein paar Jahre lang erklärt hatte, zog er aus.

Er heiratete und brauchte eine eigne Wohnung. Das war zwar ein ziemlich hübscher Kündigungsgrund. Doch wir waren trotzdem alle miteinander traurig. Er zog in einen Vorort namens Trachenberge und nahm nicht nur seine Koffer mit, sondern auch sein übermütiges Lachen. Manchmal kam er noch mit Frau Franke und seinem Lachen zu Besuch. Wir hörten ihn schon lachen, wenn er ins Haus trat. Und wir hörten ihn noch lachen, wenn wir ihm und seiner Frau vom Fenster aus nachwinkten.

Als er gekündigt hatte, wollte meine Mutter das Pappschild »Schönes, sonniges Zimmer zu vermieten« wieder an die Haustür hängen. Aber er meinte, das sei höchst überflüssig. Er werde schon für einen Nachfolger sorgen. Und er sorgte dafür. Der Nachfolger war allerdings eine Nachfolgerin. Eine Französischlehrerin aus Genf. Sie lachte viel, viel weniger als er und bekam eines Tages ein Kind. Das gab einige Aufregung. Und Ärger und Verdruss gab es außerdem. Doch das gehört nicht hierher.

Mademoiselle T., die Französischlehrerin, zog bald danach mit ihrem kleinen Jungen von uns fort. Meine Mutter fuhr nach Trachenberge und erzählte Herrn Franke, dass unser schönes, sonniges Zimmer wieder leer stünde. Da lachte er und versprach ihr, diesmal besser aufzupassen. Und so schickte er uns, als nächsten Mieter, keine Nachfolgerin, sondern einen Nachfolger. Einen Lehrer? Selbstverständlich einen Lehrer! Einen Kollegen aus seiner Schule in der Schanzenstraße. Einen sehr großen, sehr blonden, sehr jungen Mann, der Paul Schurig hieß und noch bei uns wohnte, als ich das Abitur machte. Er zog mit uns um. Er bewohnte lange Zeit sogar zwei Zimmer unserer Dreizimmerwohnung, sodass für die drei Kästners nicht viel Platz übrig blieb. Doch ich durfte in seinem Wohnzimmer lesen und schreiben und Klavier üben, wenn er nicht zu Hause war. […]

Ich wuchs also mit Lehrern auf. Ich lernte sie nicht erst in der Schule kennen. Ich hatte sie zu Hause. Ich sah die blauen Schulhefte und die rote Korrekturtinte, lange bevor ich selber schreiben und Fehler machen konnte. Blaue Berge von Diktatheften, Rechenheften und Aufsatzheften. Vor Michaelis und Ostern braune Berge von Zensurheften. Und immer und überall Lesebücher, Lehrbücher, Lehrerzeitschriften, Zeitschriften für Pädagogik, Psychologie, Heimatkunde und sächsische Geschichte. […]

Wenn ein Kind lesen gelernt hat und gerne liest, erobert es eine zweite Welt, das Reich der Buchstaben. Das Land des Lesens ist ein geheimnisvoller, unendlicher Erdteil. Aus Druckerschwärze entstehen Dinge, Menschen, Geister und Götter, die man sonst nicht sehen könnte. […]

Wer lesen kann, hat ein zweites Paar Augen, und er muss nur aufpassen, dass er sich dabei das erste Paar nicht verdirbt.

Ich las und las und las. Kein Buchstabe war vor mir sicher. Ich las Bücher und Hefte, Plakate, Firmenschilder, Namensschilder, Prospekte, Gebrauchsanweisungen und Grabinschriften, Tierschutzkalender, Speisekarten, Mamas Kochbuch, Ansichtskartengrüße, Paul Schurigs Lehrerzeitschriften, die »Bunten Bilder aus dem Sachsenlande« und die klitschnassen Zeitungsfetzen, worin ich drei Stauden Kopfsalat nach Hause trug.

Ich las, als wär es Atemholen. Als wär ich sonst erstickt. Es war eine fast gefährliche Leidenschaft. Ich las, was ich verstand und was ich nicht verstand. »Das ist nichts für dich!«, sagte meine Mutter, »das verstehst du nicht!« Ich las es trotzdem. Und ich dachte: »Verstehen denn die Erwachsenen alles, was sie lesen?« Heute bin ich selber erwachsen und kann die Frage sachverständig beantworten: Auch die Erwachsenen verstehen nicht alles. Und wenn sie nur läsen, was sie verstünden, hätten die Buchdrucker und die Setzer in den Zeitungsgebäuden Kurzarbeit. […]

Und wenn mich die Leute damals fragten, wie sie es ja bei Kindern gerne tun: »Was willst du denn später einmal werden?«, antwortete ich aus Herzensgrunde: »Lehrer!« […]

Es war der größte Irrtum meines Lebens. Und er klärte sich erst auf, als es fast zu spät war. Als ich, mit siebzehn Jahren, vor einer Schulklasse stand und, da die älteren Seminaristen im Felde standen, Unterricht erteilen musste. Die Professoren, die als pädagogische Beobachter dabeisaßen, merkten nichts von meinem Irrtum und nichts davon, dass ich selber, in dieser Stunde, ihn endlich begriff und dass mir fast das Herz stehenblieb. Doch die Kinder in den Bänken, die spürten es wie ich. Sie blickten mich verwundert an. Sie antworteten brav. Sie hoben die Hand. Sie standen auf. Sie setzten sich. Es ging wie am Schnürchen. Die Professoren nickten wohlwollend. Und trotzdem war es grundverkehrt. Und die Kinder wussten es. »Der Jüngling auf dem Katheder«, dachten sie, »das ist kein Lehrer, und es wird nie ein richtiger Lehrer werden.« Und sie hatten recht.

Ich war kein Lehrer, sondern ein Lerner. Ich wollte nicht lehren, sondern lernen. Ich hatte Lehrer werden wollen, um möglichst lange ein Schüler bleiben zu können. Ich wollte Neues, immer wieder Neues aufnehmen und um keinen Preis Altes, immer wieder Altes weitergeben. Ich war hungrig, ich war kein Bäcker. Ich war wissensdurstig, ich war kein Schankwirt. Ich war ungeduldig und unruhig, ich war kein künftiger Erzieher. Denn Lehrer und Erzieher müssen ruhig und geduldig sein. Sie dürfen nicht an sich denken, sondern an die Kinder. Und sie dürfen Geduld nicht mit Bequemlichkeit verwechseln. Lehrer aus Bequemlichkeit gibt es genug. Echte, berufene, geborene Lehrer sind fast so selten wie Helden und Heilige. […]

Meine Mutter war eine einfache Frau, und sie war eine herrliche Mutter. Sie war bald fünfzig Jahre alt und hatte geschuftet und gespart, damit ich Lehrer werden könnte. Nun war es so weit. Nun fehlte nur noch ein Examen, das ich in ein paar Wochen spielend und mit Glanz bestanden haben würde. Dann konnte sie endlich aufatmen. Dann konnte sie die Hände in den Schoß legen. Dann konnte ich für mich selber sorgen. Und da sagte ich: »Ich kann nicht Lehrer werden!«

Es war in unserem großen Zimmer. Also in einer der zwei Stuben, die der Lehrer Schurig bewohnte. Paul Schurig saß schweigend auf dem grünen Sofa. Mein Vater lehnte schweigend am Kachelofen. Meine Mutter stand unter der Lampe mit dem grünen Seidenschirm und den Perlenfransen und fragte: »Was möchtest du denn tun?« »Auf einem Gymnasium das Abitur machen und dann studieren«, sagte ich. Meine Mutter dachte einen Augenblick nach. Dann lächelte sie, nickte und sagte: »Gut, mein Junge! Studiere!«

1917, als schon die ersten Klassenkameraden im Westen und Osten gefallen waren, musste ich zum Militär. 3 Ich hätte noch zwei Jahre zur Schule gehen sollen. Als der Krieg zu Ende war, kam ich herzkrank nach Hause. Meine Eltern mussten ihren neunzehnjährigen Jungen, weil er vor Atemnot keine Stufe allein steigen konnte, die Treppe hinaufschieben. Nach einem kurzen Kriegsteilnehmerkursus fing ich zu studieren an. 1919 hatte man in unserer Stadt einen sozialistischen Minister über die Brücke in die Elbe geworfen und so lange hinter ihm dreingeschossen, bis er unterging. Auch sonst flogen manchmal Kugeln durch die Gegend. Und an der Universität dauerte es geraume Zeit, bis sich die aus dem Kriege heimgekehrten Studenten politisch so beruhigt hatten, dass sie sich entschlossen, etwas zu lernen. Als sie so weit waren, stellte es sich plötzlich sehr deutlich heraus, dass Deutschland den Krieg verloren hatte: Das Geld wurde wertlos. Was die Eltern in vielen Jahren am Munde abgespart hatten, löste sich in nichts auf. Meine Heimatstadt gab mir ein Stipendium. Sehr bald konnte ich mir für das monatliche Stipendium knapp eine Schachtel Zigaretten kaufen. Ich wurde Werkstudent, das heißt, ich arbeitete in einem Büro, bekam als Lohn am Ende der Woche eine ganze Aktenmappe voll Geld und musste rennen, wenn ich mir dafür zu essen kaufen wollte. An der Straßenecke war mein Geld schon weniger wert als eben noch an der Kasse. Es gab Milliarden-, ja sogar Billionenmarkscheine. Zum Schluss reichten sie kaum für eine Straßenbahnfahrt.

Das war 1923. Studiert wurde nachts. […] Ich saß im Mantel im möblierten Zimmer und schrieb eine Seminararbeit über Schillers »Ästhetische Briefe«. Dann war die Inflation vorbei. Kaum ein anständiger Mensch hatte noch Geld. Da wurde ich, immer noch Student, kurz entschlossen Journalist und Redakteur. […]

4. 2. 23 4

Liebes Muttchen!

Ist gemacht! 200 M Anfangsgehalt. Vorläufig ein Probemonat. Also: Wenn mir’s zu viel Arbeit wird, rücke ich wieder ab. Aber ich glaube, das wird ganz gut gehen. Am Sonnabend komme ich nach Hause. […] Freust Du Dich über Deinen kleinen Redakteur?

Grüße an Papa, bes. Tante Martha! Dein Junge

23. 10. 24

Mein liebes gutes fleißiges Muttchen!

[…] Stefan Großmann, Berlin, dem ich für seine Zeitschrift »Tagebuch« ein Gedicht schickte, schrieb mir vorgestern, er fände dies Gedicht reizend, nähme es an & bäte mich, ihm jede Woche einen oder mehrere Beiträge für seine Berliner Zeitung »Montag Morgen« (sie erscheint nur montags) zu schicken. Ich hab in letzter Zeit zwei, drei solche Zuschriften erhalten; wenn das so weitergeht und die Leute anständig bezahlen, kann ich bald so weit sein, dass ich mich selbständig mache. […] Lass Dich recht lieb umarmen von Deinem kleinen Schriftsteller.

Als Ohser und ich uns in Leipzig kennenlernten, trieb die Inflation ihre letzten verrückten Papierblüten in die hektische Atmosphäre der Nachkriegszeit. 5 Er war noch ein paar Jahre jünger als ich, groß, dunkelhaarig, tapsig und voller Übermut. Er studierte an der Kunstakademie und ich an der Universität. Wir waren beide unseren Berufen entlaufen und aufs Dasein neugierig, fanden die Freiheit samt ihrem Risiko herrlich, lernten und bummelten, lachten und lebten von der Hand in den Mund. Wir glaubten getrost an unser Talent und waren sehr fleißig und sehr faul; wie es sich traf. Er zeichnete, und ich schrieb schon für Zeitungen und Zeitschriften, und sein Freund Erich Knauf, der es bereits zum Redakteur der »Plauener Volkszeitung« gebracht hatte, war unser bester Abnehmer. Dass sich seine Leser über unsere ungebärdige Modernität wunderten, kümmerte Knauf wenig. Ängstlichkeit stand nicht auf seinem Programm.

1924 wurde ich, mitten im Studium, selber Redakteur. Damit boten sich uns, in der »Neuen Leipziger Zeitung«, neue Möglichkeiten. Ohser zeichnete, und ich schrieb, was das Zeug hielt. Unser Ehrgeiz und wir selber brauchten wenig Schlaf. Noch nachts, wenn ich in der Johannisgasse 8 »Stallwache« hatte und, beim Dröhnen der Rotationsmaschinen, Spätnachrichten redigierte, hockten wir zusammen. Manchmal brachte er – aus dem Café Merkur oder, in selbstgeschneiderten Kostümen, von Faschingsbällen – andere junge Künstler und Weltverbesserer mit, und dann redigierten wir die korrekturbedürftige Menschheit: Goethe hat, in Erinnerung an seine Studentenzeit, Leipzig »ein Klein-Paris« genannt, und auch um 1925 konnte sich die Stadt der Bach- und Buchkantaten sehenlassen. Doch Krieg und Inflation hatten die Bürger übermüdet. Das Althergebrachte war ihnen neu genug. Unsere rebellische Munterkeit ging ihnen auf die Nerven. Die »Leipziger Neuesten Nachrichten«, ein konservatives Blatt und zugleich die größte mitteldeutsche Zeitung, beobachteten die junge und jugendliche Konkurrenz mit wachsendem Unbehagen und warteten darauf, dass sich eine Gelegenheit böte, uns eins auszuwischen.

Die Gelegenheit bot sich. Im Jahre 1927, noch dazu im Fasching, war bei Knauf und anschließend im Karnevalsheft der Kunstakademie, »Das blaue Herz«, mein von Ohser illustriertes Gedicht »Nachtgesang des Kammervirtuosen« erschienen. […] Ohser hatte die junge Dame und den Cellisten aufs anschaulichste dargestellt, und wir waren mit unserem gereimten und gezeichneten Scherz so weit zufrieden. Aber wir hatten nicht bedacht, dass 1927 das hundertste Todesjahr Beethovens war!

Nachtgesang des Kammervirtuosen 6

Du meine Neunte letzte Sinfonie!

Wenn du das Hemd anhast mit rosa Streifen …

Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,

Und lass mich zart in deine Seiten greifen!

Lass mich in deinen Partituren blättern.

(Sie sind voll Händel, Graun und Tremolo.)

Ich möchte dich in alle Winde schmettern,

Du meiner Sehnsucht dreigestrichnes Oh!

Komm, lass uns durch Oktavengänge schreiten!

(Das Furioso, bitte, noch einmal!)

Darf ich dich mit der linken Hand begleiten?

Doch beim Crescendo etwas mehr Pedal!

Oh deine Klangfigur! Oh die Akkorde!

Und der Synkopen rhythmischer Kontrast!

Nun senkst du deine Lider ohne Worte …

Sag einen Ton, falls du noch Töne hast!

Anmerkung: In besonders vornehmer Gesellschaft ersetze man das Wort »Hemd« durch das Wort »Kleid«.

Die »Leipziger Neuesten Nachrichten« widmeten unserer »Tempelschändung« einen geharnischten Leitartikel und attackierten nicht nur uns beide, sondern auch die »Neue Leipziger Zeitung«, die solche Frevler beschäftigte. 7 Und am nächsten Tage saßen wir, von unserem Verlagsdirektor fristlos entlassen, verdutzt auf der Straße. Da fanden wir, dass es an der Zeit sei, nach Berlin auszuwandern.