Cover

Zum Buch

Es ist eine Liebesgeschichte, um die sich viele Legenden ranken: Ingeborg Bachmann und Paul Celan lernten sich als junge, noch unbekannte Lyriker im Frühling 1948 kennen, und ihre Beziehung, die immer wieder von Phasen des Rückzugs gezeichnet war, dauerte bis Anfang der sechziger Jahre, als beide schon längst zu den bedeutendsten Dichtern der deutschen Nachkriegszeit zählten. Kaum jemand wusste von der Nähe der beiden, und sie hielten es auch in der Tat nie lange miteinander aus – zu unvereinbar der biografische Hintergrund, zu groß die gegenseitig zugefügten Verletzungen, zu sehr hatten sie ihr Leben der Dichtung verschrieben.

Der vielfach ausgezeichnete Kritiker Helmut Böttiger legt die bislang erste umfassende Darstellung der Beziehung Bachmanns und Celans vor. Eine faszinierende psychologische Studie zweier herausragender Dichter, die gemeinsam um Worte rangen, einander brauchten und doch nicht miteinander leben konnten.

Zum Autor

Helmut Böttiger, geboren 1956, ist einer der renommiertesten Literaturkritiker des Landes. Nach Studium und Promotion war er als Literaturredakteur u. a. bei der Frankfurter Rundschau tätig. Seit 2002 lebt er als freier Autor und Kritiker in Berlin und veröffentlichte u. a. Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2004) und Celan am Meer (2006). Er war Kurator der Ausstellung Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland (2009) und Verfasser des Begleitbuchs. 1996 erhielt er den Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik, 2012 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Für sein zuletzt veröffentlichtes Buch Die Gruppe 47 wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 ausgezeichnet.

HELMUT BÖTTIGER

Wir sagen uns
Dunkles

Die Liebesgeschichte
zwischen Ingeborg Bachmann
und Paul Celan

Deutsche Verlags-Anstalt

Inhalt

1 – Paulownien im Stadtpark.

Der Frühling 1948 in Wien

2 – Partisan der Poesie.

Celans Anfänge: Czernowitz und Bukarest

3 – Der Herr auf der anderen Seite des Flusses.

Bachmanns Anfänge in Klagenfurt

4 – Es ist Zeit, daß man weiß!

Der Geheimcode der Liebe

5 – Aus dem Glassturz.

Celan in Paris

6 – Das Script-Girl in der Lederjacke.

Bachmanns Wiener Medienkarriere

7 – Cool Jazz. Der Rhythmus kommt in die Worte.

Celan und Gisèle de Lestrange

8 – Wahre Tränenströme.

Die Tagung der Gruppe 47 in Niendorf, Mai 1952

9 – Im deutschen Urwald.

Bachmann, Hans Werner Henze und neue künstlerische Suchbewegungen

10 – Nackte Frauen unter Schleiern.

Celan und seine Geliebten

11 – Dura legge d’Amor!

Die Liebeseuphorie

12 – »Lass die Geschichten in Dir zugrunde gehen …«

Die Realität schlägt zu

13 – Riesenrad und Ringelspiel.

In der Literatur lebt die Sehnsucht weiter

14 – Der vergangene Herbst.

Rückblick auf das Unmögliche

Dank

Ausgewähltes Literaturverzeichnis

Bildnachweis

1

Paulownien im Stadtpark.

Der Frühling 1948 in Wien

Das Wien des Frühjahrs 1948 war ein Film in Schwarz-Weiß. Unruhig suchten die Scheinwerfer die Straßenzeilen ab. Es gab vier Besatzungsmächte, die Stadt lag direkt an der Nahtstelle verschiedener Welten – ein Wien der Agenten, der Polit- und Wirtschaftskriminellen, der großen Dealer und kleinen Schieber. Vieles war undurchsichtig. Schwer einzuschätzende Menschen aus allen Himmelsrichtungen kamen hier zusammen, sicher schien nur, dass sie alle ihre Interessen verfolgten. Wien war eine Stadt aus Trümmern und Ruinen, zwischen denen sich die Menschen wie Schemen bewegten. Eine Besonderheit bildete die sogenannte Internationale Zone, der zentrale Erste Bezirk, denn die Besatzungsmächte übernahmen hier abwechselnd die Verwaltung und Regierung. Wenn man um die Ecke bog, stand da sicher jemand mit einem grauen Mantel. Es war das Wien von Orson Welles’ Film Der dritte Mann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Massenmorden und Vertreibungen waren viele Menschen hier gestrandet, oft waren es Juden. Man nannte sie »displaced persons«. Der aus Czernowitz, vom äußersten östlichen Ende des ehemaligen Habsburgerreichs, gekommene Paul Celan zählte zu ihnen. Und in Wien traf er Ingeborg Bachmann, die eine ganz andere Art von Heimatlosigkeit hergetrieben hatte. Im Mai 1948 war sie knapp zweiundzwanzig und Paul Celan siebenundzwanzig Jahre alt, und sie hatten wenig mit den beiden mythischen Figuren gleichen Namens zu tun, die in den siebziger und achtziger Jahren die deutschsprachigen Lesebücher und Universitätsseminare beherrschen sollten. Ingeborg Bachmann und Paul Celan waren in der literarischen Öffentlichkeit noch völlig unbekannt. Sie verbrachten nur sechs Wochen gemeinsam in Wien, Celan begab sich bereits Ende Juni auf die Weiterreise nach Paris, das sein künftiger Wohnort werden sollte. Aber diese sechs Wochen sind der rätselhafte Kern ihrer Beziehung, ihr privater Mythos und der Quell unzähliger späterer Zuschreibungen.

Eine graue Vorzeit der Literaturgeschichte: das Filmplakat zu Der dritte Mann

Über die Gemeinsamkeit dieser sechs Wochen wissen wir nichts. Es handelt sich um eine graue Vorzeit der Literaturgeschichte, um ein Verhältnis, das nicht genau umrissen werden kann. Im Briefwechsel der beiden, der später beginnt und von einem spannungsvollen, manchmal auch dramatischen Auf und Ab der Gefühle gezeichnet ist, tauchen diese sechs frühen Wochen andeutungsweise im Rückblick auf, wie ein Geheimnis. Einmal schreibt Bachmann, in Erinnerung an die gemeinsamen Treffen im Wiener Stadtpark, der in der Nähe ihrer Wohnung in der Beatrixgasse liegt: »Ich werd gewiss nie mehr durch den Stadtpark gehen, ohne zu wissen, dass er die ganze Welt sein kann, und ohne wieder der kleine Fisch von damals zu werden.« Und noch fast zehn Jahre danach taucht für Bachmann immer noch als Inbild die Brücke im Wiener Stadtpark auf, »auf der wir gestanden sind, verzaubert«.

Es existierte in diesem Stadtpark etwas, das nicht nur ein flüchtiger Augenblicksreiz war: Paulownien, Bäume, die Paul Celan ob seines Vornamens wie von selbst zu sich in Beziehung setzte. In Bachmanns Roman Malina, geschrieben nach Celans Tod, heißt es in einem Traum, der nach einer bewegten Geschichte die Vergangenheit wieder einholt: »Sei ganz ruhig, denk an den Stadtpark, denk an das Blatt, denk an den Garten in Wien, an unseren Baum, die Paulownia blüht. Sofort bin ich ruhig, denn uns beiden ist es gleich ergangen.«

In welcher Weise der Stadtpark schon damals, im Mai und Juni 1948, für sie »die ganze Welt« war? Später konnten sie alles besser deuten als am Ort des Geschehens selbst, da war vieles offener, widersprüchlicher, spielerischer. Es gibt einen Brief Ingeborg Bachmanns an ihre Eltern vom 17. Mai 1948, der in seinem lockeren, durchaus auch koketten Ton überrascht: »Gestern noch unruhige Besuche bei Dr. Löcker, Ilse Aichinger, Edgar Jené (surrealistischer Maler), wo es sehr nett war und ich den bekannten Lyriker Paul Celan etwas ins Auge fasste.« Und drei Tage später schrieb sie, wieder an die Eltern: »Heute hat sich noch etwas ereignet. Der surrealistische Lyriker Paul Celan, den ich bei dem Maler Jené am vorletzten Abend mit Weigel noch kennenlernte und der sehr faszinierend ist, hat sich herrlicherweise in mich verliebt, und das gibt mir bei meiner öden Arbeiterei doch etwas Würze. Leider muss er in einem Monat nach Paris. Mein Zimmer ist momentan ein Mohnfeld, da er mich mit dieser Blumensorte zu überschütten beliebt.«

Dieses Mohnfeld war mehr als ein bloßes Ornament. Der Mohn steht für alle möglichen Spielarten des Vergessens und ist für Celan ein zentrales Motiv. Er findet sich gleich im Titel seines offiziell ersten Gedichtbands Mohn und Gedächtnis aus dem Jahr 1952, und die Zeile »Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis« stammt aus dem Gedicht »Corona«, das 1948 in Wien geschrieben worden ist. Es hat erkennbar etwas mit der Beziehung zu Ingeborg Bachmann zu tun, lässt aber einigen Raum für Interpretationen. Mohn und Gedächtnis – das ist eine Einheit von Gegensätzen, und es schwingen darin auf jeden Fall auch die Gegensätze mit, die es zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan gab.

Ingeborg Bachmann war es im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit gelungen, von ihrem provinziellen Umfeld in Klagenfurt über Innsbruck und Graz für ihr Studium in die Metropole Wien vorzudringen. Die österreichische Hauptstadt war von Anfang an ihr Ziel und versprach eine geistige Weite, nach der sie sich schon früh gesehnt hatte: Ihre frühen Schreibversuche, von denen einige erhalten sind, künden allesamt davon. In der Literatur verhieß Wien eine Öffnung – gerade für eine Maturantin, deren Schulabschluss fast genau mit dem Kriegsende zusammenfiel. Germanistik belegte Ingeborg Bachmann allerdings, zusammen mit Psychologie, nur als Nebenfach, das Gedichteschreiben begriff sie früh als eine äußerst intime Angelegenheit. Ihr Hauptfach war ab dem Wiener Wintersemester 1946 / 47 Philosophie. Hier stürzte sie sich in die verschiedensten Fragestellungen. Ihr wichtigster Professor war zunächst Alois Dempf, der von der Theologie her kam, und auch die Existenzphilosophie Martin Heideggers interessierte sie. Zudem versuchte sie, sich in der literarischen Szene Wiens umzutun. Dass sie im Mai 1948 dann bei dem arrivierten »surrealistischen Maler« Edgar Jené verkehrte, zeigt, dass ihr das ziemlich schnell gelungen war. Auf den Fotos dieser Zeit sieht sie recht selbstbewusst aus, nicht unbedingt wie ein ängstliches Mädchen aus der Provinz, sondern wie eine, die weiß, was sie will. Sie war zwar auf den ersten Blick nicht von landläufiger Schönheit, keine, die durch ihr Äußeres sofort auffiel. Aber sie war stolz auf ihre Zähne: Sie waren immer strahlend weiß. Dass etwas Besonderes an Ingeborg Bachmann war, sah man vor allem an ihren Augen. Und ihr war das bewusst – viele, die sie kannten, erinnern sich daran. Sie verzichtete auch in späteren Jahren oft darauf, ihre Brille mit der hohen Dioptrienzahl aufzusetzen.

Paul Celans Weg nach Wien war ein gänzlich anderer als der Bachmanns, die Verwandte in der Stadt hatte. Celans Eltern waren in einem ukrainischen Straflager umgebracht worden. Als seine Heimatstadt Czernowitz auf unabsehbare Zeit sowjetisch geworden war, schlug er sich in die rumänische Hauptstadt Bukarest durch. Und als auch dort der Stalinismus übermächtig wurde, versuchte er, sich auf den Weg nach Wien zu machen. Der wochenlange Fußmarsch in die österreichische Hauptstadt war lebensgefährlich, viele rumänische Juden, die wie er zu diesem Zeitpunkt fliehen wollten, wurden an der Grenze zu Ungarn festgenommen oder erschossen. Celan suchte den Kontakt zu ungarischen Fluchthelfern, die ihn gegen Geld Richtung Budapest lotsten. Am 17. Dezember 1947 erreichte er schließlich Wien, als einer der unzähligen Versprengten, die in Europa unterwegs waren. Celan verbrachte einige Tage in einem Lager in der Arzbergerstraße, bevor er in der Pension Pohl in der Rathausgasse unterschlüpfte.

Der Celan jener Wochen kommt in einem Kriminalroman vor, den seine Freunde Milo Dor und Reinhard Federmann 1954 geschrieben haben. Trotz des fiktiven Charakters des Buches, das Internationale Zone heißt, ist es ein atmosphärisch wichtiges Zeugnis. Die Autoren gehen sehr realistisch vor, sie trauen vor allem ihrem Augenschein. Und zwischen all den Freddies, Kubarews und Kostoffs, Schmugglern und Kriminellen, taucht eine Figur auf, die Petre Margul heißt und ein unverkennbares Vorbild hat: »Petre Margul, Flüchtling, Journalist und Dichter, strolchte verloren über die abendliche Ringstraße. Um diese Stunden verließen Tausende Angestellte, kleine Verkäuferinnen und Stenotypistinnen ihre Büros und Läden, die Straße war voll eilig wehender Sommerkleider, Geschwätz, Gelächter und klappernder Schuhe. Ein Hauch von der kindlichen Freude des Schulschlusses flog über die Gehsteige. Es war das wiedergewonnene Leben nach einem heißen Tag; ein Leben, das Petre Margul nichts anging. Er war hungrig und verzweifelt. Die letzte Dollarreserve, die er unter Lebensgefahr auf der Flucht aus Rumänien herübergeschmuggelt hatte, war vor drei Tagen zu Ende gegangen. Seitdem hatte er in der Pension, in der er wohnte, nur mehr gefrühstückt. Aber morgen musste er zahlen.«

»Der Wirklichkeit eine traumhafte Perspektive geben«: Paul Celan in Wien, 1948

Der Serbe Milo Dor war Celan durch die gemeinsame osteuropäische, slawische Herkunft verbunden, und die Beschreibung jenes Petre Margul, jenes Celan zum Verwechseln ähnelnden aus Rumänien geflohenen Mannes, ist die Beschreibung eines Freundes – sie zeigt einen Dichter, der sich etwas weltfern im Milieu der Schmuggler und Schieber wiederfindet und sich darin durchschlagen muss. Vieles gerät durcheinander in diesen Jahren, die Verhältnisse verschieben sich, und die Biographien bekommen eine Dynamik, die unvorhersehbar gewesen ist. Celans Erfahrungen hatten mit denjenigen Ingeborg Bachmanns fast nichts zu tun.

Es ist bei alldem erstaunlich, wie schnell Celan in der literarischen Szene Wiens Fuß fasste. Wenn Ingeborg Bachmann nach ihrer ersten Begegnung von ihm als von einem »bekannten Lyriker« spricht, wirft das ein Licht darauf, wie der fremde, aus dem fernen Czernowitz nach Wien gelangte Celan wahrgenommen wurde. Mit einer Empfehlung Alfred Margul-Sperbers, des Doyens deutschsprachiger Literatur in Bukarest, suchte er nach seiner Ankunft in Wien noch im Dezember 1947 die Redaktion des Plan auf, am Opernring 19 im ersten Stock. Und der Redakteur dieser Avantgardezeitschrift, Otto Basil, sah für das Januarheft 1948 dann gleich siebzehn Gedichte von Celan vor. Kaum war Celan also in Wien angelangt, erfolgte bereits ein prominenter Auftritt in der dortigen Öffentlichkeit. Der Plan hatte seine Redaktion direkt über der Agathon-Galerie, und dort freundete sich Celan mit dem surrealistischen Maler Edgar Jené an. Celans lyrische Verträumtheit und Ernsthaftigkeit, seine gesamte Ausstrahlung erregten Aufsehen. Man sieht noch deutliche Spuren davon an der Figur des Petre Margul, die Milo Dor und Reinhard Federmann in ihrem Roman auftreten lassen: »Petre Margul lehnte sich bequem zurück und schloss halb die Augen. Seit seiner Kindheit war es eine seiner Lieblingsgewohnheiten, Dinge, deren Anblick er genießen wollte, durch die Wimpern zu betrachten. Das hieß der Wirklichkeit eine traumhafte Perspektive zu geben.«

Celan war sofort mittendrin. Er nahm sogar an einer Ausstellung teil, die am 24. März 1948 in der Agathon-Galerie eröffnet wurde und sich »1. Surrealistische Ausstellung in Wien« nannte, und er beteiligte sich ausdrücklich als bildender Künstler. In der Rezension der Österreichischen Zeitung, die der Künstler Arnulf Neuwirth schrieb, schnitt Celan, der allgemein als Dichter bestaunt wurde, allerdings schlecht ab: »Über Paul Celans Abstecher (soll man die mit zwei Reißnägeln auf ein Blatt Papier genagelte Augenmaske als Werk bezeichnen?) wollen wir hinwegsehen.« Die Episode zeigt immerhin, wie Celan in Wien integriert wurde. Kurz nach der Ausstellungseröffnung der Wiener Surrealisten, am 3. April 1948, fand auch eine Lesung Celans in der Agathon-Galerie statt, im Rahmen einer Veranstaltung mit surrealistischer Lyrik. Die befreundeten Wiener Künstler suchten sogar nach Geldgebern, um einen Gedichtband von ihm zu finanzieren, und sein Band Der Sand aus den Urnen erschien dann tatsächlich im Verlag von A. Sexl, nachdem der Dichter im Sommer nach Paris übergesiedelt war. Wegen etlicher Druckfehler und allzu kitschiger Illustrationen ließ Celan das Buch jedoch bald einstampfen; Der Sand aus den Urnen gilt deshalb offiziell nicht als sein Debüt.

Auch Ingeborg Bachmann wollte mittendrin sein. Neben dem Philosophiestudium setzte sie ihre literarischen Versuche fort, und der wahrscheinlichste Weg des Erfolgs, das muss sie rasch erkannt haben, führte über Hans Weigel. Der Wiener Jude, der von 1938 bis 1945 in die Schweiz emigriert war, kehrte sofort nach Kriegsende zurück und wurde zu einem entscheidenden Strippenzieher im Literaturbetrieb. Der Kreis von Autoren, den Weigel im Café Raimund um sich scharte, hatte einen dezidiert »jungen« Charakter, es ging um Bewegung, um etwas Neues, und Weigel betonte dabei entschieden den literarischen und unpolitischen Impetus – wobei die Schnittmenge zwischen »unpolitisch« und »antikommunistisch« in dieser Zeit relativ groß war. Als umtriebiger Literatur-Magnat war er in der Lage, Veröffentlichungsmöglichkeiten und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Von 1951 bis 1956 gab er den einflussreichen jährlichen Almanach Stimmen der Gegenwart heraus, in dem er »im Auftrag der Gesellschaft für Freiheit der Kultur« meist noch unbekannte Autoren vorstellte, aber er bewegte sich auf mehreren Bühnen gleichzeitig. Am 5. September 1947 fand die Premiere der von Weigel verantworteten Revue Seitensprünge im Theater in der Josephstadt statt. Vor der Aufführung bat ihn eine schüchtern wirkende, aus Kärnten stammende und sich als Journalistin ausgebende Studentin um ein Interview, das nie erschien. Dies war der Beginn der intimen Beziehung zwischen Weigel und Ingeborg Bachmann. Sie scheint das Milieu ihrer ersten Wiener Monate genau studiert zu haben. Das Thema der »Seitensprünge«, wie der Titel jener Revue lautete, prägte das Verhältnis zwischen Weigel und Bachmann bis zum absehbaren Schluss.

Ingeborg Bachmann 1945, im ersten Semester

Als sich Ingeborg Bachmann und Paul Celan am Abend des 16. Mai 1948 kennenlernten, war er also ein bereits viel bestaunter Lyriker und sie die Geliebte eines einflussreichen Literaturfunktionärs – der sich allerdings zu diesem Zeitpunkt gerade für ein Stipendium nach New York aufmachte. Dass sie Celan »etwas ins Auge fasste«, hatte sicher mit seiner ganz spezifischen poetischen Aura zu tun, einer Phantasmagorie des verschwundenen Habsburgerreichs, einem verloren gegangenen Charme. In den lyrischen Texten Ingeborg Bachmanns aus dieser Zeit spürt man eine Sehnsucht, die dem entsprach. Ihre erste Veröffentlichung in Wien waren vier Gedichte, die im Frühjahr 1948 in der ersten Nummer der Zeitschrift Lynkeus. Dichtung Kunst Kritik erschienen. Sie trugen keinen Titel, sie schlugen einen anderen Ton an als den leichtfüßigen in den Briefen an die Eltern. Sie bewegten sich in einer lyrischen Tradition, die etwas Schwerblütiges, Jugendlich-Hofmannsthal’sches als Leitlinie hatte:

Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,

wir kommen ungefragt und müssen weichen.

Doch dass wir sprechen und uns nicht verstehen

und keinen Augenblick des anderen Hand erreichen,

zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.

Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,

und das Verlangen, tief uns anzusehen,

durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.

An das Vergänglichkeits-Motiv Hofmannsthals, an den Gestus des wissenden Jünglings wird hier so nahtlos angeknüpft, dass es wie eine Stilkopie wirkt. Es ist der lyrische Hintergrund, vor dem sich die Begegnung mit Paul Celan abspielen wird, und das wird auch poetische Folgen haben. Dass ein solches Gedicht persönliche Erlebnisse wie die Liaison mit dem achtzehn Jahre älteren Hans Weigel mit transportieren möchte, ist durchaus denkbar. Ästhetisch kann man es aber ziemlich genau zwischen Hans Weigel und Paul Celan verorten, und das ist keineswegs ein Zufall.

Celans Hintergrund war ein anderer. Und das wird besonders deutlich, wenn man das einzige direkte Zeugnis betrachtet, das von jenem geheimnisvollen Frühling zwischen Celan und Bachmann existiert. Es ist die Abschrift eines Gedichts, das Celan mit dem Datum »23. Mai 1948« Bachmann widmete:

IN ÄGYPTEN

Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser.

Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen.

Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam!

Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst.

Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden.

Du sollst zu Ruth und Mirjam und Noemi sagen:

Seht, ich schlaf bei ihr!

Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.

Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi.

Du sollst zur Fremden sagen:

Sieh, ich schlief bei diesen!

In diesem Gedicht ist das Leitmotiv von Celans künftiger Beziehung zu Ingeborg Bachmann angeschlagen. Es beschreibt das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten, eine Anziehung und eine Abstoßung, die immer wieder neu geklärt werden muss. Ruth, Noemi und Mirjam sind alttestamentarische Namen, es geht um das jüdische Exil – im Alten Testament steht dafür konkret das Land Ägypten. Ruth Noemi lauteten jedoch auch die Vornamen einer Freundin Celans in Czernowitz. Er lädt das frühe ägyptische Exil seines Volkes mit seinen eigenen Erfahrungen auf. Er nennt im Duktus der Gebote Moses’ jüdische Frauennamen, aus verlorener Zeit, und stellt ihnen jetzt in Wien die »Fremde«, die Nichtjüdin, gegenüber. Die Fremde, durch die Widmung real als Ingeborg Bachmann erkennbar, nimmt das Vermächtnis der jüdischen Freundinnen auf und wird für Celan zum neuen Medium seiner Sprache.

Diese Sprache war eine andere als die herrschende. Celan, der die Lager überlebt hatte, beschäftigten zwangsläufig die Fragen, die sich der Kunst jetzt, nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten, neu stellten, und in Wien, im deutschen Sprachbereich, spürte er dies umso stärker. Er stieß überall auf die Zeugnisse des weiter existierenden Antisemitismus, der weiter existierenden nationalsozialistischen Ideologie. Und dies umso mehr, als die Österreicher es schafften, sich als Opfer des NS-Regimes zu gerieren. Wien konnte für Celan keine Heimat sein. Der erträumte Mittelpunkt der alten k.-u.-k.-Monarchie, die polyglotte Metropole, die Ost und West miteinander verbindet und in einem Vielvölkergemisch die Erfahrungen aus seiner am östlichen Rand gelegenen Heimatstadt Czernowitz urban und weltoffen fortsetzen könnte, erwies sich als Chimäre. Celan stieß auf die alten Nazisprüche, und wie sie hinter süßlich-galanten Causerien am Wirtshaustisch plötzlich aufbrechen konnten, wird er des Öfteren erlebt haben. In Wien wurde nicht das gesprochen, was er als die Sprache seiner Mutter bewahren wollte. Er blieb nur ein halbes Jahr. Aber wenige Wochen bevor er sich nach Paris aufmachte, lernte er Ingeborg Bachmann kennen – als einen anderen Widerpart, als eine »Fremde«, die seine deutsche Sprache auch in der neuen zeitgeschichtlichen Situation möglich machen könnte.

Ingeborg Bachmann musste wohl ahnen, dass sie hier mit etwas konfrontiert wurde, dem sie womöglich nicht gewachsen war. Aber sie war auf der Suche nach etwas ganz anderem als das, was ihr vorgezeichnet schien. Sie wollte Grenzen überschreiten, nicht nur aus der Erfahrung heraus, dass sie im Dreiländereck Österreich-Slowenien-Italien aufgewachsen war und diese Grenzen etwas auslösten. Nach Wien kam sie auch deshalb, um innere Grenzen zu überschreiten, und sie stieß auf ein urbanes Terrain, in dem sie sich ausprobieren konnte. Einer dieser Probeläufe war Hans Weigel. Er selbst hat nahegelegt, seinen Roman Unvollendete Symphonie aus dem Jahr 1951 als ein Zeugnis dafür zu lesen – im Nachwort zu einer späten Neuausgabe 1991 bezeichnete er ihn als einen Schlüsseltext für seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann.

Weigel benutzt in seinem Roman einen formalen Kniff, und darin liegt die Tücke. Das Buch ist aus der Perspektive einer jungen, künstlerisch orientierten, katholisch-österreichischen Frau geschrieben ‒ in Ich-Form ‒, die eine Beziehung zu einem viel älteren, während der Nazizeit emigrierten Wiener Juden eingeht. »Ich bin so wenig, du bist so viel, du bist so wichtig«, schreibt die Frau an ihren imaginierten Geliebten, der im Roman Peter heißt. Das ist zwar eindeutig eine krude Männerphantasie, in der der Autor Weigel, der unschwer hinter diesem »Peter« zu erkennen ist, sich selbst narzisstisch spiegelt, doch atmosphärisch schwingt dabei etwas mit. Man merkt das Bestreben, direkte autobiographische Züge zu verwischen (die junge Frau ist im Roman zum Beispiel bildende Künstlerin), man merkt bei aller vorgetäuschten Nonchalance die Selbststilisierung des Autors, aber die Unvollendete Symphonie sagt indirekt schon auch etwas über die junge Ingeborg Bachmann aus.

Die junge Frau, die im Roman in den Bann des älteren Bohemiens gerät, muss sich seiner Lebensweise stellen – und es ist erkennbar, dass das nicht reibungslos geschieht. Die Protagonistin sehnt sich nach Leichtigkeit und Leben, und sie genießt es, in etwas hineingezogen zu werden, was sie damit verknüpfen kann – aber ihre Gefühle scheinen um einiges schwerer zu wiegen. Einmal lässt der Autor sie folgendermaßen reflektieren: »Es ist mir klar gewesen, dass es so nicht dauern kann, aber vielleicht ist es gut und nötig so – habe ich gedacht –, man muss wohl durch alles das hindurchgegangen sein. Du, um so viel älter, hast einen solchen Vorsprung an Erleben vor mir, dass ich dich nur einholen kann, wenn ich nicht nacheinander, sondern durcheinander möglichst viele Begegnungen und Schicksale absolviere. Ich werde einmal auftauchen daraus, reicher geworden und ebenbürtig. Denn du, Peter, du bist in all dem gewesen, als dein Geschöpf hab ich’s erlebt und um deinetwillen.«

Es ist offenkundig, dass sich Hans Weigel hier seine Ideal-Ingeborg-Bachmann erschreibt. Wenn man nach einem realen Kern hinter seinen Phantasien sucht, werden die Zwischenräume schillernd. In einem Punkt ist diese junge Schreiberin im Roman Weigels sicher wirklich »sein Geschöpf«: Sie schreibt durch und durch in seinem Stil. Doch dass der Autor damit auch etwas in der jungen Ingeborg Bachmann traf, ist nicht ganz auszuschließen. Es ergab aber auf keinen Fall ein vollständiges Bild. Ingeborg Bachmann war zweifellos viel facettenreicher. Als reale Person formulierte sie jedenfalls um einiges frecher als ihre Wiedergängerin in Weigels Roman. Als er in jenem Frühling 1948 in die USA aufgebrochen war, schrieb sie ihm gleich: »Ich habe jetzt ganz wirklich einen vierzigjährigen Mann, ach ich bin sehr glücklich, ich bin ganz verlegen, beinahe ein bisschen verliebt, obwohl mir das mit meinen Jahren nicht gut stehen kann. Hast du mich verstanden: ich hab dich lieb, ich h. (Platz sparen).«

Derlei Sätze führten Bachmanns Biographen Joseph McVeigh, der als Erster ausgiebig aus den Briefen Bachmanns an Weigel zitieren durfte, dazu, sie als »enthusiastische Liebesbriefe« zu charakterisieren – sie hätten dabei gleichermaßen dem Förderer und Erwecker sowie der Metropole Wien gegolten. Allerdings ist bei diesem »Enthusiasmus« nicht ganz zu unterschätzen, wie viel Rollenprosa mit dabei war. Es gibt schon in der Frühzeit etliche Fährten, die Ingeborg Bachmann auslegte und gleichzeitig wieder unkenntlich machte. Sie gingen ein in ein privates, aber bald auch literarisch-ästhetisches Koordinatensystem, das eigenen Gesetzen gehorchte und sich von realen autobiographischen Fakten spielerisch mal mehr, mal weniger entfernte. Amüsant ist es allemal, wenn Ingeborg Bachmann im Mai 1948, also zur selben Zeit, als sie jenen vermeintlichen Liebesbrief an Hans Weigel in die USA schickte, an ihre Eltern in Klagenfurt schreibt, dass sie auf einer Party »den bekannten Lyriker Paul Celan etwas ins Auge fasste«. Sie spielte gern – in Briefen an Weigel, in Briefen an ihre Eltern –, aber sie überspielte damit vielleicht auch etwas, was ihr nicht ganz geheuer war. Die weitere Entwicklung lässt darauf schließen, dass die Anstrengung, immer keck sein zu sollen, sie mit der Zeit überforderte – die Rolle also, die sie bei Hans Weigel gezwungen war zu spielen. In der weiblichen Ich-Figur bei Weigel scheinen gelegentlich tiefer gehende Sehnsüchte auf, und das wurde wohl nicht ganz ohne konkrete Wahrnehmungen phantasiert.

Die Szene ist auf jeden Fall sehr aufgeladen: Kaum reiste Weigel, mit dem Ingeborg Bachmann seit einem halben Jahr mehr oder weniger lose liiert war, in die USA ab, begann sie ein Verhältnis mit Paul Celan. Ob hier ein anderer Ton angeschlagen wurde? Auch Celan konnte keck sein. Es ist aber anzunehmen, dass das auf eine etwas andere Weise geschah als bei Weigel. Celan war zwar ebenfalls einige Jahre älter als Ingeborg Bachmann, aber er war eher ein älterer Bruder als eine Vater-Imago. Und er schrieb Gedichte, die einer vollkommen anderen Ästhetik folgten. Dafür war Bachmann, wie ihre eigenen Verse zeigen, sehr empfänglich. Sie stieß bei ihm auf eine Möglichkeit jenes hohen, ernsten, zeitgenössischen lyrischen Sprechens, nach dem sie selber suchte. Und Celan stammte aus einem fernen, orientalisch anmutenden Land, einem Märchenland, mit Klängen und Späßen, die etwas anderes berührten. In den spärlichen konkreten Erinnerungen, die es an Celan gibt, tauchen manchmal Hinweise auf etwas Rauschhaftes auf, auf Gesang und Tanz, auf kommunistische Lieder und mittelalterliche Landsknechtsstanzen. Später wird Celan in Texten Ingeborg Bachmanns in verheißungsvoll fremden Figuren aufscheinen, wie ein Prinz aus einer Landschaft der Sehnsucht. Kein Kontrast könnte größer sein als derjenige zu jener Art Celan-Figur, die abrupt in Hans Weigels Unvollendeter Symphonie auftaucht: »Er ist plötzlich dagewesen, in unsere Runde eingebrochen, ein wüster Geselle und Rebell, laut, lärmend, unbekümmert, rücksichtslos.« Da ahnte Weigel wohl, dass es etwas gab, an das er nicht heranreichte.

Die sechs gemeinsamen Wochen in Wien blieben für Bachmann und Celan ein Mirakel, eine Leuchtschrift, nicht genau zu entziffern. Celans Gedicht über die »Fremde«, über die Frau, die anders ist als diejenigen, die er bisher kannte, ist die einzige sichere Spur, die ins Zentrum dieser sechs Wochen führt. Sie sollten auf unerwartete Weise weiterwirken. In den Momenten, in denen die beiden später noch einmal diese Anfangsgefühle evozierten, wird vor allem eine Ungewissheit deutlich, eine Unsicherheit. Um Weihnachten 1948, ein halbes Jahr nachdem Celan aus Wien weggegangen war, entwarf Bachmann einen nicht abgesandten Brief an ihn: »Ich weiß noch immer nicht, was der vergangene Frühling bedeutet hat.«

Sie wollte bewusst mit verschiedenen Stimmen sprechen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, zum Teil spielte sie Theater, zum Teil probierte sie aus, welche Stimmen zu ihr passten, und einige Monate nach der Begegnung mit Celan schien sie sich zu fragen, ob darunter auch eine innere Stimme verborgen war, die andere besser nicht hören sollten. Sie muss jedenfalls schnell gemerkt haben, dass die Liaison mit Celan nicht nur ein Geplänkel war. Aber wie sie das für sich registrierte, ist wohl charakteristisch. Eine gewisse Andeutung kann man hinterrücks in einem Brief an Hans Weigel nach New York finden, in dem sie mit ihrer Weigel-Stimme sprach: Sie sei mittlerweile kein »junger Aff« mehr und werde ihm nach seiner Rückkehr »gleich meine gefestigte Lebensanschauung ins Gesicht schleudern oder besser ins Gesicht küssen und garnicht abwarten, ob Du willst oder nicht«.

Bald war es so weit. Weigel kehrte zurück, und Celan lebte längst in Paris. Es war zwar unverkennbar richtig, dass Bachmann kein »junger Aff« mehr war, aber die Privilegien, die sie durch Weigel genoss, waren auch nicht von der Hand zu weisen. Wien wirkte wie ein Ziel, das erreicht worden war. Zwischen ihrer Ankunft im Herbst 1946 und dem Herbst 1948 war einiges passiert, Bachmann hatte nun den Status einer interessanten jungen Autorin und war Protegé eines wichtigen Akteurs im Literaturbetrieb. Sie sah Wien durchaus mit anderen Augen als Celan, und Wien und Weigel bildeten dabei eine Einheit, die einen gewissen Charme hatte, dem sie sich nicht unbedingt gleich entziehen wollte. Einige Passagen in Weigels Unvollendeter Symphonie lassen erahnen, dass von ihm so etwas wie ein Sog ausgehen konnte. Der Jude Weigel, der aus seiner Heimatstadt fliehen musste, beschreibt nach seiner Rückkehr in diesem Roman nämlich umso eindringlicher die Eigenart der kapriziösen, widerspenstigen, bösartigen und hinreißenden Wiener Melange. So fragt ein Unbeteiligter, nach einem Fest, auf dem man improvisierte Lieder mit schmelzender Klavierbegleitung und noch schmelzenderen Texten zu hören bekam, ob das alles nicht »grässlich« sei, und die Ich-Erzählerin im Roman lässt die Hans-Weigel-Figur in direkter Rede antworten: »Natürlich ist’s grässlich. So grässlich wie ein Sonnenuntergang mit seiner Orgie von Rosarot und Himmelblau. Genau an der Grenze, wo Erhaben und Grässlich ineinanderfließen. So grässlich wie der Wein, von dem wir Magenweh und Sodbrennen bekommen und der uns zu Tieren macht. So grässlich wie dieses ganze Land, das einzige, in dem man leben kann. Warum tun wir uns so schwer auf der Suche nach einer offiziellen Nationalhymne? Weil wir ja schon eine ganze Serie von Nationalhymnen haben. Die erste, größte uns ewige: ›O du lieber Augustin, alles is hin.‹ Der Sänger, der durch die heitere Weise seiner Feststellung, dass alles hin sei, diese Feststellung aufhebt. Erst wenn jemand in diesem Land mit Erfolg behauptet: ›Es ist alles in Ordnung‹, ›Alles funktioniert‹, dann ist alles hin.«

Für Paul Celan hingegen war schnell klar, dass Wien nur eine Durchgangsstation sein konnte. Ein Nachhall davon findet sich in Milo Dors und Reinhard Federmanns Roman Internationale Zone: »Es war ein schöner Juniabend, und ein leichter Luftzug umwehte Petre Margul, als er mit einem kleinen Handkoffer die Mariahilfer Straße hinaufging. Er schritt gemächlich aus, weil er müde war; müde von der Hitze des Tages, die sich in dem Asphalt gestaut hatte und nun langsam ausströmte, müde von den vielfältigen Gesichtern, Farben und Geräuschen, die verworren an seine Sinne drangen, und von den chaotischen Bildern der Geschehnisse, die durch seine Erinnerung zogen. Er liebte keine Abschiedsszenen, darum hatte er Kyra gesagt, er werde erst morgen abreisen. Wahrscheinlich würde sie Blumen kaufen oder irgendein anderes kleines Geschenk. Aber er würde nicht mehr da sein, und es war besser so. Wenn sie ihn zum Abschied umarmt und mit ihrem dunklen, warmen Blick angesehen hätte, wäre er vielleicht noch schwach geworden und hiergeblieben, einer Beziehung ausgeliefert, die seine Entschlusskraft lähmte, ebensosehr wie die bittersüße Atmosphäre der Fäulnis, die über dieser ganzen großen trägen Stadt lag.«