und der Meister des Todes

erzählt von Kari Erlhoff

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 - 24. Dezember 2009)

 

 

 

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© 2010, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

 

Based on Characters by Rober Arthur.

 

ISBN 978-3-440-12913-5

Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

 

Kein Entkommen!

Langsam trat Justus Jonas aus der Dunkelheit ins Licht. Die Luft um ihn herum war warm und stickig. Staub tanzte in kleinen Partikeln auf und ab, während der Erste Detektiv seinen Weg fortsetzte. Bei einem Vorhang blieb er stehen. Die Umrisse einer Person zeichneten sich durch den dünnen, hellen Stoff ab. Justus konnte hören, wie die Person atmete. Während seine rechte Hand sich fest um den Griff der Axt schloss, fasste er mit der Linken nach der Gardine. Das Atmen wurde lauter, panischer! Seine Finger berührten den Stoff. Noch bevor er den Vorhang beiseitereißen konnte, ertönte ein Schrei. Er war markerschütternd schrill und klingelte in Justus’ Ohren. Der Erste Detektiv wich intuitiv zurück. Ein zierliches blondes Mädchen in einem Sommerkleid befreite sich aus der Gardine. Justus griff nach ihr, um sie zurückzuhalten, verfehlte sie jedoch um Zentimeter. Schluchzend verschwand sie in der Dunkelheit. Justus drehte sich in aller Seelenruhe um. »Renn nur!«, rief er ihr hinterher. Dann lachte er. »Du kannst mir nicht entkommen! Niemand entkommt mir! Das nächste Haus ist kilometerweit weg!« Er folgte ihr nicht, sondern schritt hinüber zu einem Schrank – dem einzigen Möbelstück weit und breit. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. »Na, wen haben wir denn da?« Er blickte geradewegs auf Peter, der sich an die Rückwand presste. »Solltest du nicht draußen sein und den Helden spielen?«

»Lass mich am Leben!«, flehte Peter mit bebender Stimme.

Justus sah hinab auf die Axt in seinen Händen. Langsam strich er mit einem Finger über die Klinge. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Peter. »Nenne mir einen Grund dafür!« Justus lächelte diabolisch.

»Ich … ich …«, stammelte der Zweite Detektiv. »Ich habe den schwarzen Gürtel im Judo!«

»Und du glaubst, das könnte mich aufhalten?« Justus klopfte nachdenklich etwas Staub von Peters Schulter. »Willst du den wartenden Tod etwa enttäuschen?«

Peter antwortete nicht. Schon sauste die Axt auf ihn hinab. Geschickt wich er aus. Er tauchte unter den erhobenen Armen des Ersten Detektivs hindurch und wollte ihm die Axt aus der Hand reißen. Doch Peter hatte die Rechnung ohne die Seile gemacht, die hinter ihm von der Decke hinabhingen. Schon verhedderte er sich und stürzte fluchend zu Boden. »So ein Mist!«

»Schau besser nach vorne, wenn du läufst!«, empfahl Justus. Grinsend ließ er die Axt sinken.

»Ich war geblendet von den Scheinwerfern«, verteidigte sich Peter, während er sich aus den Seilen befreite.

»Soweit ich weiß, waren die Seile aber nicht Teil des Drehbuchs!« Mrs Robinson, die Lehrerin für Film- und Theaterwissenschaften, war an den Rand der Bühne getreten. Sie sah belustigt aus.

»Das liegt alles daran, dass wir keinen richtigen Filmset haben!«, antwortete Zack Martin frustriert. Der braunhaarige Junge besuchte gemeinsam mit den drei ??? einen Filmkurs an der Rocky Beach Highschool. Für die älteren Schüler sah der Lehrplan jedes Jahr ein Kurzfilm-Projekt vor. Doch die Gruppe von Peter und Bob hatte bislang wenig Glück gehabt. Noch immer hatten sie keinen Drehort für den Film gefunden und mussten für die Proben mit dem Theaterraum der Schule vorliebnehmen. Außerdem waren bereits zwei Leute aus dem Team krank geworden.

»Wir brauchen einen Ersatz für Kelly!«, sagte Bob Andrews. »Sonst müssen wir die Rolle der Hexe aus dem Drehbuch streichen.«

Mrs Robinson lächelte. »Ich denke, ich kann wenigstens beim letzten Punkt helfen.« Sie wandte sich zu einem schwarzhaarigen Mädchen, das schräg hinter ihr stand. Sie war hochgewachsen und trug ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift Don’t mess with the Goddess. Justus, Peter und Bob kannten sie vom Sehen. Das Mädchen hieß Latona Johnson und war im Jahrgang über ihnen.

»Heute ist wohl doch mein Glückstag!« Zack grinste beim Anblick von Latona.

»Das ist also dein neues Team«, erklärte Mrs Robinson. Dann fügte sie hinzu: »Möchtest du dich jetzt kurz vorstellen?«

Das Mädchen warf ihre langen Haare über die Schulter und musterte einen nach dem anderen mit ihren eisblauen Augen. »Wenn Sie unbedingt wollen! Meinen Namen kennt ihr ja schon. Ich finde Cheerleader affig, habe mal einen Schulverweis bekommen und esse keine Paprika. Freiwillig würde ich nie bei euch mitmachen, aber ich muss leider guten Willen zeigen, damit ich keinen Ärger vom Direktor bekomme.«

»Jeder kann einen Neuanfang machen«, sagte Mrs Robinson betont mildtätig. Latona zog hinter ihrem Rücken eine Grimasse.

»Also das hier sind alle, die beim Film mitmachen.« Mrs Robinson hörte nicht auf zu lächeln. »Peter Shaw ist von Anfang an dabei gewesen, genau wie Bob Andrews, Mary-Ann Leigh, Zack Martin und Frank Norman. Dean Simon und Kelly Madigan sind leider krank geworden und können nicht mitmachen. Aber dafür haben wir ja jetzt dich und Justus Jonas.«

»Schön, und wo soll nun gedreht werden?«, fragte Latona mit mäßigem Interesse.

»Nirgendwo, wir haben nämlich noch kein passendes Haus gefunden«, antwortete Zack missmutig. »Dabei wollten wir eigentlich alles an diesem Wochenende abdrehen.«

»Ich habe da vielleicht eine Lösung!«, mischte sich Mary-Ann, das Mädchen im Sommerkleid, ein. Alle drehten sich zu ihr um, was sie sichtlich nervös machte. Hektisch kramte sie in einer kleinen Umhängetasche, die sie um den Hals trug. »Ich habe eine Nummer von einer alten Dame bekommen, die uns vielleicht kostenlos ihr Haus überlässt. Gleich nach der Probe wollte ich dort anrufen.«

»Die Probe ist hiermit beendet«, sagte Zack prompt.

»Gut, dann kann Mary-Ann ihren Anruf machen, während wir im Medienraum die Ausrüstung für den Film zusammensuchen«, schlug Mrs Robinson vor. »Frank, hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, ob du neben deiner Rolle auch die Regie übernehmen willst?«

Ein leicht gedrungener schwarzhaariger Junge mit ernstem Gesichtsausdruck trat zu der Lehrerin. »Ja, ich denke, das könnte durchaus eine interessante Erfahrung sein, Madam.«

»Manchmal erinnert mich Frank etwas an dich, Just«, sagte Peter leise, als sie zum Medienraum gingen. »Nicht nur vom Aussehen her. Er benutzt auch immer viele Fremdwörter und hat überall gute Noten.«

»Wir haben zusammen Physik«, sagte Bob. »Und er ist wirklich sehr gut. Ich glaube, er will nach der Schule Wissenschaftler werden.«

»Vielleicht hättet ihr auch jemand mit sehr guten Noten in Filmwissenschaft an das Drehbuch setzen sollen«, erwiderte Justus. »Die Charaktere sind völlig eindimensional angelegt – besonders meine Rolle als verfressener Nichtsnutz, der zum Serienmörder mutiert!«

Peter seufzte. »Just, ich bin dir echt dankbar, dass du so kurzfristig bei uns im Team eingesprungen bist, aber es wäre sehr nett, wenn du den Film nicht dauernd kritisieren würdest.«

»Genau!«, mischte sich nun auch Zack ins Gespräch ein. »Das Drehbuch stammt außerdem von mir! Ich habe da drei Tage dran gearbeitet.«

»Und wir haben den Text danach mühsam überarbeitet«, raunte Bob dem Ersten Detektiv zu.

»Mrs Robinson hat die Regeln gelockert und Zack hat sich so ausgetobt, dass der ursprüngliche Inhalt für einen Schulverweis gereicht hätte.«

»Was für Regeln?«, fragte Latona, während sie alle Richtung Ausgang liefen.

»Na, Regeln wie ›Kein Mord‹ oder ›Keine Gewalt‹«, antwortete Bob. »Mrs Robinsons Vorgängerin war eine ältere Dame, die uns immer vom Hays-Code vorgeschwärmt hat.«

»Was für ein Code?«

»Der Hays-Code diente zwischen 1930 und 1968 der Zensur amerikanischer Kinofilme«, zitierte Justus aus seinem umfangreichen Wissensfundus. »Es ging dabei um die Aufrechterhaltung von Ordnung und Moral. So wurde auch reguliert, wie lange ein Filmkuss dauern durfte oder welche Schimpfworte erlaubt waren. Damalige Regisseure, wie Alfred Hitchcock, gaben sich allerdings Mühe, den Code durch Tricks zu umgehen.«

»Wir hingegen machen echten Horror. Du hast aber noch die Gelegenheit, auszusteigen, Babe!« Zack grinste Latona an und schwang das Plastikbeil. »Eine der Gruppen dreht einen harmlosen Pferdefilm.«

»Horror ist okay«, sagte Latona unbeeindruckt.

»Es ist eigentlich eher eine absurde Horror-Komödie«, wandte Justus ein. »Eine wenig kunstvolle Mischung aus Trash, Splatter und Exploitationfilm.«

»Lass dich von unserem selbstgerechten Filmkritiker und seinen Fremdwörtern nicht verwirren«, verteidigte Zack sein Werk. »›Hölle ohne Notausgang‹ ist Horror vom Feinsten. Die Geschichte handelt von einer vierköpfigen Jugendbande aus Los Angeles, die einen Bankräuber in die Küstenberge verfolgt. Er versteckt sich in einem Haus. Doch das wird von einer Hexe bewohnt. Sie beschwört einen Geist, der von einem der Jungen Besitz ergreift. Daraufhin will er alle umbringen. Zum Schluss rettet der Held aber seine Freundin und der besessene Junge tötet die Hexe.«

»Du spielst die Hexe«, erklärte Peter. »Und ich bin T-Rex, der Held.«

»Das wird der Schocker des Jahres!«, sagte Zack im Brustton der Überzeugung.

»Wohl eher der totale Flop!«, raunte Bob seinen Freunden zu.

»Ich möchte, dass ihr gut mit der Ausrüstung umgeht«, bat Mrs Robinson, während sie drei große Metallkoffer mit Kameras, Kabeln und Mikrofonen zusammenstellte.

»Wir tun unser Bestes, Madam«, sagte Zack lässig. In diesem Augenblick ging die Tür auf und Mary-Ann trat in den Medienraum. Sie sah alles andere als glücklich aus.

»Hat die Sache mit dem Haus nicht geklappt?«, fragte Peter enttäuscht.

»Doch. Ich habe Mrs Sciutto erreicht. Und sie war sehr nett. Wir haben einen Drehort!«

»Und? Was ist es für ein Haus?«

»Es ist perfekt! Das Haus steht einsam an einer Steilküste, nicht weit von hier. Die alte Dame meinte, dass sie seit einiger Zeit in einer Wohnung lebt, weil sie sich nicht mehr allein um das große Haus kümmern kann. Es steht leer. Aber Strom und Wasser wurden noch nicht abgeschaltet.«

»Und wir haben das Haus ganz für uns?«, fragte Bob.

»Ja! Wir können das ganze Wochenende dort wohnen und den Film drehen.«

»Das ist wirklich perfekt!«, stimmte nun auch Peter zu.

Mary-Ann strich sich nervös die blonden Haare zurück. »Ich kann Mrs Sciutto heute noch besuchen und sie gibt mir die Schlüssel.«

»Also kein Grund für dein stimmungsverderbendes Trauergesicht, Mary!« Zack klopfte dem zierlichen blonden Mädchen auf die Schulter. Sie wich ihm aus. »Die Sache hat einen Haken.«

»Was denn? Müssen wir etwa den Rasen mähen?«

»Mrs Sciuttos verstorbener Mann war ein bekannter Schausteller. Seine Marionetten befinden sich noch im Haus. Die alte Dame hat uns gewarnt, ihnen nicht zu nahe zu kommen.«

»Klar, die Dinger sind bestimmt wertvoll«, meinte Frank. »Komisch, dass sie die bei ihrem Umzug nicht mitgenommen hat.«

»Sie war froh, die Puppen endlich los zu sein.« Mary-Ann senkte die Stimme. »Um ehrlich zu sein: Sie sagte, dass die Puppen gefährlich sind!«

»Gefährlich?«, fragte Peter misstrauisch nach.

»Ja, genau das hat sie gesagt. Und noch etwas.« Mary-Ann machte eine kleine Pause, dann sagte sie: »Wir sollen uns vor dem Tod in Acht nehmen!«

Düstere Legenden

»Und warum müssen ausgerechnet wir jetzt diesen Schlüssel abholen?«, fragte Peter den Ersten Detektiv. Die drei ??? stiegen aus Bobs Käfer. Gleich nach der Filmprobe hatten sie sich von Mary-Ann die Adresse der alten Dame geben lassen. Sie wohnte in einer geschmackvollen Wohnanlage in West Hollywood.

»Sagen wir mal so, die Informationen, die sie Mary-Ann gegeben hat, haben mich neugierig gemacht.«

»Du witterst da doch nicht etwa einen Fall für die drei ???, oder?«, wollte Bob wissen.

»Mysteriöse Gegebenheiten interessieren mich nun einmal.« Justus besah sich das Klingelschild des Apartmenthauses. »Ah, da haben wir sie, Angela Sciutto! Sie wohnt im zweiten Stock.« Er klingelte. Kurz darauf hörten sie einen Summer und die Tür ließ sich öffnen.

»Ich bin gespannt, was sie zu erzählen hat.« Justus schritt voran ins angenehm kühle Treppenhaus.

»Ich für meinen Teil hoffe, dass sie vorhin am Telefon einfach nur einen Witz gemacht hat«, knurrte Peter.

Bob lachte. »Dass du nach all unseren Fällen immer noch so empfindlich bist, wenn es um unheimliche Dinge geht!«

»Wir sind ja auch oft genug in Gefahr geraten – auch ohne Gespenster«, gab der Zweite Detektiv zurück. »Und etwas Vorsicht schadet nie.«

»Du bist unverbesserlich.« Bob grinste.

»Wir sind da!«, beendete Justus die Diskussion. Tatsächlich ging direkt vor ihnen eine der weiß gestrichenen Haustüren auf. Eine rüstige alte Dame in einem türkisfarbenen Kleid lächelte ihnen entgegen.

»Guten Tag, Mrs Sciutto!«, sagte Justus höflich.

»Wie kann ich euch helfen?«

»Wir sind von der Film-Gruppe der Rocky Beach Highschool«, erklärte Peter. »Es geht um Ihr Haus.«

»Aber natürlich! Die Film-Gruppe. Ich hatte nur ein Mädchen erwartet, diese nette Mary-Ann.«

»Sie hatte leider schon etwas für den Nachmittag vor und konnte daher nicht kommen, Madam. So sind wir an ihrer Stelle hierhergefahren, um die Hausschlüssel abzuholen.«

»Das macht nichts. Drei Gäste sind ja noch besser als einer. Ich bekomme nicht so oft Besuch.« Die alte Dame wies in ihre Wohnung. »Kommt doch rein! Ich habe schon einen großen Krug mit Eistee bereitgestellt. Bei der Hitze seid ihr bestimmt durstig.«

»Danke, Madam.« Justus gab ihr die Hand und stellte sich und seine beiden Freunde vor.

»Ihr müsst mir unbedingt erzählen, was ihr vorhabt. Früher war ich ein echter Filmfan. Hitchcocks berühmten Film ›Psycho‹ habe ich bestimmt fünf- oder sechsmal hintereinander im Kino gesehen. Oh, wie war das spannend!« Ihre Augen leuchteten. »Außerdem wollte ich als junges Mädchen selbst gerne Schauspielerin werden. Aber daraus ist leider nie etwas geworden.« Sie lächelte. »Dafür freue ich mich umso mehr, wenn ich aufstrebenden Filmemachern helfen kann.«

»Nun, es ist eigentlich nur ein Schulprojekt«, gab Bob zu. Die drei ??? betraten das Wohnzimmer. Es war hell und freundlich eingerichtet. Justus bemerkte, dass es überhaupt keine persönlichen Fotos gab. Möglicherweise hatte Mrs Sciutto keine Familie.

»Aber setzt euch doch!«, rief die alte Dame, als sie kurz darauf mit einem Tablett in den Raum trat. »Ich muss doch unbedingt wissen, was bei mir im Haus passieren wird!«

Auf ihr Drängen hin erzählten Justus, Peter und Bob ausführlich von dem Filmprojekt.

»Ein Horrorfilm!«, sagte Mrs Sciutto schließlich. »Dafür ist das Haus natürlich wunderbar geeignet.«

Der Zweite Detektiv sah bei diesen Worten nicht gerade erfreut drein.

»Sie meinen, es eignet sich gut als Kulisse für unheimliche Szenen?«, hakte Justus nach.

»Nun, das auch. Es ist ein altes Haus, das die Vorfahren meines Mannes Ende des 19. Jahrhunderts errichtet haben. Beim Bau wurden venezianische Stilelemente verwendet. In manchen Räumen fühlt man sich wie in einem Palazzo aus einer vergangenen Zeit.« Mrs Sciutto schenkte Eistee ein. »Man könnte meinen, die Räume wären verwunschen.«

»Das hört sich gut an!«, meinte Bob zuversichtlich.

»Aber dann sind da noch die Marionetten.« Der Blick der alten Dame verfinsterte sich schlagartig.

»Unsere Mitschülerin Mary-Ann hat uns schon davon berichtet. Sie sagte, die Puppen wären gefährlich.«

»Ja, das habe ich ihr gleich am Telefon erzählt. Ich hatte zuerst Bedenken, ob ich euch wirklich in das Haus lassen kann. Aber Mary-Ann meinte, es wäre wichtig für euch.«

»Aber so richtig gefährlich sind die Marionetten doch nicht, oder?«, fragte Peter voller Unbehagen. »Sonst würden Sie uns das Haus doch gar nicht zur Verfügung stellen.«

»Nun, ich denke nicht, dass euch die Puppen etwas anhaben können, solange sie gebannt sind.«

»Gebannt?« Bob sah die alte Dame fragend an.

»Ach, am besten, ich beginne mit der Geschichte von vorne«, sagte Mrs Sciutto mit einem Seufzer. »Es ist besser, wenn ihr Bescheid wisst.« Sie nahm einen Schluck Eistee. »Die Marionetten sind schon sehr alt, viel älter als das Haus. Ein Vorfahre meines Mannes, ein venezianischer Künstler und Marionettenspieler, hat sie vor über vierhundert Jahren angefertigt. Es heißt, dass er jede von ihnen in einer Vollmondnacht schuf und einen Zauber in ihre Körper legte. So konnte er mit ihnen reden und die Puppen antworteten – wenn auch nur nach Sonnenuntergang. Als einige Jahre später die Pest über die Stadt kam, raffte die Krankheit die Menschen wie Fliegen dahin. Der Vorfahre meines Mannes fürchtete die Seuche, aber noch mehr fürchtete er den Tod. Da bot ihm eine der Marionetten an, sein Leben zu retten. Der Künstler musste ihr dafür sein Herz geben. Als Gegenleistung lenkte die Puppe den Tod ab und der Marionettenspieler überlebte die Seuche. Schon bald wurde er als ›Meister des Todes‹ bekannt. Es heißt, dass es von da an in jeder Generation der Sciuttos einen Meister gab, der mit den Puppen auftrat. Und keiner von ihnen ist je gestorben. Bevor der Tod sie holen konnte, verschwanden sie auf mysteriöse Weise. Doch der Tod wollte sich nicht so einfach an der Nase herumführen lassen. So ist er seit all den Jahren auf der Suche nach der Seele, die ihm noch zusteht.«

»Aber«, fragte Bob vorsichtig nach, »Ihr Mann ist dann doch gestorben, nicht wahr?«

»Richtig, mein Mann ist der erste Sciutto, der beerdigt wurde. Nach dem Tod unseres jüngsten Sohnes hat er mit dem Puppenspiel aufgehört und ist somit aus der Reihe der Meister ausgetreten. Er wollte mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.«

»Das mit Ihrem Sohn tut uns sehr leid«, sagte Bob. Peter und Justus pflichteten ihm bei.

»Eigentlich glaube ich nicht an solche Sachen«, sagte Mrs Sciutto kurz darauf nachdenklich. »Aber mein Mann sagte immer, dass die Puppen ohne einen starken Meister eine Gefahr darstellen. Wir hatten stets gehofft, dass einer unserer beiden Söhne diese Rolle übernehmen konnte, aber sie sind schließlich beide jung gestorben.«

»Und was wurde dann aus den Marionetten?«

»Kurz vor seinem Tod wurde mein Mann unruhig. Er zeichnete mit Kreide einen Bannkreis um die Puppen. Seitdem können sie ihre Magie nicht ausüben und der Tod kann das Haus nicht finden.«

»Der Kreis schützt uns also?«