Susanne Betz

Der elektrische Kuss

Roman

C. Bertelsmann

1. Auflage

Copyright © 2011 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: R·M·E / Roland Eschlbeck

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05332-1

www.cbertelsmann.de

Für Luisa, Vincent und Harriet

Kapitel 1

Als sie den Riegel der kleinen, eisenbeschlagenen Tür zurückschob und ins Freie schlüpfte, donnerte es zum zweiten Mal.

Der Morgen, der Charlotte aus dem Obstgarten entgegenschlug, roch alt und sumpfig. Der Sommer hatte heiß begonnen und war so geblieben. Tag für Tag schob sich die scharfkantige Metallscheibe über den Himmel und machte das Gras welk und Tiere und Menschen müde. Alle sehnten sich nach Regen. Ab der ersten Augustwoche stockte dann jeden Tag die Nachmittagsluft wie schlechte Milch. Sie stand ungenießbar und sauer über dem Land, und die Sonne dahinter schien nur noch schmierig durch. Sonnenuntergänge gab es nicht mehr. Die Nacht floss in diesen zähen Brei hinein und färbte ihn dunkel. Es kühlte auch nicht mehr ab. Aber bislang hatte es nie zu einem Gewitter gereicht.

Birnen, Äpfel und Pflaumen fielen vorzeitig von den Bäumen und faulten, wenn sie nicht gleich von Wespen aufgefressen wurden. Niemand machte sich auf dem Geispitzheimer Anwesen die Mühe, das Obst aufzuheben und zu verkochen. Zweige schwer mit Früchten beugten sich in das hohe Gras. Im Obstgarten wurde auch nur noch selten gemäht. Charlotte hatte diesen ganzen schwülen Sommer über die Atmosphäre beobachtet. Türmten sich Wolken auf? War irgendwo in der Umgebung ein Blitz in einen Kirchturm gefahren oder eine Scheune in Brand geraten? Doch der Himmel hatte sich immer verweigert. Bis jetzt.

In der linken Hand trug Charlotte ein Paar Pantoffeln, unter ihrem rechten Arm klemmte ein Drachen. Sie hatte ihn aus schmalen Holzleisten und dünnem, jadegrünem Papier selbst gebaut. Um die Schnur, die an seiner unteren Spitze befestigt war, hatte sie einen feinen Silberdraht gewickelt. Den zu besorgen, war das Schwierigste gewesen. Aus Angst, jemand könnte sie hören, lief Charlotte immer noch barfuß. Bis sie auf einen scharfkantigen Stein trat. Oder war es ein Tier, das sie gestochen hatte? Charlotte blieb stehen, verrieb Spucke auf die schmerzende Stelle und blickte zum Himmel.

Im Osten, Richtung Rhein, verbreiterte sich zusehends das hellgraue Band des Morgens. Das Gewitter kam aus dem Westen. Geballte Wolken, dunkel, aneinandergepackt wie Weintrauben, hingen tief, dazwischen schoben sich immer wieder für kurze Zeit senfgelbe Schwaden durch. Charlotte sah auf die Entfernung schlecht und kniff gewohnheitsgemäß die Augen zusammen. Noch eine halbe Stunde, mehr nicht, so schätzte sie, war das Gewitter entfernt. Ein staubiger Wind fuhr in ihre Röcke, blähte sie auf und verschwand, so schnell er gekommen war. Irgendwo klapperten Fensterläden, ein vergessener Eimer fiel scheppernd um. Niemand würde wissen, dass sie fort war und was sie vorhatte.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln. Zierlich, französisch, aus champagnerfarbener Seide, mit Gänseblümchen bestickt, wie so vieles getragen von der Mutter und dann in einem sentimentalen Moment an sie weitergegeben. Die Mutter! Charlotte seufzte. Der nächste Donner, nach ihrer Zählung schon der vierte, knurrte. Ziemlich nahe sogar. Charlotte rappelte sich hoch wie ein ertapptes Kind. Sie fand sofort den kleinen Abschnitt in der Mauer um das Grundstück, wo die obersten Ziegel herausgebrochen waren und die nächstunteren sich leicht herausklopfen ließen. Mit ein wenig Mühe, einem abgebrochenen Fingernagel und aufgeschürften Waden schaffte sie es hinüber. Immer auf den einzigen großen Berg weit und breit zugehend, der sich mit seinem dunkelgrünen Fell zu einem ausgewachsenen Katzenbuckel wölbte. Charlottes Pantoffeln schlurften durch borstige Stoppelfelder, Strohhalme rissen Fäden aus den hübschen Stickereien, ein Streifen ihres Unterrocks blieb in den unteren Zweigen eines Weißdornbusches hängen – als kleine, weiße Markierung im trüben Licht. Zwischen einem Holzstoß blitzten die bernsteingelben Augen eines Fuchses auf, der, obwohl die Nacht vorüber war, noch herum streunte. Warum leuchteten seine Augen und die der Menschen nicht?

Charlotte verscheuchte diese Frage und bog auf die staubige Landstraße Richtung Kaiserslautern ein. Jetzt kam sie schneller voran. Der Drache ließ sich erstaunlich leicht tragen. Eine Viertelstunde im Laufschritt, dann tauchte in der Kurve auch schon der Gekreuzigte unter seinem spitzgiebeligen Holzdach auf. Aus Gewohnheit beugte Charlotte das rechte Knie, im Vorbeieilen warf sie ihm noch eine Kusshand zu. Hoffentlich traf ihn kein Blitz.

»Ich bin Atheist«, hatte ihr Felix mit belegter Stimme gesagt, nachdem sie sich ungefähr sechs Wochen kannten. Er legte ihr die Worte wie der Hund seinem Herrn eine Wachtel vor die Füße, und sie fürchtete schon, er würde im nächsten Moment gerührt über seinen Wagemut in Tränen ausbrechen. Ihr fielen in jenem Moment höchstens zwei, drei Leute aus ihrem Familien- und Bekanntenkreis ein, die keine Atheisten waren. Die schauten allerdings teilnahmslos ins Leere, wenn sie sonntags in der Kirche saßen, und nicht so leidenschaftlich leidend wie Felix. Was also sollte sie ihm antworten?

»Und ich bin Elektriker.«

Er starrte sie nur an und blinzelte, als ob ihm gerade ein Insekt ins Auge geflogen wäre. Charlotte vermutete, dass er gar nicht verstanden hatte, was sie meinte. Und wenn doch, dann war er noch immer mehr über die Abgründe seines eigenen Bekenntnisses erschrocken als über das, was sie ihm gerade leichthin wie eine Einladung zum Parkspaziergang gesagt hatte. Sie musste ihn küssen. Seitdem hatte sie ihn oft geküsst, denn sie musste ihn oft trösten. Außerdem wollte sie sich dankbar zeigen. Weil er hinter dem Rücken des Fürsten und auf dessen Kosten ein Buch nach dem anderen für sie bestellte. Der Wind wurde stärker.

Hundert Schritte nach dem Gekreuzigten verließ Charlotte die Straße wieder und stieg die Anhöhe hinter Bolanden hinauf. Manchmal musste sie sich an einer Wurzel oder einem Stein festhalten, die dünnen Sohlen ihrer Pantoffeln glitten immer wieder ab, Disteln und Dornen kratzten an ihren Beinen, einmal griff sie mit den Händen in Schafskot. Überall hatten Mäuse in die dünngrasigen Hänge ihre verschlungenen Schriftzüge geritzt. Charlotte bekam Seitenstechen, aber sie musste weiter hinauf. Auf keinen Fall durfte ihr kostbarer Drache kaputtgehen. Als sie ein ziemlich weites Stück rückwärts rutschte, hielt sie ihn krampfhaft hoch wie ein verwundeter Soldat die Standarte seines Regiments.

Auf dem Rist ruhte sie sich zum ersten Mal etwas aus. Sie atmete flach. Der Wind hatte inzwischen noch mehr aufgefrischt und riss an ihren Haaren. Die Gewitterwolken schoben sich näher. Aber sie wollte noch mehr an sie heran, ihr Experiment brauchte ideale Bedingungen. Etwas langsamer ging sie weiter. Der jähe, heisere Ruf eines Vogels lenkte ihren Blick tief nach unten, wo der Bach neben dem Feldweg floss. Charlotte blieb stehen. Sie sah vier oder fünf Menschen und ein Fuhrwerk mit zwei Pferden davor, die sich in der Morgendämmerung und im Brausen des Windes lautlos in dieselbe Richtung wie sie bewegten. Wo um Gottes willen wollten die Leute bei diesem Wetter hin? Charlotte stutzte. Waren das etwa die Pächter vom Hof ihres Vaters? Diese Kindsköpfe in absonderlichen Kleidern, die, wenn man ihnen einmal, was selten genug vorkam, in Bolanden oder Kirchheim über den Weg lief, grottenolmig auf den Boden starrten. Sie musste weiter!

Gerade in diesem Moment bog der kleine Trupp im Tal auf ein Getreidefeld ein, die Pferde standen still, die Männer luden Sensen ab und fingen an, in schnellen, schwingenden Bögen zu mähen. Einer, so kam es Charlotte vor, gab den Takt an, breitschultrig unter einem runden, großen Hut. Frauen in schwarzen Röcken bündelten die gemähten Halme und lehnten sie gegen das Fuhrwerk. Hatten sie keine Angst, spürten sie nicht die von Minute zu Minute stärker anschwellende und saugende Kraft in der Luft? Wenn Charlottes Theorie stimmte, gaben die eisernen Sensen ideale Konduktoren ab. Sie formte ihre Hände zu einem Trichter:

»Passen Sie auf, die Elektrizität!«

Sie legte all ihre Kraft in den Schrei, wartete, atmete tief ein und aus, genoss die schwere Gewitterluft, die über ihr Gesicht strich, und schrie noch einmal gellend laut. Wieder versickerten ihre Worte im Wind. Keiner dort unten hob den Kopf. In den Wolken brummte und gurgelte es, doch die kleinen tauben Gestalten auf dem Feld werkelten unverdrossen weiter. Charlotte lief bis über die nächste Kuppe zu einer Gruppe zerzauster Wacholderbüsche, dann blickte sie ein letztes Mal zum Feld hinunter, sah, wie der abgemähte Streifen breiter wurde und der Mann an der Spitze gleichmäßiger denn je seine Sense schwang. Diese Idioten! Charlottes Haare schlugen vor ihrem Gesicht zusammen. Der Wind kam jetzt von allen Seiten, stieß von hinten und drückte gleichzeitig von vorne. Charlotte stapfte weiter und bohrte ein ums andere Mal die Absätze ihrer Pantoffel in den knochentrockenen Boden.

Die Stelle, für die sie sich dann entschied, war ein kleines Plateau mit ausgezupftem Magergras und Resten von Schafskost mitten auf der höchsten Erhebung, dort, wo Mauerreste einer vor Urzeiten geschleiften Burg als tote Adern übrig waren und sich langsam in grünbemooste Vegetation verwandelten. Die Wolkentrauben hingen ihr fast schon in den Mund. Das Morgenlicht aus dem Osten kam nicht mehr gegen das Gewitter an. Charlotte roch etwas, das sie an schlecht ziehende Kamine erinnerte. Sie legte den Drachen auf den Boden und beschwerte ihn mit einem flachen Stein. Fiebrig schnell zogen ihre Finger den Silberdraht entlang der Schnur glatt. Auf diesen Moment hatte sie Wochen und Monate gewartet, seit sie die »Philosophical Transactions« der Royal Society mit Stephan Grays Aufsätzen in dem Bücherpaket aus Frankfurt zusammen mit der Übersetzung von Robinson Crusoe entdeckt hatte, das der Fürst im Schlafzimmer ihrer Mutter vergessen hatte.

Gray zitierte zunächst viel aus Gilberts »De magnete«. Ungeduldig hatte sie die ersten Seiten überflogen, dann genervt, denn die Ausführungen brachten ihr nichts Neues. Immerhin hatte sie schon vor zwei Jahren einen faustgroßen Klumpen Bernstein aus dem Nassau-Weilburger Raritätenkabinett mitgehen lassen. Ohne Gewissensbisse. Er verstaubte eh nur zwischen geschnitzten Madonnen aus lachsfarbenen Korallen und verwachsenen Katzenföten, eingelegt in Spiritus. Zu Hause in ihrem Zimmer hatte sie ihn ausdauernd an ihrem Rock gerieben und immer wieder aufs Neue beobachtet, wie Papierschnipsel, Wollfäden oder Hühnerfedern sich aus einer gewissen Entfernung zu dem Bernstein hin bewegten. Sie rieb wieder, schob die Federn dann ein kleines Stück weiter weg, sie taumelten kurz hoch, wurden aber nicht mehr angezogen. Der Abstand durfte also nicht zu groß sein. Und was, wenn sie weniger rieb? Charlotte hielt die Luft an, um dem Versuch nicht zu schaden. Aber das Einzige, was sich bewegte, war silbern glitzernder Staub in der Luft. Dann bearbeitete sie den Bernstein wieder heftig und zack zack, die Wirkung stellte sich erneut ein. Magie? Eine unbekannte Mechanik? Mechanik aber brauchte unmittelbaren Kontakt. Hier vollzog sich aber so etwas wie berührungslose Berührung. Aber warum bei Bernstein? Nur bei Bernstein? Diese Fragen waren der Anfang ihrer Experimente. Denn Gray beschrieb in seinem Buch ein neues Element, das unsichtbar, schnell und sehr flexibel war und das in der Welt häufiger vorhanden war, als man dachte. Elektrizität.

Felix musste ihr weitere englische Bücher besorgen. Atemlos las sie als nächstes Grays Versuch mit einem kleinen Waisenjungen, der an dünnen Schnüren befestigt, irgendwo in England von einer Zimmerdecke baumelte. Gray elektrisierte ihn mit einem geriebenen Glasrohr, und prompt zog auch das Kind kleine Gegenstände an. Als nächstes verlangte Charlotte die »Histoire de l’électricité« eines gewissen Monsieur Dufay, des ehemaligen Intendanten der Königlichen Botanischen Gärten in Paris. Auch wieder unbedingt und jetzt gleich. Felix zögerte, denn er hatte Angst, der Fürst könnte von diesen kostspieligen Bestellungen Wind bekommen, und wurde schwierig. Also schlief Charlotte mit ihm. Das half wie immer, und Felix orderte und vertuschte.

Ihr rechter Pantoffel riss an der Spitze auf. Mitten durch eine gestickte Blume hindurch, drei Zehen schauten heraus. Das passierte, als sie auf ihrem Höhenplatz kurz in die Hocke ging, um zu pinkeln. Dann bohrte sie einen Zweig, den sie unterwegs abgebrochen hatte, in die Erde, wickelte das lose Ende der Drachenschnur samt Silberdraht herum und verknotete alles gründlich. Vorsichtig und liebevoll, als wäre es der Schoßhund ihre Mutter, übergab sie den Drachen der Thermik. Aber schon die nächste rasante Böe drückte ihn zu Boden, sodass das gespannte Papier über das stopplige Gras schrappte, eine der dünnen Leisten verbog sich leicht. Erschrocken beugte sich Charlotte über seine Libellenflügel, hob ihn auf und drückte ihn ziemlich ratlos an die Brust. Der Wind war zu stark.

Das Gewitter ballte sich jetzt unmittelbar über ihr, und Donner krachten wie Gewehrsalven. Auch geblitzt hatte es schon hier und da. Während der ganze Himmel einen Moment lang magisch grün aufleuchtete und es fast taghell wurde, schoss ihr durch den Kopf, dass jeder neue Beweis der elektrischen Wirkungsweise als Beleg für ihre eigene Existenz dienen konnte. Sich selbst schlüssig und unwiderlegbar zu beweisen war ohnehin das größte Problem. Auch wenn in den Büchern, die Felix wie Butterkuchen verschlang, neuerdings so viel von unveräußerlichen Naturrechten und der Freiheit des Individuums die Rede war, so konnte man das alles doch nur als Ableitungen vom Menschsein sehen. Möglicherweise. Aber nicht als Beleg dafür, dass es sie, Charlotte, auch tatsächlich gab.

Angespannt schaute sie in den Himmel. In dem Moment zuckte wieder ein Blitz und schnitt diagonal in die dunkle Wolkenwand einen gleißend hellen Spalt, hinter dem sich ein neuer Himmel und sonst alles Mögliche vermuten ließen. Je mehr sie mittels Versuchsergebnissen demonstrieren konnte, dass diese durch einen Jemand gemacht worden waren, und dieser Jemand sie selbst war, desto eindeutigere Rückschlüsse ließen sich auf ihre Existenz ziehen. Charlotte fror. Der Wind war zwar nicht kalt, aber je länger sie so dastand im dünnen Kleid, desto mehr zerrte er an ihr. Umgekehrt galt also, dass sie immerzu suchen und forschen musste.

Charlottes Blick ließ die Gewitterwolken los und wanderte zu dem großen Berg hinüber. Massig ragte er aus dem sonst eher sanft geschwungenen Land heraus. An seinen Hängen klebten kleine unregelmäßige Muster, fleckige Weiler, trapezförmige Rodungen, dunkel narbig zwischen dem dunstigen Grün. Ihr Vater schlief sicher seinen Rausch aus. Wie jeden Morgen würde Charlotte dann später ihren gezuckerten Haferbrei in der Küche vorfinden, warmes Bier auch, wenn sie wollte, und die Mägde, vor allem Lisbeth, würden mit ihr scherzen, von ihren Rückenschmerzen, Kindern und Liebschaften erzählen. Wen gab es noch? In Mannheim wollte eine Großmutter, die drei Mal verwitwet war, sie möglichst reich verkuppeln. Im Kirchheimer Schloss wartete Felix. Und ihre Mutter. Die darauf spekulierte, dass, wenn sie zu alt wurde, die Tochter sie in ihrer Position als Mätresse ablösen würde. Ein eleganter, nein, ein gnädiger Übergang, alles bliebe wie immer. Mit langen Gabeln Mark aus den Knochen löffeln, Rätsel raten, kandierte Kirschen knabbern, bisweilen ein lausiges Konzert hören, Karten legen, darauf warten, dass der pfälzische Kurfürst zu Besuch kam, hundert Gulden in einer Nacht verspielen. Wenn alles gut ging, sorgte eine unmögliche Liaison für Gesprächsstoff bis in den Winter. So brachte man die einzelnen Tage und das ganze Leben schon irgendwie herum.

Aber so, da machte sich Charlotte nichts vor, dünnten die Einfälle in ihrem Kopf aus, das ließ sich nicht vermeiden. Wie sollte sie da noch ernsthafte Wissenschaft betreiben? Und die Elektrizität und sich selbst beweisen? Ihr Dahinscheiden durch schiere Langweile und Verblödung stellte sich Charlotte sehr gern vor. Sie saß dabei in einem vanillefarbenen Sessel. Mit einem Mal hätte ihr Kopf keinen Halt mehr und würde sanft umknicken wie der Kopf einer Tulpe, während Geheimrat von Sickingen und Baronin Frischleben wieder einmal darüber stritten, wer wen beim Kartenspiel betrogen hatte. Man lässt sie sofort zur Ader, hält ihr Riechsalz unter die Nase und schließlich einen Spiegel vor den Mund. Bei Feststellung des Todes würde umgehend eine Ode an das talentierte Fräulein von Geispitzheim in Auftrag gegeben. Felix würde heimlich mehr denn je über den legitimen Tyrannenmord lesen und sicher einen Strumpf von ihr als Lesezeichen zwischen die Seiten legen. Aber was bliebe sonst von ihr übrig?

Charlotte lachte hell auf, und für einen winzigen Moment übertönte sie damit den Wind. Sie hatte also beschlossen, nicht in einem vanillefarbenen Sessel zu sterben. Stattdessen hatte sie sich von Herrn von Sickingen Orangenscheiben zwischen die Lippen schieben lassen, einmal nach seinem Finger geschnappt, zwei Gläser Moselwein getrunken, dem Fürsten mutwillig zugezwinkert, aber ihre Überlegungen zur Elektrizität wieder auf die Folterbank gespannt und gestreckt. Immer wieder.

Wenn das elektrische Fluidum also per Hand aus bestimmten Materialien herauszuholen war, dann stellte sich erstens die Frage, wie es da hineingekommen war. Oder zweitens, ob es nicht vielleicht schon immer dort war. Falls diese Vermutung, worauf vieles hindeutete, stimmte, dann … Lange Zeit schaffte Charlotte es nicht, diesen Gedanken weiter zu denken. Vielleicht bestand ja die ganze Welt einerseits aus der sichtbaren Materie, die den Gesetzen der Gravitationslehre des Herrn Newton gehorchte, und andererseits der unsichtbaren Elektrizität, die ganz anders funktionierte? Man wusste noch nicht, wo sie überall auftauchte und in welcher Erscheinungsform. Wasser gab es schließlich auf der Erde sowohl in flüssiger als in gefrorener Form, aber auch als Dampf. Elektrizität, hatte Charlotte plötzlich eines Abends, als der Fürst gerade aus seinem italienischen Reisetagebuch vorlas, vor sich hin gemurmelt, Elektrizität wird in Funken sichtbar, das haben viele Wissenschaftler beschrieben. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.

Seitdem waren Wochen vergangen. Jetzt waren kein eitler Fürst, keine vertrottelten Hofdamen mehr da, die sie störten. Jetzt stand sie allein auf der Anhöhe über Bolanden mit einem Drachen, auf Augenhöhe mit dem Donnersberg und einem furiosen Gewitter. Das einzige bisher in diesem Sommer und unter Umständen das letzte. Sie musste es nutzen. Sie hatte alles gründlich vorbereitet, alles dabei, was sie für ihr Experiment brauchte, und in den vergangenen Wochen viel über das Wesen von Gewittern nachgedacht: Dunkle, schwere Wolken konnten möglicherweise als riesige Reibekörper funktionieren. Blitze zündeten alles an, was brennbar war. Feuer wiederum entstand aus Funken, also gab es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Blitzen und Elektrizität. Aber dieses neu entdeckte Element war gefährlich. Unter Umständen tödlich. Angst, so sagte sie sich, musste sie aber nicht vor dem Wagnis haben, sondern nur vor dem Sterben in vanillefarbenen Sesseln. Trotzdem war ihr mulmig zumute. Die Schnur war noch immer fest mit dem Stock verbunden, der Stock steckte noch gut im Boden. Es musste jetzt sein. Jetzt. Sie musste es ausprobieren. Schlimm genug, dass es so vieles gab, was sie noch nicht ausprobiert hatte.

Gleichmäßig und zügig stieg der Drachen. Die Libellenflügel gewannen Höhe, das Jadegrün sah unwirklich schön aus gegen das diffuse Licht aus beginnendem Morgen und Gewitterleuchten. Als dann auch noch die Konturen der großen düsteren Wolken durch das dünne Papier schimmerten, kam ihr der Drache wie die stolze Brokatfahne bei einer Fronleichnamsprozession vor. Ellenweise gab sie Schnur nach. Der Wind war dem Drachen diesmal wohlgesonnen und trug ihn weiter, ohne dass er zu sehr zappelte. Charlotte stand kerzengerade und ließ ihn nicht aus dem Auge. Ihr Herz pochte bis in den Hals hinauf. Sie fror auch nicht mehr. Stattdessen hörte und sah sie erstaunlicherweise deutlicher als je zuvor in ihrem Leben. Obwohl sie doch so kurzsichtig war, dass sie den Fürsten von Weitem manchmal mit seinem reizenden Kutscher verwechselte, der sie hin und wieder heimlich durch die Gegend fuhr. Einmal bis nach Mannheim, wo sie sich dann allein umgeschaut und ein Kaffeehaus besucht hatte.

Eine Krähe schrie auf. Scharf und laut. Sie flatterte knatternd an ihr vorbei wie der Reifrock ihrer Mutter, wenn diese ein Gespräch für beendet erklärte. Die schmalen Holzleisten ihres Drachens konnte sie zu ihrer Verblüffung einzeln zählen. Und erst die Wolken! Trugen sie Unterröcke? Fasziniert betrachtete Charlotte die Spitzenmuster an ihren Rändern, die innerhalb von Sekunden neu geklöppelt und an einer Stelle gelb und an der anderen in der Farbe reifer Auberginen gesäumt wurden. Der Himmel war in Aufruhr und erfand sich jeden Augenblick neu. War es so an den ersten Tagen der Schöpfung zugegangen, als sich Wasser und Land getrennt hatten und die Elemente zu wirken begannen? Charlotte staunte. Über das fulminante Schauspiel über ihr und die vielen noch unerforschten Geheimnisse, die in dem schnellen Wechsel von Farben, Blitzen und Donner lauerten. Das war heute ihr Himmel. Das war die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatte.

Aber sie staunte auch über sich selbst. Ihre Haut war auf einmal so dünn und durchlässig, dass sie alles um sich herum spürte. Sie schluckte gierig den schwefeligen Geruch der Blitze, und zwischen ihren Haaren sammelte sich feiner Sand, den der Wind von weit her mitgetragen hatte. Wenn sie fünf Tassen türkischen Kaffee getrunken hätte, hätte sie sich nicht wacher gefühlt. Sie genoss diesen Zustand, kostete ihn aus und wollte ihn nie wieder verlassen müssen. Warum hatte sie nicht früher schon alles so überdeutlich erlebt?

Das Netz, das plötzlich über sie fiel, sah sie trotzdem nicht. Nur dass sie aufschrie, hörte sie. Augenblicklich legten sich Spinnweben über ihr Gesicht, in ihren Ausschnitt, auf ihre nackten Arme. Charlotte spürte sie aber auch sofort unter dem Stoff ihres Kleides, auf ihrem Bauch, ihrem Busen, ihren Schenkeln. Unentwegt kribbelnd, fast stechend, aber unsichtbar. Sie wischte, schlug mit den Händen danach, versuchte, sie mit spitzen Fingern aufzupicken, fand die Fäden aber nicht, zwickte dabei nur ins eigene Fleisch. Würgende Angst stieg in ihr auf. Hatte sie mit ihrem Experiment den Bogen überspannt?

Niemand würde ihre Hilfeschreie hören. Die Bauern unten auf dem Feld waren viel zu weit weg, wahrscheinlich schon fertig mit dem Mähen und auf dem Nachhauseweg. Die wabernden und zuckenden Spinnweben nahmen ihre gesamte Haut, die in den Achselhöhlen, Ohren und unter den Haaren in Beschlag, sogar ihre Lippen und Augenlider, leicht, zittrig und doch entsetzlich unheimlich. Fortlaufen, schoss ihr durch den Kopf. Schnell fort von hier und diesem gewalttätigen, heimtückischen Himmel. Und den Drachen einfach fliegen lassen? Alle ihre Vorbereitungen wären umsonst. Was um Gottes willen spielte sich hier ab? Führte jemand ein Experiment durch, bei dem eigentlich sie das Versuchsobjekt war und das jetzt außer Kontrolle geriet? Noch nie hatte sie bei Gray oder Dufay von so etwas gelesen. Oder doch? Spinnweben, Zuckungen. Charlotte schluckte. Berührungslose Berührung! Geschah das gerade mit ihr?

Und dann sah sie sie. Funken, die kobaltblau und silbrig aus den Rändern des Drachens sprühten. Charlottes Angst wich augenblicklich einer grenzenlosen Neugier, das rasende Herzklopfen blieb. Sie hörte sogar das Knistern, denn der Wind war stiller geworden. Hin und wieder fielen an einer Stelle die tanzenden Funken in sich zusammen, spritzten dafür an einer anderen wieder höher und blauer als zuvor. Ein vollkommeneres Feuerwerk, da war sich Charlotte sicher, hatte noch nicht einmal der Kurfürst in Mannheim abbrennen lassen. Die Spinnweben auf ihrer Haut kribbelten nach wie vor, aber sie wusste jetzt warum. Die Elektrizität! Sie hatte dem Himmel die Elektrizität entlockt. Sie hatte sich selbst elektrisiert. Die Macht des Himmels war mit einem Papierdrachen, einem bunten Kinderspielzeug, entlarvt worden.

Charlotte stand und staunte. Bis die ersten dicken Tropfen aus den Wolken platzten. Noch als eine schräge Regenwand sie vollkommen durchnässte und der Drachen, zu einem jämmerlichen Bündel verkohlt und zerbrochen, in einem Strauch am Abhang hängen blieb, stand sie auf der höchsten Stelle der Hügelkette. Jubilierend und zu ihrer eigenen Überraschung tatsächlich glücklich. Der Boden um sie herum saugte nach den Wochen der Trockenheit gierig die Wassermassen auf. Die Luft roch frisch und jünger.

Es regnete den ganzen restlichen Tag. Grau und vorhangdicht, zwischendurch dünner und gemütlich wie ein gewöhnlicher Landregen. Dann ballten sich erneut violette und braune Wolken zusammen und schleuderten Blitz und Donner heraus. Bis schließlich wieder fette Tropfen, schwer wie Kristalle, zur Erde fielen und zersprangen. Auf den Wegen und Landstraßen schossen braune Bäche dahin und weichten sie auf, bis sie unpassierbar wurden. In Kirchheim schwamm wie so oft Abfall und Kot in den engen Gassen. Als Ernst Christoph Graf von Manteuffel kurz vor neun Uhr in den festlich erleuchteten Bildersaal des Kirchheimer Schlosses geführt wurde, sah jeder, dass seine Seidenstrümpfe voller hässlicher Spritzer waren, seine taubenblauen Kniehosen teilweise auch. Seine Kutsche war unterwegs in einen Graben gerutscht, und ein Rad hatte ausgewechselt werden müssen. Hier ist das Ende der Welt, hatte er sich gedacht und keine Zeit mehr zum Umziehen gehabt.

»Ein Studienfreund aus Jugendzeiten, einst der beste Mann im Kabinett seines Kurfürsten. Und jetzt dessen verlängerter Arm an der Universität Leipzig, damit sich die Naturwissenschaften, auf die neuerdings alle so versessen sind, auch rechnen«, stellte ihn der Fürst vor und kräuselte launig die Lippen, bevor er fortfuhr, »und natürlich wie die Sachsen so sind, immer am Puls unserer schnellen Zeit.«

Amalia von Geispitzheim klappte ihren Fächer zu, den neuen mit der japanischen Landschaft, und stupste die Spitze gegen die schmale Brust des Gastes.

»Schnelle Zeiten bräuchten eher schnelle Männer. Fühlen Sie also nur den Puls oder können Sie auch mit der Geschwindigkeit mithalten, Graf?«

»Das scheint mir inzwischen überflüssig und Vergeudung. Denn unsere Zeit hat ja jetzt etwas, was die Zeit überholt und weit hinter sich lässt. In Leipzig sind wir auf diesem Gebiet führend.«

Amalia klappte ihren Fächer wieder auf, und Charlotte genoss insgeheim die seltene Situation, dass ihrer Mutter keine passende Antwort einfiel. Stattdessen bedachte die Mätresse des Fürsten Manteuffel noch mit einem ihrer berühmten funkelnden Blicke und schritt dann zum nächsten Gast weiter. Charlotte blieb stehen und drehte den Stil ihres roten böhmischen Glases zwischen den Fingern. Sie war ihm nicht einmal vorgestellt worden. Dass ihre Nase für ein hübsches Gesicht zu lang und auch ihr Kinn eine Spur zu spitz war, wusste sie selbst. Deshalb hoffte sie, dass ihm wenigstens ihr Dekolleté gefiel, wartete aber nicht ab, bis er sich bequemte, das Wort an sie zu richten.

»Meinten Sie die Elektrizität?«

»Wie bitte?«

»Meinten Sie mit dem, was in unserer Zeit schneller als die Zeit ist, das neue Element, die Elektrizität?«

Statt endlich zu antworten, glotzte er sie aber nur an. Charlotte bemerkte, dass er Hechtaugen hatte, und ließ ihren Blick absichtlich nach unten zu seinen Beinen wandern. Vermutlich wusste er, dass sie sein größter Makel waren. Charlotte hatte recht. Er räusperte sich, genügend zurechtgestutzt.

»Elektrizität, ja, ja stimmt. Sie ist schnell.«

Mein Gott, hatte dieser sächsische Graf einen Dachschaden? Charlotte spürte, wie sie immer ungeduldiger und gereizter wurde. Wenn schon einer in dieser verdammten Einöde vorbeikam und etwas über Elektrizität wusste, vielleicht sogar mehr wusste als sie selbst, dann sollte er gefälligst reden. Und nicht jedes Wort langsam im Mund zerkauen. Sie konnte ihre Neugier kaum noch zügeln.

»Sind Sie selbst Elektriker, ich meine, experimentieren Sie?«

Charlotte legte bei dieser Frage alle schamlose und verheißungsvolle Verführungskraft in ihre Stimme, die sie über die Jahre von ihrer Mutter gelernt hatte und jetzt mit fünfundzwanzig passabel beherrschte. Sie musste ihn an die Angel bekommen. In ihren Augenwinkeln sah sie allerdings zu ihrem Schrecken, dass Felix sich näherte. Der liebe, traurige Felix, noch dazu wieder so hübsch mit seinen buschigen schwarzen Augenbrauen und drahtigen, wohlgeformten Waden. Bevor der sächsische Graf schwerfällig zu einer Antwort ansetzte, zupfte Charlotte ihn am Brokatärmel und zog ihn mit sich ein paar Meter weiter in eine kleine ungestörte Nische des Saals, wo ein marmorner Faun mit entblößtem Unterleib stand und aus seinem weit geöffneten Mund einen Strahl Wein in ein Becken plätschern ließ. Manteuffel sträubte sich nicht. Charlotte bemerkte, dass sich an den Rändern seiner Perücke Schweißtropfen sammelten. Ihre rechte Hand blieb auf seinem Ärmel liegen. Ziemlich nahe mit den Lippen an seinem blassen Gesicht, raunte sie:

»Vergessen Sie die Frage. Sie war dumm und überflüssig. Ein Mann von Welt wie Sie ist selbstverständlich Elektriker! Das habe ich vom ersten Augenblick an gespürt. Überhaupt, hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass sie so etwas unergründlich Rasantes, geradezu Gefährliches in den Augen haben?«

Charlotte riss ihre grauen Augen, die im Kerzenschimmer, so hoffte sie immer, dunkler wirkten, als sie waren, so weit auf, dass es schmerzte. Ihre, wie sie fand, kaum zu überbietende Albernheit wurde belohnt. Der Graf räusperte sich, Röte überflutete sein Fischgesicht.

»Ja gewiss, Sie haben recht, es ist gefährlich, sehr gefährlich. Ich meine … wie war doch Ihr Name?«

»Charlotte von Geispitzheim.«

»Es ist mir eine Ehre.«

Jetzt, da sie beinahe schon an ihm klebte, verbeugte er sich ungelenk. Seine Perücke berührte ihre Nasenspitze, der rieselnde Puder brachte sie zum Niesen. Der Mann war offensichtlich ein Tölpel.

»In der Tat, ich sage es ganz offen, ich bin ein Elektriker und will Ihnen auch nicht verheimlichen, dass ich ganz nah dran bin an den bahnbrechenden Experimenten unseres Jahrhunderts mit den modernsten, raffiniertesten Maschinen, die die besten sächsischen Instrumentenbauer …«

Da Manteuffel selten so viel auf einmal mit Frauen sprach, hatte er jetzt einen Frosch im Hals stecken und musste würgen. Charlotte hielt schnell ihr Glas in die Fontäne des spitzohrigen Fauns, ließ es randvoll laufen, sodass der Wein überschwappte, als sie es dem Grafen an die Lippen hielt.

»Zu freundlich, zu freundlich, wirklich …«

Er trank gierig, hustete noch ein paar Mal, und Charlotte hatte das Gefühl, dass seine vorgewölbten Augäpfel ihr gleich in den Ausschnitt fallen würden. Also schlug sie eine strengere, gebieterische Tonart an. Dass der Wechsel von Zuckerbrot zu Peitsche bei Männern fast immer nötig war, hatte sie ebenfalls von ihrer Mutter gelernt.

»Maschinen, sagten Sie gerade! Welche Maschinen?«

»Ja, die neue Elektrisiermaschine, die Johann Heinrich Winkler, Professor für Philosophie, Latein und Griechisch, entworfen und sich von dem Drechsler Gießing hat bauen lassen. Nur ein ausgewählter Kreis, dem ich angehöre, konnte bislang sehen, wie sie funktioniert.«

Manteuffel schwitzte stärker, Charlotte rückte ihm noch einen Fingerbreit entgegen.

»Wie funktioniert sie denn, die Maschine? Reden Sie doch!«

Manteuffel keuchte.

»Sie funktioniert gewaltig, kann ich Ihnen sagen. Die Elektrizität schießt förmlich durch …«

Manteuffels Blick schwankte jetzt zwischen Charlottes saugenden Augen und ihrem kleinen, apart zur Schau gestellten Dekolleté. Charlotte sagte für eine Weile nichts, hypnotisierte ihn aber weiter. Das gerade Gehörte arbeitete in ihr und verknotete sich langsam, aber gründlich mit dem, was sie am frühen Morgen mit ihrem Drachen auf dem Berg erlebt und beobachtet hatte. Elektrizität konnte, so sah es aus, sowohl bei Gewitter aus dem Himmel abgezapft als auch von bestimmten Maschinen produziert und aus denen dann herausgeholt werden. Charlotte zuckte kaum merklich zusammen, als ihr die ganze Tragweite dieser Kombination klar wurde. Auch die komplizierteste und scheueste aller Naturgewalten konnte also benutzt werden. Ihr Mund fühlte sich trocken an und spannte an den Rändern. Was für ein Tag! Charlotte seufzte und hatte das Gefühl, lange und weit abwesend gewesen zu sein. Doch der sächsische Graf starrte sie nach wie vor an, der Wein rieselte gleichmäßig aus dem Mund des Fauns, die Musik, die Stimmen, die tänzelnden und schiebenden Schritte wogten um sie herum, ohne aus dem Takt gekommen zu sein.

Sie bemerkte ihr halbvolles Glas in der Hand, aus dem gerade der Graf getrunken hatte, und leerte es wie in Trance in einem Zug. Ihre linke Hand befand sich urplötzlich und eigentlich ohne ihr Zutun zwischen den Beinen des sächsischen Gastes. Er stöhnte auf. Was sich in ihren Ohren mit dem sanften Glucksen des Weinstrahls vermischte. Die Stelle, die sie berührte, löste endgültig seine Sprechhemmung.

Eine halbe Stunde später war alles abgemacht. Der Tischler, den Professor Winkler von der Universität Leipzig beauftragt hatte, war derzeit ausgebucht. Auch die preußische Akademie der Wissenschaften hatte schon eine Bestellung aufgegeben. Und sogar diverse Großfürsten in Sankt Petersburg, die kürzlich noch in Kaftanen herumgelaufen und mit bloßen Händen Bären gewürgt hatten, wollten jetzt Elektrisiermaschinen haben, am besten gleich drei auf einmal. Ohne zu Stocken raunte Manteuffel alles in ihr Ohr. Dabei berührte er es mit seiner Zunge. Also angenommen, eine Maschine wäre mit etwas Glück und seinem energischen Zureden bis Weihnachten fertig, dann ließe sich aber kaum reisen, die Straßen durch die Pfalz waren ja bekanntlich in einem erbärmlichen Zustand. Nicht nur bei solch einem Schweinewetter wie heute, sondern andauernd. Charlotte nickte, da hatte der Mann recht, und drehte ihr Ohr etwas zur Seite. Also April, da wäre er zuversichtlich. Im April könnte er sie ihr bringen. Oder vielleicht doch besser erst Anfang Mai. Manteuffel kam wieder ins Zaudern, seine Zunge erlahmte und blieb hinter seinen Zähnen. Aber Charlotte strahlte ihn siegessicher an. Was machte bloß wieder ihre linke Hand?

»Aber ich brauche natürlich eine Anzahlung«, sagte Manteuffel schließlich matt, und Charlotte fiel zum ersten Mal auf, dass er nicht nur spindeldünne Waden hatte, sondern auch ein Kinn, das keines war. Einen Scherenschnitt von ihm würde jeder für eine Karikatur halten.

»Eine Anzahlung?«

»Eine Anzahlung, Fräulein von Geispitzheim. Das ist bei jedem Geschäft so.«

Seine Hechtaugen glänzten.

Felix, das hochbegabte Kind, das ein Dorfpfarrer dem gerade eben vom Grafen- in den Fürstenstand erhobenen Carl August von Nassau-Weilburg ans Herz gelegt hatte und das deshalb auf dessen Kosten Jura, Theologie und Philosophie, später auch noch Mathematik hatte studieren dürfen und danach als Privatsekretär und Nachschlagelexikon Verwendung fand, riss Stunden später das Fenster seiner Dachkammer auf und schleuderte den vierten Band von John Lockes »Essay on Human Understanding« in die frische Regennacht hinaus. Laut und betrunken rief er hinterher:

»Menschenrechte gelten nicht für Frauen! Nie und nimmer.«

Sich selbst warf Felix auf sein schmales Bett. Er weinte vor Wut und Selbstmitleid. Das Buch war das einzige Exemplar im Schloss gewesen und noch dazu sein privates Eigentum, viel gelesen und gut verborgen vor misstrauischen Blicken. Jetzt weichte es zwischen Rhabarberstauden und Fuchsienrabatten auf, oder schlimmer noch, es schwamm im Kanal.

Wie immer hatte er Charlotte den ganzen Abend über nicht aus den Augen gelassen, zwischendurch jedoch wünschte der Fürst, dass er in die Bibliothek ging und irgendein Zitat nachschaute. Also hatte er später, als der Empfang zu Ende war, einem der Lakaien Geld zugesteckt und ihn ausgefragt. Deshalb wusste er genau, dass Charlotte mit dem sächsischen Grafen in dessen Zimmer verschwunden war.