ISBN: 978-3-95573-304-9
1. Auflage 2015, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2015 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Unter Verwendung des Bildes 232581022 von canadastock (shutterstock).
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
Semper avarus eget litore
quot conchate tot sunt
dolores...
So viele Muscheln es am
Strand gibt, so viele
Schmerzen sollst du erleiden...
Der Himmel im Osten glühte rot. Es war ein unheilvolles Glühen, begleitet von dumpfen Donnerschlägen, die Tod und Vernichtung brachten über eine Stadt und deren Bewohner, die nun dafür büßen mussten, dass sie einem falschen Gott gefolgt, dessen satanisches Credo gesungen hatten.
Der Sturm brachte den Geruch nach verbranntem Fleisch und Tod zu den Menschen, die sich, weit entfernt von diesem Inferno, schwarz und schweigend wie Marionetten unter dem rotglühenden Himmel bewegten. Sie vermieden einander anzusehen oder miteinander zu reden. Die Blicke zu Boden gerichtet, Ameisen gleich, trugen sie ihre Eimer und Strohbündel zu der Baustelle, die den Blick auf den moorigen Siel versperrte.
Plötzlich erklang das Wiehern von Pferden. Die Menschen ließen ihre Arbeitsgeräte fallen und starrten den beiden kräftigen Belgiern entgegen, deren Hufe den Sand aufwühlten. In stoischem Gleichmut zogen sie einen Leiterwagen heran, der mit weiteren Baumaterialien beladen war.
Für einen Moment zerriss der Sturm die dichte Wolkendecke und das Glühen im Osten wurde so intensiv, dass man in der Ferne das aufgewühlte Meer sehen konnte, auf dem weiße Schaumkronen tanzten. Dann fegten neue, schwarze Wolken heran, gespenstisch beleuchtet von dem Glühen und wieder und wieder zerrissen vom Sturm, der an Kraft noch zuzunehmen schien.
Der Kutscher zog die Zügel an, ein kurzes „Ho!“ und die Pferde blieben stehen. Ihre mächtigen Körper dampften, sie schüttelten ihre Mähnen, dann starrten sie so gleichgültig vor sich hin, als würden ihnen die Sandkörner nichts anhaben, die der Sturm ihnen wütend entgegenblies.
Der Kutscher erhob sich von seinem Bock. Ein hochgewachsener Mann, der die schwarze Uniform, die er trug, ganz ausfüllte. Er stellte das rechte Bein, das in Breeches und kniehohen Reitstiefeln steckte, auf das Spritzbrett, stemmte beide Fäuste in die Seiten und schenkte seinem Volk für ein paar atemlose Sekunden lang den Anblick seiner uneingeschränkten Macht.
Mit stolzen Blicken sah er über die Menge dunkel gekleideter Menschen. Ihre Gesichter waren ausdruckslos. Eng aneinander gedrängt standen sie da und sahen zu dem Kutscher hinauf, der mit einer herrischen Bewegung mehrere junge Männer herbeiwinkte, die in der ersten Reihe standen.
Zögernd gehorchten sie. Sie traten an den Leiterwagen, auf dem inmitten von Strohballen, getrocknetem Kuhdung und anderem Baumaterial ein junger Mann lag. Der Sturm riss und zauste an seinem Haar und der zerfetzten Jacke. Man hatte seine Hände an einen der Holme gefesselt, in seinen Augen spiegelte sich nackte, kalte Todesangst.
Getrocknetes Blut klebte an seiner Stirn. Aus der zerfetzten Hose ragte der Schienbeinknochen weiß und spitz. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Bein zu schienen oder die Wunden des Mannes zu verbinden.
Er fing an zu schreien, als die Männer seine Fesseln lösten und ihn ungeachtet seiner Verletzungen vom Wagen zerrten. Es waren wilde, fürchterliche Schreie, in denen sich Angst und Schmerz vermischten. Doch die Menschen standen nur da. Eine stumme, schwarze Masse, die scheinbar ohne jede Regung zusah, wie der Schwerverletzte zu der Baustelle geschleift und dort erneut gefesselt wurde, diesmal in der Weise, in der eine Hausfrau einen Sonntagsbraten zu wickeln gewohnt sein mag, und dann niedergelegt wurde.
Der Deich erhob sich schwarz und riesig aus der Landschaft. Doch er bot den Menschen, die ihm vertrauten, momentan keinen wirklichen Schutz, denn ein etwa zehn Meter breiter Spalt klaffte darin. Die Dorfbewohner versuchten seit Tagen, ihn wieder zu schließen. In einer nicht enden wollenden Prozession hatten sie Holz, Steine, Stroh, Kuhdung und Unmengen von Erde herangeschafft, die nun in bizarren Halden am Strand lagerten.
Sie hatten begonnen, sich wie Maschinen zu fühlen, die Tag und Nacht arbeiteten. Doch dann war die Eintönigkeit des Deichens von einem Ereignis zerrissen worden, das sie alle für einige Zeit aus ihrer Lethargie gerissen und in das kleine Wäldchen in der Ley Bucht getrieben hatte. Spät am Nachmittag hatten dann zwei Marschbauern einen abgeasteten Birkenstamm in den Sand gerammt. Die Schläge der Männer waren vom Sturm zusammen mit dem Grollen des Donners im Osten zu den Fischern im Industriehafen getrieben worden. Eine dumpfe Stimmung hatte sich über das Dorf gelegt, die mit jedem Schlag düsterer und lastender wurde. Jetzt stakte der Stamm fest im Sandboden. Genau in der Mitte der Schneise trotzte er dem Sturm, der ihn wütend umtanzte und die frisch aufgeschüttete Erde, Holz und Stroh aufwirbelte, als wollte er den Deichschluss verhindern.
Langsam wandten sich die Köpfe der stummen Gaffer dem Deichgrafen zu, der noch immer auf dem Leiterwagen stand. Er winkte und sofort traten Männer und Frauen vor, die mit devoter Beflissenheit den Leiterwagen zu entladen begannen. Ihre Lasten trugen sie zu den Halden, vor dem Deich, legten sie dort nieder und machten den gefesselten Verletzten damit zu einem Teil des Baumaterials.
Endlich war der letzte Ballen entladen. Ein hochgewachsener Mann trat aus den Reihen der schweigenden Dorfbewohner. Er ging zu dem Gefangenen, schlug das Kreuzzeichen über ihn und murmelte Worte, die niemand verstand, weil sie ihm der Sturm von den Lippen riss. Schließlich trat er zurück, bekreuzigte sich und reihte sich wieder in die Reihe der schweigenden Menschen ein, die abwartend zu dem Deichgrafen sahen.
Er stand immer noch auf dem Wagen. Hochaufgerichtet, als würde er weder den Sturm noch die nadelstichfeinen Sandkörner bemerken, die in seine Haut stachen. Mit der schwarz behandschuhten Linken hielt er seine Schirmmütze fest, die der eisige Wind ihm vom Kopf reißen wollte, mit der Rechten hob er die Peitsche und deutete auf den Gefangenen, der daraufhin einen gellenden Schrei ausstieß, der jedoch an der stoischen Gleichgültigkeit der starrenden Masse abprallte. Drei junge Männer in blauer Fischerkluft hoben ihn auf, trugen ihn zum Deich und banden ihn an den Birkenstamm. Er schrie noch schriller, riss an seinen Fesseln in dem nutzlosen Versuch, seinem grausamen Schicksal zu entfliehen. Doch sein geschundener Körper war nicht in der Lage sich zu befreien.
Die Menge stand nur da und glotzte. Plötzlich schien das Glühen im Osten zu erlöschen, dicke schwarze Wolkenpakete trieben heran, der Wind schien noch schauriger zu heulen. Es wurde düster und kalt.
Es begann zu regnen, winzige kleine Eisstückchen, die ins Gesicht stachen. In der Ferne rollte Donner auf Donner über den Himmel. Der Mann auf dem Kutschbock vollführte eine herrische Geste in Richtung Deich, dann ließ er sich nieder und steckte die lange Peitsche in die Halterung neben dem Bock.
Langsam setzten sich die Menschen in Bewegung. Sie griffen zu den Schaufeln, Eimern und Handrammen, füllten sie und trugen sie zum Deich. Das Kreischen des Mannes wurde noch schriller, übertönte das Schreien des Windes und das dumpfe Grollen des Donners, erreichte jedoch nicht die Herzen der Menschen, die sich wie Automaten bewegten. Einer nach dem anderen trat an den Spalt, leerte seinen Eimer oder seine Schaufel, drehte sich um und kehrte zu den Halden zurück, um sein Handwerkszeug erneut zu füllen.
Zwischendurch traten kräftige junge Männer hinzu, die das lose Material mit Handrammen festklopften. Noch immer hörte man das Kreischen des Opfers, von dem jetzt nur noch das blutverkrustete Gesicht zu sehen war. Als es von der ersten Ladung Erde getroffen wurde, gab der Mann ein gurgelndes Geräusch von sich, dann schrie er weiter. Doch da traf ihn schon ein neuer Erdwurf und dann noch einer und noch einer und dann Steine, Stroh und Holzbalken, die von kundigen Händen als Stabilisatoren in die Konstruktion eingearbeitet wurden, um sie haltbar zu machen.
Die Schreie verstummten abrupt. Doch es schien niemandem aufzufallen. Alle arbeiteten mit einer emsigen Verbissenheit, die die Szene noch unheimlicher machte. Weder der Sturm noch der Regen, der ihre ärmlichen Kleider durchweichte, konnten sie von ihrer Tätigkeit abhalten.
Langsam aber stetig schloss sich der Spalt. Als das erste, milchig graue Morgenlicht über den Horizont kroch, fielen die letzten Schaufeln und Eimer voller Erde auf den Wall.
Der Mann auf dem Kutschbock schnalzte mit der Zunge, wendete das Gefährt und ließ die behäbigen Braunen zur Straße trotten. Hinter ihm formierten sich die Menschen zu einem Trauerzug, der schweigend und schwankend über den Sand in Richtung Dorf zog. Sie sahen nicht ein einziges Mal zu dem Deich zurück, der nunmehr geschlossen, düster und abweisend sein grausiges Geheimnis behütete.
Der Sturm heulte unaufhörlich das Totenlied für all die Menschen, die in dieser Nacht ums Leben gekommen waren.
Paulina fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf. Ihre Blicke wanderten durch das Schlafzimmer, dessen Einrichtungsgegenstände im milchigen Licht des Morgens seltsam scharfe Konturen zeigten.
Sie schlug die Bettdecke zurück, stand auf und zerrte sich das schweißnasse Nachthemd vom Körper. Nackt tappte sie ins Badezimmer hinüber. Das kalte Wasser vertrieb die Angst. Aber die Erinnerung an den Alptraum blieb.
Was hatte er zu bedeuten?
Es war Jahre her, seit sie solche Träume erlebt hatte. Damals waren sie immer als Vorboten eines Unglücks aufgetreten, hatten sie warnen wollen. Doch mit jedem Jahr, das sie dem Erwachsenenalter näher gebracht hatte, waren die Träume weniger geworden, bis sie schließlich gänzlich ausgeblieben waren. Paulina trauerte ihnen nicht nach. Sie war froh gewesen, sie endlich losgeworden zu sein. Dass sie jetzt zurückkehrten, konnte eigentlich nur mit dem Schock zusammenhängen, der sie innerlich immer noch lähmte.
Sie kletterte aus der Duschkabine, schlüpfte in den bequemen Bademantel und ging in die Küche. Die Beschäftigung mit so alltäglichen Handreichungen wie das Einlaufen lassen des Wassers in den Kessel, das Häufen des Kaffees in den Filter, das Decken des Frühstückstisches beruhigten ihre Nerven und ließen den Traum verblassen.
Du bist einfach überdreht, sagte sie sich, während sie die Butter aus dem Kühlschrank nahm. Du musst lernen, dich zu entspannen und die ganze Geschichte zu vergessen. Sieh es doch positiv: Wer weiß, was dir erspart geblieben ist?
Der Wasserkessel pfiff. Paulina nahm ihn vom Herd und begann, das heiße Wasser über den Kaffee zu gießen. Sofort breitete sich ein angenehm würziger Duft aus, der die ganze Küche erfüllte.
Als die Kanne gefüllt war, goss sie sich eine Tasse ein, ging damit zum Fenster und sah in den Garten hinaus, während sie in kleinen Schlucken trank.
Der Himmel trug Sturmwolken. Sie hingen so tief, dass man glauben konnte, man brauchte nur die Hände auszustrecken, um nach ihnen greifen zu können. Die frisch aufgepflügte Erde war schwarz, Möwen hockten auf den Schollen und delektierten sich an den Würmern.
Der Herbst hatte Einzug gehalten. Die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, würde der Sturm herunterreißen, der sich zornig aufbaute.
Sie hatte ausgetrunken. Paulina stellte die Tasse auf den Tisch, füllte den restlichen Kaffee in eine Thermoskanne und ging in ihr Schlafzimmer zurück, um sich anzukleiden.
Auf dem Weg zur Haustür kam sie an Ellens Zimmer vorbei. Leise, um die jüngere Schwester nicht zu wecken, drückte Paulina die Klinke herunter und drückte die Tür auf. Doch ihre Vorsicht erwies sich als überflüssig. Das unberührte Bett verriet, dass Ellen die Nacht nicht in diesem Hause verbracht hatte.
Sofort war die Angst da. Wo steckte Ellen? War sie bei Gabriel geblieben? Gabriel mit den düsteren Augen und dem zynischen Lächeln, das alles und jeden zu verspotten schien. Obwohl er einen vollkommen ruhigen Eindruck machte, hatte Paulina in seiner Gegenwart immer das Gefühl, dass die Luft um ihn herum brannte. Sie mochte ihn nicht, versuchte aber, sich dies nicht anmerken zu lassen, um Ellen nicht noch schneller in seine Arme zu treiben.
Ihre jüngere Schwester machte immer genau das, wovor man sie am eindringlichsten warnte.
Das war schon früher so gewesen. Ellen war das Kind, das in die höchsten Bäume kletterte, das die roten Beeren hinterm Haus probierte und das die Hühner des Nachbarn mit in Cognac getauchten Brotstücken fütterte. Ein Enfant terrible, das seine Eltern von einem Schock zum nächsten trieb und Paulina als ältere Schwester den letzten Nerv kostete.
Sie war schnell für eine Sache zu begeistern, verlor aber genauso schnell wieder das Interesse daran. Mal hatte sie Nonne werden wollen, dann Sängerin, Schauspielerin und schließlich hatte Ellen eine Ausbildung zur Krankenpflegerin begonnen.
Fast ein Jahr lang war sie als zweite Florence Nigthingale durchs Leben geschwebt, hatte jedem nur Gutes tun wollen, bis plötzlich ein Maler in ihr Leben getreten war, der von den Vorzügen des Buddhismus schwärmte und Ellen nach Nepal mitnahm, wo sie ein halbes Jahr lang in einer Art Kloster gelebt hatte.
Es gab noch viele Beispiele für Ellens sprunghaften Charakter. An manche Episoden erinnerte Paulina sich nur mit Grausen, doch die Hoffnung, dass ihre Schwester aus ihren Fehlern lernen würde, hatte sich bisher als nichtig erwiesen.
Und jetzt war Gabriel in ihr Leben getreten.
Noch war nicht ganz heraus, was sie in ihm sah: Einen Guru oder doch eher den Liebhaber? Plötzlich redete sie von Seelenwaschungen und davon, dass sie ihr eigenes Bewusstsein erweitern musste. Von innerer Reinheit, Läuterung und Reue. Von Buße und Demut, aber auch von irgendeinem Kampf, den sie gegen die inneren Dämonen ausfechten musste. Wirres Zeug, das sie nachplapperte wie ein Beo und dessen Sinn sie mit eigenen Worten nicht erklären konnte.
„Du musst es einfach sehen“, hatte sie Paulina gegenüber argumentiert. „So etwas ist nicht mit bloßen Worten zu erklären. Das musst du erleben, dann verstehst du, was gemeint ist.“
Paulina hatte sich vorgenommen, sobald wie möglich zu einer dieser Versammlungen zu gehen, von denen Ellen ihr erzählt hatte. Doch bisher war es noch nicht dazu gekommen. Vielleicht lag es daran, dass Paulina das Gefühl hatte, dass es Ellen auf einmal gar nicht mehr so recht war, wenn ihre große Schwester dort auftauchte. Jedenfalls erfand sie immer neue Ausreden, weshalb Paulina sie nicht begleiten konnte und Paulina beharrte nicht darauf, weil sie sich momentan in einem Zustand befand, der sie schwach und antriebslos machte. Sie hatte keine Kraft für neue Auseinandersetzungen oder gar Kämpfe mit der jüngeren und weitaus zäheren Schwester.
Mit einem Seufzer verließ sie das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Kalte Luft schlug ihr entgegen, als sie aus dem Haus trat. Die letzten Astern ließen die Köpfe hängen. Alles war mit einer leichten Reifschicht überzogen.
In der Ferne hörte sie die Brandung. Das Tosen der Wellen war lauter als sonst, was den nahenden Sturm ankündigte. Draußen auf dem Meer tobte er wahrscheinlich schon ungezogen herum und machte den Krabbenfischern zu schaffen, die ihre letzten Fänge einholten. In wenigen Tagen würde der Ort in den Winterschlaf fallen. Dann lief höchstens noch das Ausflugsschiff "Grote Gude" aus, sofern sich dann überhaupt noch Touristen hierher verirrten.
Langsam folgte Paulina dem gepflasterten Weg, der direkt zum Deich und dem dahinter liegenden Strand führte.
Ihr Herz klopfte einen unruhigen Takt.
Die Buchvorstellung war ein voller Erfolg gewesen. Nach dem Festakt, der im Rathaus stattfand, hatte Jeanette einige Passagen daraus gelesen und anschließend unzählige Exemplare signiert. Der Bürgermeister behauptete stolz, das jeder Bürger der Stadt mindestens ein Buch gekauft hatte, was Jeanette bezweifelte. Aber die Resonanz auf die Erstveröffentlichung war so gut gewesen, dass Jeanette zufrieden in ihr Hotel zurückkehren konnte.
Im Foyer standen mehrere Vitrinen. Auch hier war ihr Buch ausgestellt. Interessenten konnten es an der Rezeption erstehen, genauso wie in allen öffentlichen Buchhandlungen und in der Touristeninformation, die es mit den üblichen Tricks der Branche bewarb.
Die Idee war eine Kopfgeburt des Bürgermeisters, der sie wie ein Kind liebte und hegte. Nach zwölfmonatiger Schwangerschaft geboren, hatte er sein Baby dem Heimatverein der Stadt vorgestellt und so lange liebgelobt, bis dieser sein "Okay" gab und den Kontakt zu Jeanettes Verlag aufgenommen hatte. Der wiederum hatte erst mal, wie üblich, seine Marketingabteilung darauf angesetzt, die das Konzept hundertmal umgeschrieben und schließlich, als völlig neuartig, der Verlagskonferenz präsentierte, die es der Anzeigenabteilung überantwortet hatte, welche – wieder nach gründlicher Prüfung – es endlich an die Redaktion geleitet hatte, die daraus ein lesbares Buchkonzept basteln sollte, dass so verkäuflich sein musste, dass es nicht nur die Entwicklungs- und Produktionskosten wieder hereinbrachte, sondern für den Verlag auch einen satten Gewinn erzielte.
Ach ja, und die Nordseeregion zwischen Greetsiel und Wilhelmshaven sollte auch etwas davon haben.
Nachdem nun das Konzept stand, war Jeanette nach Norden gereist, um vor Ort zu recherchieren und zu fotografieren. Fast ein halbes Jahr war sie hier geblieben, um Land und Leute kennen zu lernen, sich mit den Eigenheiten des ostfriesischen Charakters anzufreunden und ihre Liebe zu dieser raucharmanten Landschaft zu entdecken.
Das Land der niedrigen Himmel, so nannte sie die ostfriesische Küste für sich. Manchmal glaubte man wirklich, dass man nur die Hand auszustrecken brauchte, um nach einer dieser schneeweißen Wolken zu greifen, die über die Wiesen und das Meer segelten. Jeanette hatte unzählige dieser Wolken fotografiert, wie sie über das Land hinwegziehen oder über Suurhusen stehen, so dass man glauben konnte, der schiefe Kirchturm würde von den Wolkenbergen gehalten.
Dazu hatte Jeanette die alten Geschichten gesammelt, die ihr die Fischer in ihrer kargen Sprache erzählten. Gruselmärchen von Moorgeistern und Haferhexen, die nachts um die Eckelünder Eiche tanzten.
Wieder zu Hause, hatte sie sich an die Arbeit gemacht. Die Fotos mussten gesichtet, die Notizen geordnet, die besten Geschichten ausgewählt werden. Die Fülle an Material versprach für mindestens fünf Bücher zu reichen, aber als alles gesichtet, geordnet, ausgewählt und niedergeschrieben war, hielt der Verlag einen Reiseführer in Händen, der nicht mit den üblichen Klischees aufwartete, sondern der die Seele des Landes eingefangen hatte und in den Lesern den Wunsch weckte, dieses Land ebenso erkunden und lieb gewinnen zu wollen, wie die Autorin.