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Inhaltsverzeichnis

Bumerang
Danksagung
Vorwort
I - Meine Lebensgeschichte
II - Alkoholismus und Sucht
Alkoholsucht
Sind Sie ein kleiner grüner Frosch?
Selbstmedikation
Hedonismus
Mitten im Gehirn
Selbsttröstung
III - Das richtige Werkzeug
Wie eine gute Mutter
Tägliche Mentalhygiene
Atmen und Meditieren
Atemübungen
Der Zauber des Gebets
Stille
Meditationen zum Loslassen
Visualisieren
Affirmationen
Ein Leben in Angst macht keinen Spaß
Ungezähmter Geist
Wasser + Vitamin B + Vitamin C
IV - Beziehungen
Floßbewohner
Wenn man einen Igel liebt
Drama
Sex und Hummer
Der perfekte Mann
Sadomasochistisch
Seelenverwandt
Kampf mit Ungeheuern
Familienbesuche
Ein klares Jein
V - Dreizehn Alkoholiker
1. Larry braut sich sein eigenes Bier
2. Suche nach Schmerz
3. Knochenbrecher
4. Der Flaschengeist
5. Der große Zampano
6. Schamgefühle
7.... desto mehr liebe ich meine Katzen
8. Blumenkind
9. Der naive Rausschmeißer
10. Die Ausbrecherkönigin
11. Wir sind die Opfer
12. Ein Glamourgirl wird vergewaltigt
13. Lebenskampf
VI - Genesung
Du, ich, meine Katzen und Stephen Hawking
Die Versprechen
Psychotherapie
Mentale Nahrung
Wahrnehmung
Verletzungen
Rotlichtviertel
Metamorphose
Momentum
Dringlichkeitsstufe eins
Wiederholungsprogramm
Nachtragend
Wut und Aggression
Das Allerwichtigste
Eigenliebe
Spätreif
Nicht dein Rezept für mein Glück
Ein Pakt mit dem Teufel
Zwei Wölfe kämpfen in meinem Herzen
Der goldene Schlüssel
Magische Worte
Der Garten des Lebens
Initiation
Rückfällig
Rhythmus
Die Zeit ist auf meiner Seite
Über die Autorin
Copyright

Danksagung

Ich möchte jeder einzelnen Person danken, die mir je begegnet ist. Insbesondere aber meinem Sohn Jesse und meinem Lebenspartner Leon Hendrix, meiner Familie, Hellmuth Herbst, Richard Rogg, Markus Weingartner, Baerbel Stoeger, Jorid Nygard, Dr. Dietrich Schwendy, Erika Müller, allen meinen entzückenden Freunden und Patienten. Jeder spielt eine Rolle. Sie alle sind mir eine Freude und geben meinem Leben einen Sinn. Das Schönste ist die Liebe.

Besonderen Dank an Michaela May für ihren Glauben an mich (und ganz allgemein dafür, dass sie so goldig ist) und an Dr. Harry Kämmerer für seinen Enthusiasmus. Ohne sie wäre die deutsche Übersetzung nicht zustande gekommen. Vielen Dank an Dr. Jack Schiffer für seine lebenslange Freundschaft und seinen entzückenden Humor. Außerdem an die 13 genesenden Alkoholiker für die Interviews. Vielen Dank an Laura Waco (Von Zuhause wird nichts erzählt) und Kristijan Marcoz (Tod im Schrebergarten) für die Inspiration durch ihre Bücher. Vielen Dank an alle für ihre Hilfe, Geduld und Ermutigung, die sie mir beim wiederholten Lesen meines Manuskripts (auch im englischen Original) erwiesen haben, und ganz besonderen Dank an die Anonymen Alkoholiker, dass sie einfach immer zur Verfügung stehen.

Über die Autorin

Jasmin Rogg absolvierte ein Bachelor-Studium in Psychologie an der University of California in Los Angeles und anschließend ein Master-Studium in Beratungspsychologie an der Loyola Marmount University. 1982 erhielt sie die Lizenz, um als Psychotherapeutin zu arbeiten. In ihrer privaten Praxis in Los Angeles ist sie spezialisiert auf Suchtkrankheiten und gleichzeitig auftretende affektive Störungen wie Depressionen und Angstzustände. Daneben leitet sie Patientengruppen in Rehabilitationskliniken.

Nach den vielen Jahren, in denen Jasmin berufliche und persönliche Erfahrungen im Bereich der Sucht und Genesung sammelte, weiß sie heute, wie man destruktive Verhaltensmuster hinter sich lässt und sie durch Verhaltensweisen ersetzt, die besser funktionieren und erfolgversprechender sind. Bei ihrer Arbeit nutzt sie die „Alchemie“ der Verwandlung von Schwäche in Stärke und stellt ihre Erfahrungen anderen Menschen zur Verfügung, um ihnen damit den Weg in eine bessere Zukunft zu weisen.

In den 70er-Jahren war Jasmin aus ihrer Heimat Deutschland nach Los Angeles gezogen, um ihren Horizont zu erweitern. Ihr familiärer Hintergrund ist jüdisch-rumänisch-italienisch. Nach vielen Umzügen und Umwegen lebt sie heute in L. A. als Nachbarin ihres erwachsenen Sohnes und in einem Haushalt mit „Wahlverwandtschaften“, Gästen aus aller Welt, Katzen, Hunden – gelegentlich kommen auch Vögel, Eichhörnchen, Opossums, Skunks und Waschbären vorbei.

Wir danken den Urheberrechtsinhabern der folgenden Werke:

 

Rodriguez, Rich Folks Hoax, Songtext. Rodriguez 1968. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

 

Rogg, Jesse und Falson, Samuel, Too many questions, Text und Musik von Jesse Rogg und Samuel Falson, © Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von EMI Music Publishing Ltd. Tux.E.Do LLC und Sparro LLC, London W8 5SW.

Alkoholsucht

In diesem Buch werden die Begriffe Alkoholismus, Drogensucht und Abhängigkeit austauschbar verwendet, auch wenn es natürlich Unterschiede zwischen den einzelnen Suchtformen gibt. Jeder Mensch reagiert anders auf Drogen. Je nach den Erfahrungen mit bestimmten chemischen Reaktionen im eigenen Körper zieht man die eine oder andere Substanz der anderen vor, aber das kann sich im Laufe der Jahre auch ändern. Auf der biologischen Ebene macht es keinen Unterschied, ob ein Betäubungsmittel illegal, rezeptpflichtig oder frei verkäuflich ist.

Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) klassifiziert Substanzen wie folgt (synonym gebrauchte Bezeichnungen in Klammern):

Diese Substanzen sind bekanntlich suchterzeugend oder können es sein, aber man kann auch süchtig werden nach endogenen Substanzen, die das Gehirn produziert, unter Umständen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das ist oft der Fall bei Liebes- und Sexsucht, Esssucht oder Spielsucht, denn es wird eine Vielzahl von Neurotransmittern, Hormonen und anderen Substanzen, wie Endorphinen oder Adrenalin, ausgeschüttet, die sich auf die Stimmung auswirken. Man kann auch abhängig werden von gefährlichen und gewalttätigen Erfahrungen oder Aktivitäten, die ablenken oder stimulieren – zumindest wenn sie zwanghaft verfolgt werden. Wer ein konventioneller Typ ist, wird vielleicht legale Substanzen oder verschreibungspflichtige Medikamente bevorzugen. Alkohol und Benzodiazepine werden häufig eingenommen, wenn sich jemand ruhelos, reizbar und unzufrieden fühlt. Wer Aufregung liebt, gibt sich eher dem Reiz des Verbotenen hin. Wer unter Angstzuständen leidet, hält sich mehr an Opiate oder Benzodiazepine. Wer zu Halluzinogenen greift, ist meistens auf Bewusstseinserweiterung aus. Wer eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hat, greift womöglich zu Kokain, Crack oder Amphetaminen, weil diese einen „paradoxen Effekt“ haben können; das heißt, ihre Wirkung ist nicht stimulierend, sondern wirkt der Hyperaktivität entgegen und hilft somit der Konzentration. Die meisten Alkoholiker sind aber keine Puristen, sondern nehmen verschiedene Suchtmittel – je nach Verfügbarkeit. Für das Verständnis von Sucht sind Unterscheidungen zwischen flüssigen, festen oder pulverförmigen Substanzen oder nach der Art der Verabreichung unerheblich. Das „ismus“ im Alkoholismus bezieht sich weniger auf das Trinken selbst – es geht hier mehr um eine überreizte und pathologische Reaktion auf die Realität und das unwiderstehliche Bedürfnis, ihr zu entfliehen.

Das amerikanische DSM-IV unterteilt Drogenmissbrauch je nach dem Schweregrad der Abhängigkeit:

Abhängigkeit (oder Sucht) ist definiert als Verhaltensstörung mit klinisch relevanten Beeinträchtigungen, die sich in mindestens drei der nachfolgenden Symptome manifestieren:

  1. Toleranz – „Notwendigkeit zur deutlichen Substanzerhöhung“
  2. Entzug – „Entzugssymptome (substanztypisch)“
  3. Einnahme „in größeren Mengen oder über einen längeren Zeitraum als ursprünglich beabsichtigt“
  4. Andauernder Wunsch oder erfolglose Versuche, „den Gebrauch zu reduzieren oder zu beenden“
  5. „Der Betroffene verbringt einen Großteil des Tages damit, sich die Substanz zu beschaffen, sie zu konsumieren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.“
  6. „Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden wegen des Substanzgebrauchs aufgegeben oder reduziert.“
  7. „Obwohl erkannt wird, dass die Substanz an der Entstehung psychischer oder körperlicher Probleme beteiligt ist, wird der Substanzgebrauch fortgesetzt.“

Substanzmissbrauch ist definiert als Verhaltensstörung mit klinisch relevanten Beeinträchtigungen, die sich in mindestens einer der nachfolgenden Weisen manifestieren:

  1. „Versagen bei wichtigen Verpflichtungen“ (Arbeit, Schule, zu Hause) aufgrund „wiederholten Substanzgebrauchs“
  2. Wiederholter „Zustand der Intoxikation in Situationen, die eine körperliche Gefährdung mit sich bringen (z. B. beim Autofahren)“
  3. „Es kann im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum auch wiederholt zu Problemen mit dem Gesetz kommen.“
  4. „Andauernde oder immer wiederkehrende soziale oder zwischenmenschliche Probleme“

In diesem Zusammenhang möchte ich zwei weitere Phänomene hinzufügen, die in einem späteren Stadium der Sucht auftreten können:

Bevor ein Problem gelöst werden kann, muss es erkannt werden. Lassen Sie die Überlegung zu, ob bei Ihnen eine Abhängigkeit vorliegt. Welches Suchtmittel auch immer Sie bevorzugen – Heilung ist mit der Abstinenz von allen bewusstseinsverändernden Substanzen verbunden. Im Falle einer affektiven oder einer mental-psychischen Störung ist auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen – suchen Sie einen Psychotherapeuten oder Psychiater auf.

Als Folge der Sucht verändert sich im Laufe der Zeit das Gehirn – durch biochemische Anpassung sind andere Reaktionen auf Substanzen zu beobachten. Der Süchtige will die schönen Erinnerungen aus der Anfangszeit des Drogenkonsums reaktivieren, aber das geht nicht. Es ist vorbei. Das kann zu einem Wiederholungszwang führen, wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier, bei dem derselbe Tag auf vergebliche und tragische Weise immer wieder erlebt wird. Wenn Sie das einmal wirklich verstanden haben, können Sie Ihren Weg befreit fortsetzen, auch wenn Sie den alten Zeiten vielleicht noch ein bisschen nachtrauern.

Der Heilungsprozess wird anfangs mit einigen Beschwerden einhergehen. Sobald man darüber hinweg ist, wird es möglich, Ruhe und Frieden zu finden. Wenn das Gehirn wieder funktioniert, besteht Aussicht auf ein gutes Leben. Man kann es schaffen. Es gibt ein Leben nach den Drogen!

Sind Sie ein kleiner grüner Frosch?

Als Kind hatte ich einen kleinen grünen Frosch. Er war ganz federleicht und konnte mühelos und elegant hüpfen. Weil ich in unserer Stadtwohnung aber keine Fliegen heranschaffen konnte, entschloss ich mich schweren Herzens und im Interesse seines Überlebens, den Frosch meiner Freundin zu geben. Ihr Vater fütterte ihn dann gleich am ersten Tag mit 36 Fliegen aus dem eigenen Garten. Auch wenn er es gut meinte – das war des Froschs Tod. Man lernt: Die Dosis macht das Gift. Der kleine Frosch hätte doch so ein schönes Leben haben können in dem Garten in Solln, aber es war ihm nicht vergönnt. Er merkte einfach nicht, wann es genug war. Frösche kennen kein Sättigungsgefühl. In der freien Natur brauchen sie das auch nicht, weil sie gar nicht fähig sind, eine für sie tödliche Anzahl von Fliegen zu fangen. Der Frosch war wie ein Auto ohne Bremsen: Er fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit immer weiter, bis es zum Unfall kommen musste. Vielleicht befürchtete er, dass ihm die Fliegen wieder ausgehen würden. Der Frosch verhielt sich wie ein Alkoholiker.

Im Laufe der Evolution, in der Zeit, als wir uns noch in der Wildnis herumtrieben, war unsere Fähigkeit, ein Sättigungsgefühl zu spüren, überhaupt nicht lebenswichtig. Tot herumliegende Beute wird schnell eklig, und es ist eher lästig, jedes Mal auf die Jagd gehen zu müssen, wenn man Hunger hat. Sich eine große Nahrungsmenge einzuverleiben, solange sie genießbar und vorhanden ist, war ganz klar vorzuziehen.

Auch Krebszellen zeichnen sich durch eine unersättliche und letztendlich tödliche Gier aus. Das unterscheidet sie von gesunden Zellen. Sucht ist die unablässige Gier nach mehr, das Nichtvorhandensein des Sättigungsgefühls und die Unfähigkeit, zufrieden und erfüllt abzulassen vom Objekt der Begierde. Die gesunden, lebenserhaltenden Instinkte werden ersetzt durch ein zwanghaftes Verlangen nach einer Substanz, welche die Gier stillen soll, das aber nicht kann. Denn so, wie der Frosch auch noch die nächste Fliege schluckt, die man ihm hinhält, wird auch der Süchtige immer mehr wollen, weil sein Mangelgefühl bodenlos und unersättlich ist. Genug ist niemals genug. Suchtabhängige sind ständig dabei, eine innere Leere zu füllen – selbst wenn sie dabei umkommen.

Selbstmedikation

Unsere Gehirnzellen, die Neuronen, kommunizieren mittels Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin, Norepinephrin und Aminobuttersäure miteinander. Bei Alkoholikern weisen die Neurotransmitterwerte große Schwankungen auf, was unangenehme Gefühlszustände wie Angst und Depressionen zur Folge hat. Neue Forschungsergebnisse legen die Existenz eines Alkoholismus-Gens nahe, das einen Mangel an Dopamin-Rezeptoren im Gehirn des Süchtigen verursacht. Dies deutet auf eine Suchtgefährdung durch eine entsprechende genetische Prädisposition hin.

Rauschmittel wirken sich auf das limbische System des Gehirns aus, den Sitz des Überlebenstriebs. Sie beeinflussen dadurch auch die Emotionen, das Gedächtnis, das Lernvermögen und den Appetit. Aufgrund der zu geringen Anzahl von Dopamin-Rezeptoren fühlt sich ein Alkoholiker vielfach „unruhig, reizbar und unzufrieden“ und versucht, diese Zustände mithilfe irgendeiner Selbstmedikation zu mildern. Seine „Arzneimittel“ heißen Alkohol, Heroin (oder andere Opiate), Marihuana (oder andere Halluzinogene), Kokain (oder andere Stimulantien, wie Crack), angstlösende Arzneistoffe (Benzodiazepine, wie etwa Valium) und so weiter. Als Reaktion auf diese chemischen Substanzen verändert sich die Chemie des Gehirns mehr oder weniger dauerhaft – über den gewünschten Effekt hinaus. Das Ergebnis heißt Sucht. Wenn die Wirkung der Drogen nachlässt, sinkt der Neurotransmitterspiegel noch weiter als zuvor und ist dann so niedrig, dass man sich noch unwohler fühlt. Das Gehirn gerät allmählich völlig aus dem Gleichgewicht, und man sieht sich gezwungen, die entsprechende Substanz weiterhin zu nehmen, auch wenn man sich bereits in Lebensgefahr befindet.

Süchtige suchen auch auf der Verhaltensebene Erleichterung, indem sie seelische Schmerzen durch die Ausschüttung von Endorphinen betäuben. Endorphine sind körpereigene Schmerzmittel, die einen Zustand des Wohlbefindens herbeiführen. Schmerzen, Stress und Aufregung veranlassen das Gehirn, Endorphine zu produzieren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Bei bestimmten Formen der Sucht soll genau dies erreicht werden. Dazu zählen zum Beispiel Sex-, Kampf- und Spielsucht oder auch exzessives Training – alles, was den Abbau von Spannungen verspricht, entweder sofort oder über eine vorübergehende Spannungssteigerung. Leider sind all diese Aktivitäten für den Suchtkranken unzureichend.

Seit einigen Jahren gibt es nun auch Arzneistoffe, welche die Drogenabstinenz unterstützen, ohne neue Abhängigkeiten zu erzeugen. Am häufigsten verwendet werden Antidepressiva der Klasse der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie zum Beispiel Prozac, die für einen konstant hohen Serotoninspiegel sorgen. SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) wie Effexor hemmen die Rückaufnahme der beiden Neurotransmitter und können Depressionen, Ängste und Zwangsneurosen mildern.

Für die Anonymen Alkoholiker (AA) ist Alkoholismus eine seelische, psychische und physische Krankheit. Spirituelle Unterstützung und Anleitung durch die AA sowie Psychotherapie und Medikamente können bei einer Behandlung kombiniert werden. Tägliche Atemübungen, Gebete und Meditationen verhelfen zur Entspannung, die wiederum Angst und Unruhe entgegenwirkt. Ganz ohne Anstrengung geht es nicht, aber es ist dauerhafte Erleichterung möglich. Voraussetzung ist allerdings, dass der Alkoholiker seine Meinung im Verlauf des Genesungsprozesses nicht plötzlich wieder ändert ...

Hedonismus

Die Hirnforschung trägt bei zur Aufklärung selbstzerstörerischen Suchtverhaltens, das vielfach so unbegreiflich erscheint. Suchtmittel ahmen chemische Stoffe im Gehirn nach, die für angenehme Gefühle sorgen, und das Gehirn gewöhnt sich schnell daran. Während des Gewöhnungsprozesses werden immer höhere Dosen des Suchtmittels erforderlich. Wenn die Drogen ausgehen, fühlt man sich schrecklich und leidet an Entzugserscheinungen. Das alles gehört zum Wesen der Sucht.

Das Gehirn setzt Dopamin frei, eine Substanz, die uns als Belohnung für lebenserhaltendes Verhalten ruhig und zufrieden macht. Dopamin wird ausgeschüttet, wenn wir Hunger durch Essen oder Durst durch Trinken stillen, oder wenn sexuelle Gelüste durch Sex befriedigt werden. Oder auch wenn wir uns mittels des „Kampf-oder-Flucht-Reflexes“ vor einer Gefahr zu schützen versuchen. Im Suchtgehirn sind die Reaktionen auf Ereignisse und Drogen etwas anders: Die Einnahme von Drogen veranlasst das Überlebenssystem zu einem extremen Dopamin-Ausstoß, der die Chemie des Gehirns verändert. Das Bedürfnis nach immer mehr ist schon „vorprogrammiert“ und wird weiter verstärkt. Das Gehirn gerät zunehmend aus dem Gleichgewicht – der „hedonistische Sollwert“ steigt, und die Bedürfniserfüllung, der „Suchtdruck“, erhält eine lebensbedrohliche Dringlichkeit, bis alle Handlungen nur noch von einem unstillbaren Hunger nach Erleichterung getrieben werden, während die tatsächliche Lebensgefahr vernachlässigt wird. Die Vermeidung von Schmerz und das zwanghafte Bedürfnis, sich „normal“ zu fühlen – beides ursprünglich nicht verkehrt – dienen nur noch der Sucht.

Suchtkranke müssen extreme Reaktionen aushalten. Mit „Hedonismus“ fängt es an: Die unerträgliche Intensität der Gefühle soll gemindert werden, aber dabei wird auch die Wahrnehmung verzerrt. Unter Drogeneinfluss beurteilen und begreifen wir die Dinge anders. Es kann dringend notwendig erscheinen, gewisse Dinge zu tun, die eigentlich inakzeptabel sind. Das wird nach Kräften verheimlicht, und man wird defensiv, wobei man beschämt andere Menschen angreift und beschuldigt. So werden im Laufe der Zeit andere Erfahrungen und Ereignisse ins Leben gerufen. Wir stellen uns unserer Verantwortung nicht, und das Leben wird frustrierend, verwirrend und Furcht einflößend. Es wird schwieriger, Versprechen einzuhalten, und so enttäuschen wir die Menschen um uns herum. Damit können wir nicht umgehen und ziehen uns immer mehr zurück. Wenn die Drogen knapp werden, überkommt uns Unruhe, Beklemmung, Depression und Verzweiflung. Entzug muss um jeden Preis vermieden werden, und so wird eine zuverlässige Beschaffung erstrangig. Wir sind hauptsächlich damit beschäftigt, Drogen zu besorgen und zu konsumieren und nehmen die Realität nur noch verzerrt wahr. Das Leben wird chaotisch.

An diesem Punkt sind die Probleme und das Chaos nur noch „zugedröhnt“ zu ertragen. Wenn sich alles um die Drogenbeschaffung dreht, versinkt das ganze Leben in Chaos und Hoffnungslosigkeit – die Realität wird komplett inakzeptabel, und das Festhalten an der Scheinwelt bringt einen um. Irgendwann können auch Drogen keine echte Erleichterung mehr herbeiführen. Gefühle von Freude und Glück sind blasse Erinnerungen aus einem anderen Leben. Man kann der Verzweiflung einfach nicht mehr entkommen. Für den lebensmüden Suchtkranken geht’s ums Überleben ohne guten Grund. Manche geben sich eine Überdosis, wenn sie den unbarmherzigen täglichen Lebenskampf nicht mehr aushalten. Andere kapitulieren und suchen Heilung ...

Mitten im Gehirn

Wie man es auch betrachtet: Es ist nicht leicht, süchtig zu sein. Man kämpft mit etwas, das sich im Zentrum des Gehirns befindet und daher nicht abzuschütteln ist. Trotzdem kann man aufhören, und das ist eigentlich alles, was man dazu wissen muss. Es ist viel einfacher, nüchtern zu leben als mit einem vergifteten Gehirn. Man kann wieder klar denken, sich um Sachen kümmern und gute Entscheidungen treffen. Man bekommt sein Leben zurück. Das ist doch gut.

Während der Sucht und in der frühen Genesungszeit ist der präfrontale Cortex, jener Bereich des Gehirns, der für logisches Denken und bewusste Entscheidungsprozesse zuständig ist, unteraktiv. Folglich ist das Denken unklar, und man tut „undenkbare“ Dinge. Man fühlt sich dem Leben gegenüber hilflos und ist überfordert von alltäglichen Aufgaben, über die gesunde Menschen kaum nachdenken. Es dauert etwa neunzig Tage, bis sich die Gehirnfunktionen wieder normalisieren, was alles in allem gar nicht so lange ist. Während dieser Zeit braucht man viel Anleitung, Unterstützung und Ermutigung, um sich nicht so verloren vorzukommen. Die Anonymen Alkoholiker bieten genau das. Man bekommt die Chance, sich ganz allmählich zu verändern und Selbstbewusstsein und Klarheit zu erlangen.

Jetzt zum Mittelhirn, dem Sitz der Überlebensfunktionen, das „Belohnungssystem“, wo es darum geht, dass in den Synapsen möglichst viel Dopamin vorhanden ist, damit man sich wohlfühlt. Normalerweise wird Dopamin als „Belohnung für richtiges Verhalten“ ausgeschüttet – normalerweise fühlen wir uns gut bei Aktivitäten, die der Überlebenssicherung dienen. Bei Suchtkranken ist dieser Aspekt launisch und wechselhaft, und wir erhalten bei Weitem nicht so viel Dopamin, wie wir es gerne hätten – und das „erfordert“ die Selbstmedikation, wobei alles andere relativ unwichtig erscheint. Im fortgeschrittenen Stadium der Sucht geht es nur noch darum, dass der Dopamin-Spiegel nicht zu stark absackt. Aber leider führt die kontinuierliche Zufuhr von Suchtmitteln dann doch zu einer Unterversorgung mit Dopamin, und das ist gar nicht gut. Je länger man Drogen nimmt, desto weniger nützen sie einem.

Entzug ist zunächst recht unangenehm: Der Dopamin-Spiegel sinkt weiter ab, und die Entzugssymptome setzen ein. Darum kommt man nicht herum. Aber diese Phase geht vorüber, und dann erholt man sich langsam, und es geht wieder besser. Das ist bei allen so, auch wenn man meint, das Leiden würde nie mehr aufhören. Stress sollte allerdings möglichst vermieden werden. Man hat einfach keine Stresstoleranz in dieser Zeit, auch wenn man sonst cool drauf ist.

Es ist sehr wichtig, dass man sich sicher fühlt. Deshalb ist ein Aufenthalt in einer Entzugsklinik eine gute Sache. Da hat man eine „Auszeit“ vom Chaos. Man lernt, anders mit dem Leben umzugehen und die Probleme Schritt für Schritt anzugehen. Die emotionale Unterstützung und der Zusammenhalt mit anderen Leidensgenossen helfen. Und so kann man freundlicher mit sich selber werden und die Möglichkeit für einen Neuanfang zulassen.

Selbsttröstung

Der Mechanismus der Selbsttröstung funktioniert bei Alkoholikern nicht besonders gut: Wenn wir uns aufregen, wissen wir nicht, wie wir wieder „herunterkommen“ können. Wir können wegen einer Kleinigkeit oder sogar grundlos aus der Fassung geraten und bleiben dann lange in diesem Zustand. Wir erleben das als Sorge, Beklemmung, Wut oder Verstimmung oder nehmen es als anhaltenden Wunsch nach Ablenkung wahr. Ganz egal, wie wir es nennen – wir können uns nicht leicht entspannen, wir sind reizbar, unruhig und unzufrieden. Natürlich regen sich auch „normale“ Menschen ab und zu über etwas auf, aber sie beruhigen sich wieder, meistens innerhalb von Minuten. Wir jedoch brauchen Stunden, bis wir so einen geladenen Gemütszustand nach unten reguliert haben. Das ist hart, und da wollen wir uns wenigstens mithilfe von Substanzen trösten. Zu viele Aufregungen dauern einfach unerträglich lange. Zunächst mal hat Alkohol den beruhigenden Effekt, den wir suchen – und so trinken wir weiter, um uns noch besser zu fühlen. Aber spätestens nach dem zweiten Drink tritt dann der genau gegenteilige Effekt ein: Man wird unruhig und enthemmt – und da kann es passieren, dass man Sachen macht, die verhängnisvoll und peinlich enden.

Viele Alkoholiker greifen auch zu anderen Suchtmitteln, um solchen zermürbenden inneren Zuständen zu entfliehen. Dazu zählen Benzodiazepine, Barbiturate oder synthetische Opiate, die hochgradig suchterzeugend sind und viel schlimmere Entzugserscheinungen nach sich ziehen als Alkohol. Bei polyvalenter Abhängigkeit (mehrfacher, d. h. von verschiedenen Suchtmitteln) vervielfältigt und verkompliziert sich der Suchtprozess, und das Gehirn wird in zunehmendem Maße unfähig, das so verzweifelt gesuchte Wohlbefinden zu erzeugen. Die Beseitigung dieser schädlichen und andauernden Veränderungen im Körper während des Entzugs ist entsprechend schwierig und langwierig.

Alkoholismus ist eine chronische Krankheit, die andauernder Behandlung bedarf. Während der Genesung lernt man, mit dem Alkoholismus umzugehen. Das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker stellt Werkzeuge bereit, die dazu verhelfen, dass man sich wohlfühlt. Man kann heraus aus der Abwärtsspirale der Selbstzerstörung und endlich ein bisschen Ruhe und Frieden finden.

 

 

 

Lawine

 

Viele gehen nicht hin.
Manche kommen nicht an,
egal, was sie tun.

 

Manchmal
kann ein einziger Schritt
eine Lawine auslösen, die so brutal ist,
dass sie alles zermalmt,
was sich ihr in den Weg stellt.
Man kann nie wissen.

 

Unbewusste Bewusstseinsinhalte
oder auch die Überzeugung
von der eigenen Wertlosigkeit
und der Sinnlosigkeit des Lebens
können einen auf Abwege führen,
wo man verloren ist
und womöglich
eine Lawine auslöst,
die nicht mehr aufzuhalten ist.

 

Es wird gesagt ...
dass man das wiederholen muss,
was man vergessen hat.
Also stellt sich für den Überlebenden
einer solchen Katastrophe
die Frage,
ob man sich vielleicht doch erinnern will...