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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

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7. März 1985, Donnerstag
Die lange Reise durch Rumänien, auf der ich Pentti kennenlernte, geschah 1966. Danach trafen wir uns in Prag, das war noch im selben Jahr, vierzehn Tage vor Weihnachten, voll in der Dubček-Aera. Ich habe grade ein Notizbuch gefunden, worin allerlei Sätze stehen, die er da niederlegte. Erinnerungen an den Deutschunterricht in der finnischen Schule, Sätze die er für mich deklamierte, so oft ich ihn darum bat. »Es ist Winter, die Luft ist kalt, die Erde ist hart. Da leidet der Hase im Walde Not, denn er findet keine Nahrung. Der Jäger kommt.« Und Titel von Büchern, die ich partout lesen müsse setzte er darunter. Damals knallte er sein Prag-Buch gleich in die Maschine. Während ich neben ihm saß. Immerdar in meiner Lammpelzjacke, für Heizöl hatten wir kein Geld. Und wie war ich nach Prag gekommen? Man konnte schließlich nicht aus der DDR wegfahren wohin man grad wollte. Ich hatte mir eine Einladung von Sabine besorgt, die in Prag Puppenspiel studierte, schon saß ich im Zug, und Rainer war sich wohl nicht so sicher, ob ich je wiederkäme. Ich betrachtete Pentti als meinen vollkommenen Freund und wir haben viel Blödsinn getrieben aber auch tage- und nächtelang über Gedichte gesprochen, wie sie beschaffen sein müssten, welche als Maßstab zu gelten hätten.

8. März 1985, Freitag
Manchmal rezitiert er den ganzen »Erlkönig« für mich, sehr dramatisch mit hartem Akzent, und wir ersticken nahezu vor Lachen. Wir leben in einer kleinen Zweitwohnung von Herrn Veselý, der himmelblaue Halstücher trägt und dessen Schädel wie der Mond leuchtet, wenn er uns mal besucht. Es gibt weiße Wände und Pornographie in den Schränken. Der Ofen arbeitet nicht. Die Toilette ist auf dem Balkon. Pentti kauft zwei Eier für den letzten Tag. Seine Uhr zeigt stets die halbe Stunde. Wenn er seine Schreibmaschine betreibt, sieht er sehr zornig aus. Die Maschine ist vor Jahren in der DDR hergestellt worden. Ich hab in der DDR eine Schreibmaschine aus der ČSSR – so ist Handel im Sozialismus sage ich.

12. März 1985, Dienstag
Il Compositore aber hatte ein Konzert in Amsterdam und Maurizio begleitete ihn und besuchte das Konzert und die schönen Galerien. Währenddessen ich für das TV schuften musste. Und Robert als Neufundländer freute sich und war überzeugt, dass das Team seinetwegen kam, und so lief er durch die Bilder als schwarzer Faden. Heute hat Maurizio Geburtstag, schwänzt noch einmal die Schule, weil er KO von der langen Autofahrt ist. Jetzt ist er sechzehn, bekam Klaviernoten und ein Kunstlexikon fettester Art. Der Kater ist beglückt über die Rückkehr seines Zimmergenossen. Die Schafsnasen könnten in zehn Tagen lammen. Toula das sensible Tier ist schon ganz in sich gekehrt. Ich kann also nicht, wie es geplant war mit dem Tonsetzer zu einem weiteren Konzert nach Darmstadt fahren. Ich muss bei meinen Schafen ja wachen.

14. März 1985 Donnerstag
Luft und Wasser
 
 
Aus dem Sumpfland fliegt mir die Eule
Auf breiten Flügeln über den Strom
Ihre Federn berühren das Wasser
Das sich nun teilte ich sah
Meiner Schwester Gesicht höre den Wind
Schilfhalme leichter bewegen und Wolken
Ziehen auf die Nacht zu verkünden.
 
 
Viel wehes Geräusch vom anderen weiteren
Ufer die grauen Reiher verneigen sich
Auf toten Bäumen eh sie noch schlafen.
Es ist spät ich kehre hinter Türen zurück.
Der Teekessel brummt auf dem Feuer
Und verkleidete Könige reiten draußen
Auf herrlichen Pferden vorüber.

17. März 1985, Sonntag
Gestern haben wir die Schafs-Damen von ihrer gegenwärtigen Weide auf die anschließende Koppel mit der niederen Hütte geleitet, in welcher Paula geboren wurde. Die Schafe bedürfen der Ruhe. Igor das Böckchen und Bilbo der Esel sind zu hektisch für ihren Zustand. Die Änderung missfiel den Herren, sie tobten und rannten wie in der Manege. Ab 21. März kann es Lämmerkens geben. Ich bin sehr aufmerksam. Thekla hat das bedeutendste Euter bisher. Man muss viel mit den Schwangeren sprechen.
 
 
Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich nach rückwärts mich wandte. Vor uns unbestimmbare Dämmerung, kleine zusammengeschobene Gagelsträucher und schrilles Tönen des Winds, das zunehmend lauter wurde.
 
 
Ich weiß nicht, ob ich zu jenem leichtgläubigen Wesen mit dem Mittelscheitel, den Messingspangen über den Ohren, Zöpfen bis zu den Kniekehlen hin, die stets im Begriff sind sich aufzulösen, ob ich ich zu ihm sagen soll oder sie oder es, oder das Kind, ein Kind, weil dies Weidenblatt seit ehmaliger Zeit sich verwandelt hat, eine wandernde Seele gar abgab. Stak es vorher in einem Lamm fest, das ängstlich blökte, wenn es die Mutter nicht sah, so ist es später gestreunt, dem Balg einer Tigerin eingeschlüpft, listenreich scharfer Zähne. Reißt das dampfende Maul auf zum Fauchen und Fluchen, war einst zu Bescheidenheit, Nachgiebigkeit erzogen, in fröhlicher Armut, einem Haus asozialer Familien.
 
 
Meine Arbeitsmethode sie besteht darin, dass ich manche Texte in ein Mäppchen für Gedichte lege, andere in eines für Prosa. Die Unterscheidung fällt mir nicht schwer. Beim Sammeln und Sortieren organisieren sich die Gebilde in bestimmte Bahnen und bringen weitere Sätze hervor.

18. März 1985, Montag
Il Compositore und Robert befinden sich im Garten, herabgewehte Äste und Ästlein auflesen zum Feueranzünden. Sie rufen und bellen und winken mir zu. Maurizius studiert alles Mögliche über Physik weil sie morgen eine Arbeit schreiben. Minus ein Grad, mehr nicht! wie Göthe so trefflich sagte. Was zu »mehr Licht!« verballhornt wurde.
 
 
Eines Nachts, als der Vollmond erglühte, später sein Licht weit in die Ebene goss, unaufhaltsam, auch mir ins Gesicht schien, und ich im unruhigen Halbschlaf überlegte, wie ich dem Esel sein Schrot darreichen könnte, ohne dass die zahlreicher gewordenen Schafe sich daran vergriffen, da sah ich plötzlich die Pferde der Kindheit aus der Vergessenheit treten mit ihren Namen, den umgehängten Futterbeuteln, das Maul darinnen nach vierzig Jahren.

20. März 1985, Mittwoch
Als der Compositeur gestern aus Dellstedt von der Chorprobe kam, da hatte er einen im Krönchen, so hatten die Sänger sich schließlich für seine Mühe bedankt. Bevor er losfuhr, zog er wie das Weiße Kaninchen seine Taschenuhr aus der Weste und rief Oh Jeminee, Oh Jeminee, es ist schon spät! so wie wir ihn zum ersten Male in der Villa Massimo erblickten. Er konnte Armbanduhren seines feinen Gehöres wegen nicht verkraften, und die schwere silberne Taschenuhr aus einer Sonderbaureihe für emeritierte türkische Lokomotivführer war ein Geschenk seines Vaters zum Beginn seines Studiums an der Musikhochschule.
 
 
Heute Abend fahren wir, das Weiße Kaninchen mitsamt der Taschenuhr und meine kleene Person nach Kappeln, weil ich dort lesen muss. Geteiltes Leid ist doppeltes Leid. Die Knete brauchen wir für unser kleines Landgütlein allhie.
 
 
Jetzt sitze ich in meiner Schreibstube über den Wolken und habe mir gerade an der Tür einen Aufkleber der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger angebracht, denn für die Gestrandeten wird hier im Norden am Saum der See stets noch gesammelt. Und wenn man dreimal sein Scherflein hingab, wird man automatisch zum Mitglied. So betrachte ich mich als Eine, die versucht, irgendetwas zu retten. Schippere jede Nacht in einem der Seenotrettungskreuzer umher und jage die Weltmeere durch und scheitere selbstverständlich in knapper Zeit, aber bis dahin fliegen wir noch, Seele, sagen die Slawen.

23. März 1985, Samstag
Mannigfacher Betrieb in den Lüften. Enten und Gänse fliegen hindurch, verkorkte Rotweinflaschen wie ichs beschrieb. Die Lerchen brüllen den ganzen Tag, und Kiebitze quieken, Amseln und Drosseln flöten ihre Liedchen. Wir haben beim Schafefüttern wunderbare Schellenten gesehen, es gluckste früh vom anderen weiteren Ufer: Moorgeschrey allenthalben. Die Bäume heben und senken ihre Tentakeln in wilder Verzweiflung weil sie noch kahl sind. Doch Schneeglöckchen blühn, die wilden Krokusse auch. Die Schafsdamen gehen abends in den Stall, was sie früher kaum taten, außer es goss in Strömen oder der Nordwind wütete sehr. Sie fühlen sich gehandicapt da sie so langsam wurden, schutzbedürftig in höherem Maße. Ich hab gestern in der Nacht in ihre Hütte geblickt wo sie friedlich saßen und kauten. Rechts- und linksherum. Auf der Eider ist stellenweise ne Eishaut, stumpfe Flächen im glänzenden Wasser vor der weißen niedrigen Sonne hinter kahlen Bäumen im Dunst. Auf dem Hof im ehemaligen Knabenpissoir haben wir einen zusätzlichen Stall vorbereitet für den Fall, dass alle weiblichen Schafe gleichzeitig niederkommen. Es ist ein wunderbares Gefühl, solch einen Stall herzurichten, das Stroh einzustreuen, nachdem die Bindfäden der Ballen zertrennt sind. Der Ballen scheint zu seufzen und dehnt sich aus. Dann tritt die Gabel »Victoria« in Aktion, das Stroh in viereckigen Tafeln wird hochgeschmissen und fällt locker und glänzend zu Boden, wird schön verteilt. Nicht vergleichbar der Genugtuung, wenn man etwa Betten bezog. Besser, viel besser.

24. März 1985, Sonntag
Schade dass ich nicht mit dem Tonsetzer hab fahren gekunnt, andererseits wirst du belohnt wenn du auch am heiligen Sonntag früh auf den Pfoten bist deine Pflichten erfüllen. Als ich den Deich anging, mühselig in den größten Gummistiefeln drin, in die man hineinkömmt ohne einen Finger zu rühren, Größe fünfundvierzig jedoch und schlappend, bot sich der wunderbarste Anblick nach Osten. Die Sonnenscheibe stak in dünnen hin- und herschwingenden Wolken strahlenlos fest, während die Uferbäume als schwarze Silhouetten auf einem Hintergrund sehr dünner Nebel fremd sich befanden. Man hätte lang hinschlagen können vor Begeisterung Freude: welch exzellente Tapeten die schwangeren Schafe hier haben.

25. März 1985, Montag
Morgens regnete es, mittags kroch die Sonne hervor und ich sah vom Fenster wie sich Thekla auf dem Deich seitwärts hinlegte mit ausgestreckten Beinen und ich eilte hinzu. Sie presste und es schaute ein Lamm heraus der Kopf und die Vorderfüße. Dann stand sie auf und ging in den Stall, wo sie es schaffte, das Lamm hinzulegen. Leckte es trocken und bald erhob sich das kleene Tier und suchte die Quelle. Eine Stunde später die Nachgeburt.

26. März 1985, Dienstag