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VIRGINIA WOOLF

Mrs Dalloway

Aus dem Englischen von Kai Kilian

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Titel der englischen Originalausgabe: Mrs Dalloway

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
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© 2013 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Inhalt

Mrs Dalloway

Mrs Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst kaufen.

Schließlich hatte Lucy genug zu tun. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Männer würden kommen. Und außerdem, dachte Clarissa Dalloway, was für ein Morgen – frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.

Was für ein Spaß! Was für ein Sprung! Denn so war’s ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leisen Quietschen der Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Terrassentüren aufgestoßen hatte und in Bourton ins Freie gesprungen war. Wie frisch, wie ruhig, stiller gewiss als hier, die Luft am frühen Morgen war; wie der Klaps einer Welle; der Kuss einer Welle; kalt und schneidend und doch (für ein Mädchen von achtzehn, das sie damals war) erhaben, als sie da am geöffneten Fenster stand und das Gefühl hatte, etwas Gewaltiges werde sich gleich ereignen; auf die Blumen schaute, auf die Bäume mit dem ihnen entsteigenden Dunst und das Hinauf und Hinab der Krähen; dastand und schaute, bis Peter Walsh sagte: »Grübelei im Gemüse?« – war es das? – »Mir sind Menschen lieber als Blumenkohl« – war es das? Er musste es eines Morgens beim Frühstück gesagt haben, als sie hinaus auf die Terrasse getreten war – Peter Walsh. Er würde demnächst aus Indien zurückkehren, im Juni oder Juli, sie hatte vergessen, wann, denn seine Briefe waren entsetzlich fad; es waren seine Sprüche, an die man sich erinnerte; seine Augen, sein Taschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrießlichkeit und, während Tausende Dinge sich längst restlos verflüchtigt hatten – wie seltsam das war! –, ein paar Sprüche wie der über Kohl.

Sie stand ein wenig starr am Bordstein, wartete, bis Durtnalls Lieferwagen vorbeigefahren war. Eine bezaubernde Frau, dachte Scrope Purvis von ihr (der sie kannte, wie man Leute kennt, die in Westminster neben einem wohnen); hatte etwas von einem Vogel an sich, einem Eichelhäher, blau-grün, leicht, lebhaft, obwohl sie über fünfzig war und sehr weiß geworden seit ihrer Krankheit. Da thronte sie, nahm keine Notiz von ihm, wartete, um hinüberzugehen, sehr aufrecht.

Denn wenn man – wie viele Jahre jetzt? über zwanzig – in Westminster gelebt hat, fühlt man sogar inmitten des Verkehrs oder beim Wachen des Nachts, da war Clarissa ganz sicher, eine besondere Stille oder Erhabenheit; eine unbestimmbare Pause; eine Spannung (aber das mochte ihr Herz sein, angegriffen, hieß es, von der Grippe), ehe Big Ben schlägt. Jetzt! Da dröhnte er. Zuerst eine Warnung, melodisch; dann die Stunde, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösten sich auf in der Luft. Was für Narren wir sind, dachte sie, als sie die Victoria Street überquerte. Denn nur der Himmel weiß, warum man es so liebt, weshalb man es so sieht, es heranbildet, es rings um sich aufbaut, es niederreißt, es mit jedem Augenblick neu erschafft; doch selbst die größten Vogelscheuchen, die vom Elend am ärgsten Entmutigten, die auf den Türstufen hocken (das Trinken ihr Niedergang), tun dasselbe; dagegen lässt sich, war sie überzeugt, mit Parlamentsbeschlüssen nichts ausrichten, aus eben diesem Grund: Sie lieben das Leben. In den Augen der Leute, im Schwingen, Wandern und Trotten; im Gebrüll und im Tumult; in den Kutschen, Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Sandwichmännern; Blaskapellen; Drehorgeln; im Triumph und dem Klingeln und dem merkwürdig hohen Gesang irgendeines Flugzeugs da oben war, was sie liebte; das Leben; London; dieser Juni-Augenblick.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war vorbei, außer für eine wie Mrs Foxcroft in der Botschaft gestern Abend, der es vor Gram das Herz zerriss, weil dieser nette Junge gefallen war und der alte Herrensitz nun an einen Vetter geht; oder Lady Bexborough, die, so hieß es, einen Wohltätigkeitsbasar eröffnete, in ihrer Hand das Telegramm, John, ihr Liebling, gefallen; aber er war vorbei; dem Himmel sei Dank – vorbei. Es war Juni. Der König und die Königin waren im Palace. Und überall, obwohl es noch so früh war, war so ein Klappern, ein Flirren galoppierender Ponys, Klacken von Kricketschlägern; Lord’s, Ascot, Ranelagh und wie sie alle hießen; noch umhüllt vom weichen Geflecht der grau-blauen Morgenluft, das sie im Verlauf des Tages auswickeln und auf ihre Rasenplätze und Spielfelder stellen würde, die springenden Ponys, deren Vorderhufe kaum den Boden berührten, schon schnellten sie in die Höhe, die umherwirbelnden jungen Männer und die lachenden Mädchen in ihren durchscheinenden Musselinkleidern, die, sogar jetzt, nach durchtanzter Nacht, ihre lächerlich flauschigen Hunde ausführten; und sogar jetzt, zu dieser Stunde, kamen diskrete alte Witwen von vornehmem Stand in ihren Automobilen zu rätselhaften Besorgungen herausgeschossen; und die Ladenbesitzer hantierten in ihren Schaufenstern hektisch mit ihren Strasssteinen und Diamanten, ihren entzückenden alten seegrünen Broschen in Fassungen aus dem achtzehnten Jahrhundert, um Amerikanerinnen in Versuchung zu führen (aber man muss sich einschränken, nicht überstürzt etwas für Elizabeth kaufen), und auch sie, die all das mit einer albernen und aufrichtigen Leidenschaft liebte, ein Teil davon war, da ihre Vorfahren Höflinge waren zur Zeit der vier Georges, auch sie würde noch heute Abend entfachen und erleuchten; ihre Gesellschaft geben. Aber wie seltsam, beim Betreten des Parks, die Stille; der Nebel; das Summen; die bedächtig schwimmenden glücklichen Enten; aufgeplustert die watschelnden Vögel; und wer anders sollte da, die Regierungsgebäude im Rücken, so überaus angemessen daherkommen, eine Aktentasche mit dem königlichen Wappen in Händen, wer anders als Hugh Whitbread; ihr alter Freund Hugh – der fabelhafte Hugh!

»Einen schönen guten Morgen, Clarissa!«, sagte Hugh, recht überschwänglich, denn sie kannten einander seit ihrer Kindheit. »Wo soll’s denn hingehn?«

»Ich streife gern einfach so durch London«, sagte Mrs Dalloway. »Wirklich, das ist besser, als auf dem Land herumzuspazieren.«

Sie seien eben erst in die Stadt gekommen, um – bedauerlicherweise – Ärzte aufzusuchen. Andere Leute kämen, um Filme zu sehen, in die Oper zu gehen, ihre Töchter auszuführen; die Whitbreads kämen, »um Ärzte aufzusuchen«. Zahllose Male hatte Clarissa Evelyn Whitbread in der Kurklinik besucht. War Evelyn wieder krank? Evelyn sei alles andere als auf dem Damm, sagte Hugh und gab durch eine Art Aufwerfen oder Anschwellen seines wohlgenährten, männlichen, überaus stattlichen, tadellos aufgepolsterten Leibes (er war immer fast zu gut gekleidet, aber das musste er, wegen seines kleinen Postens bei Hofe, vermutlich sein) zu verstehen, seine Frau habe ein innerliches Gebrechen, nichts Ernstes, was Clarissa Dalloway als alte Freundin sicher begreifen werde, ohne ihn nach Einzelheiten zu fragen. O ja, natürlich, das tat sie; wie unerfreulich; und fühlte sehr schwesterlich und war sich zugleich ihres Hutes seltsam bewusst. Nicht der richtige Hut für den frühen Morgen, war es das? Denn Hugh gab ihr stets das Gefühl, während er weitereilte, seinen Hut geradezu überschwänglich lüftete und ihr versicherte, sie könnte ein Mädchen von achtzehn sein, und selbstverständlich komme er zu ihrer Gesellschaft heut Abend, Evelyn bestehe unbedingt darauf, nur etwas später könne es werden nach dem Empfang im Palace, zu dem er einen von Jims Jungen mitnehmen müsse – sie fühlte sich stets etwas unscheinbar neben Hugh; schulmädchenhaft; und hing doch an ihm, auch weil sie ihn schon ewig kannte, hielt ihn für einen guten Kerl, auf seine Art, auch wenn er Richard beinahe zur Weißglut trieb, und was Peter Walsh betraf, hatte der ihr bis heute nicht verziehen, dass sie ihn mochte.

Sie konnte sich an Szenen über Szenen in Bourton erinnern – Peter wütend; Hugh ihm, natürlich, in keiner Weise ebenbürtig, aber doch nicht der ausgemachte Schwachkopf, als den Peter ihn hinstellte; kein bloßer Kleiderständer. Wenn seine alte Mutter ihn bat, mit dem Jagen aufzuhören oder sie nach Bath zu bringen, dann tat er’s, ohne ein Wort; er war wirklich selbstlos, und was das Gerede anging, das von Peter, er habe kein Herz, kein Hirn, nichts als die Manieren und die Erziehung eines englischen Gentleman, das zeigte ihren lieben Peter nur von seiner schlechtesten Seite; und er konnte unerträglich sein, er konnte unmöglich sein, doch hinreißend, wenn man mit ihm spazieren ging an einem Morgen wie diesem.

(Der Juni hatte jedes Blatt an den Bäumen hervorgelockt. Die Mütter von Pimlico säugten ihren Nachwuchs. Meldungen wurden von der Flotte zur Admiralität gefunkt. Arlington Street und Piccadilly schienen sogar noch die Luft im Park zu erhitzen und seine Blätter heiß und glitzernd auf Wellen jener göttlichen Lebensfreude zu heben, die Clarissa so liebte. Zu tanzen, zu reiten, all das hatte sie geliebt.)

Sie hätten schon seit Hunderten Jahren getrennt sein können, sie und Peter; sie schrieb nie einen Brief und seine waren staubtrocken; doch plötzlich konnte es über sie kommen, wenn er jetzt bei mir wäre, was würde er sagen? – mancher Tag, mancher Anblick brachte ihn ihr zurück, ruhig, ohne die alte Bitterkeit; was vielleicht der Lohn dafür war, Leute gemocht zu haben; da waren sie wieder mitten im St James’s Park, an einem herrlichen Morgen – tatsächlich. Aber Peter – so wunderschön der Tag auch sein mochte, und die Bäume und das Gras und das kleine Mädchen in Rosa – Peter sah nichts von alldem. Er würde seine Brille aufsetzen, wenn sie es ihm sagte; er würde schauen. Es war der Zustand der Welt, der ihn interessierte; Wagner, Popes Gedichte, ständig die Charaktere der Leute, auch die Schwächen ihrer eigenen Seele. Wie er sie schalt! Wie sie stritten! Sie werde einen Premierminister heiraten und am Kopf einer Treppe stehen; die perfekte Gastgeberin nannte er sie (sie hatte deswegen geweint in ihrem Schlafzimmer), sie habe das Zeug zur perfekten Gastgeberin, sagte er.

So würde sie sich immer noch streitend im St James’s Park wiederfinden, noch immer der Meinung, sie habe recht daran getan – und das hatte sie –, ihn nicht zu heiraten. Denn in der Ehe musste es ein wenig Freiheit, ein wenig Unabhängigkeit geben zwischen Leuten, die tagein, tagaus im selben Haus lebten; die Richard ihr ließ, und sie ihm. (Wo war er heute Morgen zum Beispiel? Irgendein Ausschuss, sie fragte nie, welcher.) Mit Peter jedoch musste alles geteilt werden; alles offengelegt. Und das war unerträglich, und als es zu jener Szene in dem kleinen Garten bei dem Springbrunnen kam, musste sie mit ihm brechen, sonst hätte es sie beide zerstört, sie beide zugrunde gerichtet, davon war sie überzeugt; obwohl sie über Jahre den Schmerz, den Kummer mit sich herumgetragen hatte wie einen Pfeil, der ihr im Herzen steckte; und dann der entsetzliche Augenblick, als jemand ihr bei einem Konzert erzählte, dass er eine Frau geheiratet habe, der er auf dem Schiff nach Indien begegnet sei! Niemals würde sie all das vergessen! Kalt, herzlos, prüde nannte er sie. Niemals könnte sie verstehen, wie er empfand. Aber diese Frauen in Indien taten es vermutlich – dümmliche, hübsche, zierliche Püppchen. Und sie vergeudete ihr Mitleid. Denn er sei durchaus glücklich, versicherte er ihr – vollkommen glücklich, auch wenn er nichts von all dem getan hatte, worüber sie miteinander gesprochen hatten; sein ganzes bisheriges Leben war ein einziges Versagen. Es machte sie immer noch wütend.

Sie war beim Parktor angelangt. Sie stand einen Augenblick da und schaute auf die Omnibusse in der Piccadilly.

Sie würde von niemandem auf der Welt mehr sagen, er sei dies oder sei jenes. Sie fühlte sich sehr jung, zugleich unsagbar gealtert. Sie schnitt wie ein Messer durch alles; war gleichzeitig außerhalb, schaute zu. Sie hatte immerfort das Empfinden, während sie die Taxis betrachtete, draußen zu sein, weit draußen auf See und allein; sie hatte fortwährend das Gefühl, es sei sehr, sehr gefährlich, auch nur einen Tag zu leben. Nicht dass sie sich für klug hielt oder für besonders ungewöhnlich. Wie sie durchs Leben gekommen war mit dem dürftigen Wissen, das Fräulein Daniels ihnen mitgegeben hatte, konnte sie sich nicht erklären. Sie wusste nichts; nichts von Sprachen, nichts von Geschichte; sie las kaum mehr ein Buch, außer Memoiren im Bett; und doch nahm es sie völlig gefangen; all das; die vorüberfahrenden Taxis; und sie würde nicht von Peter, würde nicht von sich selbst sagen, ich bin dies, ich bin jenes.

Ihre einzige Begabung war es, die Leute nahezu instinktiv zu erkennen, dachte sie im Weitergehn. Steckte man sie mit jemandem in einen Raum, machte sie einen Buckel wie eine Katze; oder sie schnurrte. Devonshire House, Bath House, das Haus mit dem Porzellan-Kakadu, sie alle hatte sie einst hell erleuchtet gesehen; und erinnerte sich an Sylvia, Fred, Sally Seton – Heerscharen Leute; ans Tanzen die ganze Nacht; an die Karren, die vorbeiholperten auf dem Weg zum Markt; an die Heimfahrt quer durch den Park. Sie erinnerte sich, wie sie einmal einen Shilling in den Serpentine geworfen hatte. Aber jeder erinnerte sich; was sie liebte, war dies, hier, jetzt, direkt vor ihr; die dicke Dame im Taxi. Spielte es da eine Rolle, fragte sie sich, Richtung Bond Street spazierend, spielte es eine Rolle, dass es unvermeidlich einmal ganz und gar würde aus sein mit ihr; all das würde ohne sie weitergehn; verdross es sie; oder war es nicht tröstlich zu glauben, dass der Tod allem tatsächlich ein Ende machte?, dass sie dennoch irgendwie in den Straßen von London, in der Ebbe und Flut der Dinge, hier, dort, weiterlebte, Peter weiterlebte, einer im andern fortdauerte, war sie doch, das wusste sie, Teil der Bäume daheim; des Hauses dort, hässlich, zerfasernd in all seine kleinsten Ecken und Winkel, wie’s war; Teil der Leute, denen sie nie begegnet war; hingestreckt wie ein Nebel zwischen den Leuten, die sie am besten kannte, die sie auf ihre Äste hoben, wie sie die Bäume den Nebel hatte heben sehen, aber es breitete sich so unendlich weit aus, ihr Leben, sie selbst. Doch wovon träumte sie jetzt, während sie bei Hatchards ins Schaufenster blickte? Was versuchte sie wiederzufinden? Welches Bild weißen ländlichen Morgendämmers, als sie in dem aufgeschlagenen Buch dort las:

Fürcht nicht mehr der Sonne Glut

Noch des grimmen Winters Wüten.

Diese jüngste Epoche des Weltgeschehens hatte in ihnen allen, allen Männern und Frauen, einen Quell von Tränen gezeugt. Tränen und Kummer; Mut und Ausdauer; eine vollkommen aufrechte, stoische Haltung. Man denke zum Beispiel an jene Frau, die sie am meisten bewunderte, Lady Bexborough, bei der Eröffnung ihres Basars.

Da lagen Jorrocks’s Jaunts and Jollities; auch Soapy Sponge und Mrs Asquiths Memoirs und Big Game Shooting in Nigeria, alle aufgeschlagen. Noch sehr viel mehr Bücher lagen da; aber keines, das genau richtig schien, um es Evelyn Whitbread in ihre Kurklinik mitzubringen. Nichts, das dazu diente, sie aufzuheitern und diese unbeschreiblich vertrocknete Frau, wenn Clarissa hereinkäme, auch nur einen Moment lang herzlich wirken zu lassen, ehe sie sich niederließen für das übliche endlose Gespräch über Frauenleiden. Wie sehr sie sich das wünschte – dass die Leute erfreut aussähen, wenn sie hereinkam, dachte Clarissa und wandte sich ab und ging zurück Richtung Bond Street, verärgert, weil es dumm war, äußerliche Gründe für eigenes Handeln zu haben. Viel lieber wäre sie so wie Richard, der Dinge um ihrer selbst willen tat, während sie, dachte sie und wartete, um über die Straße zu gehn, die Hälfte der Zeit die Dinge nicht einfach so, nicht um ihrer selbst willen tat; sondern um die Leute dies oder jenes denken zu machen; vollkommen idiotisch, das wusste sie (und jetzt hob der Polizist seine Hand), denn darauf fiel niemand auch nur für eine Sekunde herein. Ach, hätte sie doch ihr Leben noch einmal von vorn leben können!, dachte sie, als sie auf das Straßenpflaster trat, oder wenigstens anders aussehn!

Sie wäre dann vor allem dunkelhaarig gewesen wie Lady Bexborough, mit einer Haut aus knittrigem Leder und schönen Augen. Sie wäre, wie Lady Bexborough, gelassen und stattlich gewesen; ziemlich üppig; an Politik interessiert wie ein Mann; mit einem Landhaus; sehr würdig, sehr aufrichtig. Stattdessen hatte sie eine schmächtige Bohnenstangenfigur; ein lachhaftes kleines Gesicht, schnabelförmig wie das eines Vogels. Dass sie sich gut hielt, stimmte; und dass sie hübsche Hände und Füße hatte; und sich gut kleidete in Anbetracht dessen, dass sie wenig ausgab. Doch oft schien ihr jetzt dieser Körper, den sie mit sich herumtrug (sie blieb stehen, um sich ein niederländisches Bild anzusehn), dieser Körper, mit all seinen Fähigkeiten, nichts zu sein – gar nichts. Sie hatte die höchst sonderbare Empfindung, dass sie eigentlich unsichtbar war, ungesehen, ungekannt; dass da jetzt kein Heiraten mehr war, kein Kinderkriegen, stattdessen nur dieses erstaunliche und ziemlich ernste Voranschreiten mit all den anderen, die Bond Street hinauf, dieses Mrs-Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; dieses Mrs-Richard-Dalloway-Sein.

Die Bond Street faszinierte sie; die Bond Street früh morgens in der Hochsaison; die wehenden Fahnen, die Läden; kein Glitzern, kein Protz; ein Ballen Tweed in dem Laden, in dem ihr Vater fünfzig Jahre lang seine Anzüge gekauft hatte; ein paar Perlen; Lachs auf einem Eisblock.

»Das ist alles«, sagte sie, das Fischgeschäft betrachtend. »Das ist alles«, wiederholte sie und verharrte einen Augenblick lang vor dem Fenster eines Handschuhladens, in dem man, vor dem Krieg, nahezu makellose Handschuhe kaufen konnte. Und ihr alter Onkel William pflegte zu sagen, eine Dame erkenne man an ihren Schuhen und ihren Handschuhen. Er hatte sich eines Morgens, mitten im Krieg, in seinem Bett umgedreht. Er hatte gesagt: »Ich hab’s satt.« Handschuhe und Schuhe; sie hatte eine Vorliebe für Handschuhe; ihre eigene Tochter hingegen, ihre Elizabeth, scherte sich nicht einen Deut um beides.

Nicht einen Deut, dachte sie und ging weiter die Bond Street hinauf zu einem Laden, wo sie ihre Blumen besorgte, wenn sie eine Gesellschaft gab. Am meisten machte Elizabeth sich wirklich aus ihrem Hund. Das ganze Haus roch heute Morgen nach Teer. Trotzdem, immer noch besser der arme Grizzle als Miss Kilman; lieber Staupe und Teer und was sonst noch, als mit einem Gebetbuch eingesperrt in einem stickigen Schlafzimmer zu sitzen! Alles besser als das, war sie geneigt zu sagen. Aber vielleicht war es ja, wie Richard meinte, bloß eine Phase, wie jedes Mädchen sie durchmacht. Vielleicht war es Verliebtheit. Aber warum in Miss Kilman?, die allerdings schlecht behandelt worden war; deswegen musste man nachsichtig sein, und Richard sagte, sie sei sehr begabt, habe wirklich Sinn für Geschichte. Jedenfalls waren sie unzertrennlich, und Elizabeth, ihre eigene Tochter, ging zum Abendmahl; und wie sie sich kleidete, wie sie Leute behandelte, die zum Lunch kamen, das scherte sie kein bisschen, da ihre Erfahrung ihr sagte, dass religiöse Ekstase die Leute abstumpfen ließ (so wie die gute Sache es tat); ihr Fühlen betäubte, denn Miss Kilman würde alles tun für die Russen, hungern für die Österreicher, doch im privaten Umgang marterte sie einen regelrecht, so gefühllos war sie, gekleidet in einen grünen Regenmantel. Jahrein, jahraus trug sie diesen Mantel; sie schwitzte; sie war keine fünf Minuten im Raum, ohne dich ihre Überlegenheit, deine Unterlegenheit spüren zu lassen; wie arm sie sei; wie reich du seist; wie schäbig sie hause ohne ein Kissen oder ein Bett oder einen Vorleger oder was immer es sein mochte, ihre ganze Seele zerfressen von all dem Gram, der in ihr steckte, ihre Entlassung aus der Schule während des Krieges – armes, verbittertes, unglückliches Geschöpf! Denn nicht sie war’s, die man hasste, sondern die Vorstellung von ihr, die zweifellos vieles in sich versammelt hatte, das nicht Miss Kilman war; zu einem dieser Gespenster geworden war, mit denen man sich nachts herumschlägt; einem dieser Gespenster, die sich breitbeinig über uns beugen und uns halb das Herzblut aussaugen, Gewaltherrscher und Tyrannen; denn ohne Zweifel, wären die Würfel anders gefallen, wäre das Schwarze zuoberst gewesen und nicht das Weiße, sie hätte Miss Kilman geliebt! Aber nicht in dieser Welt. Nein.

Dennoch, es zehrte an ihr, zu spüren, dass dieses scheußliche Ungeheuer in ihr rumorte! Zweige knacken zu hören und Bocksfüße hinabgestoßen zu fühlen in den Tiefengrund dieses laubverhangenen Waldes, der Seele; nie ganz zufrieden zu sein, oder ganz sicher, denn jederzeit konnte das Scheusal sich regen, dieser Hass, der, besonders seit ihrer Krankheit, solche Macht besaß, dass sie sich zerschunden fühlte, versehrt bis ins Mark; ihr körperlich Schmerzen bereitete und alle Freude an Schönheit, an Freundschaft, an Wohlbefinden, am Geliebtwerden und am Schmücken ihres Heims schwanken, beben, nachgeben machte, als wühlte da wirklich ein Ungeheuer an den Wurzeln, als wäre die volle Rüstung der Zufriedenheit nichts als Eigenliebe! dieser Hass!

Unsinn, Unsinn!, rief sie sich zu und drängte sich durch die Pendeltür von Mulberrys Blumenladen.

Sie trat vor, leicht, groß, sehr aufrecht, sogleich begrüßt von der knopfgesichtigen Miss Pym, deren Hände immer grellrot waren, als hätten sie mit den Blumen im kalten Wasser gestanden.

Da waren Blumen: Rittersporn, Edelwicken, Sträuße von Flieder; und Nelken, massenhaft Nelken. Da waren Rosen; da waren Schwertlilien. Ah, ja – so sog sie die gartenerdige Süße ein, während sie dastand und mit Miss Pym sprach, die ihr Hilfe verdankte und sie für gütig hielt, denn gütig war sie gewesen vor Jahren; sehr gütig, doch sie sah älter aus dieses Jahr, wie sie ihren Kopf von einer Seite zur andern wandte zwischen den Schwertlilien und Rosen und nickenden Fliederdolden, die Augen halb geschlossen, nach dem Straßenlärm den köstlichen Duft atmend, die herrliche Kühle. Und dann, als sie die Augen öffnete, wie frisch, ähnlich gefältelter Wäsche, nach der Reinigung sauber in Weidenkörbe gelegt, die Rosen aussahen; und dunkel und steif die roten Nelken, die ihre Köpfe reckten; und all die Edelwicken, die sich in ihren Schüsseln ausbreiteten, violett, schneeweiß, zart getönt – wie wenn es Abend wäre und Mädchen in Musselinkleidern herauskämen, um Edelwicken und Rosen zu pflücken, nachdem dieser prächtige Sommertag mit seinem fast blauschwarzen Himmel, seinem Rittersporn, seinen Nelken, seinen Callas vorüber war; und es jener Augenblick wäre zwischen sechs und sieben, in dem jede Blüte – Rosen, Nelken, Schwertlilien, Flieder – auflodert; weiß, violett, rot, tieforange; jede Blüte scheint aus sich heraus zu brennen, sacht, rein, in den dunstigen Beeten; und wie sie die grau-weißen Nachtfalter liebte, die hin und her schwirrten über den Sonnenwenden, über den Nachtkerzen!

Und als sie begann, mit Miss Pym von Vase zu Vase zu gehen, aussuchend, Unsinn, Unsinn, sagte sie sich da, sanfter, immer sanfter, als ob diese Schönheit, dieser Duft, diese Farbe und Miss Pyms Zuneigung, ihr Vertrauen eine Welle wären, die sie über sich hinspülen ließ und diesen Hass, dieses Ungeheuer, all das überwinden; und sie trug sie hinauf und hinauf, als – oh! ein Pistolenschuss auf der Straße draußen!

»Herrje, diese Automobile«, sagte Miss Pym, die ans Fenster trat, um nachzusehen, und zurückkam und entschuldigend lächelte mit ihren Händen voller Edelwicken, als wären diese Automobile, diese Reifen der Automobile, allein ihre Schuld.

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Der laute Knall, der Mrs Dalloway aufschrecken und Miss Pym zum Fenster gehn und sich entschuldigen ließ, kam von einem Automobil, das genau gegenüber von Mulberrys Schaufenster am Straßenrand gehalten hatte. Passanten, die, natürlich, stehen blieben und gafften, konnten nur eben ein Antlitz von allergrößter Bedeutung vor den taubengrauen Polstern bemerken, ehe eine männliche Hand den Vorhang zuzog und nichts weiter zu sehen war als ein Viereck von Taubengrau.

Dennoch waren sogleich Gerüchte in Umlauf, von der Mitte der Bond Street bis zur Oxford Street auf der einen, zu Atkinsons Parfümerie auf der anderen Seite, die sich unsichtbar, unhörbar verbreiteten, wie eine Wolke, flüchtig, schleierhaft über Hügeln, sich tatsächlich mit so etwas wie der plötzlichen Ernsthaftigkeit und Stille einer Wolke auf Gesichter senkten, die eine Sekunde zuvor noch völlig verwirrt dreingeblickt hatten. Doch nun hatte das Mysterium sie mit seinem Flügel gestreift; sie hatten die Stimme der Autorität vernommen; der Geist der Religion ging um mit fest verbundenen Augen und weit aufgerissenem Mund. Aber niemand wusste, wessen Antlitz man gesehen hatte. War es das des Prinzen von Wales, das der Königin, das des Premierministers? Wessen Antlitz war es? Niemand wusste es.

Edgar J. Watkiss, mit seiner Rolle Bleirohre um den Arm, sagte vernehmbar, im Scherz natürlich: »Dem Prömjehminister sein Wagn.«

Septimus Warren Smith, der sah, dass er nicht vorbeikonnte, hörte ihn.

Septimus Warren Smith, etwa dreißig Jahre alt, blassgesichtig, hakennasig, in braunen Schuhen und abgetragenem Mantel, mit nussbraunen Augen, darin dieser ahnungsvoll ängstliche Blick, der vollkommen Fremde ebenfalls ängstlich macht. Die Welt hat ihre Peitsche erhoben; wo wird sie niedergehn?

Alles war zum Stillstand gekommen. Das Pochen der Motoren klang wie ein Puls, der unrhythmisch durch einen ganzen Leib dröhnt. Die Sonne wurde außerordentlich heiß, weil das Automobil vor Mulberrys Schaufenster gehalten hatte; alte Damen auf Omnibusdecks öffneten ihre schwarzen Sonnenschirme; hier spannte sich ein grüner, dort ein roter Schirm mit einem leisen Plopp. Mrs Dalloway, die mit einem Armvoll Edelwicken ans Fenster trat, spähte hinaus, ihr kleines rosa Gesicht forschend in Falten gelegt. Alles schaute auf das Automobil. Septimus schaute. Jungen sprangen von ihren Fahrrädern. Der Verkehr staute sich. Und da stand das Automobil, mit zugezogenen Vorhängen, und auf ihnen ein sonderbares Muster wie ein Baum, dachte Septimus, und dieses allmähliche Sichzusammenziehn aller Dinge auf einen Mittelpunkt vor seinen Augen, als wäre etwas Grauenhaftes beinahe bis an die Oberfläche gelangt und stünde kurz davor, in Flammen aufzugehen, entsetzte ihn. Die Welt wankte und bebte und drohte in Flammen aufzugehen. Ich bin es, der den Weg versperrt, dachte er. Blickten nicht alle auf ihn, zeigten auf ihn; stand er nicht lastbeschwert dort, festgewurzelt am Gehsteig, zu einem Zweck? Aber zu welchem Zweck?

»Lass uns weitergehn, Septimus«, sagte seine Frau, ein kleines Wesen mit großen Augen in einem blassgelben spitzen Gesicht; eine junge Italienerin.

Doch Lucrezia konnte selbst nicht anders, als auf das Automobil und das Baummuster auf den Vorhängen zu schauen. War das die Königin, die darin saß – die Königin, die Einkäufe machte?

Der Chauffeur, der etwas geöffnet, an etwas gedreht, etwas geschlossen hatte, stieg auf seinen Sitz.

»Komm jetzt«, sagte Lucrezia.

Aber ihr Mann, denn sie waren nun seit vier, fünf Jahren verheiratet, schrak zusammen, fuhr auf und sagte: »Schon gut!«, ärgerlich, als hätte sie ihn unterbrochen.

Die Leute mussten es merken; mussten es sehen. Die Leute, dachte sie, während sie auf die Menge schaute, die auf das Automobil starrte; diese Engländer, mit ihren Kindern und ihren Pferden und ihrer Kleidung, die sie auf gewisse Weise bewunderte; doch jetzt waren sie »Leute«, weil Septimus gesagt hatte: »Ich werde mich umbringen«; schrecklich, so etwas zu sagen. Was, wenn sie ihn gehört hätten? Sie schaute auf die Menge. Hilfe, Hilfe!, wollte sie den Fleischerjungen und Frauen zurufen. Hilfe! Erst vorigen Herbst hatten sie und Septimus am Embankment gestanden, in denselben Mantel gehüllt, und als Septimus eine Zeitung gelesen hatte, statt zu reden, hatte sie sie ihm weggeschnappt und dem alten Mann, der ihnen zusah, ins Gesicht gelacht! Doch das Scheitern verbirgt man. Sie musste ihn wegbringen in irgendeinen Park.

»Jetzt gehn wir rüber«, sagte sie.

Sie hatte ein Recht auf seinen Arm, obwohl kein Gefühl darin war. Er würde ihr, die so einfach war, so impulsiv, erst vierundzwanzig, ohne Freunde in England, die Italien um seinetwillen verlassen hatte, ein Stück Knochen reichen.

Das Automobil mit seinen geschlossenen Vorhängen und einer Aura unergründlicher Zurückhaltung glitt Richtung Piccadilly, noch immer begafft, noch immer die Gesichter zu beiden Seiten der Straße mit demselben dunklen Hauch von Verehrung kräuselnd, ob für Königin, Prinz oder Premierminister, das wusste niemand. Das Antlitz selbst war nur einmal von drei Leuten für ein paar Sekunden gesehen worden. Sogar das Geschlecht war jetzt umstritten. Doch konnte es keinen Zweifel geben, dass Größe im Innern saß; Größe fuhr, verborgen, die Bond Street hinunter, nur eine Handbreit entfernt von gewöhnlichen Leuten, die sich gerade vielleicht, zum ersten und letzten Mal, in Sprechweite der Majestät von England befanden, des überdauernden Sinnbilds des Staates, das wissbegierigen Altertumskundlern, die die Trümmer der Zeit erforschen, bekannt sein wird, wenn London ein grasbewachsener Pfad ist und all jene, die an diesem Mittwochmorgen den Gehsteig entlangeilen, nichts als Knochen sind, ihr Staub vermischt mit ein paar Trauringen und den Goldplomben unzähliger fauler Zähne. Dann wird das Antlitz in dem Automobil bekannt sein.

Wahrscheinlich ist es die Königin, dachte Mrs Dalloway, als sie mit ihren Blumen aus Mulberrys Laden trat: die Königin. Und einen Augenblick lang war ein Ausdruck von höchster Würde an ihr, wie sie da vor dem Blumengeschäft im Sonnenlicht stand, während der Wagen im Schritttempo vorüberglitt, mit geschlossenen Vorhängen. Die Königin, die ein Krankenhaus besucht; die Königin, die einen Basar eröffnet, dachte Clarissa.

Das Gedränge war schrecklich für diese Tageszeit. Lord’s, Ascot, Hurlingham, was war es?, fragte sie sich, denn die Straße war verstopft. Die britischen Mittelständler, die quer auf den Omnibusdecks saßen mit Päckchen und Schirmen, ja sogar Pelzen an einem Tag wie diesem, waren, dachte sie, lächerlicher, allem, was es je gegeben hat, unähnlicher, als man begreifen konnte; und selbst die Königin aufgehalten; selbst die Königin nicht imstande vorwärtszukommen. Clarissa war auf der einen Seite der Brook Street zum Warten genötigt; Sir John Buckhurst, der alte Richter, auf der anderen, der Wagen zwischen ihnen (Sir John hatte jahrelang das Gesetz ausgelegt und schätzte eine gut gekleidete Frau), als der Chauffeur, kaum merklich hinausgelehnt, dem Polizisten etwas sagte oder zeigte, der salutierte und seinen Arm hob und seinen Kopf herumwarf und den Omnibus auf die Seite manövrierte, und der Wagen fuhr durch. Langsam und sehr leise setzte er seinen Weg fort.

Clarissa ahnte; Clarissa kannte sich natürlich aus; sie hatte etwas Weißes, Magisches, Rundes in der Hand des Bedienten gesehen, eine Scheibe mit einem Namen darauf – dem der Königin, des Prinzen von Wales, des Premierministers? –, der sich, kraft seines ureigenen Glanzes, seinen Weg brannte (Clarissa sah den Wagen kleiner werden, verschwinden), um heute Abend inmitten von Kandelabern, glitzernden Orden, Revers, steif von Eichblättern, Hugh Whitbread und all seinen Kollegen, den Gentlemen Englands, im Buckingham Palace zu erstrahlen. Und auch sie, Clarissa, gab eine Gesellschaft. Sie versteifte sich ein wenig; so würde sie am Kopf ihrer Treppe stehn.

Der Wagen war fort, doch er hatte eine seichte Kräuselung hinterlassen, die durch Handschuhläden und Hutläden und Schneiderläden zu beiden Seiten der Bond Street floss. Für dreißig Sekunden waren alle Köpfe in dieselbe Richtung gewandt – zum Fenster. Damen, die ein Paar Handschuhe aussuchten – sollten sie bis an den Ellbogen reichen oder höher, zitronengelb sein oder blassgrau? –, hielten inne; als der Satz beendet war, war etwas geschehen. Etwas im einzelnen Fall so Unmerkliches, dass kein Messinstrument, auch wenn es Erdstöße in China verzeichnen konnte, die Erschütterung zu registrieren vermocht hätte; in seiner Fülle jedoch ziemlich Bedeutsames und in seiner allseitigen Wirkung Bewegendes; denn in all den Hut- und Schneiderläden blickten Fremde einander an und dachten an die Toten; an die Flagge; ans Empire. In einem Wirtshaus in einer Seitenstraße beleidigte ein Kolonist das Haus Windsor, was zu Wortwechseln, zerbrochenen Biergläsern und einem allgemeinen Radau führte, der auf seltsame Weise über die Straße hinweg in den Ohren einiger Mädchen widerhallte, die eben weiße, mit reinweißen Bändern durchwebte Unterkleider für ihre Hochzeiten kauften. Denn als die oberflächliche Erregung durch den vorbeifahrenden Wagen sich legte, rührte sie an etwas sehr Tiefes.

Der Wagen glitt über die Piccadilly und bog in die St James’s Street ein. Hochgewachsene Männer, Männer von kräftiger Statur, gut gekleidete Männer mit ihren Cutaways und ihren weißen Hemdkragen und ihrem zurückgekämmten Haar, die, aus schwer erfindlichen Gründen, im Erkerfenster des White’s standen, die Hände hinter den Frackschößen verschränkt, und hinausschauten, spürten instinktiv, dass Größe vorüberfuhr, und das blasse Licht der unsterblichen Gegenwart fiel auf sie, wie es auf Clarissa Dalloway gefallen war. Mit einem Mal standen sie noch aufrechter und nahmen die Hände hervor und schienen bereit, ihrem Souverän, wenn es notwendig war, bis vor die Mündungen der Geschütze zu folgen, wie ihre Ahnen es vor ihnen getan hatten. Die weißen Büsten und die kleinen Tische im Hintergrund, bedeckt mit Exemplaren des Tatler und Flaschen voll Sodawasser, schienen zuzustimmen; schienen auf das wogende Korn und die Herrensitze Englands zu deuten und das schwache Summen der Autoreifen zurückzuwerfen, so wie die Wände einer Flüstergalerie eine einzelne Stimme zurückwerfen, tönend und klangvoll geworden durch die Macht einer ganzen Kathedrale. Die tuchverhüllte Moll Pratt mit ihren Blumen auf dem Gehsteig wünschte dem lieben Jungen alles Gute (es war ganz sicher der Prinz von Wales) und hätte den Gegenwert eines Krugs Bier – eines Bunds Rosen – auf die St James’s Street geworfen, aus bloßer Unbeschwertheit und Verachtung der Armut, hätte sie nicht den Blick des Schutzmannes auf sich ruhen sehn, der die Untertanentreue einer alten Irin dämpfte. Die Wachen vor St James’s salutierten; Königin Alexandras Polizist stimmte zu.

Vor den Toren des Buckingham Palace hatte sich unterdessen eine kleine Menschenmenge versammelt. Teilnahmslos, doch zuversichtlich, arme Leute allesamt, warteten sie; schauten auf den Palast mit der wehenden Flagge; auf Victoria, wallend auf ihrem Sockel, bewunderten ihre Becken mit fließendem Wasser, ihre Geranien; wählten unter den Automobilen auf der Mall erst dieses, dann jenes aus; schenkten ein Gefühl, vergeblich, einfachen Bürgern, die spazieren fuhren; nahmen ihre Ehrbezeugung zurück, um sie unerschöpft zu bewahren, während dieser Wagen vorbeifuhr und jener; und ließen stetig Gerüchte sich in ihren Adern anhäufen und die Nerven in ihren Schenkeln durchzittern bei dem Gedanken an eine Hoheit, die ihren Blick auf sie richtet; die Königin, die sich verneigt; den Prinzen, der salutiert; bei dem Gedanken an das himmlische Leben, den Königen göttlich geschenkt, an die Stallmeister und tiefen Knickse, an das alte Puppenhaus der Königin, an Prinzessin Mary, verheiratet mit einem Engländer, und an den Prinzen – ah! den Prinzen!, der so wunderbar, sagten sie, dem alten König Edward nachschlug, allerdings sehr viel schlanker war. Der Prinz wohnte in St James’s; aber er könnte ja morgens vorbeikommen, um seine Mutter zu besuchen.

So sagte Sarah Bletchley mit ihrem Baby im Arm und wippte mit ihrem Fuß auf und ab, als stünde sie daheim in Pimlico vor dem Kamin, behielt dabei jedoch die Mall im Auge, während Emily Coates ihren Blick über die Palastfenster schweifen ließ und an die Hausmädchen dachte, die unzähligen Hausmädchen, die Schlafzimmer, die unzähligen Schlafzimmer. Ein älterer Herr mit einem Aberdeen-Terrier, beschäftigungslose Männer gesellten sich hinzu, die Menge wuchs. Der kleine Mr Bowley, der eine Wohnung im Albany hatte und über den tieferen Quellen des Lebens mit Wachs versiegelt war, aber ganz plötzlich, unpassenderweise, gefühligerweise entsiegelt werden konnte durch solcherlei Dinge – arme Frauen, die darauf warten, die Königin vorüberfahren zu sehen – arme Frauen, nette kleine Kinder, Waisen, Witwen, den Krieg – na, na –, hatte wahrhaftig Tränen in den Augen. Eine Brise, die so recht wärmend die Mall hinab durch die lichten Bäume strich, vorbei an den bronzenen Helden, hob eine wehende Fahne in Mr Bowleys britischer Brust und er lüftete seinen Hut, als der Wagen in die Mall einbog, und hielt ihn hoch, als der Wagen sich näherte, und ließ die armen Mütter von Pimlico sich dicht an ihn drängen und stand sehr aufrecht. Der Wagen kam heran.

Plötzlich schaute Mrs Coates hinauf in den Himmel. Das Geräusch eines Flugzeugs bohrte sich unheilvoll in die Ohren der Menge. Dort kam es über die Bäume, entließ am hinteren Teil weißen Rauch, der sich wand und sich verdrehte und tatsächlich etwas schrieb! Buchstaben an den Himmel malte! Alles schaute hinauf.

Jäh schoss das Flugzeug herab und schwang sich steil hinauf, beschrieb eine Schleife, jagte dahin, sank, stieg, und was immer es tat, wohin immer es flog, hinter ihm flatterte ein dicker gekräuselter Streif aus weißem Rauch, der sich am Himmel zu Buchstaben wand und schlang. Aber welche Buchstaben? War das ein C? ein E, dann ein L? Nur einen Augenblick lang blieben sie reglos; dann waberten sie und schmolzen und waren ausradiert dort oben am Himmel, und das Flugzeug raste weiter und begann aufs Neue, an einem frischen Stück Himmel, ein K zu schreiben, ein E, ein Y vielleicht?

»Glaxo«, sagte Mrs Coates mit gepresster, ehrfürchtiger Stimme, senkrecht nach oben starrend, und auch ihr Baby, das steif und weiß in ihren Armen lag, starrte senkrecht nach oben.

»Kreemo«, murmelte Mrs Bletchley wie eine Schlafwandlerin. Seinen Hut vollkommen reglos in der ausgestreckten Hand, starrte Mr Bowley senkrecht nach oben. Die gesamte Mall entlang standen Leute und schauten hinauf in den Himmel. Während sie schauten, fiel die ganze Welt in vollkommenes Schweigen, und ein Möwenschwarm kreuzte den Himmel, zuerst eine Möwe voraus, dann eine andere, und in diesem außergewöhnlichen Schweigen und Frieden, in dieser Blässe, in dieser Reinheit, schlugen Glocken elf Mal und der Klang verhallte dort oben zwischen den Möwen.

Das Flugzeug wendete und jagte dahin und stieß herab, ganz wo es ihm gefiel, leicht, flink, wie ein Eisläufer –

»Das ist ein E«, sagte Mrs Bletchley –

oder ein Tänzer –

»Es heißt Toffee«, murmelte Mr Bowley –

(und der Wagen fuhr durchs Tor und niemand achtete auf ihn), und mit abgestelltem Rauch rauschte es davon, davon, und der Rauch zerrann und legte sich rings um die vollen weißen Wolkengebilde.

Es war fort; es war hinter den Wolken. Kein Geräusch war zu hören. Die Wolken, an die sich die Buchstaben E, G oder L geheftet hatten, zogen frei dahin, als sollten sie von West nach Ost kreuzen für einen Auftrag von größter Bedeutung, der nie je enthüllt werden würde, und doch war es ganz sicher so – ein Auftrag von größter Bedeutung. Dann plötzlich, wie ein Zug aus einem Tunnel hervorkommt, rauschte das Flugzeug wieder aus den Wolken hervor, das Geräusch bohrte sich in die Ohren aller Leute auf der Mall, im Green Park, auf der Piccadilly, der Regent Street, im Regent’s Park, und der Streif aus Rauch bog sich hinter ihm und es schoss herab und es schwang sich hinauf und schrieb einen Buchstaben nach dem andern – aber welches Wort schrieb es da?

Lucrezia Warren Smith, die an der Seite ihres Mannes auf einer Bank im Regent’s Park am Broad Walk saß, schaute hinauf.

»Schau nur, schau, Septimus!«, rief sie. Denn Dr. Holmes hatte ihr gesagt, sie solle ihren Mann (der wahrhaftig an nichts Ernstlichem leide, sondern bloß nicht ganz auf der Höhe sei) für Dinge außerhalb seiner selbst interessieren.