Ein kleines Buch über den Himmel
Was schenkt ein Astronom seiner Tochter zur Einschulung? Natürlich ein Fernglas. Damit kann Stella ihren Glücksstern am Nachthimmel suchen. Doch welcher Lichtpunkt ist wirklich ein Stern und was unterscheidet ihn von einem Planeten? Stellas Vater erklärt ihr nach und nach den Kosmos. Anschaulich und leicht verständlich erläutert er die Gravitation, die er als den Klebstoff des Himmels bezeichnet, sagt, wie die Menschheit zum Heliozentrischen System kam, erklärt die Himmelsrichtungen und den Kalender ebenso wie die Relativitätstheorie oder das Navigationssystem.
Doch Ulrich Woelks elegant und verständlich geschriebenes Buch liest sich auch als Reflexion über die Vaterschaft. Mit Stolz und Freude folgt er den unverbildeten Gedankengängen seiner Tochter und erlebt durch die Augen des eigenen Kindes die Entdeckung des Himmels noch einmal – vom ersten Staunen über den leuchtenden Mond bis zum Verständnis der komplexen Zusammenhänge unseres Universums.
Ulrich Woelk, geboren 1960 in Bonn, studierte in Tübingen Physik. 1991 promovierte er an der Technischen Universität in Berlin. Bis 1995 war er am dortigen Institut für Astronomie und Astrophysik als theoretischer Astrophysiker mit dem Spezialgebiet Doppelsterne tätig. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin, ist verheiratet und hat eine kleine Tochter. Sein Debüt- Roman »Freigang« wurde 1990 mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Es folgten Romane wie »Liebespaare« (2001), »Die letzte Vorstellung « (2002) oder »Die Einsamkeit des Astronomen« (2005).
Warum fällt der Mond nicht vom Himmel?
eBook 2015
© 2008 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel ›Sternenklar. Ein kleines Buch über den Himmel‹
Umschlaggestaltung: Zero, München
Umschlagabbildung: Michael Sowa
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8860-3
www.dumont-buchverlag.de
Für Lina
Winter
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als meine Tochter – sie war ungefähr anderthalb – den Mond entdeckt hat. Sie hob ihren kleinen Arm, zeigte aufgeregt und mit leuchtenden Augen auf den Abendhimmel und sagte: »Da, da!« Viel mehr konnte sie damals noch nicht sagen. Es war praktisch ihr gesamter Wortschatz, den sie dem silbernen Ball über den Baumkronen zuteil werden ließ.
Ich glaube, Kinder wiederholen in ihrer Entwicklung uralte Erfahrungen der Menschheit. Seit Jahrtausenden richten wir den Blick nach oben und staunen über das, was wir sehen. Wenn wir Ruhe haben und uns darauf einlassen, können wir am Abend, wenn es allmählich dunkel wird und die ersten Sterne aufblinken, sehr ehrfürchtig werden.
In der Romantik hat man im Tageslicht eine Art Vorhang gesehen, der sich beinahe störend über die Nacht mit ihren Geheimnissen legt. Aber nicht nur über die Nacht, sondern auch über die dunkle geheimnisvolle Seite unserer Seele. Am Abend öffnet sich dieser Vorhang und das Unbewusste, unsere Nachtseite, wird sichtbar. Von Joseph von Eichendorff stammen die Zeilen: »Schweigt der Menschen laute Lust: / Rauscht die Erde wie in Träumen / Wunderbar mit allen Bäumen, / Was dem Herzen kaum bewußt.«
So gesehen sind Astronomen wie Kinder. Etwas Neues am Himmel zu entdecken begeistert sie. Und sie sind sogar Romantiker. Sie glauben, dass wir uns selbst – unsere Geheimnisse – nicht verstehen können, wenn wir das Weltall nicht verstehen. Denn die Materie, aus der wir bestehen, jedes einzelne Atom unseres Körpers ist aus dem Universum hervorgegangen. Vielleicht ist es das, was wir am Abend manchmal spüren: Wir sind Kinder der Nacht.
Sicher, die Astronomie ist eine hochtechnisierte Wissenschaft und die Aussagen der Kosmologie sind nicht gerade allgemein verständlich (oder romantisch). Aber Tatsache ist auch: Die Astronomen sitzen im gleichen Theater wie wir alle. Und der Abend ist der Zeitpunkt, da im Zuschauerraum das Licht ausgeht und das Schauspiel der Nacht beginnt. Ein magischer Augenblick. Vorhang auf!
Als meine Tochter sechs Jahre alt war und nicht mehr nur über ein paar Ursilben, sondern über einen (wie ich als Vater natürlich fand) erfreulich reichhaltigen Wortschatz verfügte, kam sie eimal zu mir an den Schreibtisch und fragte: »Was machst du da?«
»Ich arbeite«, antwortete ich.
»Was arbeitest du?«
»Ich denke über den Himmel nach.«
»Über Engel?«
»Nein, über die Sterne. Man nennt das Astronomie. Die Astronomie ist mein Beruf.«
»Was ist Astronomie?«
In ihren Kinderbüchern waren die Menschen Lokomotivführer, Bäcker oder Detektiv. Das waren Berufe, deren Zweck man nicht weiter zu erklären brauchte. Wir Astronomen haben es da nicht so leicht, wie ich gelegentlich feststellen muss. Vielen kommt unsere Wissenschaft ein wenig son-derbar und alltagsfern vor. Und auf den ersten Blick stimmt das ja auch: Was haben die Sterne, was hat das Riesenreich des Universums mit dem täglichen Leben zu tun? Wenig, so scheint es, aber das stimmt nicht wirklich. Jede Uhr ist ein kleines Sonnensystem und jede Satellitenschüssel eine Art Teleskop.
Vor langer Zeit stand die Astronomie im Zentrum des geistigen und religiösen Lebens der Hochkulturen. Es heißt gelegentlich, Philosophie und Astronomie seien die ältesten aller Wissenschaften. Wahr ist in jedem Fall, dass die Astronomie sehr alt ist. Das Wort Astronomie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Wissenschaft von den Sternen. Und auch Babylonier, Ägypter und Chinesen haben schon vor mehr als zweieinhalb bis drei Jahrtausenden systematische Sternbeobachtungen durchgeführt, um sich im zeitlichen Ablauf eines Jahres zurechtzufinden. Im Frühjahr sind andere Sternbilder sichtbar als im Sommer, Herbst oder Winter. Ihr Erscheinen am Himmel war daher für die Landwirtschaft von großer Bedeutung.
Doch genau genommen betreiben wir alle Astronomie. Wenn wir uns darauf verlassen, dass es nachts dunkel wird, vertrauen wir bereits einem astronomischen Gesetz, nämlich dem, dass die Erde sich dreht. Und auch die Beobachtung, dass die Tage im Winter kürzer sind als im Sommer, ist Astronomie. Tatsächlich lässt sich bereits mit einfachsten Mitteln astronomisches Wissen gewinnen. So braucht man beispielsweise nur eine Strichliste (und etwas Geduld), um herauszufinden, dass etwa neunundzwanzigeinhalb Tage von einem Vollmond bis zum nächsten vergehen. Ja, es ist sogar möglich, nur mit einem Stock und einem Zentimetermaß herauszufinden, dass unsere Erde eine Kugel ist. Schon 225 v. Chr. berechnete der griechische Mathematiker und Astronom Eratosthenes auf diese Weise den Erdumfang mit erstaunlicher Genauigkeit.
Aber Astronomie ist noch viel mehr. Der Nachthimmel erzählt die Geschichte unserer Herkunft. Im Altertum fasste man die Sterne zu Gruppen zusammen, denen man bestimmte Bilder aus der Mythologie zuordnete, Fabelwesen, Tiere oder Götter. Und bereits vor mehr als viertausend Jahren errichteten Menschen in England Kreise aus riesigen Steinen. Sie erschufen damit heilige Orte und markierten gleichzeitig astronomische Punkte. Man könnte sagen, diese Steinkreise waren so etwas wie riesige kosmische Uhren und steinzeitliche Sternwarten. Schon damals haben die Menschen also versucht, ihre Position im Universum zu bestimmen.
Wenn die Philosophie fragt: »Wer bin ich?«, dann fragt die Astronomie: »Wo bin ich?« Die Antwort darauf hat sich in den vergangenen Jahrtausenden stark verändert, doch ist eines dabei immer gleich geblieben: Nur durch den Blick hinauf zu den Sternen erfahren wir etwas über unseren Platz im Universum.
»Astronomie«, sagte ich also zu meiner Tochter, »ist eine sehr alte Wissenschaft. Sie beschäftigt sich mit dem Mond und der Sonne und den Sternen. Mit allem, was am Himmel ist.«
»Auch mit Vögeln und Flugzeugen?«
»Nein, das nicht. Auch nicht mit Wolken. Nur mit den Lichtern, die wir dort oben sehen und die ganz weit weg sind. Über diese Lichter kann man sehr lange nachdenken, denn es gibt sehr viele davon.«
Sie kletterte auf meinen Schoß und betrachtete den Bildschirm. »Wie viele denn?«
»Unvorstellbar viele. Es gibt ganz helle Sterne, Wega zum Beispiel oder Rigel, und es gibt Sterne, die wir mit bloßem Auge gar nicht sehen können. Man braucht ein Fernglas, um sie zu erkennen.«
»Riegel? Das ist aber ein lustiger Name. Ein Stern ist doch keine Tür.«
»Rigel ist Arabisch und heißt Fuß.«
»Haben alle Sterne Namen?«
»Es gibt zu viele, um für alle einen Namen zu finden.«
Sie sprang wieder auf. »Ich würde bestimmt für jeden einen Namen finden: Jim Knopf und Pünktchen und Anton und Herr Taschenbier und Sams und Lukas und Lisi und Herr Turtur …«
Mit diesen Worten lief sie hinaus und überließ mich wieder meiner Arbeit. Jim Knopf, Pünktchen und Anton, Herr Taschenbier, das Sams, Lukas, Lisi und Herr Turtur – das waren die Helden ihrer Gute-Nacht-Geschichten. Und wenn sie die Sterne nach ihnen benannte, dann tat sie eigentlich, was Menschen seit Jahrtausenden tun: Sie projizierte die Welt ihrer Mythen an den Himmel.
Meine Tochter heißt Stella. Diesen Namen verdankt sie meinem Beruf und der Nachsicht meiner Frau. Als wir während der Schwangerschaft stapelweise Namensbücher wälzten und uns peu à peu von Annabel über Emilia und Lara bis Paulette und Zarah durcharbeiteten, stieß ich irgendwann auf Stella. Der Name sprang mir als Astronom verständlicherweise sofort ins Auge, denn Stella ist lateinisch und heißt Stern. Und da wir selbstverständlich davon überzeugt waren, dass mit unserer Tochter ein neuer Stern in unserem Leben aufgehen würde, schien mir Stella eine ausgezeichnete Wahl.
Meine Frau fand den Namen hübsch, aber sehr direkt. »Gibt es nicht einen Sternennamen, der passen würde?«, fragte sie. Aber damit sah es schlecht aus. Bei den meisten Sternennamen handelt es sich nämlich um etwas ungelenke oder auch falsche Umlautungen aus dem Arabischen. Sie sind zwar durchaus klingend, eignen sich aber nicht als Namen für kleine Mädchen.
Einer der hellsten Sterne am Firmament ist beispielsweise Beteigeuze, was so viel wie ›Hand der Riesin‹ bedeutet. Beteigeuze steht im Sternbild Orion und markiert tatsächlich die obere erhobene Hand (oder eigentlich eher die Schulter) des Jägers, der laut griechischer Mythologie im Übrigen drei Väter hatte, Poseidon, Zeus und Hermes, was mir ebenfalls nicht besonders gefiel.
Ein anderer gut sichtbarer Stern, der letzte Schwanzstern im Großen Bären, heißt Benetnasch, was von ›banat na’sch‹ kommt und so viel wie ›Klageweiber‹ heißt. Das konnte ich meiner Tochter ebenfalls nicht zumuten. Höchstens der zweite Schulterstern des Orion hat gewisse klangliche Eigenschaften, die zu einem kleinen Mädchen passen würden: Bellatrix – was allerdings Latein ist und ›Kriegerin‹ bedeutet.
Natürlich konnten die Araber nur jene Sterne benennen, die sie auch gesehen haben. Das waren im Vergleich zu denen, die es tatsächlich gibt, sehr wenige. Moderne Teleskope haben Milliarden und Abermilliarden weiterer Sterne sichtbar gemacht. Sie alle mit Namen wie ›Schulter der Riesin‹ oder ›Der den Plejaden Nachfolgende‹ (Aldebaran) oder ›Linker Fuß des Mittleren‹ (Rigel) zu bezeichnen wäre auf die Dauer sehr unübersichtlich geworden.
Und so hat man sich im 17. Jahrhundert für ein anderes System entschieden: Man begann damit, die Sterne nach Lage und Helligkeit zu benennen. Aus Beteigeuze wurde ›alpha Orionis‹, der hellste Stern im Orion (alpha ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets), aus Bellatrix ›gamma Orionis‹, der dritthellste Stern im Orion, und aus Benetnasch ›eta Ursae Maioris‹, der siebthellste Stern im Großen Bären (bzw. Großen Wagen).
Doch schließlich reichte auch dieses System nicht mehr aus, und uns Astronomen blieb nichts anderes übrig, als die Sterne zu katalogisieren und ihnen als Namen ganz einfach ihre Katalognummer zuzuweisen: HD 39 801 für Beteigeuze, HD 120 315 für Benetnasch und HD 35 468 für Bellatrix. Seitdem sind Sternennamen zur Benennung kleiner Mädchen endgültig unbrauchbar geworden. Und so blieb es schließlich bei Stella.
Wenn wir Astronomen die Zahl der Sterne im Universum abschätzen, kommen wir auf mehr als Billionen Milliarden – ziemlich viele also. Zehn Billionen Milliarden ist eine eins mit zweiundzwanzig Nullen. Mathematisch gesehen ist so eine Zahl zwar nichts Besonderes, was aber nichts daran ändert, dass sie unser Vorstellungsvermögen sprengt.
Erstaunlicherweise wirkt ihre Größe aber etwas zugänglicher, wenn wir allen Sternen Namen geben würden. Denn um die zehn Billionen Milliarden Sterne im Universum unverwechselbar zu benennen, reichten Namen mit lediglich sechzehn Buchstaben aus – länger dürften, müssten sie aber nicht sein! Eine eins mit zweiundzwanzig Nullen erscheint uns sehr abstrakt, ein Wort mit sechzehn Buchstaben dagegen durchaus vertraut.
Stellas Vorschlag, einen Stern zum Beispiel Jim Knopf zu nennen, war gar nicht so schlecht. Mit der Erweiterung ›Jim Knopf aus Lummerland‹ hätte sie bereits einen eindeutigen und unverwechselbaren Namen geschaffen. Und sie könnte die Sterne auch einfach ›Mein Lieblingsstern‹ oder ›Goldenes Pünktchen‹ oder ›Kosmischer Diamant‹ nennen – nichts spräche dagegen. Sogar die Namen aus dem Altertum wie ›Der den Plejaden Nachfolgende‹ oder ›Linker Fuß des Mittleren‹ – so unpraktisch sie auch sein mögen – bezeichnen ihren jeweiligen Stern mehr als eindeutig.
Aber natürlich hat auch ein Benennungssystem aus der Kombination von sechzehn Buchstaben statt von zweiundzwanzig Ziffern seine Schwächen. Denn leider sind darin ja nicht nur sinnvolle Buchstabenfolgen wie ›Stellas Sternchen‹ enthalten, sondern auch alle sinnlosen wie zum Beispiel sechzehn aufeinanderfolgende As oder ganz einfach die ersten sechzehn Buchstaben des Alphabets. Mit solchen Namen wäre keinem Stern gedient – und Tatsache ist leider, dass es sehr viel mehr sinnlose als sinnvolle Kombinationen aus sechzehn Buchstaben gibt.
Es bleibt also dabei: Sobald sehr hohe Zahlen im Spiel sind, entfernen sich die Dinge von unserer Erfahrung. Und doch ist es bemerkenswert, dass man es beim Lesen einer Buchseite wie zum Beispiel dieser hier mit einer potentiellen Wort- und Buchstabenvielfalt zu tun hat, die ungleich größer ist als die Anzahl der Sterne im Universum. Wenn Bücher ein Abbild unseres Bewusstseins sind, dann ist es offenbar noch komplexer als das Universum, das es hervorgebracht hat.
Zur Einschulung schenkte ich Stella ein Fernglas. Das fand sie sehr lustig, insbesondere wenn sie es verkehrt herum benutzte! Dass wir alle winzig klein wurden, verblüffte sie sogar noch mehr als der eigentlich wichtige Vergrößerungseffekt. Aber als abends der Mond aufging – ein schöner klarer Halbmond, wie er sich zur Beobachtung besonders gut eignet – schien sie von der Größe unseres Erdtrabanten doch beeindruckt zu sein. Die Krümmung der Linie zwischen Licht und Schatten und die plastische Struktur der Krater auf der Oberfläche verwandeln den Mond im Fernglas von einer flachen Lichtscheibe in die silberne Kugel, die er ist. Das registrierte auch Stella mit ihren sechs Jahren schon. Seitdem weiß sie, dass der Mond ein riesiger Ball ist, der um die Erde fliegt.
In solcher Deutlichkeit hatte das erstmals Galileo Galilei gesehen. Er optimierte das Fernrohr – eine Erfindung des Holländers Hans Lipperhey aus dem Jahr 1608 – für astronomische Beobachtungen und erkannte auf dem Mond Gebirge und Krater. Außerdem stellte er fest, dass der Planet Jupiter von vier Himmelskörpern umkreist wurde. Daraus zog er den Schluss, dass die Lehre der Kirche, der zufolge die Erde im Mittelpunkt des Universums ruhte, nicht wahr sein konnte. Wenn nämlich der Jupiter von Himmelskörpern umkreist wurde, dann konnte auch ein Lebewesen auf dem Jupiter, so wie wir auf der Erde, den Eindruck haben, im Mittelpunkt des Universums zu stehen. Zwei Mittelpunkte konnte es im Universum aber nicht geben, und so musste irgendetwas an der kirchlichen Lehre falsch sein.
Um sie von der Richtigkeit dieser Theorie zu überzeugen, forderte Galilei irgendwann ein paar Abgesandte des Papstes auf, einen Blick durch sein Teleskop zu werfen. Die Boten des Heiligen Stuhls sollen es aber abgelehnt haben, den Mond oder den Jupiter durch das Fernrohr zu betrachten. Wenn Gott dies gewollt habe, so sagten sie, dann hätte er dem Menschen statt Augen ja Fernrohre gegeben.
Der Widerstand der Kirche hat die Astronomen nach Galilei aber nicht davon abhalten können, ihren Beobachtungsradius mit immer besseren Teleskopen Schritt für Schritt zu erweitern. Inzwischen sind wir in der Lage, extrem lichtschwache Objekte, die praktisch am Rande des sichtbaren Universums liegen, zu beobachten. Mit dem Fernrohr bereisen wir beinahe den gesamten Kosmos, und dadurch hat sich unser Weltbild seit den Tagen Galileis enorm verändert. Inzwischen wissen wir, dass weder die Erde noch der Jupiter im Mittelpunkt des Universums ruhen, sondern dass das Universum überhaupt keinen Mittelpunkt hat.
Solche Überlegungen waren für eine Erstklässlerin natürlich zu abstrakt, doch sagte ich zu Stella, als sie durch das Fernglas den Mond betrachtete: »Ein Mann namens Galilei, ein großer Forscher, der zum ersten Mal den Mond durch ein Fernrohr betrachtet hat, wurde vom Papst noch dazu verurteilt, niemals darüber zu reden.«
»Und warum?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Vielleicht dachte der Papst, dort oben wohnt Gott, und er hatte Angst davor, dass Galilei ihn nicht finden würde.«
»Aber Gott wohnt doch im Himmel«, sagte Stella.
»Nun ja. Nicht so direkt. Also eigentlich schon, aber andererseits auch wieder nicht … das ist schwer zu erklären.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Stella. »Dann will ich vielleicht auch nicht durch das Fernglas gucken.«
»Doch, das solltest du«, sagte ich.
»Warum denn?«
Jetzt musste ich mir schnell etwas einfallen lassen. »Um dort oben deinen Stern zu entdecken!«
»Meinen Stern?«
»Ja, jeder Mensch hat einen Stern. Und wenn man ihn findet, darf man ihm einen Namen geben und sich etwas wünschen.«
»Wirklich?«
»Aber ja, ganz sicher. Das kann man überall nachlesen. Es gibt viele Geschichten darüber.«
In einem ihrer Kinderbücher ging es tatsächlich um den Stern eines kleinen Mädchens, und so glaubte sie mir.
»Und wie sieht mein Stern aus?«, fragte sie.
Es wurde kühl, und ich schob sie sanft zurück ins Haus. »Das musst du selbst herausfinden«, sagte ich. »Wenn du ihn siehst, erkennst du ihn.«
»Und dann darf ich ihm einen Namen geben und mir etwas wünschen?«
»Genau«, sagte ich.
»Kann ich ihn denn nicht jetzt gleich suchen?«
Aber ich schloss die Tür und sagte: »Heute nicht. Du hast noch genug Zeit dazu. Es gibt unglaublich viele Sterne – so viele, dass es für alle kleinen Mädchen reicht.«
Meine etwas unklaren Äußerungen über die Existenz Gottes im Himmel führten schon bald darauf zu einem gewissen Konflikt. Alle Kinder sollten in einer der ersten Stunden des Religionsunterrichts nämlich sagen, wie sie sich Gott vorstellten. Die Religionslehrerin war eine sehr freundliche und engagierte junge Katholikin. Als Stella an der Reihe war, sagte sie, es sei ganz und gar nicht sicher, ob Gott überhaupt im Himmel wohne, und deswegen habe der Papst Galilei verboten, dort nachzusehen, aus Angst davor, dass er Gott nicht finden würde.
Die Religionslehrerin rief mich daraufhin an. Sie war durchaus dafür, dass Kinder die Religion auch kritisch betrachteten. Aber ebenso fand sie, dass es entschieden zu früh war, sie jetzt schon mit den Fehlern der katholischen Kirche zu konfrontieren. Das alles war ihrer Meinung nach viel zu kompliziert für Kinder – sie wollte ihnen zunächst einen lebendigen Glauben einpflanzen. Dass die Kirche in ihrer langen Geschichte nicht immer auf der Seite der Wahrheit gestanden hatte, würden sie noch früh genug lernen.
Ich stimmte ihr in allen Punkten zu. Ich wollte auf keinen Fall, dass Stella eine neunmalkluge Atheistin wurde. Und man muss auch zugeben, dass die biblische Schöpfungsgeschichte, die Genesis, aus astronomischer Sicht ein äußerst erstaunlicher Bericht ist, der eine Reihe von verblüffenden Parallelen zur heutigen Kosmologie aufweist.
Beispielsweise wissen wir inzwischen, dass das Universum einen Anfang hatte. Es ging vor dreizehn Milliarden Jahren aus dem Urknall hervor, den man sich vereinfacht als eine ungeheure Explosion von Energie und Licht vorstellen kann. Die Energie verwandelte sich schließlich in Materie, aus der sich im Lauf von Milliarden Jahren Sterne und Planeten bildeten. Man kann also sagen, dass die Erschaffung von Himmel, Erde und Licht am ersten Schöpfungstag den astronomischen Tatsachen entspricht – bis auf den Unterschied, dass der erste Schöpfungstag in Wirklichkeit etwa acht bis neun Milliarden Jahre gedauert hat.
Danach, vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren, entstand die Erde nahe der Ursonne aus der Verklumpung von Staub und glühendem Gestein. Sie kühlte allmählich ab, und es bildete sich eine feste Kruste. Heißer Wasserdampf wurde zu Regen und füllte die Niederungen zu Meeren auf. All das entspricht den Ereignissen am zweiten Schöpfungstag.
Gott erschafft an diesem zunächst eine »Scheidewand zwischen Wassern und Wassern«, und er trennt, heißt es, »zwischen den Wassern unterhalb des Himmelsgewölbes und den Wassern oberhalb des Himmelsgewölbes.« Dieser Schritt steht in erstaunlicher Übereinstimmung mit der astronomischen Erkenntnis, wonach die heiße Uratmosphäre zunächst mit Wasserdampf und Regentropfen gesättigt war. Wasser war überall, oben und unten. Und es dauerte etwa eine Milliarde Jahre, bis Wasser und Himmel sich voneinander trennten.
Das wiederum führt uns zum dritten Tag, an dem Gott das »Trockene«, die Erde, und »eine Sammlung von Wasser«, das Meer, erschafft. Geologisch gesprochen, entstehen so der Urkontinent Pangäa und der riesige, die restliche Erde bedeckende Urozean Panthalassa. Pangäa besiedelt Gott danach mit Pflanzen, ganz im Einklang mit der Evolutionslehre, der zufolge die Pflanzen das Land vor den Tieren eroberten.
Besonders erstaunlich ist der vierte Tag. Erst jetzt, nach den Pflanzen also, erschafft Gott den Sternenhimmel und »die beiden großen Lichter – das größere Licht, zu beherrschen den Tag, und das kleinere Licht, zu beherrschen die Nacht.« Dazu muss man wissen, dass die Uratmosphäre auch nach ihrer Abkühlung noch ziemlich undurchsichtig war. Sie bestand hauptsächlich aus Kohlendioxid und Stickstoff. Erst nachdem Pflanzen in der Lage waren, durch Photosynthese Kohlendioxid in Sauerstoff umzuwandeln, reinigten sie gewissermaßen die Atmosphäre, und Sonne, Mond, Planeten und Sterne wurden sichtbar.
Der biblische Schöpfungsbericht stammt aus einer Zeit, als die meisten Menschen noch glaubten, der Himmel sei von Göttern bevölkert. Damals muss die Genesis ein Dokument von unglaublicher Modernität gewesen sein. Sie machte aus Sonne und Mond – aus den vermeintlichen Repräsentanten von übernatürlichen Mächten – das, was sie sind: Lichter am Himmel. Heute erscheint uns das selbstverständlich, aber vor dreitausend Jahren muss es eine Revolution gewesen sein.
Für die Menschheit war der biblische Schöpfungsbericht ein philosophischer Meilenstein, für Gott aber ein schwerer Schritt. Denn er vertrieb nicht nur fremde Götter aus dem Himmel, sondern logischerweise auch sich selbst. Die Genesis lässt ihm keinen Platz mehr zwischen den Sternen – das würde ich Stella irgendwann einmal sagen müssen. Aber vielleicht hatte ihre Religionslehrerin ja recht: Dafür war es im Moment ganz einfach noch zu früh.
Vor kurzem hat mir Stella erklärt, wie es zu Gewittern kommt: Die Wolken stoßen zusammen und tun sich weh. Deswegen fangen sie an zu weinen, und ihre Tränen fallen mit silbernem Glitzern zur Erde.
Ich fand diese Theorie sehr hübsch, und das sagte ich ihr auch. Mir war klar, dass ich ihr die wahre Natur von Blitzen noch nicht erklären konnte. Blitze sind elektrische Entladungen in der Atmosphäre, die unter bestimmten Voraussetzungen entstehen. So muss zum Beispiel die heiße Uratmosphäre der Erde so dicht und aufgewühlt gewesen sein, dass sie ständig von Blitzen durchzogen wurde. Möglicherweise war die Energie dieser Entladungen sogar für die Entstehung von Leben notwendig.
In einem berühmten Experiment wies der amerikanische Chemiker Stanley Miller 1953 nach, dass ganz besonders wichtige chemische Bausteine des Lebens – Aminosäuren – entstehen, wenn man in der ›Ursuppe‹ elektrische Entladungen zündet. Es kann also gut sein, dass Blitze die notwendige Energie lieferten, um die Entwicklung von Lebewesen auf der Erde in Gang zu setzen.
Für uns Menschen wäre die Urerde allerdings kein besonders gemütlicher Ort. Weder hätten wir Sauerstoff zum Atmen, noch würden wir irgendwo klares Wasser finden. Und vermutlich käme es uns kaum in den Sinn, die allgegenwärtigen Blitze als silberne Tränen von Wolken zu betrachten.
Stella ist, wie alle Kinder, von Dinosauriern fasziniert. Sie weiß, dass Dinosaurier einmal vor langer Zeit auf der Erde gelebt haben, aber sie hat noch keine genaue Vorstellung von Zeiträumen und Dauer. ›Vor langer Zeit‹ könnte für sie auch heißen: Als Oma und Opa Kinder waren. Seit sie in den Herbstferien aber das riesige Brachiosaurierskelett im Berliner Naturkundemuseum gesehen hat, ist ihr klar, dass das nicht stimmen kann.
»Wieso gibt es eigentlich keine Dinosaurier mehr?«, wollte sie von mir wissen.
»Ach, na ja«, sagte ich. »Das ist ganz normal. Früher gab es viele Tiere, die es heute nicht mehr gibt.«
»Und warum?«
»Sie haben irgendwann keine Kinder mehr bekommen.«
Ungläubig sagte sie: »Alle Tiere bekommen doch Kinder!«
»Ja, schon. Aber manchmal bekommen sie eben keine mehr. Sie werden müde und legen sich lieber schlafen. Man muss auf Kinder ja immer gut aufpassen.«
»Die Dinosaurier sind müde geworden und wollten keine Kinder mehr?«
»So ungefähr.«
»Das finde ich aber blöd«, sagte sie.
»Na klar. Ist es ja auch. Aber für viele andere Tiere war das sehr gut. Die Dinosaurier waren ja ziemlich gefährlich.«
»Nicht alle«, belehrte sie mich.
»Das stimmt. Aber manche schon.«
»Und warum sind nicht nur die gefährlichen müde geworden, und die anderen nicht?«
»Ja«, sagte ich. »Das wäre schön. Aber schlafen müssen eben alle irgendwann.«
Damit gab sie sich zufrieden. Sie sprang zu den Vitrinen mit den Ichthyosauriern und hopste von dort weiter zum Archäopteryx. Mir war nicht ganz wohl bei der Erklärung, die ich ihr gegeben hatte. Aber hätte ich ihr die Wahrheit sagen sollen? Hätte ich ihr sagen sollen, dass vor rund sechzig Millionen Jahren ein gewaltiger Gesteinsbrocken, ein Meteorit von rund zehn Kilometern Durchmesser, die Erde getroffen und die Ära der Dinosaurier in kürzester Zeit beendet hatte?
Es muss die Hölle gewesen sein, wenn nicht noch schlimmer. Der Meteorit schlug in der Region des heutigen Golfs von Mexiko auf der Halbinsel Yucatán ein. Die Energie des Aufpralls entsprach dem Zehntausendfachen der Energie des gesamten Atombombenarsenals der Großmächte. Unvorstellbare Mengen an Staub wurden in die Atmosphäre geschleudert und verdunkelten über Jahre den Himmel. Die meisten Pflanzen starben ab, womit den Tieren die Nahrungsgrundlage entzogen wurde. Eine gewaltige Flutwelle wälzte sich über die Kontinente, und schwefelhaltiger Regen zersetzte die Schalen der Dinosauriereier. Über siebzig Prozent aller damals lebenden Tierarten starben aus, und die zweihundert Millionen Jahre andauernde Herrschaft der riesigen Echsen ging zu Ende.
Hätte ich Stella wirklich sagen sollen: »Das Universum hat uns hervorgebracht, aber es kann uns im Bruchteil einer Sekunde auch wieder zerstören?« Denn so ist es: Rein statistisch kommt es alle hundert Millionen Jahre zu einem Meteoriteneinschlag von derart katastrophalem Ausmaß. Das Nördlinger Ries in Süddeutschland ist der Einschlagkrater eines Meteoriten, der die Erde vor etwa fünfzehn Millionen Jahren getroffen hat. Mit anderthalb Kilometern Durchmesser war er verhältnismäßig klein, und seine Auswirkungen blieben lokal begrenzt. So viel Glück im Unglück hatten die Dinosaurier nicht.
Ich hatte Stella erzählt, dass für sie im Himmel ein Stern leuchtete und darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden. Ihr jetzt zu sagen, dass dort auch dunkle Gesteinsbrocken umherflogen, die auf einen Schlag nahezu alles vernichten konnten, was es an Leben auf der Erde gibt, brachte ich nicht übers Herz.
Vor kurzem hat Stella E.T. gesehen. Eigentlich bin ich dagegen, dass sie schon mit sechs Jahren anderthalb Stunden vor dem Fernseher zubringt, aber bei E.T. habe ich eine Ausnahme gemacht. Ich hatte gehofft, der Film würde sie noch neugieriger auf den Weltraum machen als mein Fernglas. Aber natürlich vermittelt so ein Hollywoodfilm doch ein paar falsche Vorstellungen von den Verhältnissen im Kosmos.
»Papi«, sagte sie hinterher zu mir, »können wir nicht auch mal einen Außerirdischen bei uns aufnehmen?«
»Nun ja«, sagte ich, »das mit den Außerirdischen ist so eine Sache. Es gibt sie nicht wirklich, sondern nur im Film.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf: »Sven hat gesagt, dass es Außerirdische gibt und dass es geheimgehalten wird. Deswegen will die Regierung E.T. ja auch fangen.«
Sven war der Bruder von Berit, ihrer besten Freundin. Und er war vor kurzem dreizehn geworden.
»Es kann schon sein«, sagte ich, »dass es im Weltraum noch andere Lebewesen außer uns Menschen gibt. Das ist möglich. Niemand weiß das bis heute so genau. Aber es ist wirklich nicht möglich, dass sie zu uns kommen. Der Weg ist viel zu weit.«
»Und warum haben dann schon so viele Menschen UFOs gesehen?«, entgegnete sie mir triumphierend.
Das war eine gute Frage. Die ersten UFO-Meldungen stammen aus der Zeit kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In der ersten Hälfte der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war der Luftkrieg, waren Bilder von Bomberstaffeln, Suchscheinwerfern am Nachthimmel und Flak-Feuer eine furchterregende neue Menschheitserfahrung.
Lichter am Himmel waren in dieser Zeit eine bedrohliche Erscheinung, und als der amerikanische Pilot Kenneth Arnold im Juni 1947 beim Auftanken seiner Maschine einer Gruppe von staunenden Zuhörern erklärte, er habe neun sonderbare, äußerst schnelle und leuchtende Objekte am Himmel gesehen, machte er damit sofort landesweit Schlagzeilen.
UFO ist die Abkürzung für ›Unidentified Flying Object‹, was so viel wie unbekanntes Flugobjekt heißt. Aus den USA schwappte die UFO-Welle nach Europa. In den fünfziger Jahren wurden in Großbritannien erste UFOs gesichtet. Die Zahl der UFO