Becky Albertalli: Ein Happy End ist erst der Anfang

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Wenn Leah Schlagzeug spielt, kommt sie nicht so leicht aus dem Takt. Wäre das im echten Leben doch auch so! Aber manchmal fühlt Leah sich, als ob sie von außen auf ihr Leben schaut. Was wird wohl nach der Schulzeit kommen? Wird sie ihre Freunde überhaupt noch sehen? Dieser Gedanke jagt ihr Angst ein – vor allem, weil sie für eine ganz bestimmte Person weitaus mehr empfindet, als sie sich eingestehen will.

Die Fortsetzung des preisgekrönten Fanlieblings »Nur drei Worte«, der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde und auch im Kino als »Love, Simon« zu sehen war. Ob eingefleischter Fan oder Creekwood-Neuling – in Leah werden sich alle sofort verlieben!

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Für die Leserinnen und Leser, die wussten, dass etwas im Busch war,
als ich selbst es noch nicht wusste.

1

Ich will nicht dramatisch klingen, aber Gott schütze mich davor, dass Morgan die Setlist bestimmt. Das Mädchen ist eine wandelnde männliche Midlife-Crisis im Körper einer Zehntklässlerin.

Typisches Beispiel: Sie kniet auf dem Fußboden, nimmt den Keyboard-Hocker als Schreibtisch und jeder Song auf ihrer Liste ist ein mittelmäßiger Classic-Rock-Song. Ich bin ja sehr tolerant, aber als Amerikanerin, als Musikerin und als Mensch mit Selbstachtung ist es sowohl meine Pflicht als auch mein Recht, diesen Mist entschieden abzulehnen.

Ich beuge mich vor und schaue ihr über die Schulter. »Kein Bon Jovi. Nichts von Journey.«

»Moment mal – im Ernst?«, fragt Morgan. »Die Leute lieben doch Don’t Stop Believin’.«

»Die Leute lieben auch Crystal Meth. Sollen wir deshalb anfangen, Meth zu nehmen?«

Anna zieht die Augenbrauen hoch. »Leah, hast du gerade …«

»Hab ich grade Don’t Stop Believin’ mit Meth verglichen?« Ich zucke die Achseln. »Ja, hab ich.«

Anna und Morgan tauschen einen bedeutungsvollen Blick. Er sagt: Pass auf, jetzt wird sie total bockig.

»Ich meine ja nur. Der Song ist ein Haufen Schrott. Der Text ist totaler Quatsch.« Ich tippe den Stick kurz auf die Snare, um den letzten Satz zu unterstreichen.

»Mir gefällt der Text«, sagt Anna. »Er ist so voller Hoffnung.«

»Es geht doch nicht um Hoffnung. Es geht um die krasse Unwahrscheinlichkeit, dass man um Mitternacht einen Zug, ich zitiere, nach irgendwohin nimmt.«

Wieder wechseln sie einen Blick, diesmal begleitet von ganz zartem Schulterzucken. Übersetzung: Da ist was dran.

Übersetzung der Übersetzung: Leah Catherine Burke ist ein echtes Genie und wir sollten ihren Musikgeschmack niemals anzweifeln.

»Vielleicht nehmen wir besser nichts Neues dazu, bis Taylor und Nora wieder da sind«, räumt Morgan ein. Und da hat sie recht. Wegen der Proben für das Schulmusical sind Taylor und Nora seit Januar außer Gefecht. Und wir anderen haben uns zwar mehrmals die Woche getroffen, aber Proben ohne Sängerin und Leadgitarristin sind doch scheiße.

»Okay«, sagt Anna. »Dann sind wir hier wohl fertig?«

»Mit der Probe?«

Ups. Hätte ich nur nichts zu Journey gesagt. Ich verstehe es ja. Ich bin weiß. Ich sollte also auf schmierige Rockklassiker stehen. Aber ich dachte, so eine lebhafte Diskussion über Meth und Musik macht allen Spaß. Vielleicht ist sie doch ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, denn Morgan räumt das Keyboard weg und Anna schreibt ihrer Mutter eine Nachricht, dass sie abgeholt werden will. Das heißt dann wohl Game over.

Meine Mutter kommt erst in zwanzig Minuten, also hänge ich noch ein bisschen im Musikraum ab, als sie schon weg sind. Macht mir eigentlich nichts aus. Es ist sogar ganz nett, allein Schlagzeug zu spielen. Ich spiele einfach los, Bass Drum und Snare, noch mal und noch mal. Ein paar Fills auf den Toms. Ein bisschen K-tschh K-tschh K-tschh auf der Hi-Hat, und dann das Crash-Becken.

Crash.

Crash.

Und noch mal.

Ich höre mein Handy gar nicht brummen, erst das Ping, als die Nachricht von der Mailbox kommt. Ganz sicher meine Mutter. Sie ruft immer an, Nachrichten schreibt sie bloß, wenn sie keinen Ausweg sieht. Man könnte meinen, sie sei fünfzig oder eine Million Jahre alt, dabei ist sie erst fünfunddreißig. Ich bin achtzehn. Rechnet es selbst aus. Im Grunde bin ich so eine Art dicke Rory Gilmore aus dem Haus Slytherin.

Ich höre mir nicht an, was sie mir auf die Mailbox gesprochen hat, weil sie danach immer gleich eine Nachricht schreibt – und richtig, einen Augenblick später: Tut mir echt leid, Süße. Ich versinke total in Arbeit – kannst du heute den Bus nehmen?

Klar, antworte ich.

Du bist die Beste. Kuss-Emoji.

Moms Chef ist so ein Workaholic-Anwalt, unaufhaltsam wie ein Roboter, darum passiert so was dauernd. Entweder das, oder sie hat ein Date. Ist echt nicht witzig, dass da bei meiner Mutter mehr abgeht als bei mir. Im Augenblick trifft sie sich mit einem Typen namens Wells. So wie die Mehrzahl von well. Er ist reich und kahl und hat winzig kleine Ohren, und ich glaube, er ist fast fünfzig. Ich habe ihn einmal getroffen, eine halbe Stunde lang, und da hat er sechs Flachwitze gebracht und zwei Mal »Scheibenkleister« gesagt.

Na ja, früher hatte ich selbst ein Auto, darum war das kein Thema – wenn ich vor Mom zu Hause war, bin ich einfach durch die Garage rein. Aber letztes Jahr ist Moms Auto verreckt, also wurde mein Auto ihr Auto und ich darf jetzt mit fünfunddreißig Neuntklässlern nach Hause fahren. Nicht dass ich deshalb verbittert wäre.

Wir sollen den Musikraum bis fünf räumen, also nehme ich das Schlagzeug auseinander und hieve die Teile in die Instrumentenkammer. Ich bin die Einzige, die das Schulschlagzeug benutzt. Alle anderen Schlagzeuger haben ein eigenes Set in den schicken Kellern ihrer Villen. Mein Freund Nick hat ein ausbaufähiges Yamaha DTX450K E-Drumkit, dabei spielt er nicht einmal Schlagzeug. Das könnte ich mir in tausend Jahren nicht leisten. Aber so ist Shady Creek.

Der späte Bus fährt erst in einer halben Stunde – dann spiele ich mal Theatergroupie. Es stört nie irgendwen, wenn ich einfach in die Proben reinspaziere, obwohl am Freitag schon Premiere ist. Echt, ich war schon so oft bei den Proben dabei, ich glaube, fast alle haben vergessen, dass ich gar nicht mitspiele. Die meisten meiner Freunde sind dabei – sogar Nick, der vorher noch nie für irgendwas vorgesprochen hat. Ich glaube, er hat das bloß gemacht, damit er mehr Zeit mit seiner ekelhaft reizenden Freundin verbringen kann. Aber weil er eben so ein Held ist, hat er sich gleich mal die Hauptrolle gesichert.

Ich nehme den Seitengang, der direkt hinter die Bühne führt, und schlüpfe durch die Tür. Natürlich sehe ich zuallererst Schnuffel persönlich, meinen Bro Nummer eins, den Vernichter aller Oreos: Simon Spier.

»Leah!« Er steht am Seitenrand der Bühne hinterm Vorhang, halb im Kostüm, von Typen umgeben. Keine Ahnung, wie Ms Albright so viele Jungen zum Mitmachen überredet hat. Simon setzt sich von ihnen ab. »Du kommst gerade rechtzeitig für mein Lied.«

»So habe ich das geplant.«

»Ehrlich?«

»Nein.«

»Ich hasse dich.« Er stößt mir den Ellbogen in die Seite, dann umarmt er mich. »Nein, ich hab dich lieb.«

»Kann ich gut verstehen.«

»Ich fasse es nicht, dass du mich gleich singen hörst.«

Ich grinse. »Der Hype ist real

Jemand flüstert ein Kommando, das ich nicht richtig hören kann, und die Jungs stellen sich rechts und links hinter der Bühne auf, heiß auf den Auftritt. Ich kann sie echt kaum angucken, ohne loszulachen. Sie spielen Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat und Josephs Brüder tragen alle so flauschige falsche Bärte. Keine Ahnung, vielleicht steht das als Kostümanweisung in der Bibel oder so.

»Wünsch mir kein Glück«, sagt Simon. »Sondern Hals- und Beinbruch.«

»Simon, du solltest wohl mal schnell auf deinen Platz.«

»Okay, eins noch: Nimm nicht den Bus nach Hause. Wir gehen gleich alle noch ins Waffle House

»Ist notiert.«

Die Jungs trippeln auf die Bühne und ich trete ein bisschen weiter hinter den Vorhang zurück. Da sich das Gedränge aufgelöst hat, sehe ich jetzt auch Cal Price, der hier Stage Manager ist und an einem Schreibtisch zwischen den Vorhängen sitzt. »Hey, Red.«

So nennt er mich, obwohl meine Haare kaum rot sind. Ist schon okay – Cal ist einfach so nett und süß, man kann ihm gar nicht böse sein –, aber jedes Mal, wenn er das sagt, kriege ich so eine Art inneren Schluckauf.

Mein Vater hat mich Red genannt. Früher, als er noch mit mir gesprochen hat.

»Hast du diese Nummer schon gesehen?«, fragt Cal, und ich schüttele den Kopf. Er deutet lächelnd mit dem Kinn Richtung Bühne und ich mache ein paar Schritte nach vorn.

Die Jungs torkeln. Anders kann man das nicht nennen. Der Chorlehrer schlägt ein paar französisch klingende Klavierakkorde an und Simon tritt vor, die Hand auf dem Herzen.

»Denkt ihr noch manchmal an früher in Kanaan …?«

Seine Stimme zittert ein bisschen und sein französischer Akzent ist katastrophal. Doch er ist saukomisch auf der Bühne – sinkt auf die Knie, packt sich an den Kopf, stöhnt – und ich will bestimmt nicht übertreiben, aber seine Version dieses Songs könnte Kultstatus kriegen.

Nora schleicht sich neben mich. »Rate mal, wie oft ich ihn das in seinem Zimmer habe singen hören.«

»Sag bitte, er hat keinen Schimmer, dass du ihn hören kannst.«

»Er hat keinen Schimmer, dass ich ihn hören kann.«

Tut mir leid, Simon, aber du bist einfach zu süß. Wenn du nicht schwul und schon vergeben wärst, würde ich dich auf der Stelle heiraten. Mal ehrlich, Simon zu heiraten wäre der reine Wahnsinn – und das nicht bloß, weil ich in der Achten heimlich (und tragisch) auf ihn stand. Es hat noch andere Gründe. Zum Beispiel fände ich es total super, eine Spier zu sein, weil seine Familie buchstäblich perfekt ist. Ich bekäme Nora als Schwägerin und dazu noch eine fantastische ältere Schwester an der Uni. Und die Spiers wohnen in so einem riesengroßen, tollen Haus, wo nicht jede Oberfläche vollgemüllt ist. Sogar ihren Hund finde ich großartig.

Der Song ist zu Ende und ich schleiche mich aus der Kulisse in den Zuschauerraum, in die letzte Reihe, die unter Theaterschülern – hoffnungsvoll – die Fummelbank genannt wird. Aber ich bin ganz allein hier und nicht so richtig bei der Sache. Ich schaue mir alles aus der Ferne an. Ich habe noch nie beim Theater mitgemacht, obwohl meine Mutter mich ständig zum Vorsprechen zu überreden versucht. Aber die Sache ist die: Man kann jahrelang beschissene Fan-Art auf seinem Skizzenblock zeichnen, ohne dass irgendwer sie zu sehen kriegt. Man kann allein im Musikraum vor sich hin trommeln, bis man gut genug ist für einen Auftritt. Doch beim Theaterspielen kann man eben nicht endlos allein vor sich hin üben. Man hat schon Zuschauer, bevor die richtigen Zuschauer kommen.

Die Musik schwillt an. Abby Suso tritt mit einem riesigen, perlenbesetzten Kragen und einer Elvis-Perücke an die Rampe. Und sie singt.

Sie ist natürlich der Wahnsinn. Sie hat nicht so eine Riesenstimme wie Nick oder Taylor, aber sie kann die Melodie halten und ist witzig. Das ist es eben. Auf der Bühne macht sie sich total zum Deppen. Einmal schmeißt sogar Ms Albright sich weg vor Lachen. Und das will was heißen – nicht nur, weil es nicht einfach ist, sich wegzuschmeißen, sondern weil Ms Albright das Ganze natürlich schon hundertmal gesehen hat. Abby ist einfach so gut. Nicht mal ich kann den Blick von ihr wenden.

Als das Stück zu Ende ist, ruft Ms Albright das ganze Ensemble zur Besprechung auf der Bühne zusammen. Alle lümmeln sich auf die verschiedenen Plattformen des Bühnenbilds, außer Simon und Nick, die gleich zum Bühnenrand huschen und sich neben Abby setzen. Klar.

Nick legt ihr den Arm um die Schultern und sie kuschelt sich an ihn. Auch klar.

Hier drin gibt es kein WLAN, also muss ich mir Ms Albrights Kritik anhören, gefolgt von einem ungebetenen zehnminütigen Monolog von Taylor Metternich darüber, wie man sich selbst verliert und zu seiner Figur wird. Ich habe den Verdacht, dass Taylor total auf ihre eigene Stimme abgeht. Ich bin ziemlich sicher, dass sie hier vor unseren Augen lauter kleine, geheime Orgasmen hat.

Schließlich macht Ms Albright dem ein Ende und alle strömen aus der Aula und schnappen sich dabei ihre Rucksäcke – nur Simon, Nick und Abby bleiben zusammen am Orchestergraben. Ich stehe auf, strecke mich und gehe durch den Gang zwischen den Reihen nach vorn. Eigentlich möchte ich sie alle mit Lob überschütten, aber irgendwas hält mich zurück. Vielleicht ist es einfach zu schmerzhaft ehrlich, zu sehr die Leah aus der Fünften. Ganz abgesehen davon, dass mir speiübel wird beim Gedanken, vor Abby den Superfan zu geben.

Ich klatsche Simon ab. »Du warst der Hammer.«

»Ich habe gar nicht gewusst, dass du hier bist«, sagt Abby.

Schwer zu sagen, wie sie das meint. Vielleicht ist es eine heimliche Beleidigung. So: Was machst du eigentlich hier, Leah? Oder vielleicht: Ich hab dich gar nicht bemerkt, so unbedeutend bist du. Aber vielleicht mache ich mir auch zu viele Gedanken. Das kommt vor, wenn es um Abby geht.

Ich nicke. »Hab gehört, ihr fahrt noch zum Waffle House

»Ja, ich glaube, wir warten nur noch auf Nora.«

Martin Addison geht vorbei. »Hey, Simeon«, sagt er.

»Hey, Reuben«, antwortet Simon und schaut von seinem Handy auf. Das sind die Namen ihrer Rollen. Ja, genau, Simon spielt einen Typen namens Simeon, weil Ms Albright wohl nicht widerstehen konnte. Reuben und Simeon sind zwei von Josephs Brüdern und das wäre bestimmt alles total süß, wenn Martin Addison nicht beteiligt wäre.

Martin geht weiter und Abbys Augen blitzen. Es ist echt nicht leicht, Abby sauer zu machen, aber Martin schafft das durch seine bloße Existenz. Und dadurch, dass er extra noch mit Simon redet, als hätte es das letzte Jahr nicht gegeben. Das ist so scheißdreist. Simon redet gar nicht viel mit Martin, aber ich finde es kacke, dass er es überhaupt tut. Nicht dass ich Simon vorschreiben könnte, mit wem er reden soll und mit wem nicht. Aber ich weiß – das merke ich einfach –, dass es Abby genauso aufregt wie mich.

Simon wendet sich wieder seinem Handy zu, ganz offensichtlich schreibt er Bram. Sie sind jetzt seit etwas über einem Jahr zusammen und sind eins dieser ekelhaft glücklichen Paare. Damit meine ich gar nicht öffentliches Knutschen und so. In der Schule fassen sie sich kaum an, wahrscheinlich weil die Leute hier solche Neandertaler sind, wenn es um Schwule und Lesben geht. Aber Simon und Bram texten und blickficken den ganzen Tag lang, als ob sie es keine fünf Minuten ohne Kontakt aushalten. Ganz ehrlich? Es fällt mir schwer, nicht neidisch zu werden. Und das nicht bloß, weil es so eine Wahre-Liebe-Herzchen-Turteltauben-Märchen-Story ist. Sondern weil sie es überhaupt gewagt haben. Sie hatten die Eier, einfach scheiß auf euch zu sagen; scheiß auf Georgia, scheiß auf euch homophobe Arschlöcher.

»Und Bram und Garrett kommen gleich dahin?«, fragt Abby.

»Ja. Sind gerade fertig mit Fußballtraining.« Simon lächelt.

Ich lande auf Simons Beifahrersitz, hinten sitzt Nora und wühlt in ihrem Rucksack herum. Sie trägt hochgekrempelte Jeans voller Farbflecken, ihre Locken sind zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt. Ein Ohr ist rundum gepierct, bis oben hin, und in der Nase hat sie einen winzigen blauen Stecker, den sie sich letztes Jahr hat machen lassen. Das Mädchen ist fast unerträglich süß. Ich finde es super, dass sie Simon so ähnlich ist und dass sie beide wie ihre große Schwester aussehen. Eine absolute Copy&Paste-Familie.

Endlich zieht Nora die Hand wieder aus dem Rucksack – mit einer ungeöffneten Riesentüte M&Ms. »Ich sterbe vor Hunger.«

»Wir sind buchstäblich auf dem Weg zum Waffle House«, sagt Simon, hält aber trotzdem die Hand auf. Ich nehme auch eine Handvoll und sie sind genau richtig weich – also noch nicht geschmolzen, bloß ein bisschen weich in der Mitte.

»Also, es war nicht komplett scheiße, oder?«, fragt Simon.

»Das Stück?«

Er nickt.

»Überhaupt nicht. Es war super.«

»Okay, aber manche können ihren Text immer noch nicht, und Freitag ist schon Premiere. Und der blöde Potiphar hat heute einen ganzen Song versaut. Oh Gott, ich brauche eine Waffel.«

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und checke Snapchat. Abby hat so eine endlos lange Story von den Proben gepostet, sieht aus wie der Zusammenschnitt einer Liebeskomödie. Ein Schnappschuss von Nick und Taylor, wie sie zusammen auf der Bühne singen. Ein Selfie von Abby und Simon, totale Nahaufnahme. Dann ein noch größeres von Simon, auf dem seine Nasenlöcher so riesig sind, dass Abby in eins davon einen Panda gesetzt hat. Und immer wieder Abby und Nick.

Ich stecke das Handy wieder in die Hosentasche. Simon biegt auf den Mount Vernon Highway ein. Ich fühle mich irgendwie komisch, so kribbelig – als würde mich irgendwas belasten, aber ich kann mich nicht erinnern, was es ist. So wie ein kleiner Nadelstich im Hinterkopf.

»Ich krieg einfach nicht raus, welchen Song du da spielst«, sagt Nora.

Ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass sie mit mir redet, und noch einen Augenblick, um zu schnallen, dass ich auf dem Handschuhfach getrommelt habe.

»Hä? Ich hab keine Ahnung.«

»Es ging so«, sagt Nora und haut einen gradlinigen Eins-Zwei-Rhythmus auf meine Sitzlehne. Bumm-tapp-bumm-tapp. Lauter Achtel, schnell und gleichmäßig. Im Kopf ergänze ich sofort den Rest.

Es ist Don’t Stop Believin’. Mein Hirn ist ein Arschloch.

2

Auf dem Parkplatz des Waffle House stehen jede Menge Autos, die ich von der Schule kenne. Simon stellt den Motor ab und schaut auf sein Display.

Nach dem Aussteigen sehe ich als Erstes Taylors leuchtend blonden Schopf. »Leah! Ich wusste gar nicht, dass du auch kommst. Ich dachte echt, es ist bloß die Theatergang, aber cool!« Sie drückt auf ihren Schlüssel und ihr Auto piept zweimal. Irgendwie komisch – kann mich gar nicht erinnern, dass Taylor einen Jeep hat. Schon gar keinen, von dessen Stoßstange Hoden baumeln.

»Dein Wagen hat ja richtig realistische Eier, Taylor.«

»Total peinlich, oder?« Sie reiht sich neben mir ein. »Mein Bruder ist über die Frühjahrsferien nach Hause gekommen und hat mein Auto zugeparkt. Ich musste seins nehmen.«

»Oh, Mann. Was für ein blöder Sack.«

»Ja, er geht mir echt auf die Nüsse«, antwortet sie. Und ich muss schon zugeben: Manchmal finde ich Taylor einfach großartig.

Sie hält die Tür auf und ich folge Simon und Nora hinein. Den Geruch im Waffle House liebe ich wirklich. Diese perfekte Kombination aus Butter, Ahornsirup, Schinkenspeck und vielleicht noch gerösteten Zwiebeln? Was es auch ist, sie sollten es abfüllen und für Duftstifte verwenden, dann könnte ich sexy Manga-Figuren zeichnen, die nach WaHo riechen. Sofort entdecke ich eine Gruppe Theaterleute in der Ecke. Darunter auch Martin Addison.

»Da setze ich mich nicht hin.« Ich drehe mich zu Nora um.

Sie nickt kurz. »Einverstanden.«

»Wegen Martin?«, fragt Taylor.

»Setzen wir uns einfach hierher«, sage ich und presse die Lippen zusammen. Ich meine, okay, die Sache mit Martin ist schon eine ganze Weile her und vielleicht sollte ich es mal gut sein lassen. Kann ich aber nicht. Echt nicht. Dieser Typ hat Simon letztes Jahr tatsächlich und buchstäblich geoutet. Genauer gesagt hat er rausgefunden, dass Simon schwul ist, hat ihn zuerst erpresst und dann geoutet. Ich habe seitdem kaum ein Wort zu ihm gesagt, und Nora auch nicht. Oder Bram. Oder Abby.

Ich setze mich neben Nora in eine Nische nah beim Eingang und Taylor rutscht auf den Platz, den Simon todsicher für Bram frei halten wollte. Als die Kellnerin kommt, um die erste Runde Bestellungen aufzunehmen, wollen alle Waffeln außer mir. Ich bestelle nur eine Cola.

»Bist du auf Diät?«, fragt Taylor.

»Wie bitte?«

Mal ehrlich, wer sagt denn so was? Erstens habe ich gerade drölftausend Pfund M&Ms gegessen. Zweitens: Halt dein blödes Maul. Echt, die Leute kriegen es einfach nicht in den Kopf, dass ein dickes Mädchen keine Diät macht. Ist es so schwer zu glauben, dass ich meinen Körper womöglich mag?

Nora stupst mich an und fragt, ob es mir gut geht. Vielleicht sehe ich irgendwie mürrisch aus.

»Oh mein Gott, bist du krank?«, fragt Taylor.

»Nein.«

»Ich hab irgendwie total Paranoia, dass ich mich irgendwo anstecke. Ich trinke ständig Tee und schone meine Stimme, außer bei den Proben natürlich. Könnt ihr euch vorstellen, wie das wäre, wenn ich diese Woche meine Stimme verliere? Ich weiß echt nicht, was Ms Albright machen würde.«

»Aha.«

»Ich singe praktisch bei jedem Song mit.« Sie lacht so ganz komisch hoch und gepresst. Ich kann nicht sagen, ob sie nervös ist und so tut, als wäre sie es nicht, oder umgekehrt.

»Vielleicht solltest du dann jetzt deine Stimme schonen«, sage ich.

Ich schwöre, wenn wir mit der Band proben, ist sie viel erträglicher. Außerdem habe ich richtig gute Isolationskopfhörer.

Taylor macht den Mund auf, um mir zu antworten, aber da kommen Abby und die anderen Jungs alle auf einmal. Garrett rutscht neben mich, Bram schiebt sich neben Taylor, Abby und Nick sitzen an den Enden der Bänke. Das Komische ist: Taylor hat bisher die ganze Zeit in ihrer kerzengeraden Modelpose dagesessen, wie auf dem Laufsteg in Paris, aber jetzt beugt sie sich so weit zu Nick, dass sie praktisch auf dem Tisch liegt. »Hey, ich habe gehört, du und Simon, ihr wollt in den Frühjahrsferien nach Boston.«

Taylor. Du hast gerade zwanzig Minuten lang direkt neben Simon gesessen, aber die Frage kannst du natürlich erst stellen, als Nick da ist.

»Stimmt«, sagt Nick. »Wir besichtigen die letzten Unis – zuerst Tufts und Boston University, dann Wesleyan, New York University, Haverford und Swarthmore. Wir fliegen also nach Boston, mieten uns ein Auto und fliegen dann von Philadelphia wieder zurück.«

»Roadtrip«, sagt Simon und beugt sich zum Abklatschen vor.

»Mit euren Müttern«, spottet Abby.

Ich kann einfach nicht fassen, wie viel Geld die Leute für diesen Kram auszugeben bereit sind. Flugtickets, Hotels, Mietautos, alles Mögliche – und dabei wissen sie noch nicht mal, ob diese Unis sie angenommen haben. Von den Hunderten von Dollars, die Simon für Bewerbungsgebühren rausgehauen hat, wollen wir gar nicht reden, obwohl er sowieso fest entschlossen ist, zur NYU zu gehen. Was bestimmt gar nichts damit zu tun hat, dass Bram schon vorzeitig einen Platz an der Columbia bekommen hat.

»Das ist ja fantastisch!«, strahlt Taylor. »Ich werde in Cambridge sein und mir Harvard angucken. Wir sollten uns treffen!«

»Ja, vielleicht«, sagt Nick. Simon verschluckt sich fast an seinem Wasser.

»Abby, guckst du dich auch im Nordosten um?«, fragt Taylor.

»Nee.« Abby lächelt. »Ich gehe auf die Georgia.«

»Du willst nicht in Nicks Nähe sein?«

»Kann ich mir nicht leisten.«

Irgendwie komisch, dass sie das ausspricht. Vor allem, weil ich aus demselben Grund an dieselbe Uni gehe. Die University of Georgia ist die einzige, an der ich mich beworben habe. Bin schon vor Monaten angenommen worden. Außerdem erfülle ich die Voraussetzungen für das Zell-Miller-Stipendium. Alles geritzt.

Doch ich weiß nie, wie ich das finden soll, wenn ich etwas mit Abby Suso gemeinsam habe. Schon gar nicht, dass wir auf dieselbe Uni gehen. Ich wette, sie wird so tun, als würde sie mich nicht kennen.

Da fängt Garrett mit seinem Gelaber an, dass die Georgia Tech viel besser sei als die University of Georgia. Mir völlig egal, aber ich bin froh, dass Morgan nicht da ist. Echt witzig – Morgan ist zwar irgendwie total links und feministisch, man würde es ihr gar nicht zutrauen, aber sie kommt aus so einer Familie von Hardcore-Bulldogs-Fans. Das ist das Footballteam der UGA. University of Georgia, Athens. Bei denen zu Hause geht es ständig nur um Football. Das ganze Heim der Hirschs ist rot und schwarz dekoriert, überall sieht man Bulldoggen-Köpfe, und vor den Spielen stehen sie immer auf dem Parkplatz und trinken Dosenbier aus dem Kofferraum. Ich habe diese ganze Footballszene nie verstanden. Nichts gegen Football an sich, aber ich interessiere mich irgendwie mehr für den akademischen Teil der Uni.

Ich will eigentlich abschalten, doch Garrett hört nicht auf, mich zu provozieren. »Okay, einen habe ich noch. Leah, was sind die zwei längsten Jahre im Leben einer UGA-Studentin?«

»Keine Ahnung.«

»Ihr erstes Semester.«

»Haha.«

Garrett Laughlin. Immer gut für einen schlechten Witz.

Irgendwann fangen alle an, über das Fußballspiel von Bram und Garrett am letzten Wochenende zu reden. Nick wirkt ein bisschen melancholisch, und das verstehe ich. Ist ja nicht so, als würde er nie wieder Fußball spielen. Nächste Woche steht er wieder auf dem Platz, sobald das Musical nicht mehr aufgeführt wird. Aber ist schon scheiße, wenn das Leben so ohne einen weitergeht. Manchmal fühle ich mich außen vor, obwohl das Leben mit mir weitergeht.

Die Kellnerin kommt noch mal vorbei und nimmt die zweite Runde Bestellungen auf, und innerhalb von zwanzig Minuten haben wir einen Berg Essen auf dem Tisch. Simon schimpft die ganze Zeit über die Probe, also nutze ich die Gelegenheit und klaue ihm einen Streifen Schinkenspeck.

»Und ich habe das ungute Gefühl, wo wir jetzt endlich Orchester und Bühnenbild haben, wird uns alles um die Ohren fliegen. Tut mir leid, aber das Bühnenbild hätte vor einer Woche fertig sein sollen.«

Nora sieht Simon wütend an. »Wäre es vielleicht auch gewesen, wenn irgendwer daran mitgearbeitet hätte außer Cal und mir.«

»Volltreffer«, sagt Garrett.

»Aber letzten Endes«, sagt Taylor, »kommt es ja gar nicht aufs Bühnenbild an. Sondern auf die Schauspieler.«

Nora seufzt und lächelt schmallippig.

Wir bleiben noch ein bisschen vor den leeren Tellern sitzen, dann bringt die Kellnerin uns getrennte Rechnungen. Echt super von ihr. Ich hasse gemeinsame Rechnungen, weil irgendein Trottel immer gleichmäßig aufteilen will – und ich will keinen Stress machen, aber es hat schon seinen Grund, dass ich kein Gericht für zwanzig Dollar bestellt habe. Wir gehen nacheinander zur Kasse und zahlen, dann werfen wir unser Trinkgeld auf dem Tisch auf einen Haufen. Und Garrett, der Waffeln mit Zwiebeln und Käse und Soße und dazu Kartoffelpuffer und Würstchen gegessen hat, lässt doch tatsächlich einen Dollar da. Das begreife ich nicht. Man muss doch ein anständiges Trinkgeld geben. Ich schmeiße noch zwei Dollar extra hin, um das auszugleichen.

»Ziemlich großzügiges Trinkgeld für eine Cola«, sagt Abby, und ich unterdrücke ein Lächeln. Die anderen sind schon auf dem Weg zum Ausgang, aber sie bleibt noch zurück und knöpft ihren Mantel zu.

»Meine Mutter war mal Kellnerin.«

»Ist jedenfalls sehr nett von dir.«

Ich zucke die Achseln und lächle, aber meine Lippen spannen dabei ein bisschen. In Abbys Nähe komme ich mir immer komisch vor. Ich schätze, ich habe einfach ein Problem mit ihr. Zum Beispiel kann ich so hübsche Menschen schon mal nicht ausstehen. Sie hat so Disney-Augen, samtige Haut, welliges dunkles Haar und richtige, echte Wangenknochen. Und ihr Gesichtsausdruck sieht nie zickig aus. Im Grunde ist Abby ein Mensch gewordenes Bonbon. In kleinen Portionen wunderbar – aber wenn man zu viel nimmt, wird einem schlecht von so viel Süße.

Sie lächelt mich so halb an und wir gehen beide nach draußen. Taylor und ihre Hoden sind weg, Garrett ist schon zur Klavierstunde. Alle anderen stehen einfach so rum. Simon und Bram halten Händchen, oder zumindest beinahe, sie berühren sich nämlich nur an den Fingerspitzen. Heißer wird es zwischen den beiden in der Öffentlichkeit nicht.

Nick hingegen schlingt gleich den Arm um Abby, als müsste er die Stunde aufholen, die sie sich gegenübersitzen mussten. Typisch. Das wird dann wohl ein Pärchen-Knutschmarathon vor dem Waffle House. Vielleicht sollten Nora und ich auch ein bisschen rummachen, damit wir nicht vollkommen irrelevant werden.

Aber Abby macht sich von Nick los und kommt auf mich zu.

»Das ist echt schön.« Sie zeigt auf meine Handyhülle. Darauf zu sehen ist eine meiner eigenen Manga-Skizzen – damit hat Anna mich dieses Jahr zum Geburtstag überrascht. »Hast du gezeichnet, oder?«

»Ja.« Ich schlucke. »Danke, Abby.«

Ihre Augen weiten sich kurz, so als hätte ich sie durcheinandergebracht, bloß weil ich ihren Namen gesagt habe. Wir reden wirklich nicht viel miteinander. Bloß so in der Gruppe. Sonst nicht mehr.

Sie blinzelt und nickt. »Also. Die University of Georgia.«

»Ist eine Hochschule.«

»Richtig.« Sie lacht – und auf einmal guckt sie so bambimäßig und wird ganz verlegen. »Ich wollte dich eigentlich fragen –«

Jemand hupt und wir schauen beide hin. Ich erkenne Abbys Auto – oder eher das Auto von Abbys Mutter, aber heute fährt ein Junge mit den schärfsten Wangenknochen, die ich je gesehen habe: große Augen, sieht aus wie Abby, nur so Anfang zwanzig.

»Oh mein Gott, mein Bruder ist da! Der sollte eigentlich erst heute Abend ankommen.« Abby grinst und fasst mich kurz an den Arm. »Okay, behalt das im Kopf. Wir reden morgen weiter.«

Einen Augenblick später küsst sie Nick zum Abschied. Ich gucke schnell weg und blinzele in die Sonne.

3

Ich schicke Mom eine Nachricht und sie antwortet, dass sie mich auf dem Heimweg am Waffle House abholt. Bald sind alle weg außer Bram, der sich neben mich auf den Bordstein setzt.

Ich lächle ihn an. »Du musst nicht mit mir warten.«

»Mache ich gar nicht. Mein Vater ist in der Stadt, er holt mich hier ab.«

Brams Eltern sind geschieden, was ich seltsam tröstlich finde. Das meine ich gar nicht fies. Ich möchte nicht, dass Bram ein beschissenes Familienleben hat. Aber die meisten meiner Freunde haben so Bilderbuchfamilien. Oder eher Vorabendserienfamilien – verheiratete Eltern in riesengroßen Häusern mit gerahmten Familienfotos die ganze Treppe rauf. Irgendwie finde ich es schön, dass ich nicht die Einzige bin, die darauf verzichten muss.

»Nur zu Besuch?«

Bram nickt. »Er und meine Stiefmutter sind eine Woche hier und haben Caleb mitgebracht. Wir gehen gleich Eis essen.«

»Ich fasse es nicht, dass Caleb schon alt genug zum Eisessen ist. Ist er nicht gerade erst auf die Welt gekommen?«

»Ja, echt, oder? Im Juni wird er ein Jahr.«

»Unglaublich.«

Bram lächelt. »Willst du ihn sehen? Er ist mein Hintergrundbild.«

Er gibt mir sein Handy und ich tippe aufs Display. »Okay, das ist ja unfassbar süß.«

Es ist ein Selfie von Bram und Caleb, die ihre Gesichter aneinanderschmiegen und beide lächeln, und so ziemlich das niedlichste Foto aller Zeiten. Brams Vater ist weiß und seine Stiefmutter wohl auch, denn Caleb ist das bleichste kleine Baby, das ich je gesehen habe. Das überrascht mich jedes Mal, wenn ich ein Bild von ihm sehe. Außerdem ist er total haarlos und hat riesige braune Augen. Aber das Komische ist, dass Caleb und Bram sich total ähnlich sehen. Obwohl Bram schwarz ist und er Haare hat und nicht sabbert. Echt schräg.

Bram steckt sein Handy wieder in die Tasche, lehnt sich zurück und stützt sich auf die Hände, und auf einmal werde ich ganz unerwartet schüchtern. Mir fällt plötzlich auf, dass ich womöglich zum allerersten Mal nur mit ihm allein abhänge, obwohl er schon nach dem ersten Highschooljahr hergezogen ist. Er war für mich immer so eine Randfigur, bevor er mit Simon zusammengekommen ist. Um ehrlich zu sein, habe ich ihn immer mit Garrett zusammen in eine Schublade gesteckt.

Ich versuche meine Hemmungen beiseitezuschieben. »Soll ich dir mal was zeigen?«

»Klar.« Er setzt sich gerade hin.

»Okay. Mach dich auf was gefasst.« Ich öffne meine Fotos und scrolle die Alben durch. Dann gebe ich Bram das Handy.

Er schlägt sich die Hand vor den Mund.

»Wahnsinn, oder?«

Bram nickt ganz langsam. »Oh mein Gott.«

»Das war in der Siebten.«

»Ich …«

»Ich weiß schon. Simon war einfach zu süß, richtig?«

Bram starrt das Foto an, ein paar kleine Falten um die Augen, und sein Gesichtsausdruck krampft mir das Herz zusammen.

Ich meine, er steckt so tief drin. Mit dem ganzen Herzen.

Das Bild zeigt uns alle drei – Simon, Nick und mich. Ich glaube, wir waren auf Morgans Bat-Mizwa. Ich habe so ein hellblaues Kleid an, sieht ein bisschen nach Elizabeth Hamilton aus. In der Hand halte ich ein aufblasbares Saxofon und ich lächle, Nick hat eine riesige Sonnenbrille auf. Aber der Star des Bildes ist Simon. Meine Güte.

Erst mal dieser im Dunkeln leuchtende Schlips, den Simon damals zu allen Bar-Mizwas und Bällen anhatte. Aber hier hat er ihn um den Kopf gebunden wie Rambo und grinst in die Kamera. Außerdem ist er echt winzig. Ich weiß gar nicht, wie ich das vergessen konnte. In der Achten ist er ein ganzes Stück gewachsen, und da hat er wahrscheinlich auch angefangen, anständige Musik zu hören und nicht mehr so übergroße T-Shirts mit Wolfsgesichtern drauf zu tragen. Ich bin ziemlich sicher: Zwei Stunden nachdem er das allerletzte Wolfs-Shirt ausgezogen und weggeschmissen hat, ist Bram nach Shady Creek gezogen.

»Du hast noch nie seine Kinderbilder gesehen?«, frage ich.

»Die Babyfotos hat er mir gezeigt, aber die Schulbilder hält er unter Verschluss.«

»Du willst also sagen, Simon hätte uns beide nie miteinander allein lassen dürfen.«

»Genau.« Er grinst und öffnet seine Nachrichten.

Augenblicke später summen unsere beiden Handys simultan. Du hast ihm den Schlips gezeigt? LEAH, WAS HAST DU GETAN?

War ein schicker Schlips, schreibt Bram.

Ich war ja auch ein schicker junger Mann, ABER TROTZDEM

Soll ich Bram vom Nachtlicht erzählen?, tippe ich.

Bram lächelt. »Nachtlicht?«

DAS WAR EIN WECKER. Der nur zufällig ein Licht hatte.

»Es war ein Nachtlicht.« Ich grinse Bram an. »Da war so eine kleine Mondsichel drauf und eine Maus. Hat er wahrscheinlich immer noch.«

»Das ist richtig süß und kein bisschen überraschend.«

»Ja, oder? Hat er bis zur Achten an seinem Bett stehen gehabt.«

Bram lacht. Dann tippt er was, drückt auf Senden und zieht die Füße an den Bordstein.

Nur dass die Nachricht bei mir nicht ankommt. Ist also eine private an Simon. Seinen Freund. Absolut erlaubt. Und eigentlich sollte ich mich deshalb nicht fühlen, als wäre ich von irgendeiner Insel runtergewählt worden.

Ein paar Minuten später fährt Mom vor, lässt das Fenster herunter und winkt.

»Das ist deine Mutter?«, fragt Bram. »Wow. Sie ist echt hübsch.«

»Ja, das kriege ich oft zu hören.« Kein Witz: Simon hat sie mal den Inbegriff der sexy Mom genannt. »Bist du sicher, dass wir dich hier allein warten lassen sollen?«, frage ich.

»Ja, klar. Mein Vater muss jeden Moment hier sein.«

Meine Mutter beugt sich aus dem Fenster. »Hi! Du bist Bram, oder? Der Fußballer?«

Bram ist verblüfft. »Oh. Ja.«

»Und du gehst an die Columbia.«

Oh Gott. Das macht sie immer. Sie präsentiert so zufällige kleine Infoschnipsel, nur um zu zeigen, was für eine interessierte Mutter sie ist. Meine Freunde denken wahrscheinlich, dass ich sie zu Hause mit Karteikarten abfrage.

Klar, ich erzähle meiner Mutter auch alles, das ist schon beinahe krank. Ich halte sie über den ganzen Klatsch auf Tumblr auf dem Laufenden, ich erzähle ihr fast immer, auf wen ich gerade stehe. Und natürlich habe ich meiner Mutter erzählt, dass ich bisexuell bin, dabei weiß es keiner meiner Freunde. Ich habe mich geoutet, als ich elf war, in einer Werbepause von Celebrity Rehab.

Wie dem auch sei, entweder ist Bram ein Heiliger oder er schleimt sich total bei meiner Mutter ein. Er nennt sie Ms Keane, was echt ziemlich beeindruckend ist. Kein Mensch denkt sonst daran, dass meine Mutter einen anderen Nachnamen hat als ich.

Mom lacht. »Du bist ja reizend. Aber du kannst ruhig Jessica sagen.« Ich weiß jetzt schon, wie die Unterhaltung auf der Heimfahrt laufen wird. Oh Gott, Lee! Der ist ja so was von süß. Simon ist bestimmt total happy. Was für ein Schatz. Bla, bla, bla.

Ich weiß, ich hab eigentlich Glück. Man hört ja ständig von Eltern, die mit den Freunden ihrer Kinder nichts anfangen können oder sie gar ablehnen, und meine Mutter ist das genaue Gegenteil. Sie findet einfach jeden Freund und jede Freundin toll, die ich ihr je vorgestellt habe. Sogar Martin Addison mochte sie, auch wenn sie ihn nur ein paarmal gesehen hat. Und natürlich sind meine Freunde total bezaubert von ihr. Zum Beweis: Ich habe meinen Gurt noch nicht mal eingeklickt, da hat Bram meine Mutter schon zur Premiere des Musicals eingeladen. Weil das ja kein bisschen komisch ist.

»Ich finde immer noch, du hättest auch vorsprechen sollen, Lee«, sagt Mom, als wir auf die Hauptstraße einbiegen. »Joseph ist der Hammer.«

»Sag bitte nicht der Hammer

»Joseph ist die Bombe.«

Das würdige ich gar keiner Antwort.