In den Ruinen der Stadt Erenthrall gilt nur ein Gesetz: Töten oder getötet werden. Vom einstigen Prunk ist nichts mehr übrig, seitdem das Kraftnetz zusammengebrochen ist, das die Stadt mit magischer Ley-Energie versorgt hat. Besonders die Lumagier leben in diesen Zeiten gefährlich. Trotzdem machen sich die Magierin Kara und ihr Gefährte Allan auf den Weg in die einstige Stadt des Lichts, um den Wiederaufbau voranzutreiben. Doch dann wird Kara von den mächtigen Weißmänteln gefangen genommen, die ihre ganz eigenen Pläne mit der Stadt haben … und dafür brauchen sie Karas Magie.
Joshua Palmatier wurde in Couderspot, Pennsylvania, geboren und lebte als Jugendlicher in diversen Staaten der USA, da sein Vater beim Militär war. Er ist promovierter Mathematiker und unterrichtet an einer Universität in New York. Palmatier schreibt seit seiner Jugend und hat bereits viele Fantasy-Romane veröffentlicht.
Joshua Palmatier
DIE GEFALLENE
WELT
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Michael Krug
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2016 by Joshua Palmatier
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Threading the Needle«
Originalverlag: By arrangement with DAW Books, New York
Dieses Werk wurde vermittelt durch
Interpill Media Ingo Stein e.K., Hamburg
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
Titelillustration: © Maciej Drabik
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-7368-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Dieses Buch ist meiner Autorenkollegin, Mitredakteurin und treuen Freundin Patricia Bray gewidmet. Sie hat all meine wilden Träume ausgehalten, von den Anflügen der Fantasie, aus denen die Bücher geworden sind, die du gerade liest, bis hin zum Kleinverlag Zombies Need Brains.
Kara Tremain kniete auf den Steinen am Ufer. Sie streckte die Hände mit dem Hemd aus ins eiskalte Wasser und schrubbte kräftig. Böschungen aus Stein und Sand erhoben sich zu beiden Seiten des Baches. Vor ihr erstreckte sich ein großer Tümpel, in dem das Wasser langsamer floss und tiefer war. Ein paar der jüngeren Kinder von Muld plantschten darin, beobachtet von ihren Müttern oder Vätern, die am Ufer an ihrer eigenen Wäsche arbeiteten.
Kara zog das Hemd aus der Strömung, wrang es aus und warf es in den Korb zu ihrer Linken, bevor sie nach dem nächsten griff. Es handelte sich um eines von Cory, das nach seinem Schweiß roch. Sie atmete seinen Duft ein, ehe sie es in Wasser tränkte und kurz innehielt, um es in der Mitte mit etwas getrockneter Seife zu besprenkeln, bevor sie wieder zu schrubben begann.
Nach dem ersten Waschtag hatten ihre Schultern anschließend eine Woche lang geschmerzt. Mittlerweile hatten ihre Arme sowohl Sonnenbräune angenommen als auch Muskeln entwickelt. In Erenthrall vor der Zersplitterung hatte sich immer jemand anders ihrer Wäsche angenommen – ihre Mutter, als sie jünger gewesen war, und nachdem ihre Eltern durch die Kormanley gestorben waren, hatte sich stets einer der Diener der Lumagierschule darum gekümmert. Dasselbe galt für all die Ley-Knoten, in denen sie danach gearbeitet hatte. Damals war es ihr nicht einmal aufgefallen, wenn jemand gekommen war, um die Wäschekörbe zu leeren oder die saubere Kleidung zurückzubringen, waren die Bediensteten doch nahezu unsichtbar gewesen.
Natürlich hatte man bei der Wäsche in Erenthrall auf die Hilfe der Ley zurückgreifen können, und die Arbeit war sehr viel leichter gefallen.
Instinktiv streckte Kara die Sinne danach aus. Doch anders als in Erenthrall wartete die Ley hier in Muld nicht, stand nicht bereit, um durch einen bloßen Gedanken benutzt zu werden. Es gab weder einen Nexus noch irgendwelche Knoten zur Verstärkung ihrer Macht. Vorhanden war die Ley aber dennoch.
Kara war es – mithilfe der anderen Lumagier in ihrer Gruppe – gelungen, sie in einem eigenen Netzwerk zu stabilisieren, womit sie den Wünschen einiger Bewohner von Muld zuwidergehandelt hatte. Die Ley floss stark genug, um die Flüchtlinge der Zersplitterung während der härtesten Wintermonate mit Heizsteinen für ihre Zelte zu versorgen. Kara vermutete, dass viele sonst nicht überlebt hätten, vor allem während der unnatürlich bitteren Kältewelle, die zum Ende des Jahres fast zwei Wochen lang angehalten hatte. Sie hatten trotzdem zwei Menschen verloren, und ein Dutzend andere hatten Erfrierungen erlitten.
Mit einem Schütteln löste sich Kara aus der Ley. Eines der Kinder spritzte sie nass, und sie schnippte voll gespielter Verärgerung mit dem Hemd nach dem Mädchen. Die Kleine ergriff quiekend durch das Wasser die Flucht. Lächelnd ließ Kara das Hemd in den nassen Korb fallen, griff nach dem nächsten Kleidungsstück und stellte fest, dass sie fertig war.
Die anderen Bewohner von Muld riefen ihr zu, als sie sich den Korb an die Hüfte klemmte und den steilen Hang erklomm, der hinauf zur Hauptgruppe der Gebäude führte. Sie wischte sich Schweiß von der Stirn, während sie sich unter den Ästen der Bäume ringsum hindurch duckte. Als sie oben ins Sonnenlicht gelangte, bog sie nach links zwischen zwei Hütten ab, wo Frauen und Kinder in den kleinen Kräutergärten arbeiteten. Einige Hunde bellten ihr zu und trabten ein Weilchen neben der jungen Frau einher, bevor sie zurückblieben. Das kleine Dorf lag nahezu verwaist da, denn die einheimischen Bewohner befanden sich zusammen mit den Menschen, die nach der Zersplitterung hier Zuflucht gesucht hatten, bereits draußen auf den Feldern, um den Rest der Frühjahrsernte zu säen.
Kara konnte nicht nachvollziehen, warum sie sich die Mühe machten. Sie hatte vor, die Verkrümmung zu beseitigen, die Erenthrall derzeit umhüllte, und anschließend zurückzukehren, um zumindest einen Anschein der Stadt wiederherzustellen, in der sie aufgewachsen war. Verlassen hatte sie ihre Heimat nur, weil es dort zu gefährlich geworden war. Gewalttätige Gruppen von Überlebenden hatten begonnen, wahllos zu töten, während gleichzeitig Rudel wilder Halbwölfe durch die Straßen streiften. Und die Beben, die unberechenbaren Ausbrüche der Ley sowie die willkürlich auftretenden Himmelslichtstürme vergrößerten die Gefahren nur zusätzlich.
Es war sicherer gewesen, sich nach Muld zurückzuziehen.
Als ihre Wagen damals auf dem schmalen Feldweg angehalten hatten, der einzigen Straße von Muld, hatten die Dorfältesten – Paul und Sophia – sie bereits erwartet. Sophia, über ein halbes Jahrhundert alt, was ihr dünnes, weißes Haar, ihre Runzeln und die Altersflecken bewiesen, war damals sofort auf Allan zugegangen, um ihn mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange zu begrüßen. Gleichzeitig hatte sie dabei eine Hand ausgestreckt und auch Allans Tochter Morrell in die Umarmung gezogen. Morrell war in Tränen ausgebrochen und hatte sich an Sophia festgeklammert. Die hatte ihr zuerst übers Haar gestreichelt, bevor sie den Blick stechender, intelligenter Augen auf den Rest der Ankömmlinge gerichtet hatte.
»Und wen haben wir da, Allan? Gäste?«
»Ich fürchte nein. Das sind alles Flüchtlinge aus Erenthrall.«
Sophia schleuderte ihm einen harten Blick entgegen. »Erenthrall?«
Allans Schultern sackten herab. »Der Ort ist Geschichte. Zerstört.«
»Geschieht ihnen allen recht«, fauchte Paul. »Das hat die Nutzung der Ley über sie gebracht. Wir sollten sie nicht nach Muld hereinlassen. Sollen sie doch alleine mit den Folgen ihres Tuns zurechtkommen.«
»Still, Paul.« Sophias Stimme klang sanft, doch in ihrem Kern schwang Eisen mit, und Kara erkannte auf Anhieb, dass man hier bereits über Erenthrall Bescheid wusste. Sie mussten die Zersplitterung sogar hier in den Hügeln, mehrere Wochen beschwerlicher Reise nordwestlich, gespürt oder gehört haben.
Paul verstummte, behielt jedoch ablehnend die Arme vor der Brust verschränkt.
»Wir haben nicht vor zu bleiben«, meldete sich Kara zu Wort.
Die ältere Frau musterte Karas zerfledderte, von der Reise fleckige purpurne Lumagierjacke, dann begegnete sie ihrem Blick. »Ich denke, wir können noch Platz für einige weitere Menschen schaffen.«
Der Anflug von Erleichterung, der von der Wagenkolonne hinter ihr ausging, war geradezu mit Händen greifbar. Als Kara damals in Dankbarkeit ihren Kopf geneigt hatte, standen brennende Tränen in ihren Augen. Dann hatte Cory den Arm um ihre Mitte geschlungen, und sie hatte sich an ihn, an seine Stärke angelehnt. Sie hatte ein Schluchzen vernommen, als Sophia, Paul und eine Handvoll weiterer Dorfbewohner, die das Geschehen aus der Ferne beobachtet hatten, herbeikamen und die Neuankömmlinge zu einer weitläufigen Wiese im Westen führten, die nur einen kurzen Fußmarsch abseits des Dorfes lag.
Nun ging Kara zwischen Hütten hindurch, deren Bewohner sie mittlerweile alle namentlich kannte. Schließlich gelangte sie zu dem Grünstreifen, der Muld von jener Wiese trennte. Wenig später trat sie zwischen den Bäumen hervor.
Über die gesamte Länge der Grasfläche waren Zelte aufgeschlagen. Im hinteren Bereich errichtete eine Gruppe von Karas Flüchtlingsgefährten gerade eine Reihe von Hütten, kleiner als jene in Muld selbst, dennoch wesentlich solider als die Zelte. Zwei waren bereits fertiggestellt, eine dritte stand kurz davor, und von zwei weiteren standen zumindest schon die Gerüste aus Stützbalken und Trägern. Sie hielten keinen Vergleich mit den Gebäuden von Erenthrall aus, wirkten aber dennoch dauerhafter, verwurzelter, als es Kara lieb war.
Mit einem Schulterzucken verdrängte sie den Gedanken und steuerte auf das Zelt zu, das Cory und sie für sich beanspruchten. Kara schob den Korb mit der nassen Kleidung durch die Klappe, bevor sie selbst hinterherkroch. Dann stellte sie den Korb zur Seite, berührte den breiten, abgerundeten Heizstein und entsandte ihre Sinne nach der Ley. Der Stein begann, sich unter ihren Fingern zu erwärmen. Sie summte bei sich, als sie die Kleidungsstücke nacheinander auf Wäscheleinen hängte, die sich über dem Stein durch das Zelt spannten.
Als sie das letzte der Hemden aufgehängt hatte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel durch die Zeltklappe eine Bewegung. Sie kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit einer Hand ab.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie Cory erkannte. »Warum hilfst du nicht auf den Feldern, Cory?« Er bewegte sich zwar schnell, rannte aber nicht ganz. Max, das Hündchen, das Kara nicht mehr von der Seite wich, seit sie es aus einer Verkrümmung gerettet hatte, preschte hinter Cory her. Beide hielten geradewegs auf sie zu.
Sie entsandte erneut die Sinne in die Ley, doch die verriet ihr nichts, und wenn es einen Unfall gegeben hätte, würde Cory nicht sie aufsuchen, sondern Logan oder Morrell.
Womit nur eine andere Möglichkeit blieb.
Kara warf die unbenutzten Wäscheklammern in den Korb und verstaute ihn im Zelt. Dann griff sie sich ihre purpurne Lumagierjacke, schlüpfte rasch hinein und schnappte sich einen Wasserschlauch.
Cory sah sie warten und winkte. Max bellte und raste ihm voraus. Kara kniete sich hin, als ihr der kleine Hund in die Arme sprang und ihr das Gesicht zu lecken versuchte. Sie wehrte ihn mit einer Hand ab. Sein Schwanz wedelte so wild, dass er sich nur verschwommen abzeichnete.
»Es geht um die nach Erenthrall entsandte Gruppe, nicht wahr?«, fragte sie, als sich Cory nah genug befand, um sie zu hören. »Allan, Bryce und die anderen sind zurück.«
»Die Wachposten melden, dass sie in Kürze hier sein werden. Sophia fand, du solltest dabei sein, um sie zu begrüßen, wenn sie Muld erreichen.«
Kara reichte ihm den Trinkschlauch. »Bist du den ganzen Weg von den Feldern gerannt?«
Cory trank ausgiebig, dann wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Natürlich.«
Kopfschüttelnd ergriff Kara seinen Arm. »Du kommst besser mit mir. Ich bin sicher, man hat Paul, Hernande und Sovaan bereits rufen lassen.«
Sie bahnten sich zwischen den Zelten hindurch den Weg nach Muld und gelangten auf den Pfad, der knapp außerhalb des Dorfes durch die Felder führte. Sophia wartete bereits mit Sovaan und Hernande an der Seite. Die ältere Frau hob die Hand, um sich ein paar verirrte Strähnen hinter ein Ohr zu klemmen, als sich Kara und Cory näherten.
»Schön, dich zu sehen«, sagte sie. »Ich dachte, du wärst auf den Feldern, aber ich bin froh, dass Cory dich gefunden hat.«
»Heute ist Waschtag.«
»Das Wäschewaschen endet nie.«
Sie blieben neben Hernande stehen, Corys Mentor, der zum Gruß nickte. Sovaan, ein weiterer Mentor von der Universität, legte nur die Stirn in Falten. Kara hatte nie herausgefunden, woher die Abneigung zwischen Sovaan und Hernande rührte. Die beiden Männer hatten sich schon vor der Zersplitterung nicht verstanden, und Hernande hatte Karas Frage nach dem Grund damit abgetan, dass es sich um einen alten, unbedeutenden und dummen Groll handelte.
»Wie geht die Arbeit an den neuen Hütten voran?«, erkundigte sich Sophia.
»Zwei sind fertig, eine wird es bald sein. Zwei weitere entstehen gerade. Es wird den größten Teil des restlichen Frühjahrs und des Sommers dauern, bis sie alle stehen.«
»Solange sie nur vor dem Winter bewohnbar sind«, warf Sovaan ein. »In diesen Zelten wäre ich beinah erfroren.«
Kara dachte an die beiden Menschen, die erfroren waren, verkniff sich jedoch eine Erwiderung.
Plötzlich fing Max zu bellen an und erschreckte sie damit, bevor er von der Gruppe weg losstürmte, die zerfurchte Straße entlanglief und zwischen den Bäumen verschwand. »Max!« Kara stieß einen leisen Fluch aus, als ihr der Hund keine Beachtung schenkte. Er geriet außer Sicht, sein Kläffen konnte Kara jedoch weiterhin hören. Der mit einem Knurren unterlegte Laut klang zunächst beschützerisch und zornig, schlug dann aber plötzlich in Aufregung um, und alle in der Gruppe entspannten sich.
Gleich darauf konnten alle das Knarren eines Wagens und die Rufe und Flüche derer hören, die nach Erenthrall aufgebrochen waren, um in den Überresten der Stadt Vorräte zu plündern. Eine Gestalt kam zwischen den Bäumen hervor und rannte auf sie zu. Dringlichkeit stand dem Mann ins Gesicht geschrieben.
»Das ist Jasom«, stellte Sovaan fest.
Sobald der sie erblickte, brüllte er: »Holt Logan! Wir haben Verwundete!«
Sophia wirbelte herum, aber Cory war bereits losgestürmt. »Er ist auf den Feldern!«, rief ihm die betagte Frau hinterher.
Der Rest des Trupps lief mit dem Wagen in der Mitte die Straße hinunter auf Jasom zu. Der Rüde Bryce hielt mit grimmiger, harter Miene die Zügel, hinter ihm auf der Ladefläche hielten sich zwei andere Leute fest. Sobald Bryce sie erblickte, zog er an den Zügeln, befahl den Pferden mit einem Ruf anzuhalten und sprang vom Wagen, noch bevor das Gefährt vollständig zum Stehen gekommen war.
»Wer?« Die Gruppe hatte mindestens fünfzehn Mitglieder umfasst, allerdings konnte Kara außer Jasom nur drei andere sehen. »Wer ist verletzt?«
»Claye. Ein paar andere auch, aber nicht schwer. Terrim ist tot.«
Bryce führte sie zum Heck des offenen Wagens. Zwei Männer mit blutigen Händen und blutdurchtränkter Kleidung beugten sich über Claye und pressten auf eine Wunde an seiner Seite, um die Blutung zu stillen. Knapp unterhalb des Brustkorbs ragte ein Pfeil aus seinem Körper.
Sophia fluchte, als ihnen der durchdringende Geruch von Blut in die Nasen stieg, dann hievte sie sich auf den Wagen. »Haltet ihn weiter fest. Haltet den Druck aufrecht.«
»Was ist passiert?«, fragte Sovaan.
Bryce wischte sich mit einer Hand über das zernarbte Gesicht. »Wir sind an den Ausläufern der Ebenen angegriffen worden, kurz bevor wir die Hügel erreicht haben.«
»Von wem?«
Bryce zuckte mit den Schultern. »Sie sind auf Pferden aus nordöstlicher Richtung gekommen, haben uns schwer getroffen und versucht, den Wagen zu erbeuten. Terrim war tot, bevor wir überhaupt wussten, wie uns geschah. Er hat den Wagen gelenkt. Eh ich mich versah, musste ich mich gegen zwei von ihnen zur Wehr setzen, während ein dritter auf die Pferde einpeitschte und versuchte, den Wagen wegzuziehen. Claye und Allan haben von der Seite angegriffen und es geschafft, hinten drauf zu klettern, während der Rest von uns die anderen abgewehrt hat. Kaum haben sie gesehen, dass Claye und Allan ihren Mann getötet und den Wagen zum Stehen gebracht hatten, haben sie den Angriff abgebrochen, die Flucht ergriffen und auf dem Rückzug Pfeile abgefeuert. Dabei haben sie Claye getroffen. Er war ein leichtes Ziel, weil er auf dem Wagen gestanden hat.«
Alle beobachteten, wie Sophia behutsam die Haut um den Pfeil herum abtastete. Claye stöhnte und krümmte sich unter ihrer Berührung, und Sophias Kiefermuskulatur verhärtete sich. Sie setzte sich zurück.
»Ich kann nichts tun. Wir brauchen Logan.«
»Wo ist er?«, verlangte Bryce zu erfahren.
»Cory ist losgerannt, um ihn von den Feldern zu holen. Aber wir können Claye zu Logans Hütte bringen und ihn auf dem Tisch dort vorbereiten.« Sophia kletterte vom Wagen. »Hernande, hol frisches Wasser vom Bach. Sovaan, mach ein Feuer an. Und Kara …«
»Sauberes Leinen.«
Sophia nickte. »Los. Ihr anderen, schafft den Wagen so nah wie möglich zu Logans Hütte und helft mir dann, Claye hineinzutragen.«
Sophia erteilte weiter Anordnungen, doch Kara rannte bereits hinter Sovaan her Richtung Logans Hütte. Sie stürmten durch die Eingangstür in den Innenraum, wo die überwältigenden Gerüche von zerstoßenen Kräutern und Arzneien vorherrschten. Sovaan ging um den Tisch in der Mitte des Raums herum zum Kamin und brummte dabei leise vor sich hin. Kara bog nach links und schwang die Haupttüren des großen, an einer Wand stehenden Schranks auf. An einer Seite stapelte sich das Leinen. Sie zog die ersten paar gefalteten Tücher heraus, schüttelte sie auseinander und begann, den Stoff in Streifen zu reißen. Flüchtig spürte sie ein von Sovaan ausgehendes Ziehen im Geflecht, dann breitete sich vom Kamin der Schein von Feuer aus.
Kara hatte einen ansehnlichen Haufen Verbände beisammen, als sich die Tür öffnete und Sophia in den Raum geeilt kam. Sie hielt die Tür auf, während Bryce und die beiden anderen Männer Clayes erschlaffte Gestalt hereintrugen und auf den Tisch legten. Der Rüde stöhnte, doch Kara merkte ihm an, dass er beinah bewusstlos war. Sophia scheuchte Bryce beiseite und befahl den anderen, weiterhin Druck auf die Wunde auszuüben. Kara reichte ihr sofort die zerrissenen Streifen, bevor sie damit weitermachte, aus dem Stoff noch mehr Verbände anzufertigen. Nach der Menge an Blut zu urteilen, die sie hier sah, würde Logan sie brauchen. Sowohl Sovaan als auch Bryce waren zurückgewichen, standen mit den Rücken an der Wand und schienen nicht recht zu wissen, was sie tun konnten, um zu helfen.
»Wo sind die anderen?«, fragte Kara.
Bryces Blick blieb auf Claye geheftet. »Welche anderen?«
»Allan, Glenn, der Rest der Leute, die mit euch aufgebrochen sind.«
Bryce starrte Kara einen Herzschlag lang an, als hätte er sie immer noch nicht verstanden, dann blinzelte er und schüttelte sich. »Wir haben ihnen einen Teil der Vorräte zu tragen gegeben, um auf dem Wagen Platz für Claye zu schaffen, bevor wir in aller Eile vorausfuhren. Sie sollten bald in Muld eintreffen.«
»Sind euch die Angreifer gefolgt?«
»Das habe ich Allan und den anderen Rüden überlassen. Frag ihn.« Er wandte sich der Tür zu.
»Wohin gehst du?«, fragte Kara. Am Eingang hielt der Rüde inne und drehte sich halb zurück. »Jemand muss Terrims Frau sagen, dass er tot ist.«
Damit verschwand er, und der helle Sonnenschein der Mittagszeit drang ungehindert in die Hütte.
Kara stand stocksteif und regungslos da, während ihr ein heißer Stich durch die Brust fuhr. In ihrer Eile, Claye zu helfen, hatte sie Terrim völlig vergessen.
Hernande erschien an der Tür. Er hievte zwei Eimer mit Wasser auf einen kleineren Tisch neben dem Eingang, wobei ein Teil auf den Boden schwappte. Er keuchte schwer, und seine ohnehin dunklen Züge hatten sich zu einem tieferen Rotton verfärbt.
»Geht gleich wieder«, brachte er mühsam hervor. »Ich hätte die Eimer einzeln herbringen sollen.«
Kara blieb keine Gelegenheit, etwas zu erwidern, da gleich darauf Logan eintrat. Mit einem schnellen Blick erfasste er die Lage.
»Alle hinaus«, befahl er mit tiefer, dröhnender Stimme. Gefolgt von zwei Leuten trat er an den Tisch. Eine war Morrell, Allans Tochter. »Du auch, Sophia. Von hier an übernehme ich. Du würdest nur im Weg stehen.«
Sophia schleuderte Logan einen eindringlichen, harten Blick zu, dem er jedoch keine Beachtung schenkte, da seine Aufmerksamkeit bereits dem Patienten galt. Schnaubend zog sie sich zurück und überließ Logan und Morrell ihren Platz. »Wir warten in der Versammlungshalle.« Damit scheuchte sie die anderen hinaus und schnappte sich unterwegs eines der von Kara nicht benutzten Tücher, um sich die Hände abzuwischen. Morrell nahm mit besorgt gerunzelter Stirn Karas Platz ein.
Kara ergriff ihre Hand und drückte sie. »Bryce hat gesagt, deinem Vater geht es gut.«
Morrell schenkte ihr ein flüchtiges, erleichtertes Lächeln, bevor sie begann, den Stoff in weitere Verbände zu reißen.
Kara trat hinaus ins Freie und stieß einen rauen Atemzug aus, als die Anspannung von ihren Schultern abfiel. Sovaan, Hernande und Sophia standen bei Cory und warteten auf sie. Ein paar andere Bewohner von Muld hatten sich eingefunden, um zu sehen, worum es bei dem Tumult ging.
»Wird er wieder gesund?«, fragte Hernande leise und strich sich mit einer Hand über den zottigen Bart, während er nachdenklich die kleine Hütte betrachtete. Durch die offene Tür drang ein abgehackter Schrei heraus, und Kara zuckte zusammen.
»Schwer zu sagen. Der Pfeil ist nicht sehr tief eingedrungen. Zum Glück hat er ihn nahe seiner Flanke getroffen. Da war zwar eine Menge Blut, aber er hat noch nicht das Bewusstsein verloren, und das ist ein gutes Zeichen. Es wird davon abhängen, ob Logan den Pfeil entfernen und die Blutung stillen kann.«
»Wo ist Bryce hin?«
»Er ist los, um Sara zu sagen, dass ihr Mann tot ist.«
»Und die anderen?«
»Zurückgelassen. Sie kommen zu Fuß nach.«
Hernande nickte. »Dann können wir nichts weiter tun, als zu warten.«
»So ist es.« Sophia hielt inne und ließ den Blick über die beobachtenden Bewohner von Muld wandern, bevor sie verkündete: »Die Expedition nach Erenthrall wurde auf dem Rückweg angegriffen, und Claye ist verwundet worden. Logan kümmert sich gerade um ihn. Falls ihr euch nützlich machen wollt: Ich bin sicher, Jasom könnte Hilfe beim Abladen der neuen Vorräte vom Wagen gebrauchen.« Bedeutungsvoll zog sie eine Augenbraue hoch. Die Versammelten zuckten leicht zusammen, einige sichtlich vor Schuldgefühlen. Dann löste sich die Menge auf.
Sophia schüttelte den Kopf und murmelte bei sich: »Allesamt Gaffer und Klatschmäuler.« Sie setzte sich in Richtung des langen Steingebäudes in Bewegung, das als Versammlungshalle des Dorfes diente. Kara und die anderen folgten ihr. »Mir gefällt die Neuigkeit nicht, dass sich eine Gruppe so nah beim Hügelvorland herumtreibt, die anscheinend mit Pfeil und Bogen umzugehen versteht.«
»Das kennzeichnet eine Änderung der Taktik«, pflichtete Hernande ihr bei.
»Und eine Verlagerung weg von der Stadt.«
»Wie meinst du das?«, fragte Sovaan, als sie die Versammlungshalle betraten. Sonnenlicht strömte in Bahnen durch die Fenster herein und offenbarte in der Mitte des Raums verteilte Sitzreihen, an die Wände geschobene Tische und eine erhöhte Plattform am gegenüberliegenden Ende. Von den mehrere Monate zurückliegenden Erntefeierlichkeiten war noch etwas Schmuck zurückgeblieben – Getreidegarben mit Bändern, ein paar Kürbisse, Maisstängel, einige getrocknete Blumen. Die Holzdielen knarrten unter ihren Füßen, als sie sich durch die Mitte des großen Raums in Richtung der Plattform bewegten.
Sophia begann, Holzstühle zu einem groben Kreis zu ziehen. »Nach der Zersplitterung sind die meisten Menschen, die in Erenthrall gelebt hatten, trotz aller Gefahren in die Stadt zurückgekehrt. Oder sie sind in die umliegenden Ortschaften geflohen, die an die Ley-Linien in der Nähe der Stadt angeschlossen waren. Fast alle von euch sind von der Universität gekommen oder waren früher Lumagier. Ihr seid ursprünglich aus eurem Zuhause, von euren Familien und den vertrauten Umgebungen weggeholt und zum Lernen in die Lumagierschule oder in die Universität gebracht worden, wo ihr ständig neuen Dingen, neuen Ideen ausgesetzt wart. Die meisten Bewohner von Erenthrall jedoch sind in nur wenigen Bezirken aufgewachsen und haben ihr ganzes Leben dort verbracht. Für sie muss es furchterregend gewesen sein, dass sie gezwungen waren, alles aufzugeben und ihre vertraute Umgebung zu verlassen.«
»Ja, ja.« Sovaan schwenkte ungeduldig eine Hand. »Sie sind also nach Erenthrall zurückgekehrt. Oder zumindest so nah, wie sie konnten. Worauf willst du hinaus?«
Sophias Mund bildete eine verärgerte, schmale Linie. »Ich will darauf hinaus, dass sie jetzt offenbar wieder von der Stadt wegziehen. Warum tun sie das?«
»Es gibt nicht genug zu essen.«
Alle drehten sich den immer noch offenen Türen zu, wo sich Bryce als Umriss abzeichnete, bevor er eintrat. Seine gesamte Körpersprache strahlte Anspannung und Gefahr aus. Er erinnerte sie an die Rüden, die vor der Zersplitterung die Straßen von Erenthrall durchkämmt hatten und den Lumagiern, unter anderem auch Kara, gefolgt waren.
»Die gesamte Stadt hat sich verändert. Sie ist in Abschnitte unterteilt, die jeweils von eigenen Gruppen beherrscht werden – die Temeriten-Enklave im Nordosten, die Gorrani im Südwesten und andere. Die Halbwölfe sind in neue Gebiete vorgedrungen. Gegen Ende unserer Reise haben wir sie gehört. Allan wurde gejagt und konnte nur entkommen, indem er in die Verkrümmung gegangen und sich dort drin versteckt hat.«
»Geht es ihm gut?«, fragte Kara.
»Ein paar Kratzer und blaue Flecke, nichts Ernstes.«
»Und wie ist die Expedition gelaufen?«, erkundigte sich Sophia.
»Es wird immer schwieriger, irgendetwas von Wert zu finden, vor allem Lebensmittel. In den Teilen der Stadt, auf die noch niemand Anspruch erhoben hat, gibt es kaum etwas, das nicht längst verdorben ist.«
»Was der Grund ist, warum die Menschen aus Erenthrall abreisen«, warf Hernande ein. »Wenn sie nicht einer der Hauptgruppen angehören, gehen ihnen allmählich die Vorräte aus. Sie sind gezwungen zu gehen. Genau wie wir damals.«
»Und der Angriff auf unseren Wagen in der Nähe des Hügelvorlands beweist, dass es nicht nur in der Stadt gefährlich ist. Die Bedrohungen breiten sich auf die Ebenen aus.« Bryce ließ sich auf einen Stuhl sinken und beugte sich vor. »In den Ortschaften rings um die Stadt beginnen die Leute, größere, besser organisierte Gruppen zu bilden. Unsere sichere kleine Zuflucht hier in Muld ist nicht mehr so sicher, wie sie einmal war. Wir müssen uns Verteidigungsmaßnahmen einfallen lassen. Wir müssen uns schützen.«
»Wir haben Wachleute …«, setzte Sophia an.
»Vier!«, fiel ihr Bryce frustriert ins Wort. »Vier Mann, die bloß die offensichtlichen Wege ins Tal beobachten! Das wird nicht reichen. Wir müssen uns etwas Besseres überlegen – Späher, Patrouillen, eine Erweiterung der Kämpfer über die wenigen Rüden meiner Gruppe hinaus. Wir müssen uns schützen, bevor uns eine dieser Banden findet und hier auf dem eigenen Gebiet angreift!«
Niemand rührte sich. Alle sahen sich gegenseitig über den Kreis der Stühle hinweg an.
Dann verlagerte Sophia das Gewicht betreten von einem Bein aufs andere. »Das wird den ursprünglichen Muldern nicht gefallen. Und wir haben uns hier niedergelassen, um der Gewalt und dem Missbrauch von Macht zu entgehen.«
»Wäre dir lieber, dass uns die Diebe und Räuber überrennen?«
»Wir befinden uns tief genug im Vorgebirge, dass ich denke, wir müssen uns nicht sofort den Kopf darüber zerbrechen«, meldete sich Hernande zu Wort, als sich Sophia sichtlich versteifte. »Aber es ist schon etwas, worüber wir nachdenken müssen, da die Menschen zunehmend verzweifelter werden. Bryce hat recht: Dieses Tal lässt sich nicht leicht verteidigen.«
Sophias gesamte Körperhaltung blieb angespannt, doch sie sagte kein weiteres Wort. Für Kara stand fest, dass es Widerstand von den ursprünglichen Muldern geben würde.
»Was ist mit der Verkrümmung?«, fragte Kara.
»Was soll damit sein?«
Kara schleuderte Bryce einen stockfinsteren Blick zu. »Hat sich die Verkrümmung in Erenthrall irgendwie verändert? Lassen sich Anzeichen dafür erkennen, dass sie schwächer wird? Wir können nicht zurückkehren und die Stadt wiederaufbauen, wenn die Verkrümmung in sich zusammenfällt und alles in ihr vernichtet, bevor wir eine Möglichkeit finden, sie zu reparieren.«
»Woher bei den Höllen soll ich das wissen? Ich bin kein verdammter Lumagus.«
Draußen vor der Versammlungshalle erhob sich Geschrei.
»Klingt ganz, als wäre der Rest der Expedition zurückgekehrt«, brummte Bryce.
Beinah hätte Kara wegen ihrer Fragen über die Verkrümmung nachgehakt, dann jedoch entschied sie kopfschüttelnd, es gut sein zu lassen. Stattdessen erhob sie sich und ging zusammen mit Hernande und Cory zur Tür. Draußen schleppte sich der Rest der Teilnehmer der Expedition nach Erenthrall ins Dorf. Einige trugen die Vorräte, die Bryce vom Wagen geworfen hatte, um Platz für Claye zu schaffen, andere halfen Verwundeten. Die Leute von Muld eilten vorwärts, nahmen ihnen die Vorräte ab und legten sie beiseite oder boten den Eintreffenden Trinkschläuche mit Wasser an. Ein paar Teilnehmer der Expedition brachen auf der zerfurchten Straße zusammen. Die Erschöpfung zeichnete sich deutlich in tiefen Linien in ihren Gesichtern ab.
Die Letzten wankten gefolgt von Allan und zwei anderen Rüden herbei. Kara entspannte sich vor Erleichterung.
»Ich hole Allan.«
Hernande hielt sie am Arm zurück. »Nicht nötig. Er ist schon unterwegs hierher.«
Der ehemalige Rüde hatte sie an der Tür stehen gesehen. Nachdem er etwas zu den zwei anderen Rüden gesagt hatte, steuerte er auf die Versammlungshalle zu. Unterwegs ließ er sich von einem der Jungen einen Trinkschlauch reichen.
»Claye?«, fragte Allan, sobald er in Hörweite gelangte.
Hernande nickte in Richtung der Hütte des Heilers. »Logan versorgt ihn gerade. Bryce hat Sara bereits wegen Terrim Bescheid gesagt.«
Allans Schultern sackten herab. Er sah erschöpft aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen. Kara fielen einige neue Verletzungen in seinem Gesicht auf, die meisten schon verheilt. Hinzu kamen die gelblichen Überreste verblasster Blutergüsse.
»Ist euch irgendjemand gefolgt?«
»Nicht, soweit ich es beurteilen konnte. Die Angreifer haben sich auf die Ebenen im Osten zurückgezogen.« Sein Blick schwenkte über Karas Kopf hinweg zu den anderen, die drinnen warteten. Er streckte das Kinn vor. »Wir sollten zu ihnen gehen.«
Sie kehrten zurück in den Raum.
»Haben sie noch einmal angegriffen?«, fragte Sophia sofort.
»Nein, und es ist uns auch niemand ins Vorgebirge gefolgt.« Er schaute zu Bryce. »Hast du ihnen schon von der Stadt erzählt?«
»Von den Halbwölfen, ja. Ich hab versucht, sie davon zu überzeugen, dass wir unsere Verteidigung verstärken müssen, aber sie sind stur.«
Sophia schäumte sichtlich vor Zorn.
Allan griff sich einen Stuhl und ließ sich bei den anderen nieder. Die Tasche, die er über einer Schulter trug, stellte er auf dem Boden ab. »Was ist mit den Beben?«
Hernande und Cory sahen sich gegenseitig an.
»Beben?«
»Sie haben nicht aufgehört. Hier habt ihr sie vielleicht nicht wahrgenommen, aber in und um Erenthrall setzen sie sich fort. Auf dem Weg aus der Stadt haben wir eines erlebt, das stark genug war, um ein paar Gebäude einstürzen zu lassen.«
»Wir dachten, die Erde würde sich setzen, sich stabilisieren.«
»Das glaube ich nicht.«
Hernande beugte sich vor. »Wir werden uns noch einmal die Sande ansehen und überprüfen müssen, ob die Ley aufgewühlt worden ist.«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Sovaan. »Wenn es in der Stadt keine Vorräte mehr gibt, warum sollten wir dann dorthin zurückkehren wollen?«
Und damit kam der Punkt zur Sprache, den Kara seit Beginn dieser Unterhaltung gefürchtet hatte.
»Wir müssen zurück.«
»Warum?«
»Weil wir die Verkrümmung reparieren müssen. Es ist unsere Pflicht, den Schaden zu beheben, den wir verursacht haben.«
Sovaan straffte beleidigt die Schultern. »Wir haben diesen Schaden nicht verursacht. Der Nexus ist wegen des Barons, seiner Ober-Lumagier und der verfluchten Kormanley explodiert. Wir leiden lediglich unter den Folgen. Ich sage, wir überlassen die Stadt den Halbwölfen und den Plünderern – sollen sie sich doch gegenseitig zerfleischen. Wir können hier von vorn anfangen. In Muld gibt es alles, was wir brauchen.«
Sophia kam Karas Erwiderung zuvor. »In Muld hatten wir im vergangenen Winter kaum genug zu essen, um diejenigen zu versorgen, die schon ursprünglich hier gelebt haben. Jedenfalls hatten wir nicht genug für diejenigen von euch, die wir aufgenommen haben. Überlebt haben wir nur durch das, was in Erenthrall geplündert wurde.«
»Ich dachte, dafür sind die neuen Felder angelegt worden«, konterte Sovaan. »Um genug Nahrung für uns alle anzubauen.«
Sophias Augen verengten sich zu Schlitzen. »Die Erträge der Ernten sind alles andere als sicher. Das Wetter, eine Seuche, eine Dürre – irgendetwas in der Art könnte alles vernichten. Wir brauchen die Vorräte aus der Stadt. Außerdem kann ich mich nicht erinnern, dass wir überhaupt zugestimmt haben, euch langfristig hierbleiben zu lassen.«
Allan griff nach seiner Tasche. »Die Stadt bietet mehr als nur Lebensmittel. Das hier habe ich in einer Apotheke gefunden.« Er holte einige kleine Fläschchen hervor und reichte sie herum.
Sophia sog scharf die Luft ein, als sie bei ihr ankamen. »Logan würde allein für dieses Fläschchen Seranin töten. Und mir war die Trampelklette schon vor der Zersplitterung ausgegangen.« Sie drückte sich die kleine Ampulle an die Brust. »Sie hilft gegen die Arthritis in meinen Händen.«
»Das verstehe ich nicht«, ergriff Kara das Wort. »Ich dachte, ihr hättet bereits alle Apotheken in den nicht kontrollierten Bereichen der Stadt geplündert. Woher habt ihr das hier dann?«
»Aus einer der Scherben.«
Es dauerte einen Herzschlag lang, bis Kara die Bedeutung von Allans Antwort ins Bewusstsein sickerte, doch dann weiteten sich ihre Augen. »Du hast sie aus der Verkrümmung geholt?«
»Die Halbwölfe hatten mich in der Nähe der Verkrümmung in der Falle. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu entkommen, bestand darin hineinzugehen. Aber der Anführer des Rudels – ein halb verwandelter Mann, so wie Hagger – hat die Halbwölfe um die Scherbe herum Wache halten lassen. Sie haben darauf gewartet, dass ich wieder herauskam. Ich war gezwungen, tiefer in die Verkrümmung einzudringen, um die Wölfe zu umgehen. Dabei bin ich auf die Apotheke gestoßen.« Er holte ein Glas mit Pfirsichen aus der Tasche. »Und auf das hier. In dieser einen Scherbe waren genug Lebensmittel, um uns ein paar Tage zu versorgen, vielleicht sogar eine ganze Woche. Und in Erenthrall kann niemand außer mir sie erreichen.«
Hernande kaute mittlerweile auf dem Ende seines Bartes und hatte den Kopf nachdenklich zur Seite geneigt. »Gibt es irgendeinen anderen Weg, Zugang zu diesen Vorräten zu erlangen?«
»Ich kann jemand anderen mit in die Verkrümmung nehmen, nur wäre der Eintritt und Austritt für denjenigen sehr unangenehm.«
»Das habe ich nicht gemeint. Wir haben schon darüber gesprochen, wie man die Verkrümmung reparieren könnte. Wir sind uns alle einig, dass wir nicht genug Lumagier oder Mentoren haben, um alles auf einmal zu beseitigen. Aber was wäre, wenn man immer nur eine einzelne Scherbe auf einmal in Angriff nimmt?«
Kara holte Luft, um sich dagegen auszusprechen, dann jedoch bremste sie sich. Darüber, die Verkrümmung Stück für Stück zu reparieren, hatten sie tatsächlich noch nie nachgedacht.
Sie schaute zu den anderen auf. Alle wirkten erwartungsvoll, als sie sagte: »Das könnte klappen. Nur wären wir nie in der Lage, auf diese Weise die gesamte Verkrümmung zu reparieren. Es sind Hunderte Scherben, wenn nicht gar Tausende. Das würde zu lange dauern.«
»Was könnte schiefgehen?«
»Verkrümmungen sind heikel. Jede Veränderung in ihrer Zusammensetzung könnte ein Ungleichgewicht verursachen. Schon das Entfernen einer Scherbe mag dafür ausreichen. Wir würden vielleicht unwissentlich ihre Schließung auslösen. Und dann könnte alles und jeder, die zu der Zeit darin gefangen sind, getötet oder ausgelöscht werden. Wir wären nie in der Lage, den mittleren Teil von Erenthrall wiederherzustellen.«
Die Stimmung der Gruppe wurde bedrückt.
»Spielt keine Rolle«, meinte Bryce schließlich abrupt. »Wir dürfen nicht unsere gesamte Hoffnung auf die Felderträge setzen. Und wir können uns auch nicht darauf verlassen, dass wir hier im Vorgebirge versteckt bleiben – nicht, wenn sich diese Gruppen bewaffnen und hinaus auf die Ebenen wagen. Wir brauchen die in der Verkrümmung steckenden Vorräte, und wir müssen damit anfangen, hier in Muld an Verteidigungseinrichtungen zu arbeiten.«
»Was schlägst du vor?«, fragte Sophia.
Bryce stand auf und streckte die Hand nach der Tasche aus, die Allan immer noch hielt. Der ehemalige Rüde reichte sie ihm.
»Wir müssen einige der Lumagier mit Begleitern für ihren Schutz nach Erenthrall schicken, um herauszufinden, ob sie an die Vorräte in den Scherben gelangen können. Was Muld angeht, habe ich nicht genug Rüden hier, um den Ort vollständig zu schützen. Wir müssen damit beginnen, einige der anderen zum Kampf auszubilden. Mit Schwertern, Bogen, allem, was wir finden können. Die Felderträge sind wertlos, wenn wir überfallen und ausgeplündert werden.«
Er schlang sich die Tasche mit Arzneimitteln und Essen über die Schulter und steuerte auf die Tür zu. »Ich übergebe das Logan, dann gehe ich in mein Zelt. Es sind ein paar lange, bittere Tage gewesen.«
Die anderen beobachteten, wie er ins Freie trat, nach links abbog und verschwand.
»Er hat recht«, räumte Allan widerwillig ein. »Der Angriff auf den Wagen betont nur, was wir in der Stadt gesehen haben. Wir brauchen bessere Verteidigungseinrichtungen.«
»Das wird Paul nicht gefallen«, meinte Sophia. »Ebenso wenig wie einigen der anderen. Sie werden behaupten, dass wir allein deshalb in Gefahr schweben, weil wir euch aufgenommen haben. Sie werden fordern, dass wir euch sofort verstoßen.«
»Diese Räuber wären so oder so gekommen, unabhängig davon, ob wir hier sind oder nicht. Wollen Paul und die anderen lieber darauf warten, bis ihnen eines Nachts, wenn diese Plünderer Muld finden, im Schlaf die Kehlen aufgeschlitzt werden? Denn das wird letztlich passieren.«
Bei dem schauerlichen Bild verzog Sophia unwillkürlich die Lippen. »Nein, ich denke nicht.«
»Dann schlage ich vor, ihr fangt an, den Leuten beizubringen, wie man ein Schwert führt und mit einem Bogen umgeht.«
Die ältere Frau wirkte immer noch widerwillig. »Ich lasse unsere Fährtensucher beginnen, diejenigen auszubilden, die sich fürs Bogenschießen interessieren. Zur Not können wir sie später auch immer noch als zusätzliche Hilfe bei der Jagd gebrauchen. Und den anderen sage ich, sie sollen sich an die Rüden wenden, um sich im Schwertkampf ausbilden zu lassen. Wenn sie das wollen.«
»Gut.« Allan wandte sich an Kara. »Du musst mit den Lumagiern reden. Ihr müsst euch überlegen, wie man einzelne Scherben reparieren kann. Ich will nicht zu lange mit der Rückkehr in die Stadt warten.«
Kara drängte einen Anflug von Erregung zurück. Ihrer Ansicht nach waren sie hier in Muld zu selbstzufrieden geworden. Sie mussten mit der Arbeit an der Rückgewinnung Erenthralls beginnen, bevor sich diese Selbstzufriedenheit weiter ausbreitete und zu tiefe Wurzeln schlug. »Ich setze mich sofort mit ihnen zusammen. Daran zu arbeiten, ein paar einzelne Scherben zu heilen, könnte uns auf eine Idee bringen, wie man die gesamte Verkrümmung reparieren kann – irgendetwas, woran wir bisher noch nicht gedacht haben. An Freiwilligen wird es nicht mangeln, auch wenn es in Erenthrall immer noch gefährlich ist.«
»Es ist immer noch gefährlich. Vielleicht sogar gefährlicher als vor der Zersplitterung.«