Nie im Leben hätte Anwalt Jack Swyteck zugestimmt, Tatum Knight zu vertreten, wenn dieser nicht der Bruder seines besten Freundes Theo wäre. Denn Tatum ist eine reichlich zwielichtige Gestalt: ein bekannter Auftragskiller, der allerdings behauptet, keine krummen Dinger mehr zu drehen. Vor kurzer Zeit noch wollte die Millionärin Sally Fanning ihn für einen Mord anheuern. Nun ist Sally tot, erschossen, doch Tatum schwört Stein und Bein, nichts damit zu tun zu haben. Pikanterweise wird er zur Testamentseröffnung eingeladen, wo er erfährt, dass Sally auch ihn als Erben eingesetzt hat. Das Vermögen erhält allerdings nur derjenige der insgesamt sechs Erbberechtigten, der alle anderen überlebt. So kommt es schon bald zu wüsten Drohungen und schließlich gibt es den ersten Toten. Um seinen Mandanten zu schützen, muss Jack herausfinden, wer dahintersteckt – aber ist Tatum wirklich das Unschuldslamm, das er vorgibt zu sein?
Der dritte Fall für Jack Swyteck! Spannend, rasant und äußerst raffiniert.
Über James Grippando
James Grippando ist Autor diverser New York Times-Bestseller. Er arbeitete zwölf Jahre als Strafverteidiger bevor sein erstes Buch »Im Namen des Gesetzes« 1994 veröffentlicht wurde und ist weiterhin als Berater für eine Kanzlei tätig. Er lebt mit seiner Familie im Süden Floridas.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Wer zuletzt stirbt
Roman
Aus dem Englischen von Norbert Möllemann
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Newsletter
Prolog: 1996
Teil Eins
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Teil Zwei
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Teil Drei
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Teil Vier
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
Sechsundfünfzig
Siebenundfünfzig
Achtundfünfzig
Neunundfünfzig
Sechzig
Einundsechzig
Zweiundsechzig
Dreiundsechzig
Vierundsechzig
Danksagungen
Impressum
Für Tiffany
Es wird einfach immer besser
Endlich war es ruhig in dem alten Haus. Sally Fenning saß allein an ihrem Küchentisch, drei Stapel mit Rechnungen vor sich – die fälligen, die überfälligen und die hoffnungslosen.
Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Das Trinkgeld war heute Abend erbärmlich ausgefallen, dafür lohnte sich der Stress kaum, als Kellnerin zu arbeiten. »Kellnerin« war eher eine hochtrabende Bezeichnung für ihren Job, der darin bestand, betrunkenen Touristen, die jede ihrer Bewegungen mit gierigen Blicken verfolgten, Bierkrüge und Teller mit scharf gewürzten Hähnchenflügeln vorzusetzen. In ihren kurzen Joggingshorts und ihrem tief ausgeschnittenen, engen T-Shirt kam sie sich manchmal vor, als könnte sie genauso gut nackt auf Tischen tanzen. Dafür würde sie wenigstens ordentlich bezahlt werden.
Die Ankündigung, ihr Telefon würde abgestellt, warf sie in den Papierkorb. Normalerweise schickte die Telefongesellschaft zwei Mahnungen, bevor sie ihre Drohung wahr machte.
Es war ihr nicht immer so schlecht gegangen. Früher hatten ihr Mann und sie ein italienisches Restaurant in Miami Shores besessen. Der Laden war gut gelaufen, sie hatten expandiert und waren prompt auf die Nase gefallen. Man sollte nichts ändern, was funktioniert, war ihre Haltung zum Thema Expansion gewesen. Aber Mike wollte auf Wachstum setzen und war davon überzeugt, dass sie binnen fünf Jahren ein Franchise-Unternehmen aufziehen würden. Geködert von den niedrigen Zinsen, die während der ersten sechs Monate zu zahlen waren, nahmen sie einen Privatkredit auf, um den Aufbau zu finanzieren. Doch dann stieg der Zinssatz so steil an, dass der Taschenrechner heiß lief, wenn man ausrechnete, was man über die gesamte Laufzeit des Kredits abzahlen musste. Die Farbe an den Wänden war noch nicht trocken, als ein namenloser tropischer Sturm durch die Einkaufsstraße peitschte und ihre rot-weiß karierten Tischdecken über den Parkplatz trieb. Sie hatten keine Versicherung gegen Überschwemmungsschäden. Das Restaurant machte nie wieder auf. Drei Jahre später hatte ihr Mann zwei Jobs, sie arbeitete bei Hooters als Animierkellnerin, und von den Schulden, die ihnen von ihrem Restaurant geblieben waren, war fast nichts abgezahlt.
Manche Leute meinten, sie hätte keinen Stolz. Aber sie hatte zu viel Stolz – zu viel, um einfach das Handtuch zu werfen und Bankrott anzumelden.
»Mamiiii«, rief die dünne Stimme aus dem Kinderzimmer am Ende des Flurs. Ihre vierjährige Tochter schlief selten durch und der mitternächtliche Ruf nach der Mami wurde schon zur Routine.
Sally blickte von ihrem Scheckbuch auf, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Katherine, schlaf weiter, bitte.«
»Aber ich will eine Geschichte.«
Sie zögerte. Es war spät, aber die Arbeit an fünf Tagen die Woche bis abends um elf erlaubte ihr nicht den Luxus, ihr Kind ins Bett zu bringen. Das machte Mike, bevor er zur Spätschicht als Wachmann aus dem Haus ging, oder seine Mutter, die netterweise jeden Abend, während Katherine schlief, zu ihnen kam und fernsah und so die Zeit zwischen Mikes Aufbruch zu seinem Zweitjob und Sallys Heimkehr überbrückte. Bei dem Gedanken daran, ihrer Tochter noch etwas vorzulesen, wurde Sally ganz warm ums Herz. Sie stand vom Tisch auf und ging ins Schlafzimmer. »Also gut. Eine Geschichte.«
»Au ja!«
»Aber dann musst du schlafen. Versprochen?«
»Versprochen.«
Sie schlüpfte neben Katherine ins Bett und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil. Ihre Tochter kuschelte sich eng an sie. »Welche Geschichte hättest du denn gerne?«
»Die hier«, sagte das kleine Mädchen und nahm ein Buch vom Nachttisch.
»Wo die wilden Kerle wohnen«, las Sally den Titel vor. Sie kannte sie gut, die Geschichte des kleinen Jungen, der in seiner Fantasie sein Kinderzimmer in eine von Ungeheuern bevölkerte Insel verwandelt und sich zu deren Herrscher machen lässt. Sally erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr diese Geschichte vorgelesen hatte, als sie selbst als kleines Mädchen von Albträumen geplagt worden war. Zwanzig Jahre später war die Botschaft immer noch dieselbe: Angst entsteht im Kopf.
»Hast du immer noch schlimme Träume, Kleines?«
»Mmmm hmmm.«
»Warum denn bloß?«
»Hab Angst.«
»Und was macht dir Angst?«
»Ungeheuer.«
»Es gibt keine Ungeheuer.«
»Doch, dahinten«, erwiderte Katherine und zeigte auf die Vorhänge vor der gläsernen Schiebetür.
»Nein, Liebes. Da draußen sind keine Ungeheuer.«
»Doooch.«
»Komm. Wir lesen jetzt die Geschichte.«
Sally spürte den Kopf ihrer Tochter an ihrer Brust, während sie ihr vorlas. Sie gab jedem Ungeheuer eine andere Stimme, ließ sie jedoch nicht Furcht erregend klingen. Sie wollte Katherine nicht noch zusätzlich ängstigen. Katherine war längst eingeschlafen, bevor der kleine Junge namens Max von der abgelegenen Insel in die Sicherheit seines Kinderzimmers zurückkehrte. Sally schlüpfte leise aus dem Bett, küsste Katherine auf die Stirn und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
Zurück zu den Rechnungen. Greenleaf Financing. Großartig. Computerausrüstung und Restaurantsoftware im Wert von zweitausend Dollar, die sie über einen Zeitraum von fünf Jahren zu einem Gesamtpreis von achtundzwanzigtausend Dollar geleast hatten. Supersonderangebot.
»Mami!«, ertönte es erneut aus dem Kinderzimmer.
»Was gibt’s, Liebling?«
»Hab Angst. Da sind Ungeheuer.«
Sie schob den Stuhl vom Küchentisch und ging zu Katherines Zimmer, blieb aber vor der Tür stehen, weil sie sich nicht überreden lassen wollte, hineinzugehen. »Es gibt keine Ungeheuer.«
»Aber Mami –«
»Du musst jetzt schlafen.«
»Kannst du das Licht anlassen?«
»Ich lass das Flurlicht an.«
»Danke. Du bist die beste Mami.«
Es war schwer, streng zu sein mit jemand, der einem sagte, dass man die Beste war, und es auch wirklich glaubte. Sie lächelte. »Gute Nacht, mein Schatz, ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Sie ging zurück in die Küche, doch es widerstrebte ihr, sich weiterhin durch den Stapel Rechnungen zu quälen. Die Miete war fällig und nur der liebe Gott wusste, woher das Geld dafür kommen sollte. In Anbetracht ihrer finanziellen Schwierigkeiten war es reichlich extravagant, statt einer Wohnung ein Haus zu mieten, auch wenn es nur eine Bruchbude mit zwei Zimmern und einem Bad war, das jeder Bauunternehmer auf der Stelle abgerissen hätte. Aber Sally war in einer Wohnung aufgewachsen – ohne Garten, ohne Privatsphäre, ohne Schornstein, durch den der Weihnachtsmann an Heiligabend herabsteigen konnte. Katherine sollte es besser haben, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Vermieter irgendwann gezwungen sein könnte, sie auf die Straße zu setzen.
Sally öffnete den Kühlschrank und goss sich ein Glas Orangensaft ein.
»Mami, ich will was trinken.«
Sally drehte sich um, aber Katherine war gar nicht da. Sie lag in ihrem Bett. Dieses Mädchen hat übersinnliche Fähigkeiten. »Schlaf wieder, Liebes.«
»Bitte, Mami, ich hab dich doch den ganzen Tag nicht gesehen.«
Das saß. Es traf genau die Schuldgefühle einer berufstätigen Mutter. Ein letztes Mal ging sie zu ihrer Tochter und setzte sich auf die Bettkante. Im fahlen Schein des Flurlichts sah sie die Angst in den Augen des Kindes.
»Hast du immer noch Angst?«
Katherine nickte.
Sally fühlte Katherines Stirn. Sie war schweißnass, aber nicht von Fieber. Die Kleine war überhitzt von den beiden Decken, die sie sich über den Kopf gezogen hatte. »Warum hast du denn solche Angst?«
»Das Ungeheuer.«
»Wenn ich mich eine Weile zu dir lege, schläfst du dann?«
»Ich möchte bei dir im Zimmer schlafen. Nur bis Daddy nach Hause kommt.«
»Liebes, du bist doch schon ein großes Mädchen. Das hier ist dein Zimmer.«
»Aber das Ungeheuer.«
»Hier ist kein Ungeheuer.«
»Wirklich nicht?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Kannst du mal nachsehen?«
Sally seufzte erschöpft. »Gut, ich sehe nach.« Sie kniete sich hin und schaute unter das Bett. »Hier ist nichts.«
»Nein, aber da hinten.« Katherine zeigte wieder auf die Vorhänge, die die Glasschiebetür bedeckten.
Sally zögerte. Selbst im Dämmerlicht konnte sie die verspielten rosafarbenen Bilder von Vögeln, Kaninchen und anderen Tieren aus Kinderliedern erkennen, die über die Vorhänge tanzten. Nicht gerade der Stoff, aus dem die Mäntel von Ungeheuern gemacht waren, aber dennoch schlug ihr Herz schneller. Die Angst in den Augen ihrer Tochter wirkte so echt.
»Da ist kein Ungeheuer.«
»Schau lieber nach, Mami. Bitte.«
Jetzt sah sie etwas genauer hin. Merkwürdig, aber sie war sich plötzlich selbst nicht ganz so sicher, ob das Kaninchen an derselben Stelle war wie noch eine Minute zuvor oder ob es sich bewegt hatte. Es schien so, als befände es sich nicht mehr auf gleicher Höhe mit der gelben Ente auf dem anderen Vorhang. Erst glaubte sie, ihre Augen hätten ihr einen Streich gespielt, bis sie es wieder sah.
Dieses Kaninchen bewegte sich. Wenn auch nur ganz wenig, aber es hatte sich eindeutig bewegt.
Die Klimaanlage schaltete sich ab, und der Kloß in ihrem Hals löste sich, als die Vorhänge wieder gerade herunter hingen. Der Luftzug hatte offenbar die Falten erfasst und die Schwingung verursacht. Also kein Ungeheuer.
»Mach schon, Mami.«
»Was soll ich machen?«
»Nach dem Ungeheuer sehen.«
»Okay, ich sehe nach.«
Sie rührte sich nicht.
»Los, Mami.«
Plötzlich kam sie sich albern vor. Sie war tatsächlich drauf und dran gewesen, das Licht einzuschalten, aber damit hätte sie dem Kind nur ihre eigene irrationale Angst verraten. All das Gerede von Ungeheuern machte sie ganz verrückt, es führte dazu, dass sie sich allein fühlte und ihr bewusst wurde, wie schutzlos und verletzlich sie waren, nur durch ein läppisches Schloss und eine Glasscheibe von der Welt und ihren Gefahren getrennt.
Hör auf damit. Sie durchquerte das Zimmer, setzte einen Fuß vor den anderen. Es schien ewig zu dauern. Sie machte nur kleine Schritte, dachte sie plötzlich, noch ein weiteres Zeichen von Angst.
Das ist doch verrückt.
Endlich hatte sie es geschafft. Sie warf einen Blick zurück zum Bett und sah, wie Katherine unter ihren Decken hervorlugte, nur ihre Augen und ihre Stirn waren zu sehen. Sallys Puls ging schneller, als sie ihre Hand ausstreckte und vorsichtig den Rand des Stoffs mit Daumen und Zeigefinger anfasste, ohne sich der Glastür mehr als absolut nötig zu nähern. Katherine zog sich die Decken ganz über den Kopf. Sally holte tief Luft. Ganz langsam und vorsichtig zog sie den Vorhang zur Seite.
Nichts.
»Siehst du«, sagte Sally. »Ich hab’s dir doch gesagt. Keine Ungeheuer.«
»Die andere Seite. Da musst du auch nachsehen«, sagte Katherine, den Kopf immer noch unter der Decke.
Sally zögerte. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr Instinkt war, der ihr sagte, nicht dorthin zu gehen, oder ob sie allmählich paranoid wurde, aber sie konnte Katherine nicht ihre törichte Angst zeigen. Sie machte einen kleinen Schritt, dann noch einen auf die andere Seite des Vorhangs zu – wo sich der Hase bewegt hatte.
»Vorsicht, Mami.«
»Es gibt keinen Grund, sich zu ängstigen, Liebes.« Der Klang ihrer Stimme gefiel ihr nicht. Es war, als versuchte sie, sich selbst zu überzeugen.
Sie betrachtete die tanzenden Enten und singenden Vögel auf dem Vorhang. Dann blieb ihr Blick an dem Kaninchen hängen. Sie wusste selbst nicht genau, worauf sie eigentlich wartete. Wenn man irgendetwas lange genug anstarrte, das wusste sie, dann hatte es irgendwann den Anschein, als würde es sich bewegen, so wie Sterne am Nachthimmel zu wandern scheinen, wenn man auf dem Rücken liegt und lange genug hinschaut. Doch es gelang ihr nicht, den Blick loszureißen. Das Kaninchen rührte sich nicht. Und dann passierte es. Vielleicht war es eine Sinnestäuschung wie die wandernden Sterne, aber der Brustkorb des Kaninchens schien anzuschwellen und wieder zu schrumpfen. So als würde es atmen.
Als hätte etwas hinter dem Vorhang gerade Luft geholt.
»Alles in Ordnung, Mami?«
Entschlossen griff sie nach der Schnur und zog. Der Vorhang öffnete sich, und sie erschrak sich gehörig. Sie blickte auf ihr eigenes blasses Spiegelbild in der Glasschiebetür. Hinter ihr, im Bett, kam Katherines Kopf unter den Decken hervor.
Sally wartete einen Augenblick, bis sie sich von dem Schrecken erholt hatte. Dann sagte sie betont locker: »Na, siehst du. Ich hab’s dir doch gesagt, dass es hier kein Unge –«
Die Tür des Wandschranks flog auf, und aus dem Augenwinkel sah Sally einen Schatten auf sich zukommen. Sie hörte ihren eigenen Schrei und dann den ihrer Tochter. »Mami!«
Der Schatten traf sie frontal mit voller Wucht und schleuderte sie gegen die Wand. Sie fuhr herum und schlug mit aller Kraft zu, aber es ging alles viel zu schnell, und der Mann war viel zu stark. Ein Hieb in den Bauch raubte ihr den Atem. Ihr Kopf flog nach hinten, als der Angreifer sie bei den Haaren packte. Sie versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, glitt jedoch mit den Fingernägeln an dem Nylonstrumpf ab, mit dem es verhüllt war. Ihr Körper verdrehte sich, ihre Tochter schrie, und Sallys Augen weiteten sich vor Schreck, als sie im Lichtschein der Flurlampe die glänzende Klinge aufblitzen sah. Das Messer bewegte sich wie in Zeitlupe auf sie zu, aber sie fühlte sich außer Stande, es aufzuhalten. Verzweifelt bäumte sie sich auf, doch es gelang ihr nicht, sich dem festen Griff zu entwinden.
Ihre Bluse zerriss, und sie sah die Klinge eindringen, als die Faust des Mannes ihr Fleisch traf.
Schreiend und nach Luft ringend sank sie zu Boden, während sie versuchte, den heißen, nassen Schmerz aufzuhalten, der aus dem Loch unter ihren Rippen floss.
Blut. Alles voller Blut.
»Mami, Mami!«
Katherines Schreie gaben ihr Kraft, und es gelang ihr, ihren Angreifer bei den Knöcheln zu packen. Es war, als versuchte sie, ein Maultier zu bändigen. Sein Tritt raubte ihr fast die Sinne. Sie wollte aufstehen, aber das Zimmer drehte sich.
»Tun Sie … meiner Tochter nichts«, brachte sie mühsam hervor.
Er trat noch einmal zu, diesmal noch härter. Sie spürte, wie ihr die Zähne brachen und der salzige Geschmack von Blut ihren Mund füllte. Vergeblich versuchte sie, den Kopf zu heben.
»Mami, das Ungeheuer! Das Ungeheuer!«
Die Schreie ihrer Tochter verstummten, und um Sally herum wurde alles schwarz.
Fünf Jahre später
Der heftige Regen nahm einem jede Sicht und Sally war verflixt spät dran. Sie hatte nicht vorgehabt, zu spät zu kommen, auch wenn das allgemein üblich war. Sie hatte einfach einen schlechten Orientierungssinn und in dieser Gegend kannte sie sich nicht besonders gut aus.
Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe, es hörte sich an, als würden Murmeln vom Glas abprallen. Sie versuchte, die Scheibenwischer schneller zu stellen, aber sie liefen bereits auf höchster Geschwindigkeit. Seit Jahren hatte sie keinen solchen Regen mehr erlebt, nicht seit sie und ihr erster Mann ihr Restaurant bei einem Hurrikan verloren hatten.
Vor ihr flackerten rote Rücklichter auf. Eine Autoschlange kroch mit der Geschwindigkeit von abkühlender Lava den Highway entlang. Sally verlangsamte fast auf Schrittgeschwindigkeit und schaute auf die Uhr. 23.25 Uhr.
Verdammt. Er würde einfach warten müssen. Irgendwann würde sie schon eintreffen.
Sie hatten sich telefonisch verabredet. Sie hatten nur einmal miteinander gesprochen und seine Anweisungen waren kurz und knapp gewesen. Donnerstag, 23 Uhr. Kommen Sie nicht zu spät. Sie hatte nicht gewagt, den Termin zu verschieben, selbst bei diesem Wetter nicht. Das war der richtige Mann. Da war sie sich ganz sicher.
In einiger Entfernung blinkte flackernd ein Neonschild, als würde es vom Sturm geschüttelt. Es war, als würde sie sich auf dem Grund eines Sees einem Sehtest unterziehen und könnte nur einen Teil der verschwommenen Buchstaben erkennen: S-P-irgendwas-irgendwas-K-Y-Apostroph-S.
»Sparky’s«, las sie laut. Das musste es sein. Sie bog vom Highway ab und fuhr auf den überfluteten Parkplatz. Unter all dem Wasser konnte sie die genaue Lage der Parkbuchten nur erahnen. Sie würgte den Motor ab und überprüfte im Rückspiegel kurz ihr Äußeres. Ganz in der Nähe zuckte ein Blitz. Das Wageninnere wurde hell erleuchtet und kurz darauf gab es einen gewaltigen Donnerschlag, bei dem es ihr kalt den Rücken hinunterlief. Sie bekam Angst, doch dann konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das wäre ja wohl der größte Witz, wenn sie nach all der sorgfältigen Planung vom Blitz erschlagen würde.
Sie holte tief Luft und atmete wieder aus. Jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Tu’s einfach.
Sie sprang aus dem Wagen und hastete im strömenden Regen über den Parkplatz. Eine Bö riss ihr den Regenschirm aus der Hand und schleuderte ihn irgendwo in die Landschaft. Sie rannte einfach weiter und hielt sich schützend die Hände über den Kopf, trat bei jedem Schritt in eine Pfütze. Als sie die Eingangstür erreichte, war sie bis auf die Haut durchnässt und ihre Jeans und die weiße Bluse klebten ihr am Körper.
Ein muskelbepackter Türsteher in einem T-Shirt mit dem Logo eines Fitnessstudios stand im Eingang und hielt ihr die Tür auf. »Der Nasse-T-Shirts-Wettbewerb findet erst morgen statt, Verehrteste.«
»Das könnte dir so passen«, antwortete sie und ging schnurstracks zu den Toiletten, um sich abzutrocknen. Als sie in den Spiegel schaute, blieb ihr fast das Herz stehen. Durch BH und die nasse Bluse waren ihre Brustwarzen nicht nur gut zu sehen, sie sprangen einem direkt ins Auge.
Großer Gott!
Sie drückte auf den Knopf des Händetrockners in der Hoffnung auf heiße Luft. Nichts. Nach mehreren vergeblichen Versuchen langte sie nach den Papierhandtüchern, aber der Behälter war leer. Also Klopapier. Sie ging in die Kabine, nahm die Reserverolle vom Spülkasten und begann entnervt, sich von Kopf bis Fuß abzutupfen. Es war einlagiges Papier, nicht sonderlich saugfähig, und sie brauchte die ganze Rolle auf. Endlich verließ sie die Kabine, warf noch einen Blick in den Spiegel, und diesmal hätte sie beinahe laut aufgeschrien. Sie war von oben bis unten mit winzigen Klopapierschnipseln übersät.
O Gott, du siehst aus wie eine Baumwollpflanze!
Dann prustete sie los, ohne eigentlich zu wissen warum, lachte so laut, dass es fast wehtat. Schließlich beugte sie sich vor, die Hände auf den Rand des Waschbeckens gestützt, und ließ den Kopf hängen. Sie spürte, wie all ihre Gefühlsenergie in den ständig vorhandenen Spannungsknoten unter der Schädeldecke wanderte. Ihr Schultern begannen zu beben und das Lachen ging in Schluchzen über, doch sie riss sich zusammen und hatte sich schnell wieder im Griff.
»Du bist ein totales Wrack«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.
So gut es ging, zupfte sie sich das Papier von der Kleidung, brachte ihr Make-up halbwegs in Ordnung und fand sich mit ihrem Schicksal ab. Nichts sollte diese Verabredung scheitern lassen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und betrat die Bar.
Die Menge der Gäste überraschte sie. Es war weniger die Zusammensetzung – die entsprach ungefähr ihren Vorstellungen – als vielmehr die Tatsache, dass der Laden bei so einem Sauwetter brechend voll war. Neben der Musikbox hockten ein paar Trucker und spielten Blackjack. Motorradfahrer in Lederkleidung und ihre wasserstoffblonden Freundinnen hatten auf einem Billardtisch ein Monopolyspiel ausgebreitet und warteten offenbar auf das Ende des Gewitters. Die Kleiderordnung für einen Sitzplatz an der Theke schien T-Shirts, Jeans und Flanellhemden vorzuschreiben. Das waren alles hart gesottene Leute, und die Bar lebte zweifellos von ihren Stammkunden.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«, fragte der Mann hinter der Theke.
»Ich glaube, eher nicht, danke. Ich suche jemanden.«
»Ach ja? Wen denn?«
Sally zögerte, unsicher, wie sie darauf antworten sollte. »Na ja, es ist so eine Art Blind Date.«
»Das kann nur Jimmy sein«, meinte einer der Männer an der Theke.
Die anderen lachten. Sally lächelte verlegen, der Insiderwitz ging völlig an ihr vorbei. »Jimmy ist der Schiedsrichter in unserer Softball-Liga. Blinder geht’s nimmer«, erklärte der Barkeeper.
»Ach so, verstehe«, sagte sie. Sie lachten erneut auf Jimmys Kosten. Sally wandte sich ab und ging durch die Bar, bevor das Interesse der Männer sich wieder der Frau in der nassen Kleidung zuwenden konnte. Sie heftete ihren Blick auf die dritte Nische von hinten, neben dem kaputten Air-Hockey-Tisch. Ein schwarzer Typ mit durchdringenden Augen starrte sie mit ernster Miene an. Er trug ein dunkelblaues Hemd und eine schwarze Hose, worüber Sally lächeln musste. Sie war ihm noch nie begegnet, aber dieser Blick und seine Kleidung entsprachen genau dem, was er am Telefon beschrieben hatte. Das war er.
Sie trat auf ihn zu und sagte: »Ich bin Sally.«
»Ich weiß.«
»Wie können Sie –«, setzte sie an, vollendete den Satz jedoch nicht. In dem ganzen Laden gab es keine Frau, die aussah wie sie.
»Setzen Sie sich«, sagte er.
Sie nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz. »Tut mir Leid, dass ich so spät dran bin. Es regnet wie verrückt.«
Er langte über den Tisch und zupfte einen Fetzen Papier von ihrem Ärmel. »Was regnet’s denn? Kunstschnee?«
»Das ist Klopapier.«
Er hob die Brauen.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie. »Alles ist gleichzeitig schief gelaufen. Vor fünf Minuten war ich von oben bis unten voll mit dem Zeug.«
»Supersexy.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Tja. Geschmacksache.«
»Wollen Sie was trinken?«
»Nein, danke.«
Er ließ die Eiswürfel in seinem halb leeren Glas kreisen. Rum mit Cola, vermutete sie, offensichtlich der Cocktail des Abends. Die Cola sah ziemlich dünn aus, was sie bei Sparky’s nicht anders erwartet hatte.
»Ich hab Sie hier hereinfahren sehen«, sagte er. »Schöner Wagen.«
»Wenn man auf Autos steht.«
»Das tu ich. So wie’s aussieht, Sie auch.«
»Eigentlich nicht. Mein Mann war ein Autonarr.«
»Ihr erster oder Ihr zweiter Gatte.«
Sie rutschte verlegen hin und her. Am Telefon hatte sie nicht mit ihm über ihre Ehen gesprochen. »Mein zweiter.«
»Der Franzose?«
»Haben Sie Nachforschungen über mich angestellt?«
»Ich überprüfe alle meine Auftraggeber.«
»Noch bin ich nicht Ihr Auftraggeber.«
»Aber bald. Leute, die so aussehen wie Sie, lassen sich in der Regel nicht hier draußen blicken.«
»Wie sehe ich denn aus?«
»Jung, reich, sexy und frustriert.«
»Das nennen Sie sexy?«
»Ich schätze, dass das nicht Ihre beste Aufmachung ist.«
»Da könnten Sie Recht haben.«
»Und wie sieht’s mit Ihrer Gemütslage aus? Liege ich da auch richtig?«
»Nicht ganz.«
»So?«
»Ich wüsste nicht, was meine Gefühle Sie angehen. Hier geht es nur darum, ob Sie an einem Job interessiert sind, Mr – wie auch immer Sie heißen mögen.«
»Sie können mich Tatum nennen.«
»Ist das Ihr Name?«
»Ein Spitzname.«
»Wie Tatum O’Neal?«
Er verzog das Gesicht und kippte seinen Drink. »Nein verdammt, nicht wie Tatum O’Neal. Tatum wie Jack Tatum.«
»Und wer ist Jack Tatum?«
»Der gemeinste Football-Spieler aller Zeiten. Defensive Back bei den Oakland Raiders. Der Typ, der Darryl Stingley so übel zugesetzt hat, dass er jetzt ein Krüppel ist. Man nannte ihn Killer. Der war sogar stolz darauf, sich selbst Killer zu nennen.«
»Würden Sie sich selbst auch so bezeichnen? Als Killer?«
Er beugte sich über den Tisch, sein Gesichtsausdruck wurde plötzlich sehr ernst. »Ist das nicht der Grund, warum Sie hier sind?«
Bevor sie dazu kam, ihm zu antworten, stand plötzlich der Barkeeper an ihrem Tisch und bedachte sie mit einem wütenden Blick. »Was wollen Sie von dem Kerl?«, raunzte er.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Ich meine dieses Stück Scheiße, das Ihnen direkt gegenübersitzt. Warum treffen Sie sich hier mit ihm?«
Sie schaute erst Tatum, dann den Barkeeper an. »Das geht Sie nicht im Geringsten etwas an.«
»Das ist meine Bar. Das geht mich sehr wohl etwas an.«
»Theo, bleib auf dem Teppich, okay?«, schaltete Tatum sich ein.
»Mach, dass du rauskommst.«
»Ich hab meinen Drink noch nicht ausgetrunken.«
»Ich gebe dir fünf Minuten«, sagte Theo. »Dann bist du draußen.« Er drehte sich um und ging zurück hinter den Tresen.
»Was ist denn mit dem los?«, fragte Sally.
»Großkotz. Seit irgend so ein Anwalt ihn aus der Todeszelle geholt hat, hält er sich für was Besseres.«
»Sie glauben doch nicht, dass er weiß, worüber wir hier reden, oder?«
»Natürlich nicht. Er denkt wahrscheinlich, ich schicke Sie auf den Strich.«
Sally kam sich auf einmal halb nackt vor in ihrer regennassen Bluse. »Ich schätze, das hab ich mir selbst eingebrockt.«
»Kümmern Sie sich nicht um ihn. Lassen Sie uns zur Sache kommen.«
»Ich habe kein Geld bei mir.«
»Klar. Ich hab Ihnen ja noch keinen Preis genannt.«
»Wie viel wird es denn kosten?«
»Kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Wie kompliziert die Sache wird.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Zunächst mal, was genau wollen Sie? Zwei gebrochene Rippen? Gehirnerschütterung? Fleischwunden? Sein Gesicht verunstalten oder lieber nicht? Ich kann den Kerl für einen Monat ins Krankenhaus schicken, wenn Sie wollen.«
»Ich will mehr als das.«
»Mehr?«
Sie sah sich nach allen Seiten um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie alleine waren.
»Ich will den Tod dieser Person.«
Tatum antwortete nicht.
»Was würde das kosten?«, fragte sie.
Nachdenklich schob er seine Zunge in die Wange, als müsste er es sich noch einmal überlegen. »Das kommt ebenfalls darauf an.«
»Worauf?«
»Um wen geht’s denn überhaupt?«
Sie senkte den Blick, dann sah sie ihm direkt in die Augen. »Sie werden es nicht glauben.«
»Warten Sie’s ab.«
Sie unterdrückte ein Lachen. »Ich meine es ernst. Sie werden es wirklich nicht glauben.«
Endlich war ihr Tag gekommen.
Sally saß am Küchentisch. Sie spürte einen Adrenalinschub, als sie ihren ersten Schluck Kaffee trank. Keine Sahne, zwei Tütchen Süßstoff. Dazu ein einfaches Brötchen, getoastet, ohne Butter oder Frischkäse, nur Himbeermarmelade, die sie wie üblich nicht anrührte. Ein kleines Glas Saft, frisch gepresst aus den rosafarbenen Pampelmusen, die ihr Gärtner vom Baum aus ihrem Garten gepflückt hatte. Das war ihr normales Alltagsfrühstück und heute sollte es nicht anders sein als sonst.
Außer dass sich heute alles ändern würde, wie sie wusste.
»Noch etwas Kaffee, Ma’am?«, fragte Dinah, ihre Hausangestellte.
»Nein, danke.« Sie legte die Zeitung beiseite und ging hinauf ins Schlafzimmer. Das Haus hatte zwei geräumige Schlafzimmer im ersten Stock. Ihres lag nach Osten, mit Blick auf die Bucht, ausgestattet im luftigen britischen Kolonialstil, der an die karibischen Inseln erinnerte. Seins lag nach Westen, ein viel dunkleres Zimmer mit Holzbalkendecke und im afrikanischen Stil. Sally konnte all die toten Tiere an den Wänden nicht ausstehen, deshalb benutzten sie diesen Raum nur, wenn er sich nicht gerade im Ausland aufhielt, was etwa jeden zweiten Monat während ihrer gesamten achtzehn Monate dauernden Ehe der Fall gewesen war. Ihr Arrangement hatte gerade lange genug gedauert, dass sie den ersten finanziellen Meilenstein des ausgeklügelten Ehevertrags erreichte. Achtzehn Monate entsprachen achtzehn Millionen Dollar, außerdem das Haus – ein Haufen Geld für Sally, Peanuts für Jean Luc Trudeau. Zu ihrem Glück hatte sie den Weitblick besessen, sich die achtzehn Millionen nicht in bar auszahlen, sondern als Anteile an der Firma ihres Mannes überschreiben zu lassen. Die Firma war kurz darauf an die Börse gegangen und hatte Sally auf einen Schlag um sechsundvierzig Millionen Dollar reicher gemacht. Sie hätte jeden weiteren Monat eine Viertelmillion dazu verdienen können und es gab weiß Gott schlechtere Ehemänner als Jean Luc. Er war reich, erfolgreich, halbwegs ansehnlich und sehr großzügig gegenüber seiner dritten und viel jüngeren Frau. Aber Sally war nicht glücklich. Die Leute meinten, sie sei nie glücklich. Sie entschuldigte sich nicht dafür. Sie hatte ihre Gründe.
Sally betrat ihr Ankleidezimmer, legte ihren Morgenmantel über eine Stuhllehne und zog eine hautfarbene Strumpfhose an. Mit nacktem Oberkörper stand sie still vor dem dreiteiligen Spiegel. Langsam hob sie beide Arme, und als sie sich umdrehte, schien ihr neunundzwanzigjähriger Körper zu schweben. Im Spiegel sah sie es, immer noch gut erkennbar nach all den Jahren. Eine fünf Zentimeter lange rosafarbene Narbe unterhalb des Brustkorbs. Sie befühlte sie erst leicht mit den Fingerspitzen, dann drückte sie etwas fester, schließlich so hart, dass es schmerzte, als versuchte sie wie damals, die Blutung zu stoppen. Jahre waren vergangen, aber die Wunde war immer noch da. Sie hätte sie durch eine Schönheitsoperation beseitigen lassen können, aber damit hätte sie sich ihrer wichtigsten täglichen Erinnerung daran beraubt, dass sie den Überfall tatsächlich überlebt hatte. Leider hatte ihre erste Ehe ihn nicht überlebt.
Tragischerweise ihre Tochter auch nicht.
»Haben Sie heute etwas zu bügeln, Miss Sally?«
Beim Klang der Stimme bedeckte sie instinktiv ihre Brüste, aber sie war allein im Ankleidezimmer. Dinah stand draußen vor der Tür.
»Ich glaube nicht«, antwortete Sally und zog wieder ihren Morgenmantel über.
Als sich Dinahs Schritte entfernt hatten, öffnete Sally die Tür und ging ins Bad, um ihre Haare zu richten und Make-up aufzulegen. Anschließend kehrte sie ins Ankleidezimmer zurück, um ihre Garderobe auszuwählen, was länger dauerte als gewöhnlich, da es diesmal genau das Richtige sein sollte. Sie entschied sich schließlich für ein dunkelblaues Kostüm von Chanel, eine pfirsichfarbene Bluse und neue Schuhe von Ferragamo, dazu eine einfache Perlenkette und passende Ohrringe. Ihr Ehering aus Platin mit zwei Diamantenreihen von insgesamt vier Karat kam ihr – wie immer – reichlich protzig vor, dennoch streifte sie ihn über. Nach der Scheidung würde sie ihn endgültig ablegen, aber heute diente er einem Zweck.
Sally trat einen Schritt zurück und warf einen letzten Blick in den Spiegel – einen zufriedenen, langen Blick. Zum ersten Mal seit ewiger Zeit erlaubte sie sich den Anflug eines Lächelns.
Heute ist dein Tag, Mädel.
Sie nahm ihre Handtasche, lief die Treppe hinunter und verließ das Haus durch den Vordereingang zum Carport, wo ihr Mercedes-Cabrio mit heruntergeklapptem Verdeck auf sie wartete. Die Haare hatte sie sich sicherheitshalber zu einem französischen Knoten gebunden, trotzdem hatte sie sich à la Grace Kelly in Schale geworfen, mit weißem Kopftuch und dunkler Sonnenbrille. Sie setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an und folgte der gepflasterten Einfahrt zum schmiedeeisernen Tor. Es öffnete sich automatisch und Sally lenkte den Wagen hinaus auf die Straße.
Gemächlich fuhr sie durch die Straßen des Villenviertels und ließ ihr Gesicht von der Sonne Floridas wärmen. Es war ein fantastischer Tag, selbst für Miami. Fünfundzwanzig Grad, relativ geringe Luftfeuchtigkeit, wolkenloser blauer Himmel. Als junges Mädchen hatte sie immer davon geträumt, auf den Venetian Isles zu leben. Sie lagen nebeneinander in der Bucht wie vier riesige Trittsteine zwischen dem Festland und den größeren Inseln von Miami Beach. Die Häuser direkt am Wasser waren der Traum jedes Bootsbesitzers, viele davon hatten einen unverbauten Blick auf die Luxusliner im Hafen und die sich dahinter erhebende farbenprächtige Skyline von Miami. Im Grunde genommen war die Villa mitten in diesem urbanen Paradies ihr wahr gewordener Traum.
Tja, überleg dir gut, was du dir wünschst.
Sally hielt an, um die Maut zu zahlen, dann folgte sie weiter dem Venetian Causeway. Auf dem Teil der Brücke, der zu Miami gehörte, hatten ein paar alte Kubaner ihre Angeln ausgeworfen, direkt neben dem Schild mit der Aufschrift ANGELN STRENG VERBOTEN.
Sally befand sich jetzt nördlich von Downtown Miami, nicht gerade der sicherste Stadtteil, aber hier war vieles im Umbruch. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie noch einen großen Bogen um die Gegend gemacht.
Sie überquerte den Biscayne Boulevard, bog mehrmals ab und hielt an der Ampel. Vor ihr lag die Auffahrt zur Autobahn, der einzige Fluchtweg zu mindestens einem Dutzend von Ost-West-Straßen befand sich direkt über ihr. Sie konnte den Autobahnverkehr hören, den ständigen Strom unzähliger Autos und lärmender Lastwagen, der von überall widerhallte. Normalerweise fuhr sie so zügig, dass sie an keiner roten Ampel halten musste, vor allem nachts, aber das war nicht immer möglich. Wie bestellt kamen Obdachlose aus ihren Pappbehausungen unter der Rampe. Bewaffnet mit schmutzigen Lumpen und mit trübem Wasser gefüllten Plastiktrinkflaschen schienen sie wild entschlossen, die Windschutzscheiben der ganzen Welt zu putzen. Sie waren zu zweit. Einer näherte sich ihrem Wagen, während der andere den Geländewagen vor ihr ansteuerte.
Der Geländewagen fuhr mit quietschenden Reifen los, ignorierte die rote Ampel und ließ Sally allein mit den Fensterputzern. Es war später Vormittag, aber im dunklen Schatten der Autobahnrampe war es wie in der Morgendämmerung. Die Interstate 395 und ihre diversen Auffahrten kreuzten sich oberhalb wie Betonbänder. Anders als der Fensterputzer, der den Geländewagen anvisiert hatte, näherte sich dessen Kumpel nicht von der Seite, sondern direkt von vorn. Sally hätte die rote Ampel nicht überqueren können, ohne ihn zu überfahren.
»Nein, danke«, rief sie.
Grinsend kam er weiter auf sie zu und zielte mit seiner Trinkflasche auf ihre Windschutzscheibe. Der andere hatte den Mercedes seinem Konkurrenten überlassen und war schon wieder unterwegs zu seiner Behausung unter der Rampe.
»Nein, danke, habe ich gesagt.«
Der Mann baute sich direkt vor ihrem Wagen auf, so dicht, dass er den Mercedesstern hätte abreißen können. Plötzlich wurde es hell. Überall brachen Sonnenstrahlen durch die Wolken, als hätten die sich gerade so weit zur Seite geschoben, um das Tageslicht durch die Spalten des Autobahnlabyrinths über ihr hindurchscheinen zu lassen. Der hellste Sonnenstrahl schien es auf ihren Diamantring abgesehen zu haben, der wie ein Feuerwerk zu glitzern begann. An jedem anderen Tag hätte sie ihre Hand unauffällig vom Lenkrad auf den Schoß gleiten lassen. Aber nicht heute.
Der Mann starrte sie immer noch durch die Frontscheibe an. Langsam hob er einen Arm und zielte direkt auf ihr Gesicht. Sie rechnete damit, dass sich ein Schwall schmierigen Wassers auf die Scheibe ergießen würde, aber nichts passierte. Einen Augenblick später wurde ihr klar, dass er keine Wasserflasche in der Hand hielt.
Sie erstarrte, den Blick fixiert auf das schwarze Loch am Ende des glänzenden Metalllaufs. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es kam ihr vor, als hätte sie ihren Körper verlassen, um das Geschehen von außen zu betrachten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Mündungsblitz, sah, wie die Windschutzscheibe zerbarst, ihr Kopf in den Nacken kippte, ihr Körper nach vorn sackte und das Blut auf die Ledersitze spritzte. Sie konnte sogar das Hupen hören, das von ihrem Kopf ausgelöst wurde, als er auf das Lenkrad knallte und dort liegen blieb. Und zum zweiten Mal an diesem Tag sah sie sich selbst wirklich lächeln.
Mit einem einzigen Revolverknall, der von all dem Beton widerhallte, fand der Albtraum ihres Lebens schließlich ein Ende.
Die Sonne ging unter, als Jack Swyteck in seine Auffahrt einbog. Er wohnte auf Key Biscayne, einer Insel praktisch im Schatten von Downtown Miami, aber Welten davon entfernt. Auf der anderen Seite der Bucht, jenseits der ausufernden Metropole und irgendwo über den fernen Everglades lösten sich aufgelockerte Streifen von Rosa, Orange und Magenta langsam in der Dunkelheit der Nacht auf. Erst als die ganze Farbenpracht verschwunden war, dämmerte ihm plötzlich, welcher Tag heute war. Auf den Tag genau vor einem Jahr hatten Cindy und er sich voneinander getrennt, was zur Scheidung ihrer fünf Jahre dauernden Ehe geführt hatte.
Herzlichen Glückwunsch, gratulierte er sich selbst.
Jack war Anwalt, spezialisiert auf Strafverteidigung, jedoch prinzipiell nicht abgeneigt, alles anzunehmen, was ihm interessant erschien. Andererseits lehnte er Fälle ab, die er uninteressant fand, wodurch er zwar meist Spaß an seiner Arbeit hatte, aber leider nicht reich wurde. Profit war nie sein oberstes Ziel gewesen. Er hatte die ersten vier Jahre nach dem Jurastudium am Freedom Institute verbracht, einem zusammengewürfelten Haufen von Idealisten, die die Verteidigung von Häftlingen in Todeszellen übernahmen. Damals war Jacks Vater Harry Swyteck Gouverneur von Florida gewesen, ein konservativer Politiker und knallharter Verfechter der Todesstrafe. Die Aktivitäten seines Sohnes waren ihm ein Dorn im Auge, und das war durchaus beabsichtigt. Aber nach vier Jahren hatte Jack seinen alten Herrn genug gepiesackt und diejenigen, die ihn als liberalen Gutmenschen abgeschrieben hatten, staunten nicht schlecht, als er ganz neue Saiten aufzog und sich einen Namen als fairer, aber aggressiver Staatsanwalt machte. Nach einiger Zeit schied er im freundschaftlichen Einvernehmen aus dem Büro des Bundesstaatsanwalts aus, aber fast zwei Jahre später versuchte er immer noch, als selbstständiger Anwalt Fuß zu fassen. Zwischenzeitlich musste er sich mit allem Möglichen von einer chaotischen Scheidung bis zu einer toten Mandantin in seiner Badewanne herumschlagen, dennoch war er fest entschlossen, seiner Kanzlei eine reelle Chance zu geben, bevor er eine erneute berufliche Veränderung in Erwägung zog.
»Hallo Theo«, rief er über den Rasen.
Theo schien ihn nicht gehört zu haben. Er war emsig dabei, sein Acht-Meter-Sportboot zu schrubben, das gerade an Davits über dem Wasser hing. Das Einzige, was Jack mit seinem armseligen Mietshaus versöhnte, war die Tatsache, dass es direkt am Wasser lag und eine eigene Anlegestelle hatte. Seit der Scheidung war dies schon seine dritte Bleibe, Ausdruck seiner rastlosen Suche nach der richtigen Lebensform für einen geschiedenen Mann ohne Kinder, ohne Laster und mit erstaunlich wenig Interesse daran, Frauen kennen zu lernen. Sein derzeitiges Experiment war ein »Mackle-Haus«, ein einfaches Haus aus Hohlblocksteinen mit drei Zimmern, Bad und einer kleinen mit Fliegengitter eingezäunten Veranda, natürlich ohne Klimaanlage. In den frühen fünfziger Jahren hatten die Brüder Mackle Dutzende solcher einfachen Strandhäuser gebaut, hauptsächlich für Veteranen des zweiten Weltkriegs und deren Familien. Damals war Key Biscayne kaum mehr als moskitoverseuchtes Sumpfland gewesen und so waren damals die Mackle-Häuser die billigsten in der ganzen Gegend, bei einem Endpreis von zwölftausend Dollar. Heute bekam man für zwölftausend gerade mal ein Wassergrundstück von einem halben Meter Breite. Und alle paar Tage klingelten irgendwelche Archtitekten an Jacks Tür, die mit ihren Bauplänen wedelten und am liebsten gleich mit einem Bulldozer in sein Wohnzimmer eingedrungen wären. Sein Haus war das letzte der Mackle-Strandhäuser, das noch stand.
»Theo!«
Immer noch keine Reaktion. Wenn er bei voll aufgedrehter Musik auf einem Boot arbeitete, war Theo in einer anderen Welt. Da Jack kein Boot besaß, überließ er Theo das Dock hinter dem Haus. Für Theo, der seine Bar nachts betrieb, war es ideal, da er tagsüber angeln und auf dem Boot schlafen konnte. Er war einer der wenigen Freunde, die nie zu altern schienen, was nicht hieß, dass er nicht von einem Jahr zum nächsten älter aussah. Er weigerte sich nur, erwachsen zu werden, und deswegen war es angenehm, ihn um sich zu haben. Manchmal.
Theo war dabei, das Deck abzuspritzen, als Jack näher kam. »Irgendwas gefangen?«, fragte Jack.
Theo ließ sich bei seiner Arbeit nicht stören. »Rein gar nichts«, erwiderte er nur.
»Darum heißt es ja auch angeln, und nicht –«
Theo richtete den Schlauch auf Jack und spritzte dessen Anzug ordentlich nass.
»Fangen«, führte Jack seinen Satz zu Ende. Er war tropfnass, aber wischte sich bloß das Wasser aus dem Gesicht, als wäre nichts passiert.
»Weißt du, Swyteck, manchmal bist du einfach so voller –«
»Weisheit?«
»Ja. Genau das wollte ich sagen. Weisheit.«
»Man muss schon ein Genie sein, um einen Ex-Sträfling, der einen Gartenschlauch in der Hand hält, zu verspotten«, sagte Jack, während er sich das Wasser von seinem Nadelstreifenanzug klopfte.
Theo kletterte lächelnd aus seinem Boot und umarmte Jack so herzlich, dass er ihn dabei vom Boden hob. Der Mann hatte die Größe eines Basketball-Profis und die Muskeln eines Football-Linebackers.
Jack trat überrascht einen Schritt zurück. »Womit habe ich das verdient?«
»Viel Glück zum Jahrestag, Kumpel.«
Jack war sich nicht sicher, woher Theo davon wusste, aber wahrscheinlich hatte er bei irgendeiner Gelegenheit etwas von seinem Ein-Jahres-Meilenstein erwähnt. »Was gibt’s da zu beglückwünschen.«
»Ach, komm schon. Du nimmst es mir doch nicht etwa übel, dass ich dich ein bisschen nass gespritzt habe?«
»Über was für einen Jahrestag redest du eigentlich?«
»Von welchem Jahrestag redest du denn?«
»Vor genau einem Jahr haben Cindy und ich uns getrennt.«
»Cindy? Die interessiert mich nicht die Bohne. Ich habe von uns geredet.«
»Von uns?«
»Jawohl. Diese Woche vor zehn Jahren. Da haben wir uns kennen gelernt. Erinnerst du dich noch?«
Jack überlegte. »Nicht so richtig.«
»Jetzt fühle ich mich aber wirklich gekränkt. Ich kann mich noch haargenau daran erinnern. Es war ein Freitagmorgen. Der Wachmann holt mich aus meiner Zelle und erklärt mir, ich hätte einen Termin mit meinem neuen Pflichtverteidiger, einem Anwalt vom Freedom Institute. In der Todeszelle habe ich natürlich nichts Besseres zu tun als rumzuliegen und mich zu fragen: ›Theo, willst du lieber Senfsauce oder braune Butter zu den Steinkrabben mit gebratenen Süßkartoffeln, die sie dir als Henkersmahlzeit vorsetzen werden?‹ Ich bin also völlig aus dem Häuschen, als ich von einem neuen Verteidiger höre. Ich gehe runter und da sehe ich dich auf der anderen Seite der Glasscheibe sitzen.«
»Was hast du gedacht, als du mich gesehen hast?«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Typischer weißer Schnösel von der Eliteuniversität mit einem Rettet-die-Schwarzen-Schuldkomplex.«
»Ist ja ein Ding. Und ich habe die ganze Zeit geglaubt, ich hätte einen erbärmlichen ersten Eindruck hinterlassen.«
Theo sah ihn scharf an, als wollte er ihn verhören. »Erinnerst du dich noch an meine ersten Worte?«
»Wahrscheinlich irgend so was wie: ›Haste mal ’n Dollar, Kumpel?‹«
»Nein, du Klugscheißer. Ich hab dir direkt in die Augen gesehen und gesagt: ›Jack, es gibt etwas, das Sie von vorneherein wissen müssen. Ich bin unschuldig.‹«
»Daran erinnere ich mich.«
»Und erinnerst du dich auch noch an deine Antwort?«
»Nein.«
»Du hast gesagt: ›Mr Knight‹ – damals hast du mich noch Mister Knight genannt – ›es gibt etwas, das Sie von vorneherein wissen sollen: Ich glaube, Sie sind ein großer, fetter, verdammter Lügner‹.«
»Das habe ich wirklich gesagt?«
»Allerdings. Wortwörtlich.«
»Wow. Du musst mich wirklich für ein Arschloch gehalten haben.«
»Ich halte dich immer noch für ein Arschloch.«
»Danke.«
Theo lächelte, dann packte er Jack an den Schultern und pflanzte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »Viel Glück zum Jahrestag, Arschloch.«
Jack lächelte. Theo und seine Küsse. Zum Tode verurteilt zu sein für ein Verbrechen, das man nicht begangen hatte, und in letzter Minute freigesprochen zu werden, konnte dazu führen, dass man den Rest seines Lebens jedermann umarmen wollte. Aber es konnte auch das Gegenteil dabei herauskommen. Es hing ganz davon ab, was für ein Typ einer war.
Theo sagte: »Kannst du mal die Kühlbox nehmen?«