1. DAS MONSTER IM 5. STOCK



Liebe Bayern,

es tut mir leid.

Impressum

 

Das Monster im 5. Stock

Text Copyright © 2019 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

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Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlaggestaltung/-illustration: Regina Haselhorst

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Reale Personen wären auch vernünftig genug, Safer Sex zu praktizieren, im Gegensatz zu den Fantasiegestalten in diesem Roman. Die müssen sich darum keine Sorgen machen, da es sie nicht gibt.

2. Besichtigung des Grauens

 

Schwitzende Leiber drängten sich an Wastl. Eine Schulter rammte sein Schlüsselbein, eine Hand streifte seinen Hintern, aufgeregtes Keuchen drang in sein Ohr. Stimmen schwollen zu einem undefinierbaren Geräuschteppich an. Schweißgeruch vermischte sich mit dem nach Parkettpolitur.

Wenn ich die Augen fest schließe, kann ich mir einreden, ich wäre auf einem Konzert, dachte er. Oder auf meiner ersten Gangbangparty. Gibt es sowas in München?

Leider war er auf einer Wohnungsbesichtigung. Die mietwilligen Horden hatten die Frau von der Hausverwaltung zwischen Küche und Bad in eine Ecke gedrängt und redeten auf sie ein.

»Ich putze saumäßig gern«, brüllte ein Mann, der Wastl an seinen alten Nachbarn, den Elektriker-Toni, erinnerte. »Daheim wienere ich jeden Tag die Treppe blitzeblank.«

»Das ist schön«, sagte die Frau von der Hausverwaltung. Trotz des sorgfältig aufgetragenen Make-ups ähnelte ihre Haut inzwischen der weißen Tapete hinter ihr. Die Sonnenbrille zitterte in ihren strohgoldenen Haaren. »Aber wir beschäftigen einen Reinigungsdienst …«

»Meine Eltern bürgen für mich!«, rief ein junger Kerl dazwischen. Student, wenn Wastl die kunstvoll chaotische Frisur, den nervösen Blick und die schwindende Akne richtig deutete. Die Akne war auf dem Rückmarsch, der Student nicht. »Sie sind beide Beamte. Lehrer. Ich würde sagen, ich bin total wie die, echt pflegeleicht. Ich mag überhaupt keine Partys und … Mann, hör auf zu schubsen, du Miststück!«

Die winzige Frau, die ihn zur Seite gedrängt hatte, beachtete ihn nicht. Sie packte die Hausverwaltungsfrau mit beiden Händen an den Schultern. Grob. Silbern lackierte Krallen gruben sich in den cremefarbenen Blazer.

»Ich brauche die Wohnung!« Speicheltropfen flogen. »Bitte, das ist die fünfundsechzigste Besichtigung und ich muss übermorgen ausziehen!«

Die Hausverwaltungsfrau machte sich los. Schweiß glänzte auf ihrer faltenfreien Stirn.

»Danke für Ihr Interesse«, sagte sie. »Aber ich muss alle Interessenten begutachten. Bitte legen Sie Ihre Bewerbungsunterlagen auf den Tisch dort und verlassen Sie die Wohnung, sobald Sie alle Zimmer besichtigt haben. Es nützt Ihnen nichts, sich mir vorzustellen. Ich bin nicht die, die entscheidet!«

»Ja, aber Sie könnten doch ein gutes Wort für mich einlegen, oder?« Die Silberlackierte blickte flehend. »Das können Sie bestimmt.«

»Nein, kann ich nicht.« Die Hausverwaltungsfrau straffte sich und betupfte ihren Hals. »Die Bewerbungsunterlagen. Auf den Tisch. Bitte.«

Das funktionierte. Murrend schlichen die Massen durch die Wohnung, legten ihre Mappen auf den immer höher wachsenden Stapel und zogen weiter. Wie immer. Wastl sah, wie ein gutgekleideter Mann den Großteil des Stapels einsteckte, als gerade niemand anders schaute, und ihn in den Papierkorb im nächsten Flur warf. Unauffällig hob Wastl die Mappen heraus und legte sie zurück auf den Tisch. Seine drapierte er gleich obendrauf. Dann hätte er gehen können.

Das ist deine letzte Chance. Mach was.

Bewerbungssituationen waren ihm zuwider, aber er musste einfach etwas tun. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte er an den Rucksack, der unter seinem Schreibtisch auf der Arbeit lag. Heute Morgen hatte er aus dem Hostel ausziehen müssen. Er hatte gedacht, dass ein Monat reichen würde, um in München ein Heim zu finden. Ein WG-Zimmer, eine eigene Wohnung. Irgendetwas. Aber alles, was er bisher vorzuweisen hatte, waren 87 Absagen und ein überzogenes Bankkonto. Also straffte er sich und ging auf die Hausverwaltungsfrau zu. Sie tippte auf ihr Handy ein. Ihre Körpersprache war so einladend wie ein stacheldrahtbewehrter Zaun mit Selbstschussanlage.

»Servus.« Er räusperte sich.

Sie brummte etwas Unbestimmtes und tippte weiter. Er konnte sie verstehen. Aber er war verzweifelt.

»Ich wollt fragen, ob's … irgendetwas gibt, was man tun kann, um … Ich mein, was ist denn wirklich wichtig, um eine Wohnung zu bekommen? Ich versuch's schon seit vier Wochen und hab keinen Erfolg gehabt.«

»Da geht es vielen wie Ihnen«, sagte sie und sah auf. »Trösten Sie sich, damit stehen Sie nicht alleine …« Sie zögerte. Ihr Blick scannte sein verzweifeltes Lächeln, die breiten Schultern in der billigen Jacke und die Haare, die keinen Friseur mehr gesehen hatten, seit er seine Heimat verlassen hatte. Interesse flammte in ihren hellen Augen auf. Eindeutiges Interesse. »Nun, es gibt einige Faktoren, die Ihre Bewerbung hervorheben könnten. Haben Sie einen Bürgen?«

»Nein.« Der böse Kloß schnürte seinen Hals ab. Wie immer, wenn er sich daran erinnerte, wie allein er war.

»Niemanden?« Eine perfekte Augenbraue hob sich. »Keine Onkel, Tanten … Großtanten?«

»Nein«, sagte er. »Niemanden.«

»Ah.« Ihr Mund wurde schmaler. »Aber die Kaution von 3300 Euro könnten Sie schon aufbringen?«

»Da müsst ich um Ratenzahlung bitten.« Er versuchte es mit einem weiteren Lächeln. Doch er wusste, dass er verloren hatte. Das Licht hinter ihren Augen war erloschen.

»Das sind leider keine guten Voraussetzungen.«

»Ja, ich weiß.« Er seufzte. »Vielen Dank, trotzdem. Für die Auskünfte.«

»Bitte, bitte.« Statt sich wieder ihrem Handy zuzuwenden, legte sie den Kopf schief und lächelte. Sie hatte kleine, scharfe Zähne. Wie ein Marder. »Hast du heute Abend Zeit? Kann ich Du sagen? Ich kann dir die Wohnung nicht geben, aber ich könnte dir helfen, deine Unterlagen etwas aufzupolieren. Um neun im Brotlos?«

Wastls Hände wurden schwitzig. Das war eine Anmache, oder? Das war ganz bestimmt so ein … so ein Spruch mit den Unterlagen … Doch was, wenn sie ihm helfen konnte?

Nein, sagte seine Mutter in seinem Hinterkopf. Auf sowas lass dich nicht ein, Wastl. Das bereust du nachher nur. Die nette Frau nutzt du nicht aus.

»Oh, ich … ich muss spät arbeiten«, behauptete er, räusperte sich und flüchtete. Seine Wangen brannten. Daheim in Würzen hatte sich ab und zu mal eine für ihn interessiert, aber nie hatte eine Frau ihn so direkt eingeladen. Nicht, dass er das gewollt hatte. Deshalb war er ja in die Stadt gezogen. Um den blöden Fragen von seinen Freunden zu entgehen, die stets wissen wollten, wann er denn endlich eins der armen Mädels erhören würde. Würde er nämlich nicht. Würde er nicht können.

Sobald ich eine Wohnung hab, geht's los, hatte er gedacht. Dann treff ich einen Kerl nach dem andren. Dann hol ich alles nach, was ich verpasst hab.

Verpasst hatte er eine ganze Menge. All die heimlichen Knutschereien beim Scheunenfest, hinterm Fußballplatz und im Bus zum Gymnasium. All die wilden Dinge, von denen seine Kumpels ihm erzählt hatten, oder eher: nicht erzählt hatten.

»Na, das war halt so … Na du weißt schon, Wastl. So richtig mit Liebe und so«, hatte der Edi wenig hilfreich gestammelt, nachdem es mit seiner Freundin endlich zur Sache gegangen war.

Nein, Wastl wusste es nicht. Klar, übers Internet hatte er Männer kennengelernt. Aber die paar, die er getroffen hatte, in einem verschämten kleinen Hotel an der B12, die waren gewesen wie er: Schwindler, Mogelpackungen. Familienväter waren darunter gewesen und sogar ein Pfarrer. Aber diese Heimlichtuerei war …

»Na, hat's geklappt?«, fragte eine säuerliche Stimme am Fuß der Treppe.

Wastl fuhr herum. »Wos soll geklappt haben?«

Es war ein hagerer Mann, Mitte vierzig, der ihn böse anstarrte. Der war eben auch durch die Wohnung geschwemmt worden. Aber Wastl war sicher, dass er ihm nichts getan hatte.

»Na, der Ische von der Hausverwaltung schöne Augen zu machen. Hast du Erfolg gehabt, Schönling?«

»I, äh, ich?«

»Ja, du. Unfair ist das. Wenn so ein Adonis wie du die Olle mal richtig …«, der Mann machte eindeutige Bewegungen mit Händen und Hüften, »hernimmt, dann legt die bestimmt ein gutes Wort bei der Hausverwaltung ein. Wenn sie dich nicht gleich mit nachhause nimmt. Hat sie dir 'ne feste Bleibe in ihrer Möse angeboten?«

»Nah«, sagte Wastl. »Will ich auch gar nicht. Aber falls ich dich mal so richtig hernehmen soll, sag Bescheid. Ich steh auf greisliche Arschköpfe.«

Die Antwort war Schweigen. Und eine heruntergeklappte Kinnlade, sowie Tischtennisball-Augen. Glücklich, dass heute immerhin etwas geklappt hatte, zog Wastl die Tür auf und trat ins Freie.

 

***

 

»Na, Blondchen? Wie lief die Besichtigung?« Vronis Atem schlug ihm ins Gesicht. Bierbraten-Atem. Die ganze Finanzbuchhaltung war heute im Löwenbräukeller eingekehrt. Nur Wastl war mal wieder auf Wohnungsjagd gegangen.

Wastl brummte etwas Unverständliches. Er versuchte, professionell und schwer beschäftigt auszusehen. Aber das beeindruckte Vroni nicht. Ihre mehrfach beringte Hand blieb auf seiner Stuhllehne liegen. Sie drehte sich sogar um und brüllte durchs halbe Büro.

»Jutta, hast du nicht was für das Blondchen? Das Kerlchen hat immer noch keine Wohnung!«

»Ach wo! Das tut mir ja leid.« Juttas Augen, treu und schön wie die einer Kuh, sahen Wastl an. Er räusperte sich.

»Kein Problem«, behauptete er. »I … Ich find schon was.«

»Der arme Kleine.« Jetzt wagte Vroni es auch noch, ihm die Haare zu tätscheln. »Sag mal, Adelheid, war über euch nicht ein Zimmer frei?«

War es das? Wastl drehte sich um, aber Adelheid schüttelte den Kopf. »Da ist schon wer eingezogen. Die Wohnung war so schnell weg, das glaubt mir keiner. Drei Stunden hat's gedauert, meint die Sluzalek von nebenan.«

»Ach so.« Wastl unterdrückte ein Seufzen und zuckte männlich mit den Achseln. »Na dann …«

Innerlich weinte er. Aber das konnte er sich nicht anmerken lassen. Die restlichen Finanzbuchhalter, oder eher Finanzbuchhalterinnen, behandelten ihn sowieso schon wie einen kleinen Bruder. Einen leicht verblödeten kleinen Bruder. Er war der einzige Mann in der Abteilung, und mit seinen dreiundzwanzig Jahren maximal halb so alt wie die anderen. Ernst genommen zu werden war ein Ding der Unmöglichkeit.

»Ach, Blondchen.« Noch ein Haarwuscheln, dann ging Vroni endlich weiter. »Nicht traurig sein. Das wird schon irgendwann.«

»Kein Problem«, wiederholte er. »Ich hab ja noch ein paar Wochen.« Genau in diesem Moment stieß sein Fuß gegen den Rucksack unter seinem Schreibtisch. Heute Morgen war er extra als Erster gekommen, damit niemand das Ding sah. Damit niemand ahnte, dass er ab sofort obdachlos war. Klar, er hätte Jutta oder Vroni (oder Adelheid oder Rita oder Gitte oder Susanne) fragen können, ob er ein, zwei Wochen auf ihrem Sofa pennen konnte. Aber dann wäre er nie aus der Verblödeter-Kleiner-Bruder-Nummer rausgekommen. Daran hätten sie ihn noch erinnert, wenn er in 40 Jahren die Firma verlassen hätte, mit Buckel, Arthritis und goldener Uhr. Obwohl, dann wäre Vroni ja schon fast hundert … Nicht, dass sie sich davon abhalten lassen würde, vorbeizukommen, ihm über die Glatze zu rubbeln und ihn Blondchen zu nennen.

Wastl sah ihrem hennaroten Schopf und ihrem weinroten Strickpulli nach und seufzte.

Arbeite, Junge, dachte er. Heulen kannst du nachher. Wenn du unter dem Schreibtisch pennst.

Obwohl, der Teppich im Meetingraum wirkte so schön weich. Das war bestimmt die bessere Wahl.

Den ganzen Nachmittag über hoffte er auf ein Wunder. Eine Mail. Einen Anruf von einer der 36 Hausverwaltungen, deren Antwort noch ausstand. Es kamen drei Absagen. Bei jeder Mail hielt er den Atem an, nur um einen Mund voll Enttäuschung zu kassieren. Egal. Das würde werden. Irgendwie.

Der Siebermann-Verlag, sein neuer Arbeitgeber, war von mittlerer Größe. Zwei Stockwerke des altehrwürdigen Barockgebäudes nahm er ein. So altehrwürdig, dass es immer ein wenig nach Staub und altem Bohnerwachs roch.

Überstunden waren die Ausnahme und so leerte sich das Büro schon gegen fünf. Immer mehr Deckenlampen gingen aus. Wastl konnte durch die Glaswand ihres Büros sehen, wie es allmählich dunkel wurde. Vor den Fenstern war längst alles Licht verschwunden. Nur die Weihnachtsdeko des Büros gegenüber blinkte und glitzerte aggressiv. Es war viel zu früh für die rot-grüne Pracht. Sie hatten doch erst November. Ein dickbackiger Weihnachtsmann grinste ihm zu und erinnerte ihn daran, dass dies das erste Weihnachten ohne Mama sein würde. Er schluckte.

Nein. Verzweifeln ist für Feiglinge, das hatte seine Mutter ihm eingebläut. Er würde sich nicht davon verrückt machen lassen, dass er Weihnachten ganz alleine unter einer Brücke verbringen würde … Er schüttelte sich.

»Alles wird gut«, flüsterte er, obwohl er längst der Letzte in der Abteilung war. »Du packst das. Der Kullberger Wastl lässt sich nicht unterkriegen. Merkt euch das, ihr Großstädter.«

 

***

 

Der Teppichboden im Meetingraum roch nach Zitronen-Lufterfrischer und Gummisohlen. Wastl streckte sich darauf aus. Die Tasse Früchtetee aus der Küche stellte er auf seinem Bauch ab. Sie wärmte fast so gut wie eine Bettdecke. Zumindest, wenn man sich das ganz fest einbildete. Und die verstaubten Kekse, die in einer Schale auf dem Tisch standen, waren beinahe ein vollwertiges Abendessen, also, auf jeden Fall waren sie gratis und er war pleite.

Gute Nacht, dachte er. Morgen wird alles besser.

Der Duft des Früchtetees vermischte sich mit dem Bürogeruch nach Plastikvorhängen und verbrauchter Luft. Das Summen aus dem Serverraum nebenan klang wie rauschender Wind. Fast war es ein wenig heimelig. Fast. Wehmütig trank Wastl den Tee und machte die letzte Deckenlampe aus. Obwohl er todmüde war, schlief er lange nicht ein.

 

***

 

Das Licht flackerte und stach in seine Pupillen wie Glassplitter. Wastl fuhr hoch.

»Wos …« , begann er, dann sah er die Frau in der Tür. Ihre braunen Augen starrten ihn an. Sie war mager, trug ein schillernd grünes Kopftuch und wirkte einen Moment lang genau so erschrocken wie er. Dann verdüsterte sich ihr eichenholzfarbenes Gesicht.

»Wos machst du denn do?«, herrschte sie ihn an. »Du kannst doch do ned penna, du Oarschwichtl!«

Wastl starrte sie an. »Entschuidigung, i dochte …« Dann erinnerte er sich daran, dass die Vroni ihn ermahnt hatte, hochdeutsch zu sprechen, solange er in der Firma war. Ach ja, und er erinnerte sich daran, dass sie irgendwas von der nächtlichen Putztruppe erwähnt hatte, und dass die nie richtig saubermachten. Daran hätte er wirklich denken können.

»Entschuldigung«, begann er erneut. »Ich dachte, es wäre nachts keiner da. Sehen Sie, ich habe meine Wohnung verloren und ich wusst nicht, wo ich schlafen soll, da dachte ich, es merkt keiner, wenn ich ein, zwei Nächte hier …«

»Arbeidest du hier?« Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust.

»Ja«, sagte er wahrheitsgemäß und hoffte, dass das morgen auch noch stimmen würde. »Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Es ist nur … Ich weiß nicht, wohin.«

Sie schwieg. In der Gesprächspause konnte Wastl neue Geräusche ausmachen. Eine Maschine brummte. Ein Staubsauger? Hinter der Frau musste noch jemand damit beschäftigt sein, die Räume sauberzumachen.

»Armer Kleiner. Aber hier kannst nicht bleiben, die Chefin kommt gleich.« Sie schüttelte den Kopf. Wastl wollte gerade klarstellen, dass er nicht klein und … na gut, arm war er, doch er hatte langsam genug davon, dass jede mittelalte Frau ihn wie einen Adoptivwelpen behandelte. Da sprach sie die magischen Worte aus: »I weiß, wo du hinkannst.«

»Was, haben Sie eine Wohnung, die leer ist? Oder wissen sie von …«

»Nah, heute Nacht. I putz gleich oben, da steht ein Sofa. Wenn du magst, kannst darauf pennen.«

»Oh, danke.« Er lächelte. Wie nett von ihr.

 

***

 

Wie sich herausstellte, war »Wohnung« das falsche Wort für den dekadenten Palast, der ihn oben erwartete. Das Luxusappartement war so groß wie das halbe Büro. Genau so groß wie das halbe Büro. Die Grundrisse entsprachen sich, und er konnte die Ecke sehen, in der zwei Stockwerke tiefer sein Schreibtisch stand. Hier war sie leer. Hellgoldenes Holzparkett erstreckte sich über eine Fläche, auf der nur verstreute Designermöbel standen. Sowas hatte er höchstens mal in Mamas Zeitschriften gesehen. Ganz weit hinten in der gebohnerten Wüste erspähte er eine nagelneue Küche. Er sah eine Theke, um die herum Barhocker standen, eine freischwebende Abzugshaube und polierte Stahlpfannen an der schwarz gekachelten Wand. Poliert wurden sie von Amira, wie sie sich vorstellte.

»Da kannst pennen.« Sie deutete auf ein reinweißes Sofa, das Wastl eine Heidenangst einjagte.

»Was, wenn ich das dreckig mache?«, flüsterte er. Diese Räume waren ihm nicht ganz geheuer. Selbst im Licht der vermutlich teuren Lampe (sie bestand aus Hunderten winziger Glaskugeln) strahlten sie etwas Düsteres aus. Kein Wunder, die Wände waren dunkelgrau. Wastl fragte sich, wohin die Türen links von ihm führten.

»Wenns das Sofa dreckig machst, erschlog ich dich mit dem Wischmopp«, knurrte Amira. »Und jetzt leg dich ab. Siehst schon ganz fertig aus, Kleiner.«

»Ich kann dir beim Putzen helfen.«

Sie schnaubte. »Im Weg stehen kannst du.«

Auf dem Weg hoch hatte sie erzählt, dass sie bis vor kurzem in einer Flüchtlingsunterkunft nahe der bayerischen Alpen untergebracht gewesen war. Von den Einheimischen hatte sie sowohl bayerische Mundart als auch Höflichkeit gelernt.

»Wer wohnt denn hier?«, fragte er und sah aus den bodenlangen Fenstern. Beziehungsweise: Sah sich selbst in der Spiegelung, vor nachtschwarzem Himmel. Er war eindeutig das billigste Objekt in der Wohnung. Die Hausdächer auf der anderen Straßenseite rümpften die Nase.

»Keine Ahnung. Interessiert mich nicht«, behauptete das Integrationswunder. »I krieg den nie zu Gesicht. I putze nur hier, nicht im Schlafzimmer, und das ist immer abgeschlossen.«

Wastl schauderte. Jetzt gruselte ihn die kahle Wohnwüste noch mehr. »Vergiss nicht, mich zu wecken, wenn du gehst, ja?«

»Hältst mich für bled?« Ihre Knöchel klopften auf seine Stirn. »Und jetzt leg dich ab, I hob zu tun.«

Er streckte sich auf dem Sofa aus und versuchte, es bequem zu finden. Das Teil war dynamisch-elegant, aber hart wie Pressholz. In der Spiegelung sah er aus wie ein Schmutzfleck auf einer weißen Blüte. Er wandte sich ab, rollte sich zusammen und schloss die Augen.

Hier schaff ich’s nie zu schlafen, dachte er und schlief ein.

 

***

 

Amira saugte die Böden und putzte die Küche, in der kaum etwas je benutzt wurde. Nur der Mixer und der Mülleimer. Der Besitzer lebte anscheinend hauptsächlich von Shakes und bestelltem Essen. Sie fand sieben leere Plastikboxen im Abfallkorb. Die Aufschriften waren immer die gleichen: dreimal Thai King, einmal Gutshaus, einmal Veggie-Hof und zweimal Steakpalast. Dabei waren der Kühlschrank und die Küchenschränke gut gefüllt. Hastig wischte sie über die Arbeitsplatte, die schwarz und undurchsichtig wie ein nächtlicher See war.

Sie beeilte sich stets, hier fertig zu werden. Manchmal glaubte sie, Blicke zu spüren, aber wenn sie sich umwandte, sah sie nur die düsteren Wände und die leeren Fenster. In der Mitte der Wohnung befand sich ein Dachgarten, auf dem sich kahle Äste im Wind wiegten. Sie schüttelte sich. Wie jeden Montag konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Ihre Schwester hatte gekocht und wenn sie nicht pünktlich dort war, würde das Miststück alles versalzen. Wie immer. Sie fragte sich, ob sie nicht langsam zu ihrem Verlobten ziehen sollte. Aber der war so ordentlich. Amira mochte ein wenig Chaos und eh überlegte sie schon seit einer Weile, ob Johannes wirklich der Richtige war … Na, gemütlicher als in dieser seltsamen Bude war es bei ihm allemal.

Sie beeilte sich, mit dem Bad fertig zu werden, machte das Licht aus und schlüpfte aus der Tür.

Erst im Bus nach Hause fragte sie sich, ob sie etwas vergessen hatte.

 

***

 

Etwas bewegte sich in den Schatten. Wastl war wach, von einem Moment auf den anderen. Dunkelheit umfing ihn, aber da war dieses Scharren … ein Scharren, das näher kam. Das nach ihm zu greifen schien …

Diese Amira hat mich doch vergessen, dachte er. Schweiß brach in seinem Nacken aus und er wagte kaum, sich zu bewegen.

Sei kein Feigling, Wastl. Du …

»Wer bist du?«, fragte Satan. Nun, er klang wie Satan persönlich. Als würde er täglich die Höllenscharen mit seiner tiefen Stimme zum Töten antreiben und als hätte das ständige Brüllen sie etwas aufgeraut.

Wastl riskierte es, den Kopf zu heben. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel.

Eine finstere Gestalt ragte über dem Sofa auf. Eine düstere Silhouette, schwarz wie die Seele des Höllenfürsten. Der Kerl hielt etwas in den Händen. Eine Waffe, es musste eine Waffe sein.

»Ich habe gefragt, wer du bist.«

»Tu mir nichts!« Wastl hob die Hände. »I wollt nur … I war nur müd und …« Er fummelte sein Handy aus der Hosentasche. Mit schwitzigen Fingern schaltete er es ein und leuchtete Satan ins Antlitz. Helle, böse Augen. Wirre Haare und eine Habichtsnase und … rotweiße Male, die das halbe Gesicht überzogen. Schnell schaltete Wastl das Handy wieder aus. Aber im Schein hatte er noch etwas erkannt.

Schweigen breitete sich aus. Das Monster, das über ihm aufragte, atmete leise. Schauer rannen über Wastls Rücken. Angstschauer. Und auch ein wenig angenehme. Versuchsweise schaltete er das Handy noch einmal ein.

»Mach das Ding aus!« Satan hob eine Hand vor die Augen, aber Wastl hatte schon gesehen, was er hatte sehen wollen: Der Höllenfürst war unglaublich attraktiv.

»Tschuldigung«, murmelte er. »I … es tut mir leid, ich … Sie sind der Wohnungsbesitzer, ja?«

Schweigen. Mist, Mist. Hoffentlich war er das. Ob er die vielen Zimmer brauchte, um das Fleisch seiner Opfer dort zu lagern, bis es schön zart und faulig war?

Igitt Wastl, was denkst dir für einen Scheiß aus?

»Sie wollen mich nicht töten, oder? Mit dem Ding da?«

Der Höllenfürst ließ seine Waffe sinken. Er kehrte um und schritt zur Wand. Licht flammte auf, aus hunderten kleiner Glaskugeln. Ein Mann stand neben dem Lichtschalter, ein so beeindruckender Mann, dass Wastl die Luft wegblieb. Tiefschwarze, wilde Haare, ein scharfkantiges Gesicht, ein blutroter Morgenmantel, der sich über einem muskelstrotzenden Körper spannte und … ein Fuß aus Metall. Wastl blinzelte. Zwei glänzende Metallstücke, wie die Spitzen zweier Ski, ragten aus dem rechten Bein des schwarzen Pyjamas hervor.

»Gütiger Himmel«, entfuhr es ihm.

Das Monster strich sich die Haare aus dem Gesicht und er sah die Verbrennungen.

3. Ein unfähiger Einbrecher

 

»Schneller, du Pussy. Jetzt beweis mal, was du …«, sagte Max. Wie immer, bevor alles in einem Feuerball verschwand. Brennender Gummigestank biss sich in Adrians Nase fest und sein Körper zerriss.

Keuchend fuhr er hoch. Sein Brustkorb konnte das hämmernde Herz kaum fassen, das versuchte, durch seinen Mund zu entkommen. Den Mund, der immer noch nach schmelzendem Gummi schmeckte. Nach Metall und Blut und verbranntem Fleisch. Er blinzelte.

Hinter den Fenstern war es dunkel. Wie üblich. Er hatte die Vorhänge nicht ganz zugezogen und sein bleiches, zerstörtes Gesicht sah ihm entgegen. Er ließ die Haare davor fallen, um es nicht mehr anschauen zu müssen. Seine Zunge fühlte sich an wie trockene Pappe. Die Last, die er in jeder wachen Minute mit sich trug, senkte sich auf ihn nieder und beugte seinen Kopf.

Es tut mir leid, dachte er. Wie jede Nacht. Am liebsten wäre er wieder eingeschlafen, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Also schwang er das Bein aus dem Bett, legte die Prothese an und humpelte zur Schlafzimmertür. Er lauschte. Kein Staubsaugerlärm. Gut, dann war die Putzfrau schon weg. Er schloss die Tür auf und griff nach dem Morgenmantel, den er auf dem Weg in die Küche überstreifte.

Seine Hand zitterte immer noch, als er das Glas unter den harten Strahl des Wasserhahns hielt. Eisige Kälte floss seine Kehle hinab. Er trank wie einer, der die Nacht in einer Flammenwüste verbracht hatte. Aus den Augenwinkeln sah er seine abscheuliche Fratze und wünschte sich zum wiederholten Mal, dass diese verdammten Fenster Vorhänge hätten, wie die im Schlafzimmer. Er hätte welche anbringen lassen können. Aber das hätte bedeutet, Fremden Zutritt zur Wohnung zu gewähren. Anderen Menschen. Unerträglich. Er füllte das Glas ein zweites Mal und stellte den Wasserhahn ab. Seine rechte Hand grub sich in die Kante des Waschbeckens. Die Haut darauf spannte. Er atmete tief ein. Und hörte ein Geräusch, das nicht sein durfte.

Ein Schnarchen.

Adrian fuhr herum. Es war aus dem Wohnzimmerbereich gekommen. Da hinten, bei dem Muuto-Sofa. Adrian wartete ab. Da, ein zweites Schnarchen. Nicht laut. Aber es war ein so auffälliger Misston in der ruhigen Wohnung, dass es sich anfühlte wie Fingernägel auf einer Glasscheibe. Jemand lag dort. Jemand, von dem Adrian nicht viel sehen konnte. Einen hellen Schopf konnte er im Dunkel ausmachen, mehr nicht.

Ein Einbrecher?, dachte er. Falls ja, ist das der unfähigste Einbrecher, den ich je erlebt habe. Wer legt sich denn während eines Diebstahles hin und schläft ein?

Egal. Wenn der Kerl glaubte, er könnte einen armen Krüppel bestehlen, dann hatte er sich geschnitten. Dieser Krüppel hier hatte ein Set Golfschläger und die Muskeln, um es zu benutzen. Kurz überlegte Adrian, die Polizei zu rufen, aber das hätte wieder Fremde in der Wohnung bedeutet. Die Putzfrau störte seine Einsamkeit genug. Und mit einem schnarchenden Einbrecher wurde er alleine fertig.

Trotz der Prothese schaffte er es, lautlos ins Büro zu schleichen und das richtige Werkzeug aus dem Golfschläger-Set auszusuchen, das sein Vater ihm zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Lange her. Er vermied es, die Bilder an der Seitenwand anzusehen.

Welcher Schläger ist der passende, um einem Einbrecher den Schädel zu spalten? Das Eisen 4, oder? Natürlich ist es das. Die Hölzer sind definitiv zu leicht.

Mit seiner Waffe in der Hand schlich er zum Sofa. Zu laut. Das Bündel auf der weißen Fläche zuckte und fuhr zusammen.

»Wer bist du?«, fragte Adrian.

Der Kerl richtete sich auf. Blond, soweit er das im Dunkel beurteilen konnte. Ein helles Gesicht, bleich im trüben Mondlicht, das durch die Fenster hereinschien. Hektisches Atmen. Der Mistkerl sagte nichts.

»Ich habe gefragt, wer du bist«, wiederholte Adrian.

»Tu mir nichts!« Der Einbrecher hob die Hände. »I wollt nur … I war nur müd und …«

Ein Einbrecher vom Dorf, so viel war nun klar. Grauenvoller Dialekt. Er hob etwas und Adrian erwartete eine Waffe. Dann blendete der Mistkerl ihn. Weißes Licht raubte ihm die Sehkraft, aber der Eindringling griff ihn nicht an. Stattdessen starrte er. Klar. Es gab ja auch einiges anzustarren, in der ruinierten Landschaft von Adrians Gesicht.

Es wurde wieder dunkel, bis auf die hellen Lichtblitze, die hinter Adrians Augenlidern flirrten. Der Idiot schaltete das Handy erneut an.

»Mach das Ding aus!«, befahl Adrian.

»Tschuldigung«, murmelte der Trottel. Er klang jung. Anfang zwanzig, höchstens. »I … es tut mir leid, ich … Sie sind der Wohnungsbesitzer, ja?«

Adrian würdigte diese blöde Frage nicht mit einer Antwort. Wer sollte er denn sonst sein?

»Sie wollen mich nicht töten, oder?«, wimmerte der Trottel. »Mit dem Ding da?«

Adrian ließ den Schläger sinken. Von dem Volldeppen ging eindeutig keine Gefahr aus. Stattdessen marschierte er zum Lichtschalter und drückte ihn. Helligkeit flammte auf und überzog den Raum mit Farben. Es schien auf Adrians kaputten Körper und auf den dämlichen Einbrecher.

Ach du Scheiße.

Der sah aus, als wäre er aus der nächstbesten Scheune gefallen. Ein wunderhübsches Gesicht, Sommersprossen, verstrubbelte Haare, breite Schultern und Klamotten, die auf die Müllkippe gehörten. Alles an ihm schrie »Landei«. Einer wie der passte auf das Cover eines Kalenders mit sexy Stallburschen, aber nicht in Adrians Wohnung.

Mr. Stallbursche starrte ihn an. Der gehetzte Blick flitzte über Adrians ganzen Körper. Die kaputte Gesichtshälfte, die Verbrennungen, die aus Ärmel und Halsausschnitt des Pyjamas schauten und tiefer. Bis zu der Stelle, wo ein Unterschenkel hätte sein sollen und wo ein seidenes Hosenbein um die Metallstange herum Falten schlug.

»Gütiger Himmel!«, rief der Stallbursche.

Ja, starr nur, dachte Adrian. Er war selbst verwundert, wie viel Bitterkeit in ihm hochkochte. Um dem Kerl den ganzen Schrecken seines Anblicks zu gönnen, strich er sich die Haare aus der Stirn. Der Blonde schaute, als würde er in die Tiefen der Hölle blicken.

Ja, dachte Adrian. Und jetzt lauf. Wahrscheinlich hätte ich den Golfschläger gar nicht gebraucht …

»Tschuldigung, ich hab mich nur gewundert … Ist das ein Vierer Eisen?«, fragte der Stallbursche. »I … Ich verwechsel das immer mit dem Fünfer. Ich …« Er räusperte sich. »Ich hab in den Ferien mal auf dem Golfplatz gearbeitet, da wär ich fast rausgeflogen, weil ich mir das Zeug nicht merken konnte. Dann haben sie mich an die Bar versetzt. Äh.«

Was? Adrian blinzelte. War der Kerl blind? Warum fragte er nach dem verdammten Golfschläger?

»Ja«, knurrte er. »Und jetzt will ich wissen, wer du bist. Oder das ist das Eisen 4, das deinen blonden Schädel weichklopft.«

»Oh, äh.« Ein Blinzeln. Der Kerl sah wirklich sehr gut aus. Diese Art beiläufige Schönheit von Menschen, die mit einem Übermaß davon gesegnet waren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es war nicht der sündige Schwung seiner Lippen, die katzenhafte Neigung der Augen oder das kantige Kinn. Es war die Art, wie alles zusammenspielte. »Also. I bin der Wastl.«

Landei.

»Mein Name ist Sebastian«, korrigierte Adrian.

»Ach, du heißt auch Sebastian?« Der Trottel lachte nervös. »Na, ist ja auch ein häufiger Name …«

»Nein, du Genie«, knurrte Adrian. »Ich habe deinen grauenvollen Dialekt verbessert, Sebastian.«

»Nenn mich doch Wastl.«

»Niemals.« Adrian hob den Golfschläger. »Wie bist du hier hereingekommen, Sebastian?«

Schweigen. Die sündigen Lippen wurden zu einem etwas weniger sündigen weißen Strich.

»Hat die Putzfrau dich hereingelassen?«, fragte Adrian.

»Nein! Nein, bestimmt nicht!« Zu blöd zum Lügen war er auch. Adrian hatte seit zwei Jahren keinen nennenswerten Kontakt mit anderen Leuten, und selbst er erkannte, dass der Kerl log.

»Die Putzfrau also. Die ist gefeuert.« Adrian machte eine mentale Notiz, sie morgen früh kündigen zu lassen. »Und jetzt erklär mir, was du hier tust, oder ich verliere die Geduld.«

»Aber …« Sebastian, der unfähige Einbrecher schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte. »Bitte, sie wollte mir nur helfen. Ich hab unten im Büro geschlafen, weil ich keine Wohnung hab, ich meine, ich suche, aber …« Er zuckte so hilflos mit den Schultern, dass Adrian beinahe Mitleid bekommen hätte. »Ich wusste doch nicht, wohin, und sie hat gesagt, ich könnte hier schlafen, während sie putzt. Sie hat das wirklich nur lieb gemeint. Sie … Sie hat das aus reiner Nächstenliebe …«

»Und warum bist du noch hier und sie ist weg?«, unterbrach Adrian das Gestammel.

»Sieht aus, als hätte sie mich vergessen.« Ein schwaches Lächeln. Jetzt sah er endgültig aus wie ein Cover-Stallbursche.

»Fantastisch«, sagte Adrian. »Nun, immerhin ist das geklärt. Und jetzt hau ab.« Er zögerte. »Warte. Du hast im Büro geschlafen? Bei Hauser Immo oder im Siebermann-Verlag?«

»Siebermann. Bitte …«

»Nein.«

»Aber sie wollte doch nur helfen. Echt. Wieso verstehst du das nicht?« Jetzt wurde der Bauerntrottel auch noch bockig.

»Weil es mich nicht interessiert. Und jetzt verschwinde. Die Tür ist da hinten.«

»Aber sie hat es nur gut gemeint. Bitte, sie hat den Job doch erst seit ein paar Wochen, hat sie gesagt, und ich glaube, sie braucht ihn wirklich.«

»Wenn sie ihn wirklich brauchen würde, würde sie keine Fremden in diese Wohnung schleusen.«

»Das ist eine ziemlich große Wohnung für einen allein«, sagte Sebastian. Er kniete immer noch auf dem Sofa, aber etwas an seiner Haltung hatte sich verändert.

»Das kommt einem Landei wie dir vielleicht so vor.«

»Wie viele Zimmer hat sie denn?«

Adrian wusste nicht, warum er dem Kerl überhaupt antwortete. Er hatte seit Tagen nicht mehr mit einem anderen Menschen gesprochen, vermutlich lag es daran. »Vier Schlafzimmer, drei Bäder, Küche, Sauna, Büro, Bibliothek, Dachterrasse und der Wohnbereich, in dem du dich gerade unbefugt aufhältst.«

»So viele Zimmer?!« Der Stallbursche sprang auf. »Und die hast du alle für dich allein?«

Was hatte der denn? Fast schien es, als würde ihn dieser Umstand wütend machen. »Ja, habe ich. Wenn es dich beruhigt, ich habe dafür bezahlt. Nun, besser gesagt hat mein Großvater einen Teil …«

»Weißt du, wie lange ich schon nach einer Wohnung suche?!«, brüllte Sebastian. »Jedes mickrige Rattenloch in München kostet tausend Euro! Kalt! Und du … Du hockst hier auf vier Schlafzimmern, von denen du nur eins benutzt?«

»Ja. Warum stört dich das?«

»Weil ich über hundert Bewerbungen geschrieben habe und jedes Mal abgelehnt wurde!« Sebastians Stimme prallte von den Fensterscheiben ab. »Weil ich von Besichtigung zu Besichtigung dackle, jede Pause, jeden Abend und jedes Wochenende und es nichts gibt? Weil ich immer mit einer Wagenladung von anderen Bewerbern da steh wie ein Bittsteller und mir vorkomme wie ein Vollidiot?«

»Das ist doch nicht meine Schuld.«

»Nein, aber … das ist verdammt noch mal nicht richtig.« Sebastians Geste umfasste die Fensterfront, die anthrazitfarbenen Wände und die blitzblanke, offene Küche. »Die Wohnung ist viel zu groß für einen allein. Das ist einfach unfair.«

So eine Heulsuse.

»Ich fühle mich entsetzlich schuldig«, sagte Adrian. »Dann hast du halt kein Zuhause und ich habe eins. Was willst du tun, meine Wohnung besetzen?«

Er ahnte nicht, wie oft er diesen Satz in den nächsten Tagen noch bereuen würde.

4. Hausbesetzung für Anfänger

 

»Was willst du tun, meine Wohnung besetzen?«

Wastl stockte. Sein Atem stand still und seine Ohren dröhnten. Natürlich, das war es!

»Ja«, sagte er und verschränkte die Arme. »Ja, das will ich. Ich mein, das tue ich. Deine Wohnung ist hiermit besetzt. Von mir.«

Satan schaute ihn an, als wäre er eine fünfjährige Rotznase, die behauptete, ein Superheld zu sein. »Du hast doch keine Ahnung, wie man eine Wohnung besetzt.«

»Natürlich habe ich das.« Nur nicht unterkriegen lassen. »Daheim in Würzen war ich der größte Wohnungsbesetzer im ganzen Ort.«

»Einen Scheiß warst du.« Satan hob eine Augenbraue, in der ein Stück fehlte. Seine rechte Gesichtshälfte war ein Flickwerk aus normalen Hautstücken und viel zu glatten Stellen, die so spannten, dass sie Falten schlugen. Das Ohr fehlte zur Hälfte, als wäre es runtergeschmolzen. Wastl hätte sich wirklich gefragt, was geschehen war, wenn er nicht so wütend gewesen wäre.

»Ich bin ein Wohnungsbesetzer«, behauptete er. »Ein sehr gefährlicher Wohnungsbesetzer. Also leg dich bloß nicht mit mir an.«

»Das reicht. Ich rufe die Polizei.«

Wastl wusste auch nicht, was ihn ritt. Vielleicht war es eine Ahnung, vielleicht war es nur Zorn. »Ja, dann ruf die doch. Dann … dann komm ich halt ins Gefängnis und dann … hab ich immerhin ein Dach über dem Kopf.« Oh nein. Der böse Kloß in seinem Hals war wieder da und schwoll in Rekordzeit an. Mist, Mist, Mist. »Das ist mir gerade recht«, sagte er, bevor seine Stimme brach. »Genau das war mein Plan.«

Panisch hörte er die aufsteigenden Tränen in seinen Worten. Sie ließen seine Sicht schon trüb werden. Das genervte Gesicht des Teufels verschwamm.

»Wenn du denkst, dass Heulen dich weiterbringt, dann hast du dich geschnitten«, vernahm Wastl.

Schnell drehte er sich um und stolperte fast über das Sofa.

»Ruf endlich die … die Polizei.« Er schniefte. Scheiße, verdammt! Kein Wunder, dass niemand ihn ernst nahm. Einen erwachsenen Mann, der heulte wie ein Kleinkind, sobald was schief lief. »Na los. Ich warte. Versau mir mein Leben und … und meinen Job werd ich auch verlieren, wenn ich im Gefängnis bin … und Mama würde … würde …«

Er hörte ein langsames Einatmen. Sehr langsam, als würde Satan überlegen, ihm den Golfschläger doch noch über den Schädel zu ziehen.

Wastls Wangen wurden nass und heiß. Er blinzelte, japste und wischte sich über die Augen. Sofort füllten sie sich wieder. Es war einfach so ungerecht! Er hatte doch nur versucht, eine Nacht lang nicht auf der Straße zu stehen.

»Jetzt hau schon ab.« Satan klang müde. »Ich will schlafen.«

»Ich auch«, schniefte Wastl. »Und nicht unter einer Brücke, verdammt. Ich … ich penn hier oder in einer Zelle. Nirgendwo sonst.« Er verschränkte die Arme.

»Hör auf, den Harten zu spielen«, sagte der Höllenfürst. »Das kommt wenig überzeugend, wenn du dabei heulst. Falls es dir nicht aufgefallen ist: Ich kann dich im Fenster sehen.«

Oh.

»Mir egal«, behauptete Wastl. »Ich steh dazu, dass ich Gefühle habe.«

»Dass du eine Heulsuse bist, meinst du.« Ein Seufzen. »Morgen früh haust du ab, klar?«

»W-was?« Er drehte sich um. Satan schaute, als hätte er ihm in die Suppe gerotzt. »Ich kann bleiben?«

»Bis morgen früh. Dann bist du auf dich allein gestellt. Glaub mir, ich werde den Schlüssel dreimal im Schloss umdrehen, sobald du abgehauen bist.«

»Oh.« Wie unerwartet, dass mal etwas funktionierte. »Vielen Dank.«

»Wenn ich morgen aufwache, bist du verschwunden.« Ein düsterer Blick zwischen dunklen Haarsträhnen. Wastl musste sich Mühe geben, zu nicken, so abgelenkt war er. Solche Männer gab’s doch nicht wirklich, oder? Nur in Schauerromanen und alten Filmen.

»Ja. Danke.« Er schluckte. Wohin er morgen Abend gehen würde, wusste er nicht, aber es war ein Aufschub von fast 24 Stunden. Besser als nichts. Sehr viel besser als nichts.

»Und du schläfst auf dem Sofa. Denk nicht mal daran, dich in eins der Schlafzimmer zu legen.«

Eins der Schlafzimmer. Dieser Großkotz. Wie konnte man allein in so einer Bude hocken? Die war für eine Großfamilie gedacht, mindestens. Und das in München, bei den Mietpreisen … Wastl wischte sich noch einmal über die Augen.

»Wage es nicht, etwas zu klauen«, sagte Satan.

»Etwas klauen? Ich?!« Wastl hätte nicht schockierter sein können, wenn der Kerl ihm vorgeworfen hätte, ein Serienmörder zu sein. »Ich hab noch nie etwas geklaut. In meinem Leben!«

»Du Langweiler.« Satan drehte sich um und ging. Den Golfschläger hatte er sich locker über die Schulter gelegt und sein Hinken war so leicht, dass es nur auffiel, wenn man ganz genau darauf achtete. Als er bei der Küche um die Ecke bog, merkte Wastl, dass er den Atem angehalten hatte.

So ein Arsch, dachte er.

Aber ein wenig Herz hatte der Höllenfürst wohl doch, sonst würde Wastl draußen in der Kälte stehen. Nachdenklich legte er sich zurück. Es war kühl geworden, deshalb breitete er seine dick gefütterte Jacke über sich aus. Wenn er die Nase tief darin vergrub, roch sie fast noch ein wenig nach Zuhause. Wie der Flur, in den er nach der Schule heimgekommen war. Nach alten Äpfeln und älteren Dielen. Nach den Lavendelsträußen, die Mama aufgehängt hatte. Und nach Desinfektionsmittel und Krankheit. So wie am Ende.

Er seufzte leise.

Was nun? Erstmal schlafen. Und dann? Wäre es nicht möglich, Satan zu überreden, ihn noch ein paar Tage hier übernachten zu lassen? Er hatte doch genug Platz. Wastl beschloss, es zu versuchen. Gleich morgen würde er dem Kerl zeigen, dass er der beste aller Mitbewohner war!

5. Barbecue-Frühstück

 

Adrian erwachte von einem nervenzerfetzenden Piepsen. Nein, Piepsen war zu harmlos ausgedrückt. Er glaubte, zwischen zwei Sirenen zu liegen.

Der Feueralarm.

Er fuhr hoch. Die Morgendämmerung drang durch die Vorhänge. Adrian fühlte sich verkatert und mürbe, als hätte er stundenlang wachgelegen. Hatte er auch, nachdem er wie üblich mitten in der Nacht aufgewacht war …

Da war dieses fürchterliche Landei gewesen.

Er schnallte die Prothese um und stürmte in die Küche. »Was machst du noch hier?«, brüllte er.

Das Landei gab einen panischen Schrei von sich und ließ den qualmenden Topf fallen, den er zwischen zwei Topflappen hielt. Dicker, schwarzer Rauch hing unter der Decke. Es knackte. Der Topf hatte eine der dunkelgrauen Bodenfliesen gespalten. Die Risse sahen aus wie ein Spinnennetz.

»I, also ich mache Frühstück.« Das Landei lächelte verzweifelt.

»Was?« Adrian hustete. Verdammt, dieser Rauch war ja unerträglich. Er zerrte die Fenster auf und Winterluft klatschte ihm entgegen. Straßenlärm, Hupen und Gesprächsfetzen wehten herein. Das durchdringende Piepsen verstummte endlich.

»Tut mir leid.« Das Landei hieß Sebastian, erinnerte Adrian sich. Sebastian aus dem Siebermann-Verlag. »Ich war grad mit dem Rührei beschäftigt, da hab ich die Weißwürste aus Versehen ohne Wasser aufbrühen wollen.«

»Ohne Wasser? Hast du überhaupt schon mal Frühstück gemacht?«

»Na klar, aber kein so aufwendiges.« Ein treudoofer Blick aus braunen Katzenaugen. »Ich wollte mich doch bedanken, dass ich hier schlafen durfte.«

»Durfte.« Adrian atmete tief ein. »Du kleiner Scheißer hast mich erpresst.«

»Gar nicht. Also, es war zumindest nicht so gemeint.«

»Na, wenn es nicht so gemeint war … Überfährst du auch manchmal Welpen und meinst es nicht so?«

»Ich hab kein Auto.« Sebastian räusperte sich. Und noch einmal. Der Rauch wollte nicht abziehen. Dieser Gestank würde noch tagelang in der Wohnung hängen. »Ich wollt mich wirklich bedanken. Tut mir leid, dass ich den Alarm ausgelöst habe.«

»Und die Fliese, tut dir die auch leid?« Adrian deutete auf den Riss.

»Klar tut mir das leid. Ich bezahl sie dir, sobald ich wieder Geld hab. Ehrlich.«

»Oh, gut. Soweit ich mich erinnere, kosten die 129 Euro pro Stück.«

»Was?!« Die Katzenaugen wurden zu Glubschaugen. »Nicht dein Ernst.«

»Das ist mein voller Ernst.« Adrian sah sich in dem um, was von seiner ordentlichen Küche übriggeblieben war. Topfdeckel schepperten und dampften auf der verklebten Herdplatte. Irgendetwas im Ofen machte sanfte Puff-Geräusche, die Spüle lief über und alles klebte. »Die Überschwemmung zahlst du auch, oder?«

»Die Überschwemmung … Sakra!« Sebastian stürzte vor, um den Wasserhahn zuzudrehen. »Warum ist denn das nicht abgelaufen … ah, da haben die Eierschalen den Abfluss verstopft. Sowas aber auch.« Er beugte sich hinunter und wischte mit einem 97-Euro-Küchentuch den Boden. Sein billiges Hemd war aus der Hose gerutscht und gab ein Stück Wirbelsäule frei. Ein kräftiger Rücken, als hätte er sein Leben lang Heuballen geschaufelt oder was immer diese Stallburschen taten. Adrian zwang sich, wegzusehen.

»Dachtest du, ein gigantisches Frühstück aus meinen eigenen Zutaten überzeugt mich, dass ich dich plötzlich hier aufnehme?«

Ein verschämtes Murmeln. »Ja, sowas hab ich gedacht, wenn ich ehrlich bin. Hat nicht funktioniert, oder?«

Es war fast ein wenig süß. Nur war Adrian keiner, der irgendetwas süß fand und beeinflussen ließ er sich davon erst recht nicht. »Nein. Komm vorbei, wenn du mein Geld hast.«

»Ja.« Sebastian stand auf. Schlapp ließ er das Wasser aus dem Waschbecken und wrang das Küchentuch aus. »Sollen wir … Magst du wenigstens was essen? Damit ich mir die Mühe nicht umsonst gemacht habe?«

War das ein Trick? So wie dieses Geheule gestern? Inzwischen war Adrian sicher, dass das ein mieser Bluff gewesen war. Welcher erwachsene Mann heulte denn einem Fremden etwas vor?

»Meinetwegen. Aber dann gehst du.«

»Ja.« Ein Nicken, das die verstrubbelten Haare wippen ließ. »Ja, mach ich.« Und dann strahlte der Blödmann und die Sonne ging auf. Was für ein unerträglicher Schönling! »Ich hoffe, es schmeckt dir. Wie heißt du gleich?«

»Adrian.« Etwas nagte an ihm. Etwas, das er nicht ganz fassen konnte, wollte seine Aufmerksamkeit. Aber er hatte genug damit zu tun, Essbares in den verkohlten Lebensmittelbergen zu finden, die Sebastian auftischte. Das, was er fand, schmeckte nicht übel.

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Jeder auf einem Barhocker, einen Seines de la Seine-Teller vor sich und Berge aus glibberigem Rührei, verkohltem Toast und zusammengefallenen Brötchen zwischen sich.

»Es schmeckt annehmbar«, sagte Adrian und bestrich eine weitere warme Semmel mit Butter. Daher waren also die Geräusche aus dem Ofen gekommen.

»Echt? Danke.« Sebastian sah ihn verwundert an. An seinem unrasierten Kinn klebten mehrere Krümel. »Ich bin nicht sehr gut darin, das alles gleichzeitig zuzubereiten, aber man kann es essen, oder?«

»Ja, erstaunlicherweise.« Adrian wusste selbst nicht, warum ihm diese laienhafte Mahlzeit so gut mundete. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit etwas zu schmecken. Er schmeckte Eierschalen und Brandlöcher. Aber das war besser als der Pappgeschmack, der sich sonst nach ein paar Bissen einstellte. »Es sieht schlimmer aus, als es schmeckt.«

»Soll das ein Kompliment sein?« Sebastian schaute fragend.

»Nein.«

»Für so einen feinen Pinkel bist du ganz schön unhöflich.«

Adrian lachte. »Dafür, dass du hier eingedrungen bist und meine Küche verwüstet hast, nimmst du dir ziemlich viel raus.«

»Ach, wenn du mich eh nicht hier wohnen lässt …« Sebastian zuckte mit den Achseln. Ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dieses Lächeln musste Mädchenherzen schmelzen wie ein Flammenwerfer.

Adrian spürte seine Wange. Hatte er gerade gelacht? Die Haut spannte unangenehm. Dann durchzuckte ihn ein Gedanke: Er beachtet es nicht. Das war es, was ihn irritiert hatte. Der kleine Mistkerl reagierte überhaupt nicht auf seine Entstellungen. Weder starrte er auf den Metallfuß, der aus der Pyjamahose schaute, noch blieb sein Blick an den Brandwunden hängen. Versuchsweise hob Adrian das Brötchen zum Mund. Mit der rechten Hand, die zur Hälfte mit verbranntem Stückwerk überzogen war statt mit richtiger Haut. Sebastians Blick flackerte nicht, obwohl er es bemerkt haben musste. Er sah Adrian in die Augen, als wäre nichts.

»Wohnst du schon lange hier?«, fragte er, als wäre das ein Frühstück mit neuen Bekannten. »Es sieht alles so neu aus.«

»Fast zehn Jahre. Ich bin nach dem Studium hier eingezogen.«

»Oh. Und da konntest du dir die Miete leisten?«

»Ich habe die Wohnung gekauft.« Adrian probierte vom Rührei, ohne den Blick von seinem Gast zu wenden.

Du kleiner Scheißer, dachte er. Das spielst du doch nur.

Er wusste, wie sie normalerweise schauten. Er hatte gemerkt, wie krampfhaft es seine alten Freunde vermieden, ihn anzuschauen. Wie die Jungs vom Lieferdienst versucht hatten, ihr Entsetzen zu verbergen, bevor er angewiesen hatte, das Essen einfach vor der Tür abzustellen und zu klingeln. War ausgerechnet dieser lebende Stallburschenkalender so ein guter Schauspieler, dass er sich nichts anmerken ließ?

»Gekauft.« Sebastians Blick wanderte über die Fenster, hinter denen die Stadt langsam zum Leben erwachte. »Das hier? Das muss doch Millionen gekostet haben.«

»Hat es.«

Sebastians Brötchen verharrte auf dem Weg zum Mund. »Echt jetzt? Ich meine, klar, aber … Ich kenn nur keinen, der so viel Geld hat. Also hast du das geerbt, oder …«

Niemand konnte so gut schauspielern. Niemand. Adrian öffnete den obersten Knopf des Pyjamaoberteils, um noch mehr Entstellungen zu zeigen. Da, endlich. Sebastians Blick wackelte. Leichte Röte schoss in die Wangen und ließ ihn noch ländlicher aussehen. Adrian hätte beinahe gelächelt.

»Warm hier«, sagte er und öffnete einen weiteren Knopf.

Endlich zeigte der Mistkerl Ekel. Er räusperte sich und versuchte krampfhaft, nicht auf die besonders schweren Verbrennungen auf der Brust zu schauen. »Äh, ja. Warm.«

Adrian sah seinen Adamsapfel hüpfen. Bittere Befriedigung erfüllte ihn. Ja, er war noch genau so scheußlich wie zuvor. Ein Monster, das in einer übergroßen Wohnung hockte und sich vor der Welt verbarg.

»Hast du Angst vor mir?«, fragte er Sebastian und beugte sich vor. Seine Wange spannte und kribbelte und fühlte sich doch taub an. Sebastians Augen weiteten sich, als diese Abscheulichkeit auf ihn zukam. Gut. Adrian würde ihn vertreiben. Dieses Frühstück war beendet. Gleich würde er wieder herrlich allein sein.

»Uh, Adrian …«

Warmer Atem, ein buttersüßer Hauch aus Sebastians Mund, streifte Adrians Nase. Er lächelte.

Weich zurück. Kapier, dass ich nicht auf einen miesen Schauspieler wie dich reinfalle …

Sebastian beugte sich vor und küsste ihn.

Lippen, weich wie Seide, pressten sich auf Adrians vernarbte. Einen Moment lang. Dann war er es, der zurückwich.

»Was soll das, verdammt?!«, brüllte er.

Sebastian ruderte mit den Armen und fiel von seinem Hocker. Einen Moment später erschien sein Blondschopf wieder hinter der Tischkante.

»Aber …«, sagte er. »Ich dachte, du willst … also …«

»Dich küssen?!« Adrian richtete sich zu seiner vollen Größe und Scheußlichkeit auf. »Warum sollte ich das wollen?«

Das saß. Sebastian wurde blass. Seine Lippen öffneten sich und er schaffte es doch nicht, etwas zu sagen. Ein kleines Krächzen war alles, was er zustande brachte.