Mit einem leisen Zischen schließt sich die Todesschleuse hinter mir. Ich bin meiner Hinrichtung entronnen und frage mich, ob das, was mich nun erwartet, nicht vielleicht sogar noch schlimmer ist als die Verbannung ins All. Minus 270 Grad Weltraumtemperatur hätten mich auf einen Schlag schockgefroren. Die Eiseskälte hingegen, die von meiner Retterin ausstrahlt, kriecht quälend langsam in meine Knochen. Ich spüre, wie sich mein pochendes Herz in einen stechenden Eiszapfen verwandelt.
»Qua de causa?«, will ich wissen.
Aus welchem Grund hat mich Hera – die Gattin des Mannes, der mich zum Tode verurteilt hat – im letzten Moment herausgeholt?
Meine Retterin wendet sich ab und gleitet vor mir her wie ein Geist. Keine Regung bringt ihre weiße Robe zum Wallen, während ihre Füße fest auf einem Lamina-Schwebebrett stehen.
»Wir wissen nicht, in welcher Verfassung Corvin sein wird, wenn er aus dem Koma aufwacht. Es könnte sein, dass wir dich benötigen, um seine Psyche zu stabilisieren. Omnia sanat amor.«
Die Liebe heilt alle Wunden.
Ich bin mir ziemlich sicher, das Zitat lautet im Original: Die Zeit heilt alle Wunden. Allerdings wundert es mich kaum, dass Präsident Lucius auf die Zeit nicht mehr vertrauen will. Nachdem er in der vergangenen Nacht die SPES hat abschießen lassen, manifestiert sich Zeit für uns nur noch als Countdown, der unserem sicheren Ende entgegenzählt. Unsere einzige Hoffnung, das Raumschiff, mit dem wir die Evakuierung unserer auseinanderbrechenden Weltraumstation hätten einleiten können, ist zerstört.
Oder nicht?
Hera lächelt kalt. Sie weiß etwas, das ich nicht weiß. Etwas, das mit Corvin zu tun hat und wofür sie ihn bei klarem Verstand haben möchte.
Das Pochen in meiner Brust setzt wieder ein, heftiger als zuvor. Es erinnert mich daran, dass ich noch lebe und dass der Mann, den ich liebe, seinen Herzschlag derzeit einer lebenserhaltenden Maschine verdankt.
»Darf … darf ich zu ihm?«
Für mich ist das die einzig logische Schlussfolgerung, wenn ich zu Corvins Genesung beitragen soll. Hera aber sieht mich an, als habe ich den dümmsten aller möglichen Sätze von mir gegeben.
»Dixi valetudinem eius nobis ignotam esse. Ich sagte dir doch, wir wissen nicht, in welcher Verfassung er sich befinden wird, wenn er aufwacht.«
Soll heißen: Es kann sein, dass sie mich gar nicht brauchen, weil Corvin auch ohne meine seelische Unterstützung wieder auf die Beine kommt. In diesem Fall werden sie meine Hinrichtung nachholen – ohne dass ich ihn zuvor noch einmal wiedergesehen habe.
Ich grüble noch, ob es sich wohl lohnt, zu fragen, wohin wir unterwegs sind, da zwingt mich ein nahezu unsichtbares Hindernis, abrupt stehen zu bleiben.
Vor mir parkt ein verspiegelter V-Gleiter. Der Einstieg öffnet sich von selbst, als Hera das Gefährt berührt. Augenscheinlich plant die Präsidentengattin, mich höchstpersönlich zu chauffieren.
Wenn unsere Prinzipalin die Anstrengung auf sich nimmt, meinen Fahrer und den Handlanger ihres Mannes zu spielen, unterliegt meine Befreiung der höchsten Geheimhaltungsstufe. Oder Lucius gehen allmählich die verlässlichen Henkersknechte aus. Letzteres vermutlich. So erbarmungslos wie er nicht nur die unfreiwilligen, sondern auch die willfährigen Augenzeugen seiner Untaten beseitigt, dürfte er bald keine Leute mehr haben, die für ihn die Drecksarbeit erledigen.
Ich zwänge mich in den v-förmigen Bug des Gleiters. Die Einstiegsluke verriegelt sich und schließt mich in Heras widerlich dominanten Parfümduft ein. Ein Kratzen steigt in meiner Kehle auf.
»Was … was wollt ihr der Bevölkerung sagen? Wie wollt ihr erklären, warum es keine Hinrichtung gibt?«
»Oh, es wird eine Hinrichtung geben. Ein Spektakel noch dazu. Terror sceleris cunctis poena illustretur!«, zitiert sie einen Grundsatz des amtierenden Staatsrichters Auriga. Das Grauen der Tat möge allen durch die Strafe veranschaulicht werden.
Fast genüsslich schildert sie mir den Showteil des Planes: »Dir – beziehungsweise der Person, die an deiner Stelle ins All verbannt werden wird – wurde ein Raumanzug zugestanden. Die Delinquentin wird den Sternenanzug tragen, den Corvin bei dem Attentat anhatte.«
Das Hinrichtungsopfer wird nicht schockgefrostet werden. Es wird keinen gnädigen, schnellen Tod erleiden. Die Sauerstoff- und Stromversorgung des Sternenanzugs wird nach und nach versagen. Wer auch immer statt meiner exekutiert werden wird, ihn oder sie erwartet ein einsames, sich über Stunden der Todesangst hinziehendes Sterben irgendwo in der Unendlichkeit des Weltraums … grausam und wirkungsvoll. Niemand wird hinter das strahlungsabweisend beschichtete Visier des Helmes blicken und niemand wird infrage stellen, ob es sich bei der hingerichteten Person tatsächlich um Sunrise Garcia handelt. Es genügt, wenn unser Staatsoberhaupt und die Moderatorin der wichtigsten meinungsbildenden Live-Sendung dies zweifelsfrei behaupten.
Hera steuert den verspiegelten Gleiter ins Areal des Vertikaltransporters. Sie hält erst an, als die Bugspitze unseres Gefährts beinahe gegen die geschlossenen Türen des Aufzugs stößt. Sofort erscheint die Zuordnung ›Sonderfahrt‹ im Display.
Hier und da ist ein leises Murren unter den wartenden Fahrgästen zu hören. Doch keiner wagt es, sich offen über die Zurücksetzung zu beschweren. Verspiegelte Gleiter werden nur bei wichtigen Einsätzen der EXSEC oder bei geheimen Unternehmungen der SANITAS gefahren – und kein Mensch ist so dumm, sich den Organen des Staatsschutzes in den Weg zu stellen.
Auf dem großen Projektionsbildschirm im Warteraum läuft SPHAERA AD PUNCTUM. Ich sehe meiner eigenen Hinrichtung zu.
Die Delinquentin hämmert mit beiden Fäusten gegen das Sichtfenster der inneren Schleuse. Schreit sie um Hilfe? Durch den Helm und die hermetisch verschlossene Tür ist nichts zu hören. Orchestrale Klänge füllen die Stille. Der Frau, die gleich sterben wird, ist es nicht gestattet, ein paar letzte Worte zu äußern.
Woher weiß ich, dass es sich um eine Frau handelt? Anhand ihrer Bewegungen? Aufgrund ihrer Figur? Wohl kaum. Der Sternenanzug mit seinen breiten Schultern und der weiten, an die Weltraumstiefel angedockten Hose ist viel zu klobig, um solche Feinheiten zu erkennen.
Das Hinrichtungsopfer versucht vergeblich, das arretierte Spiegelvisier hochzuklappen oder den fest mit dem Anzug verschraubten Helm abzusetzen. Sie ist nicht ich. Wenn sie das beweisen könnte … würde sich auch nichts ändern. Sie wird in jedem Fall sterben. Lucius lässt niemanden am Leben, der gegen ihn aussagen könnte.
Mein Herz hämmert qualvoll. Gleich wird ein unschuldiger Mensch sein Leben verlieren. Meinetwegen. Ein scharfzahniges, nagendes Gefühl von Schuld reißt an meiner Seele.
Die Todesschleuse öffnet sich. Der Sog des Nichts – das Vakuum – zieht die Unbekannte ins All.
Schreie ich?
»Tace! Schweig!«, herrscht Hera mich an.
Vor unserem Gleiter öffnen sich die Türen des Vertikaltransporters. Mit einem kurzen Antriebsschub schweben wir in die Kabine. Ich vergrabe den Kopf in den Armen und konzentriere mich aufs Atmen. Es fühlt sich an, als wäre ein Teil von mir mit der Fremden ins All gerissen worden.
Was, wenn sie keine Fremde war?
Miriam …?
Nein!
Warum sollte Lucius meine Freundin umbringen? Ihr Verschwinden würde bemerkt werden! Es muss jemand sein, der im Oberlevel keine Verwandten und keine Freunde hat, die Nachforschungen anstellen könnten.
Meine ältere Schwester? Meine Mutter?
Von Panik getrieben, will ich nachhaken, doch unterlasse es, um Hera gar nicht erst auf den Gedanken zu bringen. Lucius hat im Moment jede Menge andere Dinge zu regeln. Wenn wir Glück haben, hat er sich noch nicht damit befasst, was nun aus meinen Angehörigen wird: ob er sie lediglich in den Sublevel zurückverbannt oder sie gleich ins All hinauswirft.
Sie könnten alle sterben.
Ich zittere. Angst nistet sich in mir ein wie ein Virus, der mir kalten Schweiß aus allen Poren treibt. Schüttelfrost setzt ein. Mein Denken gefriert zu einem leblosen Weiß – passend zu der Umgebung, in der ich mich wiederfinde, als ich durch die Fenster des Gleiters nach draußen schaue.
Alles steril weiß, stahlgrau oder grün.
Das Grün stammt nicht von einem Stück Natur, nicht mal von den projizierten Pflanzen einer Holo-Dekoration. Es kommt von den klinischen Utensilien eines OP-Raumes.
Hat Hera mich etwa doch in die Klinik gebracht? Bin ich in Corvins Nähe?
Unser V-Gleiter hält mitten im Raum an. Bei einer ehemaligen Todeskandidatin wird wohl nicht besonders viel Wert auf ein keimfreies Umfeld gelegt.
Hera entriegelt die Seitentür des Gleiters. »Exi!«
Auch wenn es nur darum geht auszusteigen, der Befehl hat für mich den Beiklang von Tod. Exitus. Dennoch gehorche ich. Ich ziehe die Beine aus dem vorne spitz zulaufenden Bug, in den sie während der Fahrt eingezwängt waren, und klettere aus dem Fahrzeug.
»Muta vestem!«
Ich soll mich umziehen?
Der Rest der Anweisung folgt in einer herrischen Geste. Ich blicke zu dem kleinen Häufchen Stoff, auf das sie zeigt. Auf dem OP-Tisch liegt ein Patientenkittel.
Was haben sie mit mir vor?
Mein Puls beginnt zu rasen, als würde ich aus voller Kraft rennen. Fliehen! … Wohin? Zu wem? Wer könnte mich verstecken? Sinnlos, darüber nachzudenken. Wahrscheinlich käme ich nicht einmal durch die geschlossene Tür dieses Raumes.
Schweigend tue ich, was Hera verlangt. Ich ziehe meine Kleider aus, streife den Klinikkittel über und lasse meine langen schwarzen Haare komplett unter dem grünen Vlies der OP-Haube verschwinden. Als die Präsidentengattin mir die Anweisung gibt, mich auf den Operationstisch zu legen, tue ich auch das widerstandslos. Heras manikürter Zeigefinger vollführt eine Kreisbewegung, die ich zunächst nicht deuten kann, dann aber dahingehend interpretiere, dass ich mich auf den Bauch drehen soll. Widerstrebend gehorche ich. Mein Kopf verschwindet in einer Aussparung, die genau mein Gesicht aufnimmt.
Magnetfesseln legen sich um meine Handgelenke und um meine Knöchel. Die Präsidentengattin befestigt sie mit einer erschreckenden Souveränität, als fixiere sie jeden Tag irgendwelche Mädchen an einem OP-Tisch.
Das blanke Metall ist eiskalt, ebenso wie Heras Stimme. »Nunc est tacendum! Kein Wort! Kein Laut! Der Medicus erledigt seinen Job und verschwindet dann wieder zu seiner Familie. Insofern er dich nicht erkennt. Sollte er dich erkennen …«
… wird er ebenfalls verschwinden, allerdings wird er danach nie wiederauftauchen.
»Wäre bedauerlich«, fährt sie fort. »Neurochirurgen sind rar.«
Sie weiß, wovon sie spricht. Diesen Fachkräftemangel hat ihr eigener Mann verschuldet, indem er Professor Litores und dessen komplettes Assistenzteam beseitigt hat.
»Equidem meam identitatem non prodam«, versichere ich ihr. Ich werde mich nicht zu erkennen geben. Sie kann sich darauf verlassen. Unter keinen Umständen will ich am Tod eines weiteren Menschen schuld sein.
Die Frau unseres Staatsoberhauptes nimmt grüne Tücher vom Stapel und breitet sie über mich. Sie bedeckt mich fast ganz. Nur am Nacken – zwischen dem Tuch, das über meinem Kopf liegt, und dem Laken, unter dem der Rest meines Körpers verborgen ist – bleiben ein paar Zentimeter frei. Ein steter kühler Luftzug aus der Klimaanlage streicht über den Streifen entblößter Haut in meinem Genick. Schaudernd verkrampfe ich mich.
Tschsch. Die Tür des OP-Raumes öffnet sich im selben Moment, in dem der Gleiter surrend abhebt. Hera lässt mich allein. An ihre Stelle tritt ein Fremder. Ein Mann. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich seine Schuhe. Sie schimmern metallisch. Gewisse Legierungen wirken keimabtötend.
Ein Sprühstrahl trifft mich kalt im Genick. Rinnsale fließen rechts und links meinen Hals entlang und tropfen zu Boden. Die klare Flüssigkeit riecht wie eine Mischung aus hochprozentigem Alkohol und Toilettenreiniger. Weshalb wird mein Nacken desinfiziert? Oder war das etwa eine örtliche Betäubung?
Falls ja, so wirkt sie nicht richtig. Etwas setzt in der Mitte meines Nackens an. Es positioniert sich dort, wo die Wirbelsäule in den Schädel übergeht und sich Rückenmark und Gehirn zum zentralen Nervensystem verbinden. Ich weiß nicht, ob ich eine Gluthitze oder eher so etwas wie Frostbrand spüre, ich weiß nur, dass es wehtut. Und doch ist dieser diffuse Schmerz nichts im Vergleich zu dem ruckartigen Einstich, der folgt. Einstich? Nein. Es handelt sich wohl eher um ein Einstanzen! Was der Arzt mir soeben ins Fleisch gerammt hat, war mit Sicherheit keine Nadel, es muss ein dünnes Rohr gewesen sein.
Schmerz schießt durch alle Nervenstränge in jeden Winkel meines Körpers, breitet sich mit Dutzenden von Tentakeln in meinem Schädel aus. Ich schreie gellend. Nicht einmal ich erkenne meine Stimme wieder. Sie ist verzerrt, als hätte man sie durch einen Vocoder gejagt. Nur einen Augenblick später verliere ich die Besinnung.
***
Ein Luftzug streift die feinen, nach dem chirurgischen Eingriff hyperempfindlichen Härchen in meinem Nacken. Mein Gleichgewichtssinn meldet, dass ich mich noch immer in der Horizontalen befinde. Ich öffne die Lider. Durch die Aussparung im Operationstisch blicke ich auf zwei verschwommene Farbflächen: Grün auf Weiß. Grüne Tücher auf weißem Grund. Die OP-Laken, mit denen ich zugedeckt gewesen war, sind herabgerutscht und liegen nun auf dem Boden.
Das erklärt zumindest, warum ich friere. Ich trage nur das dünne OP-Hemd und die Metallfesseln am Leib. Wenigstens wurde der Magnetmechanismus inzwischen deaktiviert. Ich kann meine Gliedmaßen bewegen … und bereue sofort, es auch nur versucht zu haben. Eine Woge der Übelkeit und des Schmerzes schlägt über mir zusammen. Ich schließe die Lider und atme dagegen an, doch bin letztlich froh, dass ich den Kampf verliere. Mit einem schwindelerregenden Gefühl freien Fallens stürze ich erneut in Bewusstlosigkeit.
Wie viel Zeit verstrichen ist, bis ich das nächste Mal zu mir komme, kann ich nicht abschätzen. Es könnten ein paar Minuten oder ganze Tage vergangen sein. Hm, Minuten sind es wohl eher nicht gewesen.
Ich fühle mich merklich besser. Vorsichtig setze ich mich auf und sehe mich um. Ich bin allein. Kein verspiegelter Gleiter, kein Arzt. Neben mir auf einer Ablage für chirurgische Instrumente liegt ein krude verarbeitetes Stück Stoff. Einzig meine Sublevel-Erfahrung lässt mich diesen recyclinggrauen, T-förmigen Sack, der um die Taille mit einer Schnur zusammengebunden wird, als Kleid erkennen.
Unaufgefordert ziehe ich es an. Es kratzt so stark, dass ich um jeden Zentimeter meines Körpers froh bin, der nicht unmittelbar damit in Berührung kommt. Nichtsdestotrotz wärmt das bodenlange Sackkleid deutlich besser als das OP-Hemd und ich fühle mich darin auch nicht ganz so ausgeliefert wie in der funktionalen Aufmachung einer Patientin.
Leicht schwindlig fasse ich mir ins Genick. Eine Wunde ist nicht zu ertasten, aber die Stelle, die der Arzt malträtiert hat, fühlt sich taub an. Meine Fingerkuppen berühren ein Stück Haut, das nicht rückmeldet, dass es berührt wird: ein Dermatransplantat-Pflaster. Die Behandlung, der man mich unterzogen hat, kann nicht allzu lange her sein. Sonst wäre das Transplantat bereits angewachsen und hätte sich mit meinen Sinnesrezeptoren verbunden.
Was haben sie mit mir angestellt, verdammt?
Darauf werde ich vorerst keine Antwort erhalten. Eine andere Frage hingegen ist es wert, dass ich mich mit ihr näher befasse: Wohin führen die beiden Türen, die von diesem Raum hier abgehen?
Die eine erweist sich als verriegelt, hinter der anderen verbirgt sich eine Sanitärzelle. Ich blicke auf eine sitzförmige, weiß beschichtete Entsorgungseinheit mit Vakuumspülung und auf ein ebenfalls weißes Waschbecken, auf dem ich einen Kunststoffblister mit Tabletten bemerke. Schmerzmittel, vermute ich und sehe mich bestätigt, nachdem ich die Aufschrift studiert habe. Ich schalte den Aquaregulator an und nehme einen großen Schluck Wasser. Ohne Tablette. Die medikamentöse Dröhnung spare ich mir auf.
Ich mache mich ein wenig frisch und krieche in Ermangelung eines Bettes wieder auf die OP-Liege. In diesem Moment sehe ich dort, wo zuvor das Kleid bereitlag, eine Schüssel Nährstoffbrei. Wenn sie mich hier in der Klinik behalten und mit Essen versorgen, weiß ich, dass Corvin noch lebt.
Befinden wir uns auf demselben Stockwerk? Ist er hier? Irgendwo ganz in der Nähe?
Vor Verzweiflung könnte ich die Wände hochgehen. Was ist das eigentlich für eine dämliche Vorstellung? ›Die Wände hochgehen‹? Ich wünschte, ich könnte durch sie hindurchgehen, wenn nicht körperlich, so doch wenigstens als Astralwesen, als Seele, als Geist. Ich möchte durch alle Räume dieser klinischen Einrichtung huschen und Corvin finden. Ich muss ihn sehen! Ich muss ihm sagen, dass die Hand, die das Attentat auf ihn verübt hat – meine Hand –, nicht durch meinen Willen gesteuert worden ist. Jemand hat meinen Körper dazu benutzt, diesen Anschlag zu verüben. Ich würde niemals willentlich etwas tun, das Corvin schadet. Ich liebe ihn!
Habe ich ihm das eigentlich je gesagt? Ich habe versucht, es ihm zu zeigen. Doch habe ich es ihm unmissverständlich gesagt? Vermutlich nicht. ›Ich liebe dich‹, das klingt kitschig. Und ich bin nicht der kitschige Typ. Bei uns unten im Sublevel gilt es, die Zähne zusammenzubeißen. Da redet man nicht viel.
***
Gemessen an den Mahlzeiten, die ich hin und wieder vorfinde, vergehen Tage. Eines Abends – es dürfte ungefähr eine Woche verstrichen sein – kehre ich aus der Sanitärzelle in mein Zimmer zurück und erstarre vor Schreck.
Ein junger Mann mit militärischem Haarschnitt steht vor mir. Er kehrt mir den Rücken zu. Das Schwarz seiner Uniform symbolisiert Blindheit, nicht als körperliche Einschränkung, sondern als verfassungsmäßiges Recht. Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, urteilt anhand von Fakten und nicht aufgrund des äußeren Anscheins. Der Mann ist ein Staatsbeamter, wahrscheinlich ein Investigator, vielleicht sogar ein ausführender Judikator, ein Scharfrichter.
Jetzt ist es so weit. Sie bringen mich um. Sie brauchen mich nicht mehr.
Die Todesangst hat keine Chance, sich in mir auszubreiten. Sie wird sofort von einer geballten Ladung Schmerz erstickt.
Corvin ist tot.
Mein Kampfgeist und mein Überlebenswille quittieren den Dienst. Was steht mir bevor? Der Rausschmiss ins All? Eine Todesinjektion? Worauf warten wir noch? Let’s gou!
Der Schwarzuniformierte blickt auf das Display seines Porkos. Auf dem Bildschirm ist er selbst zu sehen, wie er sein Porko betrachtet, in dem er abermals selbst mit seinem Porko zu erkennen ist. So geht es immer weiter, dasselbe Bild endlos ineinander geschachtelt, bis das Ganze zu klein ist, um Details wahrzunehmen.
Das ist surreal. Wie eine Szene aus einem künstlerischen Experimentalfilm oder einem Albtraum.
»Functio satisfacit«, meldet der Beamte.
Was soll das heißen? Was funktioniert zufriedenstellend?
»Salve!« Mein Gruß kommt betont hart und unfreundlich. Der Fremde dreht sich um. Bei seinem entwaffnenden Lächeln lockern sich meine zur Faust geballten Finger. Seine braunen Augen erinnern mich an meinen Ex-Verlobten Agri. Dies beschwört zwar nicht unbedingt nostalgische Erinnerungen herauf, doch es gibt mir intuitiv das Gefühl, dass mir seinerseits keine Gefahr droht. Er ist nicht hier, um mich zu eliminieren.
Mit einer knappen und dennoch fast höflichen Geste weist er durch die geöffnete Tür auf einen V-Gleiter. Ich protestiere nicht. Es ist ja nicht so, dass ich unbedingt für alle Zeit in diesem Klinikzimmer bleiben möchte. Wortlos klettere ich auf den Beifahrerplatz im Bug. Kaum sitzt der Uniformierte am Steuer, frage ich betont locker: »Wo geht’s hin?«
»Ad ultimum locum …«
Zum endgültigen Verwahrort?
Mein Chauffeur zeigt sich nicht sonderlich gesprächig. In den nächsten Minuten überhört er sämtliche meiner Fragen.
Durch die verspiegelten Fenster unseres Gefährtes beobachte ich, wie wir aus einem abgeschotteten Bereich des Militärlazaretts zum Vertikaltransporter schweben. Schweigend warten wir, bis die Stahltüren des Aufzugs sich für unsere ›Sonderfahrt‹ öffnen.
»Sie sehen nicht aus wie jemand, der Leute gerne auf die Folter spannt«, wage ich einen letzten Versuch. »Grata essem, si scirem, quid me exspectet.«
Ich wäre echt dankbar, wenn ich wüsste, was mich erwartet.
Der Uniformierte reagiert nicht. Zumindest nicht mit Worten. Stumm steuert er den Gleiter ins Innere der Beförderungskabine.
»Area tricesima tertia minus«, weist er den Fahrstuhlführer durch die Außenlautsprecher an.
Stockwerk minus dreiunddreißig.
Die Ebene, die wir ansteuern, liegt tief unten im Sublevel. Dort, wo der Bodensatz der Gesellschaft, verbannte Verbrecher, Parasiten und Krankheitserreger hausen.
Der Vertikaltransporter hält. Als die Türen sich öffnen, empfängt uns Dunkelheit. Nur eine spärliche Notbeleuchtung verbreitet einen bläulich getönten Schimmer. Statt der nächsten Abfahrtszeiten leuchtet eine Reihe von Sternen auf den Bildschirmen: **********. Es muss nach zwanzig Uhr sein, denn die Nachtabschaltung – die komplette Abriegelung der unteren Ebenen – ist bereits wirksam. In den Korridoren, den Fabriken und Unterkünften des Arbeitersektors gibt es bis morgen früh keine Milliwattsekunde Strom.
Mein Chauffeur manövriert den Gleiter zum Ausgang des VT-Bereichs. Dort steigt er aus und weist mich an zu warten. Manuell entriegelt er eine Pforte in den hohen, verschlossenen Sicherheitsschotten des Areals, bevor er zu mir zurückkehrt und den Frontstrahler unseres Gefährtes aktiviert. Der Lichtkegel, der die abgenutzten, klebrig verdreckten Gumminoppen des Bodens, die schmutzig grauen Wände und fleckigen Türen erhellt, erscheint mir viel zu grell. Es kommt mir vor, als würden wir in die lauernde Schwärze hinausschreien: ›Hallo, hier sind wir!‹
Aus irgendeinem Grund macht mir das Angst. Man sollte meinen, dass mich die Furcht in einen Alarmzustand versetzt, durch den ich mental auf alles Mögliche vorbereitet bin. Leider ist das nicht der Fall. Schreck fährt mir wie eine scharfe Klinge in die Eingeweide, als sich unvermittelt eine Gestalt aus der Finsternis löst. Der Mann, der wie ein öliger, tonnenförmiger Roboter auf uns zu stampft, lässt sich mit einem einzigen Wort beschreiben: fett. Schmierige Haare, ein feister Bauch und ein breites Grinsen im Gesicht. In einem Sektor, in dem alle Menschen hungern und kaum mehr als ihre Haut haben, um die Knochen zu bedecken, wirkt seine Körperfülle geradezu obszön. Der erste Eindruck festigt sich, als er den Mund aufmacht. Was er von sich gibt, ist nicht nur Sublevel-Slang, es ist tiefste Gosse – eine Anhäufung von Fäkalausdrücken, ausgerotzten Worten und groben Satzfetzen. Es fällt mir schwer, ihn zu verstehen, zumindest aber begreife ich, dass es um mich geht, genauer gesagt um einen Deal, der zwischen seinem Boss und dem Auftraggeber meines Fahrers geschlossen worden ist. Mir ist nur nicht ganz klar, ob ich die Aufgabe bin, die erledigt werden muss, oder der Lohn, der überbracht wird. Im Grunde kann es mir gleich sein. Weder das eine noch das andere erscheint in irgendeiner Weise erstrebenswert.
Der junge Uniformträger, der mich hierhergefahren hat, wirft mir einen Blick zu.
»Imperata feci atque te in eum locum perduxi«, sagt er ebenso entschuldigend wie schuldbewusst.
Ihm ist befohlen worden, mich hier abzuliefern. Er wird sich nicht überreden lassen, mich woanders hinzubringen. Da kann ich meinen emotionalen Regler ebenso gut bis zum Anschlag auf ›Sei stark, Rise‹ drehen und widerstandslos aussteigen.
Mit einem Grunzen fordert der vulgäre Fleischberg mich auf, ihm zu folgen. Vielleicht rotzt er auch einfach nur lautstark und ich leite die Anweisung, mit ihm zu gehen, vom unwirschen Wink seiner Finger ab.
Das Licht in meinem Rücken wird schwächer. Leise surrend dreht der V-Gleiter ab und verschwindet im Sicherheitsbereich des Vertikaltransporters. Rumms! Im Moment, in dem ich höre, wie die schweren Stahltore zufallen, bricht undurchdringliche Finsternis über mich herein. Kein Funken Licht. Kein Funken Hoffnung.
Der Fremde zieht mich mit sich. Sein fester Griff lenkt mich zielstrebig und bremst meinen Sturz, als ich über ein Hindernis falle, das im Weg liegt. Im Aufstehen stütze ich mich mit beiden Händen ab, fühle Stoff und Haut … eine Nase und ein starres geöffnetes Auge. Eine Leiche! Ich fahre hoch.
Mein Begleiter zerrt mich weiter. Er hält nicht an. Der Tote kümmert ihn nicht, als wäre es völlig normal, dass Leichen mitten im Zentralkorridor liegen. Oder als wüsste er bereits, dass wir hier auf einen Toten stoßen.
Ein warnendes Gefühl beschleicht mich. Eine Ahnung, als sei der widerliche Kerl, dem ich gerade folge, nicht der ursprünglich vorgesehene Abholer.
***
In der Ferne flackert der Widerschein eines offenen Feuers. Das warme orangerote Licht stammt mit Sicherheit von echten Flammen und nicht von einer Holografie. Ich möchte meine Hand dem schmierigen Griff meines Begleiters entwinden und weglaufen, aber ich tue es nicht. Widerstandslos gehe ich auf das Feuer zu.
Wir passieren einen geöffneten deckenhohen Sicherheitsschott.
Wo sind wir?
Die Frage schießt durch mein Gehirn, da wird es mir bereits klar. Ich betrete soeben den äußeren Ring, den sogenannten Externkorridor, der jedes Stockwerk nach außen hin abschließt. Sollte die Titanhülle unserer Raumstation durch einen Asteroiden oder etwas anderes beschädigt werden, kann die tödliche Kälte des Weltalls nur den Externkorridor des betroffenen Stockwerks fluten. Dieser Schutzgang ist Sperrgebiet. Er darf im Normalfall nicht betreten werden. Schotten wie die, an denen ich gerade vorübergegangen bin, sichern unser Überleben. Allerdings nur, wenn sie geschlossen sind.
Das hier ist zweifellos der letzte Platz auf SPHAERA, an dem ein offenes Feuer brennen sollte, und ganz sicher sollten hier keine Menschen hausen. Schon gar keine Leute von der Sorte, wie ich sie jetzt antreffe. Bei dem Anblick, der sich mir bietet, wird mir klar, warum man Gauner und Halunken auch als Lumpen bezeichnet. Ihre Kleidung hängt in Fetzen. Die Sublevelmatratzen, auf denen sie hocken und lümmeln, wirken wie ausgeweidet. Der geschredderte Plastik-Recyclingmüll, der die Folie der Matratzenhülle als Granulat füllt, quillt aus Rissen und Löchern und mischt sich mit dem restlichen Unrat auf dem verdreckten Boden.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, bei meiner Familie nicht im Elend, sondern im Paradies aufgewachsen zu sein. Wir hatten wenigstens ein Abortloch, in das wir uns erleichtern konnten, und einen gemeinschaftlichen Bottich Wasser, um nach der Arbeit in der Abfallsortierung oder Müllverbrennung den gröbsten Dreck von unseren Körpern abzuwaschen. Die Leute hier haben gar nichts. Ein widerlicher Gestank umgibt sie wie eine erstickende Wolke. Ich unterdrücke ein Würgen und denke, dass im Vergleich zu dem hier mein nach Ziege und verdorbenem Fisch stinkender Ex-Verlobter wie ein frisch gebadeter Senatorensohn gerochen hat.
Knapp ein Dutzend obdachlose Männer und ein paar wenige Mannsweiber – Frauen kann man sie schwerlich nennen – stieren mich finster an. Sie alle sind recht kräftig gebaut. Eine solche Muskelmasse erzielt man nicht mit dem traditionellen Sublevel-Brei. Sie ernähren sich von Fleisch. Viel Fleisch.
Leichenfresser, denke ich. Kannibalen.
Aus der Gruppe lösen sich vier stämmige Kerle und mich überfällt der Gedanke, dass die Beschreibung grobschlächtig in meiner Situation einen tieferen Sinn ergeben könnte. Die scharfkantigen Metallstücke in ihren Händen haben die Qualität tödlicher Messer. Stinkende, dreckverkrustete Finger packen mich wie Schraubzwingen. Sie zerquetschen das Gewebe unter meiner Haut zu dunklen Blutergüssen.
Ich schreie.
Mögen sie Leichen fressen, wenn sie wollen, doch ich bin noch am Leben! Ich lebe noch! Ich winde mich in ihrem Griff wie eine panische Ratte, beiße, quieke und zapple. Ein Tritt in die Kniekehlen bringt mich zu Boden.
Inmitten all des Gestanks weht eine Ahnung von Rasierwasser und Seife zu mir herüber. Ich rieche einen Hauch aromatischer Lindenblüten und etwas sinnlich Maskulines, das als Männerparfüm den Namen ›Umbra silvestris‹ tragen würde. Waldschatten.
Dann trifft mich ein brutaler Schlag gegen die Schläfe. Das Letzte, das ich höre, ist das Klimpern von Münzen.
***
Brennende grellrote Schmerzen wüten in meinem Kopf und verraten mir, dass ich keineswegs tot bin. Als die Qualen schlimmer und schlimmer werden, wäre ich es gern. Tot. Das Wort hat jeden Schrecken verloren.
Ich liege auf dem Bauch und irgendjemand macht sich an meinem Hinterkopf zu schaffen. Etwas Scharfes dringt in meinen Nacken. Da ist ein Schaben, Reißen und Nagen wie von Zähnen, die mich bei lebendigem Leib auffressen. Blut strömt heiß über meinen Hals. Wieder tauche ich in Bewusstlosigkeit.
***
Yggrasil, raunt mein Verstand. Die Weltenesche, die aus einem Leichnam entspringt und alle Daseinsebenen verbindet. In meinem Traum wächst ein Baum empor. Er verströmt einen berauschenden Wohlgeruch: heilend, aromatisch – gemischt mit dem würzigen Arzneimittelduft der Lindenblüte.
Ich schlage die Lider auf und blicke in Augen, die so unfassbar grün sind, dass ich nicht zu blinzeln wage. Ich habe Angst, der flirrende Wald, der sich in diesem Irisgrün auftut, könnte verschwinden.
Die Augen gehören zu einem attraktiven Mann, den ich vom Alter her auf Mitte zwanzig schätze, auch wenn die Aura aus abgeklärter Ruhe und Lebenserfahrung, die ihn umgibt, dazu verleitet, ihn für älter zu halten. Seine Dreadlocks, die im Nacken mit einem geflochtenen Band zusammengefasst sind, schimmern goldbraun wie Zweige, auf denen das Licht der Sonne leuchtet.
»Morning, Sunrise«, sagt er mit einer Stimme, die ebenso melodisch wie rau ist.
Woher weiß er, wie ich heiße? Wer, zum Jupiter, ist dieser Typ überhaupt? Und warum liege ich in seinem Bett? Nun, ich denke jedenfalls, dass es sein Bett ist. Meines ist es ganz sicher nicht. Ein merkwürdiger Schlafplatz. Weshalb legt jemand eine Oberlevelmatratze mit sauberen, frisch gewaschenen Laken nach Sublevelart auf den Boden?
»Mor…ning«, quietsche ich wie eine eingerostete Schraube.
Eines steht fest, so kann ich niemanden überreden, mir Näheres zu verraten. Wie sich herausstellt, brauche ich das auch nicht. Mein Retter erklärt es mir ungefragt.
»Ich bin Sean, Betriebsarzt des Industrieblocks G und hier auf dem Stock der einzige Hihla.«
Ein Heiler und überdies Betriebsarzt. In anderen Worten: Er ist ein ehemaliger Hoffnungsträger und besitzt zumindest ein rudimentäres Studium, das ihn qualifiziert, in einer der Fabrikanlagen medizinisch tätig zu sein.
Wie gut er sein Handwerk tatsächlich versteht, wird mir erst bewusst, als er mir ein ominöses kleines Metallstück zeigt. Das winzige Ding, das er zwischen Zeigefinger und Daumen hält, erinnert mich entfernt an eine Diode, nur mit dem Unterschied, dass es nicht nur die üblichen zwei, sondern eine Mehrzahl mikrodünner Anschlussdrähte aufweist. Ich zähle mindestens acht in unterschiedlicher Länge.
»Weißt du, was das ist?«, fragt mich der Heiler.
Ich schüttle den Kopf und bereue es sofort. Die abrupte Bewegung ruft einen Übelkeit erregenden Migräneanfall hervor. Stöhnend massiere ich meine Stirn und beschließe, weitere Verneinungen fürs Erste auf ein Murmeln zu beschränken.
»Nein.«
»Das habe ich gerade aus deinem neuronalen System entfernt. Damit hätten sie jeden deiner Schritte im Blick gehabt – noch bevor du ihn überhaupt tust. Offenbar war es ihnen zu unsicher, dich nur ein paar menschlichen Aufpassern zu überlassen. Sie haben dir einen Mini-Mensgraphen eingesetzt, um deine Gedanken zu überwachen.«
»Einen Mini-Mensgraphen?«
Das also steht hinter der Operation, zu der Hera mich chauffiert hat. Und es erklärt auch, warum der Schwarzuniformierte sich auf seinem Porko selbst betrachtet hat. In Wahrheit hat er nur überprüft, ob der Mensgraph funktioniert. Das Display zeigte an, was ich sehe: den jungen Mann mit dem Porko in der Hand.
Besonders lange konnte Präsident Lucius sich an den übermittelten Bildern nicht erfreuen. Das Letzte, das er zu sehen bekam, waren die Kannibalen, denen ich in die Hände gefallen bin.
»Sori«, entschuldigt sich Sean. »Wir konnten dich in die geplante Befreiungsaktion nicht einweihen. Nicht solange dieses Ding hier jeden deiner Gedanken an deine Überwacher sendete. Du musstest echte Todesangst empfinden. Der Schlag auf den Kopf knockte nicht nur dich aus, sondern war auch die letzte bewusste Empfindung, die du übermittelt hast: panische Angst, ein brutaler Schmerz und dann nichts mehr. Schwärze. Ich habe das Implantat abgekoppelt und unbrauchbar gemacht. Jetzt glaubt Lucius, dass du in den Mägen der Leichenfresser verschwunden bist.«
Ich werfe einen Blick auf den nutzlosen Mensgraphen. Eine unglaubliche Erleichterung überflutet mich. Sie gilt nicht mir selbst.
Corvin lebt, denke ich, und wahrscheinlich befindet er sich sogar auf dem Weg der Besserung! Die Tatsache, dass man mir ein Gerät zur längerfristigen Überwachung einpflanzt und mich an einen Ort schafft, an dem ich Monate und Jahre unbemerkt gefangen gehalten werden kann, beweist, dass Lucius nicht damit rechnet, mich akut zu benötigen. Offenbar aber will er weiterhin auf mich zugreifen können. Tja, sein Fehler! Die Verlegung in den Sublevel war mein Ticket in die Freiheit.
»Sänk ju,«, bedanke ich mich bei meinem Retter.
»Keine Ursache.«
»Woher wusstest du davon? Ich meine, von dem Implantat und von mir?«
»Von Horaz.«
Den Namen von Corvins Arzt derart vertraut aus seinem Mund zu hören, wirft mich aus der Bahn. Es klingt, als wären sie gut bekannt, wenn nicht gar befreundet. Mein Herz beginnt zu pochen. Gibt es einen Weg, Corvin zu erreichen?
Ich muss mich darauf konzentrieren, die Aufregung aus meiner Stimme zu verbannen und eine klare Frage an den Heiler zu richten.
»Kannst … kannst du Horaz kontaktieren?«
»Nein. Er hat mich kontaktiert.«
»Was hat er dir gesagt? Hat er irgendwelche Pläne?«
… Pläne, um mich zu Corvin zu bringen?
Sean erhebt sich. »Falls ja, so hat er sie mir jedenfalls nicht mitgeteilt. Er wies mich an, dich heute Nacht auf Level minus dreiunddreißig abzufangen, dein Ableben zu fingieren und dann den Mensgraphen zu entfernen. Das habe ich getan. Ich habe die Leichenfresser angeheuert, damit sie dem Mann, der dich eigentlich abholen sollte, zuvorkommen, dich wegschleppen und in Todesangst versetzen. Dann habe ich dieses Ding hier aus dir rausgeholt.«
Er wirft das Implantat in eine Schüssel, in der bereits seine chirurgischen Werkzeuge auf eine desinfizierende Reinigung warten.
»Auftrag erfüllt. Das war’s. Mehr weiß ich nicht.«
Er kehrt mir den Rücken zu und hantiert mit irgendwelchen Gerätschaften, die in einem kleinen Regal stehen. Ein Metalllöffel scheppert gegen einen Blechnapf. Quiiiiiek, quiiiiek!, knautscht eine alte Gummidichtung, als ein Thermobehältnis aufgeschraubt wird. Das Geräusch, mit dem eine Flüssigkeit sich in den Blechnapf ergießt, könnte meine dahinplätschernden Gedanken vertonen. Unvermittelt bildet sich in meiner Erinnerung ein Strudel. Meine Überlegungen beginnen, um eine ungewöhnliche Formulierung zu kreisen.
… dich auf Level minus dreiunddreißig abzufangen …
Sean hat nicht ›hier‹ oder ›vorne im Zentralkorridor‹ gesagt. Er hat die Stockwerknummer genannt, als spräche er von einer anderen Ebene.
»Wir sind nicht mehr auf Level minus dreiunddreißig, oder? Du hast mich woanders hingebracht?«
»Ja. Wir sind jetzt auf minus dreißig. Meinem Heimatlevel.«
Level minus dreißig ist zu weit von den großen Anlagen der Abfalltrennung und der Energieerhaltung entfernt. Es gibt keine Treppen, auf denen die Arbeiter sich zwischen ihren Schlaf- und Arbeitsstätten hin- und herbewegen können.
»Ich dachte, ich gelte als aufgefressen? Wie hast du es geschafft, mit meinem bewusstlosen Körper den Vertikaltransporter zu boarden?«
»Gar nicht. Ich habe die geheimen Durchgänge benutzt. Die sind zwar fast so teuer wie der VT, aber man kann sich wenigstens unbemerkt auf ihnen bewegen.«
Geheime Durchgänge? Welche geheimen Durchgänge denn?
»Niemand wird dich hier finden, Rise. Nicht, wenn du tust, was ich dir sage.«
»Und das wäre?«
»Du musst eine andere Identität annehmen. Einen anderen Namen, den niemand mit Sunrise Garcia in Verbindung bringt.«
»Corvin wird nach mir suchen.«
Sobald er wieder auf den Beinen ist, wird er sich auf die Suche nach mir machen. Ich muss mir einen Weg offenhalten, damit er mich finden kann.
Wortlos reicht Sean mir den Blechnapf. Bei der heißen Flüssigkeit, die darin dampft, handelt es sich um eine Suppe. Nicht um einen dünnen Sublevelbrei aus Abfällen, sondern um eine klare, würzige Brühe mit Gemüsestücken. Bei dem Anblick steigen Erinnerungen in mir hoch. Ich denke an den Tag, an dem Corvin mich in die Küche des Pantheons verfolgt und vor allen Angestellten um ein Date gebeten hat.
›Suppen scheinen unser Schicksal zu sein‹, hat er behauptet. Mit Recht. Eine Suppe hat uns damals zusammengebracht und sie wird mir jetzt den Tarnnamen liefern, unter dem er mich finden kann. Ich werde mich nach dem Sublevel-Slangwort für Suppe einfach Suhp nennen. Wenn ich das nun mit dem Wort Houp kombiniere, um mein Dasein als Hoffnungsträgerin durchscheinen zu lassen, wird Corvin hellhörig werden. Houp Suhp. Perfekt. Jetzt muss ich es nur noch schaffen, ihm unter einem Vorwand eine Nachricht von dieser ominösen Houp Suhp zukommen zu lassen.
Meinen Namen zu ändern genügt, um meine Spur zu verwischen. Mit Ausnahme von Sean kennt mich auf Ebene minus dreißig kein Mensch. Der Name Sunrise Garcia mag sublevelweit durch Klatsch und Tratsch zur Berühmtheit gelangt sein, doch mein Gesicht hat hier wohl niemand gesehen. Auf den unteren Stockwerken gibt es keine Holografien, keine Porkos, keine Unterhaltungsmodule und keine Datentabs.
Ich bin in Sicherheit.
Und jetzt? Was soll ich hier? Wozu dieser ganze Aufwand um meine Person? Weil der Präsidentensohn mich liebt? Nur deswegen? Wirklich?
»Weshalb?«, will ich wissen.
»Weshalb was?«
»Weshalb habt ihr mich rausgeholt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du befreist mich, begibst dich selbst in Gefahr … für was? Weil Horaz es sagt?«
Sean schweigt ein paar Atemzüge lang. Er scheint abzuschätzen, wie viel Schaden absolute Ehrlichkeit zwischen uns anrichten könnte, dann antwortet er: »Ich habe es für Geld getan. Ich bin bezahlt worden, Rise. Damit ich dich vom Radar des Präsidenten verschwinden lasse und damit ich das Ding aus deinem Kopf entferne.«
»Gut bezahlt?«
»Extrem gut.«
Trotz der heißen Suppe, die ich ausgelöffelt habe, wird mir auf einen Schlag kalt. In meinem Bauch breitet sich ein ungutes Gefühl aus. Es kriecht wie Wurmlarven in meinen Eingeweiden und krabbelt mit Hunderten kribbelnder Beinchen mein Rückgrat hinauf. Warum bezahlt jemand extrem viel Geld für mich? Was wird von mir erwartet, um diese Investition zu rechtfertigen?
Sean schlingt eine aus Textilabfällen genähte, frisch duftende Patchworkdecke um mich. »Ruh dich aus. Schlaf ein wenig. Du kannst auf jeden Fall hierbleiben, bis wir wissen, wie’s weitergeht.«
»Ist meine Unterbringung und Verpflegung Teil des Deals?«
»Auch ohne Geld werde ich dich in dieser Situation nicht einfach vor die Tür setzen.«
»Wie ehrenwert. Sieht man mal davon ab, dass du auf weitere Anweisungen und eventuell damit verbundene Zahlungen wartest, oder?«
Sean lächelt. Das Licht, das von diesem natürlichen, verschmitzten Lächeln ausstrahlt, leuchtet wie Sonnenstrahlen im Waldgrün seiner Augen. »Du sagst es.«
Ja, ich sage es, aber ich glaube beinahe, ich meine es nicht so sarkastisch, wie es klingt. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich in der Nähe des Heilers wohl. Ich ziehe die Decke, die er um meine Schultern gelegt hat, fester um mich und kuschle mich in sein Bett. Kurz darauf bin ich eingeschlafen.
Durch meinen Traum schwebt ein Raumschiff. Funkelnde schwarze Punkte überziehen die silberfarbene Hülle. Es sind Kameraaugen. Was sie sehen, wird im Inneren auf Bildschirme übertragen, die an den Wänden wie Panoramafenster wirken.
Eines dieser Fenster befindet sich direkt gegenüber unserem Bett. Ich liege in der Kabine des Kommandanten auf einem Laken, dessen seidige Schwärze mit dem Sternenschimmer des Weltalls konkurriert. Der junge Mann, der mich in seinen Armen hält, gleicht dem Schiff, das er befehligt: ein gestählter Körper, absolute Perfektion in jeder seiner Bewegungen.
Er beugt sich zu mir und der Ausdruck seiner titangrauen Augen wird weich. Eine Flut von Gefühlen verwandelt das metallische Glänzen in ein wogendes Sturmgrau. Ich bin es, die diese Wogen verursacht. Corvin Corvus, der Sohn des Präsidenten, der Kommandant der SPES, will mich. Er liebt mich.
Behutsam streichelt er über meine Lippen, mein Kinn, über mein empfindliches Ohrläppchen bis zum Hinterkopf. Dann zieht er mich an sich. Sein Kuss schaltet die Schwerkraft aus. Ich liege bereits und doch reißt er mich von den Beinen. Er gibt mir das Gefühl, zu schweben, und stürzt mich gleichzeitig im freien Fall in die Tiefe. Ein Blitz durchzuckt meinen Körper. Ein Donnerschlag folgt, noch einer, ein dritter …
Bumm! Bumm! Bumm!
Das Licht einer Akkulampe flutet den Raum. Ich brauche ein paar Schrecksekunden, um zu begreifen, wer der Mann mit den Dreadlocks ist und warum er neben mir im Bett gelegen hat – respektive, dass es eigentlich sein Bett ist, in dem ich vorübergehend Zuflucht gefunden habe.
Schon öffnet Sean die Tür, an der es klopft.
Eine solche Reaktionsschnelligkeit – aus dem Tiefschlaf zur Handlungsfähigkeit innerhalb eines Herzschlags – kenne ich nur von Leuten im Noteinsatz. Meine Mitbewohnerin Miriam hatte eine Zeit lang mal einen Freund, der als custos corticis arbeitete. Er gehörte zu den Reparaturkräften, die jeden Schaden an der Außenhülle sofort behoben, ehe wir zu viel Atemluft oder in einem gewaltigen Druckverlust alle unser Leben verloren. Dieser Junge hatte denselben Schlaf-Aufwach-Impuls besessen.
Ich rapple mich auf. Es ist das erste Mal, dass ich auf meinen eigenen Beinen stehe, seit mich Sean zu Beginn dieser Nacht bewusstlos hierhergeschleppt hat. Erst mit deutlicher Verzögerung prüfe ich, ob ich einigermaßen angezogen und nicht etwa halb nackt bin. Der kratzige, raue Recycling-Stoffsack, den Hera mir als Kleid zur Verfügung gestellt hat, bedeckt meinen Körper vom Hals bis zu den Knöcheln. Nicht gerade schick, aber doch ausreichend, um einem spontanen nächtlichen Besucher gegenüberzutreten.
Vor der Tür steht ein junges Paar, beziehungsweise der junge Mann steht, seine Freundin oder Frau trägt er auf den Armen. Die hübsche Brünette krümmt sich vor Schmerzen.
Sean deutet auf einen Tisch. Eine dünne Matratze liegt darauf. Abgesehen von der ungewöhnlichen Platzierung entspricht sie dem üblichen Sublevel-Standard: ein paar Lagen geschredderte Kunststoffreste, umwickelt mit Folie.
Der Hihla breitet rasch ein sauberes Laken aus. Mit Blick auf die Patientin weist er den jungen Mann an: »Slauli! Teik kär. Leg sie ganz vorsichtig hin.«
Er fragt nicht nach Namen, nach Geld oder Bezahlung. Seine Fragen sind knapp.
»Seit wann hat sie die Schmerzen?«
»Seit heute Nachmittag. Sie … Ich dachte, es wird besser.«
Die Untersuchung dauert nicht lange. Ohne medizinische Diagnosegeräte muss der Heiler sich auf seine Erfahrung und Intuition verlassen. »Ich vermute, es ist der Blinddarm. Unter den gegebenen Bedingungen ist die Operation riskant, doch wenn wir nicht operieren, könnte sie sterben.«
Gebadet in kaltem Schweiß, sieht die Frau zu ihm auf. »Tu’s!«, fleht sie.
Ihr Mann ist wie gelähmt, unfähig, Sean zur Hand zu gehen. Der Heiler schiebt ihn beiseite. »Sit daun. Setz dich einfach irgendwohin.« Dann fragt er mich: »Willst du dich nützlich machen?«
Seine Ruhe erfüllt den ganzen Raum und gibt mir das Gefühl, alles schaffen zu können, solange ich mich an seiner Seite befinde.
»Was soll ich tun?«
Er reicht mir einen Schlauch und eine Art Blasebalg, den er offenbar in umgekehrter Funktionalität nutzt, denn er sagt: »Wenn ich sie aufgeschnitten habe, saugst du das Blut ab, das in die Wunde läuft, damit ich klare Sicht auf die Operationsstelle habe.«
Die nächsten Minuten – Stunden? – färben sich rot. Rot von Blut und von … Wärme. Es ›Liebe‹ zu nennen, würde das Gefühl nicht ganz treffen, das den Hihla umgibt. Auf einmal verstehe ich, warum die antiken Sprachen für ›Liebe‹ mehrere Worte hatten. Diese Form hier ist selbstlos, erfüllt von einer reinen, warmen und mächtigen Energie, die vollkommen darauf ausgerichtet ist, zu helfen und Schmerz abzunehmen. Ich habe so etwas noch nie in der Nähe eines anderen Menschen gefühlt.
Aufeinander abgestimmt, als würden wir uns schon jahrelang kennen, arbeiten wir Hand in Hand. Schließlich schickt Sean mich in die Sanitärzelle, um einen Topf Wasser heiß zu machen. Er hat mehrere Kanister davon gehortet. Es kommt mir vor, als betrete ich einen begehbaren Tresor. Hier unten wird Wasser wie flüssiger Diamant gehandelt.
Ich schalte die akkubetriebene Heizplatte an und bereite alles vor, um die chirurgischen Instrumente abzukochen, da tritt Sean neben mich. Er schöpft eine Kelle des sich allmählich erwärmenden Wassers aus dem Topf und wäscht sich das Blut von den Händen. Automatisch reiche ich ihm ein sauberes Tuch.
»Sie hat alles gut überstanden«, berichtet er, während er sich die Finger abtrocknet. »Sorg dafür, dass sie noch ein paar Stunden ruhig liegen bleibt. Wenn sie Schmerzen hat, dann gib ihr die Tabletten, die ich auf den Tisch gelegt habe.«
»Warum gibst du sie ihr nicht selbst?«
»Ich gehe zur Arbeit.«
So todmüde, wie ich bin, kann ich an Arbeit nicht einmal denken. Ich möchte nur auf das Bett sinken und mich ausruhen. Sean löffelt ein braunes Pulver von einer Blechdose in einen Becher und kippt heißes Wasser darauf. Ein unwiderstehlicher, aromatisch belebender Duft schwadert durch den Raum. Der Heiler nimmt einen tiefen Schluck.
»Kaffee«, bietet er mir mit einem Wink auf die Dose an und ich fühle, wie ein Lächeln uns verbindet.
***
Die Patientin – sie heißt Josina, wie ich von ihrem Mann Cem erfahre – wacht gegen Abend aus einem tiefen, erholsamen Schlaf auf. Erschöpft, aber sichtlich ohne die stechenden Krämpfe, die sie zuvor gefoltert haben, schmiegt sie sich an ihren Mann.
Cem bedankt sich überschwänglich bei mir. Ich weiß nicht wofür. Ich habe nichts getan.
»Bedankt euch bei eurem Hihla.«
»Werden wir.«
Josina macht Anstalten, sich aufzusetzen. Hastig drücke ich sie wieder auf die Matratze zurück.
»Bleib liegen, bitte.«
Die junge Frau schüttelt den Kopf. »Wenn Sean zurückkommt, sollten wir weg sein.«
»Hat er das gesagt?«
»Nein, das ist ein ungeschriebenes Gesetz hier auf dem Stockwerk: Hus eibel tu gou, gous. Wer gehen kann, geht – damit Sean Platz für den nächsten Patienten hat.«
»Ich werde gehen. Dich werde ich tragen«, stellt Cem klar.
Dann legt er mir eine Handvoll Münzen hin, sein gesamtes Erspartes und doch nicht ein Bruchteil dessen, was die Operation heute Nacht gekostet hat. All das saubere Wasser, das Narkosemittel, die Schmerztabletten, das Verbandszeug …
Seans Geständnis kommt mir in den Sinn. Der Hihla hat sich für meine Rettung gut bezahlen lassen. Mir schwant, dass er das Geld nicht für sich selbst braucht. Mit einem veränderten Blick betrachte ich all die Medikamente, die sauberen Tücher, Laken und das Verbandszeug im Regal. Meine Aufmerksamkeit bleibt auf einem bakterien- und virenabtötenden Reinigungstensid hängen.
Ich beschließe, mich nützlich zu machen und die benutzte Wäsche zu waschen. Dann hänge ich die Sachen in der Sanitärzelle auf, wo ich ein Seil finde. In meinem Tagtraum spanne ich es nicht zwischen zwei Haken, sondern zwischen zwei Bäumen. Ich stelle mir Steinkiefern vor, wie sie auf der Erde entlang der nördlichen Mittelmeerküste wachsen. Ein frischer Meeresduft umfängt mich. Corvin, denke ich. Seine Arme schlingen sich um meine Taille. Seine Lippen …
Das Zischen der sich öffnenden Schiebetür lässt mich auf den Fersen herumfahren. Sean ist von der Arbeit nach Hause gekommen.
»Sori«, entschuldigt er sich. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Mein Gruß gleicht einem Japsen. »Hey. Nein … hast du nicht.«
Gar nicht. Ich klinge immer wie ’ne kaputte Hydraulik und drehe schwindelerregende Pirouetten auf der Ferse.
Sean greift an mir vorbei nach dem Thermobehälter und wiegt ihn kurz in der Hand, um am Gewicht die Füllmenge abzuschätzen. Offenbar reicht der Inhalt für das, was er vorhat, denn er verschwindet damit.
Ich folge ihm aus der Sanitärzelle in den Wohnraum. Der Heiler stellt zwei Blechnäpfe auf den Tisch. Er lässt etwas Gelbliches, das an getrocknete Maden erinnert, in die Metallschalen rieseln und gießt heißes Wasser darauf. Sofort flutet der Duft von Suppe den kleinen Raum. Suppe mit … Sind das Nudeln?
Sean zieht einen Hocker heran und setzt sich.
»Iss was«, fordert er mich auf. »Jur sörtenli hangri.«
Und ob! Ich bin so hungrig, ich könnte den Tisch annagen!
Eine Bewegung von ihm lenkt mein Augenmerk auf einen kleinen Laib Brot, den er in der Hand hält. Er reißt ihn entzwei und reicht mir das größere Stück.
»Sänks«, bedanke ich mich, während ich mich ebenfalls auf einem Hocker niederlasse. »Deine Patientin wollte unbedingt nach Hause.«
»Ja, ich habe auf dem Heimweg noch kurz bei ihr vorbeigeschaut.«