Über das Buch
Liebe Sabine,
Du und ich, wir sind keinen leichten Weg gegangen, und unsere Fehler können wir nicht mehr ungeschehen machen. Wenn ich jetzt an Dich denke, erinnere ich mich an Deinen überraschten Blick, als ich Deinen Pullover aufgehoben habe, Deine strahlenden Augen, als Du das Meer gesehen hast. Was am Ende von uns bleiben wird, ist Lukas.
Peter, Sabine und Lukas waren einmal eine Familie. Das ist lange her. Bis Vater und Sohn sich überraschend gegenüber stehen. Peter beginnt, um Lukas’ Vertrauen zu kämpfen. Lukas weiß nicht,wie er Peter in sein Leben lassen kann, ohne Sabine zu verletzen. Nichts ist verloren, und nichts bleibt, wie es war.
Über die Autorin
Astrid Ruppert lebt mit ihrem Mann im Vogelsberg, wo sie Romane und Drehbücher schreibt.
Astrid Ruppert
Wenn’s am schönsten ist
Roman
Marion von Schröder
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ISBN 978-3-8437-0699-5
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Du kannst Deinen Kindern Deine Liebe geben,
nicht aber Deine Gedanken. Sie haben ihre eigenen.
Khalil Gibran
1
Lukas mag es überhaupt nicht, wenn sie ihn bis zum Bahnsteig begleitet, um gemeinsam mit ihm auf den Zug zu warten. Er mag diesen undefinierten Zustand von Übergängen nicht, und durch die besorgten Blicke, die seine Mutter ihm immer wieder zuwirft, wird dieser Zustand noch verstärkt. Nicht mehr zu Hause und noch nicht unterwegs. Wenn er nur endlich unterwegs wäre.
Seufzend beobachtet er, wie der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr sich Strich für Strich voranarbeitet, wie in Zeitlupe. Immer noch drei Minuten, das ist ja endlos. Der Zug ist nicht in Sicht. Noch nicht einmal eine Durchsage. Am Ende hat der Zug Verspätung, und er muss noch eine halbe Stunde hier stehen und dem bedeutsamen Schweigen seiner Mutter zuhören.
Das stumme Warten ist ihm peinlich. Es soll jetzt losgehen. Jetzt. Der Moment des Aufbruchs, wenn er in den Zug steigt, der Moment des kleinen Abenteuers, den er zu Beginn einer Reise spürt, auch wenn sie nur in eine kaum zweihundert Kilometer entfernte Stadt führt, dieser Moment soll nun endlich kommen. Außerdem bläst ein kalter Wind den Bahnsteig entlang, der in ihre viel zu dünnen Jacken fährt, und sie stehen schlotternd und schweigend nebeneinander. Warum zieht es an Bahnhöfen immer? Lukas kann sich nicht erinnern, dass der Wind vorhin, als sie das Haus verlassen haben, auch schon so kalt blies wie jetzt.
»Du kannst ruhig schon fahren. Der Zug kommt doch gleich. Du musst ja nicht mit frieren.«
Sabine schüttelt den Kopf, ringt sich ein schwaches Lächeln ab. »Schon gut.«
Heute ist ihr besorgter Blick besonders intensiv. Lukas sieht, wie sie immer wieder Luft holt, um etwas zu sagen, was sie dann doch in letzter Sekunde herunterschluckt. Er weiß ganz genau, was seine Mutter ihm sagen will. Aber er hat überhaupt keine Lust, es zu hören, und tut so, als ob er es nicht bemerkt. Sie will ihm zum gefühlt dreihundertsten Mal sagen, was sie davon hält, dass er diese Reise antritt: Nichts. Und weil er das weiß, schaut er jedes Mal konzentriert in eine andere Richtung, wenn sie kurz davor ist, es auszusprechen. Ihm ist ja selbst ganz mulmig zumute. Er weiß nur, dass er jetzt auf dem Weg ist und dass er nicht mehr anhalten kann. Und dass er am Ende dieses Weges, in zwei, drei Stunden, aller Wahrscheinlichkeit nach seinem Vater begegnen wird.
Vater. Allein das Wort zu denken bereitet ihm Schwierigkeiten. Vater. Wenn Pauline »Vater« sagt, dann meint sie einen gutmütigen, an vielem interessierten Mann, wegen dessen Macken Paulines Mutter oft die Augen rollt. Er zerbricht sich den Kopf über die oft unmöglichen Hausaufgaben, die seine Kinder aufbekommen, und er und seine Frau küssen sich zur Begrüßung. Wenn Pauline »Vater« sagt, dann meint sie etwas Gemütliches, total Verlässliches.
Wenn Lukas »Vater« sagt, hat er das Gefühl, ein falsches Wort auszusprechen, ein Unwort. Das Unwort seines gesamten bisher achtzehnjährigen Lebens. Er hofft immer, dass bei ihm zu Hause niemand das Unwort benutzt, denn dann kippt die Stimmung, und er fühlt sich schlecht. Seine Mutter schaut sofort gequält zu ihm herüber, und er mag diese Stille nicht, die sich dann um sie legt wie ein Mantel, die sich um den Sessel legt, in dem sie sitzt, die sich um das ganze Wohnzimmer legt, um die Wohnung, das Haus, und die Welt verstummt. Ist taub und stumpf, und er will am liebsten schreien. Verbotene Flüche, die man nicht schreit. Die man auch nicht leise sagt. Gerade weil diese Wörter immer genauso verboten waren wie das Wort »Vater«, glaubt er, dass sie vielleicht etwas bewirken. Er weiß nicht, mit welchen Worten man dieses Gefühl wegschreien könnte. Er hat es noch nie versucht. Eine Weile hat er ihn nur noch seinen »Erzeuger« genannt. Aber dabei sind irgendwann zu viele Bilder des Aktes seiner Erzeugung in ihm entstanden. Das half ihm, wenn er ehrlich war, auch kein bisschen weiter. Er hat sich dann mit sich auf so etwas wie »mein biologischer Vater« geeinigt. Das klingt nicht ganz so technisch und lässt ihm dazu einen kleinen Raum für Erinnerungen, die er hütet wie bunte Murmeln, obwohl er das nicht will. Aber sie hüten sich anscheinend selbst, gegen seinen Willen.
Als die Einladung zum Geburtstag seiner Großmutter, die er fast so lange nicht gesehen hat wie seinen biologischen Vater, vor ungefähr vier Wochen im Briefkasten lag, hat er sie erst ignoriert. So lange, bis es ihm schließlich gelungen war, sie zu vergessen. Seine Mutter hat ihn nicht daran erinnert. Wer ihn letztlich wieder daran erinnert hat, war Pauline. Sie kann sich einfach nicht vorstellen, wie es ist, wenn man einen wichtigen Teil seiner Familie nicht kennt. Vor allem kann sie sich überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, wenn man den eigenen Vater nicht kennt.
Lukas hat ihn so viele Jahre nicht gesehen, dass es tatsächlich so ist: Er kennt ihn nicht. Klar, er weiß, wie er aussieht. Es gibt Fotos, es gibt Erinnerungen. Er weiß, dass er Bühnenbildner am Theater und ein bisschen verrückt ist, er weiß, dass er sehr laut und ausgelassen lacht, dass seine Anwesenheit die Atmosphäre eines ganzen Raumes füllen und verändern kann. Lukas kann sich an den Geruch seines Rasierwassers erinnern, und er erschrickt immer, wenn er es an jemand anderem riecht. Der überschwängliche Geruch der Begrüßungsküsse, der herbe Geruch der Abschiedsküsse und das seltsame Bauchweh, das durch beides ausgelöst wurde. So ein Ziehen im Innersten, das er immer noch spüren kann. Von seiner Mutter weiß Lukas, dass sein biologischer Vater ein Idiot ist und ihr schlimmster Fehler, ihr persönlicher Super-GAU, und dass er ihr Leben verpfuscht hat und seines gleich mit, obwohl Lukas jetzt nicht findet, dass sein Leben verpfuscht ist. Denn bis auf die Schwierigkeiten, die er mit dem Wort »Vater« hat und allem was dazugehört, ist sein Leben eigentlich okay.
Es ist alles sehr überschaubar bei ihnen, und das ist gut so. Es gibt die Wohnung, in der seine Mutter und er leben, Küche, Wohnzimmer und ein eigenes Schlafzimmer für jeden und ein Balkon, auf dem seine Mutter Kräuter zieht, die jeden Sommer Läuse bekommen, weshalb er Kräuter im Essen nicht mag. Es gibt einen Flur, der ein ständiger Stein des Anstoßes ist, weil er anscheinend zu viel darin herumliegen lässt. Seine Mutter müsste mal den Flur bei Pauline sehen. Zehn Paar Schuhe auf dem Boden verteilt, mindestens, ein Durcheinander aus Taschen, Jacken, Schals, alles bunt und wild. Bei Pauline ist es nicht so still und aufgeräumt wie bei ihnen. Immer ist irgendein Besuch da, immer summen Stimmen in der Küche, und immer kocht irgendetwas auf dem Herd, das für alle reichen wird, die noch vorbeikommen könnten. Lukas hütet sich, seiner Mutter von Paulines Haus zu erzählen. Manche Fehler macht man nur einmal.
In einem guten halben Jahr macht er Abitur, und er kann es kaum abwarten. Es ist ein bisschen wie am Bahnhof stehen und auf den Zug warten: Lukas weiß, dass er bald kommen wird, aber es dauert ihm viel zu lange. Er will jetzt sofort mit dem Abitur fertig sein, damit er sich voll aufs Klavierspielen konzentrieren kann. Weiter denkt er eigentlich noch nicht. Bei Pauline ist das anders. Sie kann es kaum abwarten, das Abitur zu haben, damit sie endlich zu Hause ausziehen kann. Sie malt sich schon genau aus, wie es sein wird, in einer WG zu wohnen, alles anders zu machen als zu Hause. Ganz anders. Wenn sie davon redet, wird sie ganz hibbelig und leuchtend vor Vorfreude. Er macht sich darüber gar nicht so viele Gedanken. Pauline schaut ihn dann oft enttäuscht an und findet ihn komisch. Das Schweigen, das dann für einen Moment zwischen ihnen liegt, ist unangenehm. Aber er kennt das, schließlich finden viele ihn komisch. Pauline findet ihn im Vergleich zu den anderen noch relativ selten komisch, denn sie kann es akzeptieren, dass das Klavier sein Leben ist.
Lukas’ Handy vibriert in seiner Jackentasche. Bestimmt eine SMS von Pauline. Wenn er sie jetzt sofort liest, werden die Sorgenfalten im Gesicht seiner Mutter noch strenger, lieber wartet er damit, bis er im Zug sitzt.
Endlich die Durchsage. Als er auf die Uhr schaut, stellt er erstaunt fest, dass der Zug sogar pünktlich ist. Während die Bremsen laut durch den Bahnhof schrillen, lässt Lukas sich von seiner Mutter küssen, lässt sich noch einmal besorgt anschauen und steigt ein.
Als der Zug sich in Bewegung setzt und aus dem heimatlichen Kleinstadtbahnhof rollt, ist es endlich da: das Gefühl von Abenteuer, weil irgendwo in dieser Welt etwas auf ihn wartet. Es breitet sich langsam in seinen Schultern aus und kribbelt bis in die Fingerspitzen, die jetzt auf dem Polster des Sitzes Klavier spielen. Er setzt die Kopfhörer auf und hört Bach. Glenn Gould spielt für ihn Bach.
– Hast Du Mathe kapiert? Mein Hirnchen widersetzt sich.
– Erklär ich Dir morgen, kannst in der Pause abschreiben.
– Schatz.
– Selber.
Lukas schaut aus dem Zugfenster, hört die klaren Töne. Die Musik gibt ihm Zuversicht, sie gibt ihm das Gefühl, dass es Türen gibt, durch die man treten kann. In neue Räume. Andere Räume. Andere Leben.
2
Als Peter in die Siedlung Am Birkenhain einbiegt, steht in einem einzigen Augenblick seine ganze Kindheit vor ihm. Die nach Fichten und Buchen und Ahorn benannten viel zu ruhigen Wohnstraßen, alles Sackgassen, die in einem Wendehammer enden. Ihm ist zumute, als führe er zurück in seine Kindheit, mitten hinein in diese Welt der Panoramafenster und Südbalkone, der Ziertannen, Heckenscheren und an Sommersamstagen surrenden Rasenmäher. Er findet es mühsam, dass er es sich jedes Mal aufs Neue sagen muss, dass er nun erwachsen ist und überhaupt nicht mehr fliehen muss. Ganz im Gegenteil. In zwei, drei höflichen Stunden kann er ja schon wieder gehen. Nur zwei, drei Stunden, sagt er sich. Dann wird er wieder in sein Auto steigen, das Fenster herunterkurbeln und losfahren. Schnell, vielleicht sogar zu schnell zurückfahren in sein eigenes Leben. Wegfahren. Nichts wie weg. Er findet es noch immer schwer, diesem Fluchtimpuls zu widerstehen, und die leichte Atemnot, die damit einhergeht, ist immer überzeugender als sein Verstand. Als ob die Erinnerung, die sich auf seine Brust legt, schwerer wiegt als das, was sein Kopf behauptet. Dazu kommen die Bilder. Alles, was er sieht, verbündet sich sofort mit seiner Erinnerung. Die sauber geplättelten Wege, die zu den Haustüren aus Eiche rustikal führen. Solide deutsche Wertarbeit. Das schmiedeeiserne Gartentor, dahinter der Rhododendron, Mutters ganzer Stolz, in seinem exakt aus dem Rasen ausgestochenen Erdkreis, in dem kein Unkraut je eine Chance hatte. Schau doch nur, wie schön der wieder blüht! Und jedes Mal aufs Neue die Geschichte, wie der kümmerliche, kleine Busch unter den geschickten Händen der Eltern zu großer Blüte gedieh. Der Stolz. Dieser aufdringliche elterliche Stolz, es geschafft zu haben. Ja, sie haben es geschafft. Ein Haus, ein Garten, und alles nur durch Fleiß und Disziplin. Merk dir das, Junge, nur durch Fleiß und Disziplin. Nein, das braucht er sich wahrlich nicht zu merken. So oft, wie dieser Satz von seinen wirtschaftswundergläubigen Eltern wiederholt wird, kann er ihn getrost jedes Mal aufs Neue vergessen.
Peter seufzt und atmet die Luft tief ein, die durch sein geöffnetes Autofenster strömt. Der September ist dieses Jahr schon unangenehm kalt. An Mutters Geburtstag haben sie manchmal noch draußen auf der Terrasse Kaffee getrunken. Dieses Jahr ist daran nicht zu denken. Er parkt seinen Wagen direkt vor dem Rhododendron von Nummer 16 und bleibt noch einen Moment im Auto sitzen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt das Geschenk. Er schaut das Papier an, mit dem die Verkäuferin die Bluse netterweise für ihn eingepackt hat. Verkäuferinnen tun oft, worum er sie lächelnd bittet. Frauen im Allgemeinen tun oft, worum er sie lächelnd bittet. Aber meistens will er das, was ihm so bereitwillig angeboten wird, gar nicht haben. Als die Verkäuferin das weiße Band, das sie um das blaue Papier gebunden hat, mit der Schere zu Locken kräuselte, hat sie ihn herausfordernd angeschaut. Er dachte noch, wenn er sie jetzt fragt, ob sie nach Feierabend mit ihm was trinken geht, sagt sie ja. Er hat aber nicht gefragt. Er hat sich nett bedankt und gehofft, dass die Bluse seiner Mutter wenigstens passt. Die Bluse war noch nicht einmal seine Idee. Natürlich hat er den Geburtstag nicht vergessen. Er weiß immer, wann der Geburtstag seiner Mutter ist. Sobald die Sommerferien vorbei waren, sprach die Familie von nichts anderem. Mutters Geburtstag: Das ist schon immer der eine Tag im Jahr, an dem sich die Familie erkenntlich zeigt, dass Mutter sie an den anderen 364 Tagen stets vorbildlich umsorgt. Vater wird eine Rede halten. Wie immer. Auf die gute Mutter. Mutter werden vor Rührung die Tränen in den Augen stehen, und in Peters Beinen wird es kribbeln. Wie immer. Und dieses Jahr besonders. Dieses Jahr ist es schließlich der siebzigste. Da wird die Rede zweifellos etwas ausführlicher ausfallen. Obwohl Peter wusste, dass der Tag sich näherte, hat er sich bis gestern keine Gedanken darüber gemacht. Er ist der Narr, er ist in der Familie der Gedankenlose. Die anderen machen sich schon genug Gedanken. Seine Eltern machen sich seit fast fünfzig Jahren so viele Gedanken um ihn, dass es für die ganze Familie reicht. Er hat gestern Abend noch schnell seine Schwester Marie angerufen und gefragt, was er Mutter schenken könnte.
»Sollen wir nicht irgendetwas zusammen …«
Aber Marie hat nur gelacht. »Zusammen! Scherzkeks. Das ist doch längst erledigt. Aber ich habe einen Tipp für dich. Schenk ihr ’ne Bluse. Größe 40. Mama-Style. Du weißt schon. Hellblau gestreift, oder so. Geh zum Weinert. Da kann sie umtauschen. Die kennen sie seit vierzig Jahren. Oder fünfzig. Oder siebzig?« Maries Kichern. »Und nimm ja kein Sonderangebot. Das merkt sie, wenn sie umtauschen geht.«
Marie war schon immer seine Lieblingsschwester. Die kleine Marie. Ingrid ist nur ein gutes Jahr jünger als er und hat die Fleiß-und-Disziplin-Parole der Eltern wortgetreu übernommen. Marie ist auf eine charmante Art die Freche, mit einer gewissen Distanz zu den Eltern und ihren Werten. Aber Marie fällt es leichter als ihm, dennoch dazuzugehören. Sie kann mitspielen, sie kennt die Regeln. Er beherrscht die Regeln nicht so gut wie sie, er bleibt bei diesen Familienspielen außen vor.
Nun sitzt er im Auto, er hat ein Geschenk, er ist halbwegs pünktlich, weil er die Theaterwerkstätten ausnahmsweise mal rechtzeitig verlassen hat, er trägt sogar ein Hemd und darüber ein Jackett, ganz so, wie es Mutter gefällt. Er muss nur noch einmal tief Luft holen, um sich dann in das Haus hineinfallen zu lassen, das auf ihn wartet wie ein Aquarium, in dem es allen Fischen gut geht. Nur niemand bemerkt, dass er gar kein Fisch ist und echte Probleme mit dem Überleben hat. Peter steigt immer noch nicht aus. Irgendwie fühlt er sich müde und schwer. Dieses Jahr hat ihn das Ende des Sommers heftiger erwischt als sonst. Vielleicht, weil es schon so kalt ist. Ihm ist eher nach einer Art vorgezogenem Winterschlaf zumute als nach einem goldenen Spätsommer, der sich anfühlt wie Herbst. Er lehnt den Kopf zurück an die Nackenstütze und schließt für einen Moment die Augen.
Ein Auto biegt mit quietschenden Reifen viel zu schnell in die Straße mit den adretten Einfamilienhäusern, die auf ihren gepflegten Grundstücken stehen, die Fenster schauen stumm auf die Straße, die eine oder andere exakt geraffte Gardine bewegt sich leicht. Motorengeheul zerreißt die Stille, der Auspuff knattert, Musik wummert, die Bässe dröhnen, no, no, no/I can’t get no satisfaction. No. Satisfaction gibt es nicht. Die Musik wird lauter, der Wind fährt durchs offene Autofenster in die langen Haare des jungen Mannes. Das ist er. Peter. Er fährt das Auto, und bevor er zur Nummer 16 kommt, zum Haus seiner Eltern, dreht er abrupt mitten auf der Straße um, wieder quietschen Reifen, das Heck schlingert, bricht aus und erwischt die Mülltonne der Nummer 14, die wie in Slow Motion langsam umfällt. Peter sieht es im Rückspiegel und lacht. Er lacht, während der Müll sich aus der Tonne über die Straße ergießt, Dosen hüpfen, Papier flattert, eine Flasche rollt bis vors Gartentor der Nummer 15, empörte Bewohner kommen aus den Häusern und schimpfen dem Auto hinterher. Peter lacht, seine Haare flattern im Wind. Das Auto ist viel zu orange, und über allem spannt sich ein weißer, heller Himmel, der keine Tiefe hat und in den die Straßenlaternen ragen wie Haken. Als ob sie ihn festhalten müssten, damit er nicht wegfliegt.
Peter schreckt hoch und weiß nicht, ob er das tatsächlich einmal getan hat, ob er es als Junge gerne getan hätte, oder ob er es bloß geträumt hat. Erleichtert stellt er mit einem Blick auf die Uhr fest, dass nur einige Sekunden vergangen sind, rafft seinen großen, schlaksigen Körper zusammen und hebt sich aus dem Auto. Er schlägt die Fahrertür zu und geht langsam durch das Gartentor auf die deutsche Wertarbeit aus Eiche zu. Los jetzt, sagt er sich und fährt sich durch die Haare, vielleicht, um sie zu ordnen, aber bei seinen störrischen Locken ist von Ordnung keine Spur. Mutter wird sich freuen, der Alte wird endlich seine Rede los, er wird am besten einfach weghören, sich nicht aufregen, über Belanglosigkeiten reden und vielleicht ein bisschen an Hanna denken. Hanna. Die viel zu junge Hanna, die bestimmt einen ganz anderen Traum träumt als er. Es ist eigentlich schon abzusehen, dass es schwierig wird mit ihr. Als er ihr vorhin gesagt hat, dass er sie heute Abend nicht treffen kann, weil er etwas vorhat, konnte er beobachten, wie sie ihn erst enttäuscht, dann skeptisch musterte. Was hat er denn vor? Was kann er schon vorhaben? Was ist denn so wichtig, dass er mich nicht treffen kann? Er sah all diese Fragen stumm über ihre Stirn ziehen, um dann mit einiger Bewunderung zu beobachten, dass sie in der Lage war, die Enttäuschung und Skepsis binnen Sekunden aus ihrem Gesicht verschwinden zu lassen, ihn anzulächeln und ihm einen schönen Abend zu wünschen. Er hätte ihr auch einfach sagen können, dass er zum Geburtstag seiner Mutter gehen muss. Aber es war ihm auch ganz recht, Hanna lieber ein wenig auf Abstand zu halten. Nicht, dass sie sich noch ernsthaft in ihn verliebt.
Gleich sind die Tantenküsse dran. Vor einigen Jahren, zumindest kommt es ihm so vor, haben sie noch mit ihm geflirtet, jetzt riechen sie plötzlich welk und alt. Ob sich der Geruch des Körpers so verändert, dass selbst das Parfum mit altert und plötzlich anders riecht? Oder nehmen ältere Damen andere Parfums? Ob Hanna in dreißig, vierzig Jahren auch riechen wird wie eine alte Frau? Er kann es sich nicht vorstellen. Hannas Duft nach frisch gemähtem Gras, in das man sich hineinlegen will. Unmöglich, dass der sich in so einen Tantenduft verwandelt.
Peter drückt den polierten Messingknopf und hört das vertraute Dingdong der Klingel durch das Haus hallen. Durch die geschlossene Tür kann er förmlich sehen, wie sein Vater auf die Uhr schaut, um gleich die Verspätung festzuhalten. Er weiß, dass seine Mutter sich die Haare mit dieser typischen kleinen Bewegung nach hinten streicht, damit sie gut aussieht für den Sohn, und dass Ingrid sich darüber ärgert und dass er diesen Ärger gleich in Ingrids Mundwinkel sitzen sehen wird, auf der einen Seite, die selten mit lächelt, wenn sie ihn sieht.
Marie wird ihm gleich um den Hals fallen. Vielleicht kann er später mit Marie abhauen. Wie früher. Mit Marie abhauen, Spaß haben, Ärger bekommen. Sie wird ihm durch die Haare wuscheln und sagen, du Kindskopf. Marie gehört zu den Frauen, die ihn gerne ermahnen, endlich mal erwachsen zu werden, davon gibt es in seinem Leben einige, aber sie zwinkert dabei und stößt ihm während Vaters Reden ihren Ellenbogen in die Rippen und schneidet Grimassen, die nur er sehen kann.
Die Tür geht auf, Peter setzt ein Lächeln auf und schaut seinen Vater freundlich an, der bei der Begrüßung kurz zögert, als ob er ihm etwas sagen will, es dann aber doch lässt.
»Hallo!« Peter wundert sich einen kleinen Moment über dieses Zögern, hat er schon wieder etwas falsch gemacht und weiß es nicht? Beim Eintreten zieht er den Kopf ein, er war schon immer zu groß für dieses Haus, in dem er überall aneckt. Beinahe erwischt er den Lampenschirm im Flur, er kann ihm gerade noch ausweichen, kaum hat er sich wieder zu voller Größe aufgerichtet, fliegt ihm etwas in die Arme.
»Da bist du ja endlich!«, ruft Marie in sein Ohr, und am liebsten würde er sie im Kreis wirbeln. »Ich hatte schon Angst, du kommst nicht mehr.«
»Hatte ich auch«, flüstert er grinsend in ihr Haar, das dunkel glänzt und nach Marie riecht. Er nimmt ihre Hand und zieht sie mit sich ins Wohnzimmer, wo er seine Mutter vermutet. Laut ruft er: »Jetzt bin ich ja da! Wo ist denn das Geburtstagskind?«
Peter steuert auf die Menschen zu, die seine Familie sind, er ist fröhlich, er ist laut, er spielt die ihm zugedachte Rolle, die ihm durch den Abend helfen wird. Tante Hilde, du wirst ja immer jünger! Und was für ein schickes Kleid. Mutter, da bist du ja. Herzlichen Glückwunsch. Er umarmt seine Mutter und spürt ihren noch immer drahtigen, zierlichen Körper. Sie hat sich schick gemacht für ihren Geburtstag, und sie lächelt ihn an, ihren Goldjungen. Er hat das Gefühl, dass sie ihn aus irgendeinem Grund besonders erwartungsvoll ansieht. Mit einem besonderen Lächeln. Sie lässt sich von ihm küssen, nimmt das Geschenk entgegen und legt es auf den Gabentisch. »Geh erst mal alle begrüßen, und dann können wir essen, aber lass dir ruhig Zeit.« Wieder dieser bedeutungsvolle Blick. Er nickt Ingrid zu, und ja, genau, da sitzt er, der Ärger, in ihrem linken Mundwinkel. Peter schaut schnell zu Ingrids Mann und ihren beiden Kindern. Tante Hilde hat er schon, Tante Leni muss noch geherzt werden, der dazugehörige Onkel Willi ebenfalls und Maries Tochter, seine kleine Lieblingsnichte Stella. Er geht hinüber ins Esszimmer, weil er dort auch jemanden stehen sieht. Und noch während er die wenigen Schritte durch den Raum geht, weiß er plötzlich, warum sein Vater am Eingang gezögert und die Mutter so erwartungsvoll geschaut hat, warum die Stimmung aufgeladener ist als sonst.
Lukas. Der junge Mann mit den blonden Locken, der vor der Ahnengalerie steht und sich die Familienbilder anschaut, ist Lukas. Sein Sohn Lukas. Es ist wie ein Faustschlag in den Magen, es macht seine Knie zu Pudding, es sträubt seine Nackenhaare, es treibt ihm die Tränen in die Augen, es macht ihn weich und hart zugleich. Und es ist zu viel von allem. Es ist zu viel für ihn in diesem Moment. Er spürt, wie eine Wut in ihm hochkocht, die nichts mit Lukas zu tun hat, nichts mit dem Jungen, der vor ihm steht und ihn stumm und trotzig, so rührend stumm und trotzig, anstarrt, nein, es ist eine Wut, die seinem Vater gilt, seiner Familie, die dieses Schauspiel veranlasst hat, die ihn hier ausliefert und nun dabei zuschaut. Er hat das Gefühl, dass die Blicke der versammelten Familie sich in seinen Rücken bohren und alle Gespräche verstummen. Er spürt es brodeln, und noch bevor es ihm gelingt, mehr herauszubringen als ein gestammeltes »Lukas«, bevor es ihm gelingt, sich über seine Locken zu freuen, die er wieder wild und lang trägt, und das gefällt ihm wirklich, bevor es ihm gelingt, auf ihn zuzugehen, hört Peter die Stimme seiner Mutter.
»Das ist doch schön, dass der Junge da ist, dann sind wir mal alle komplett.«
Und Peter muss herumfahren, sich von Lukas wegdrehen, obwohl es auch wehtut, das zu tun, weil er ihn sehen will, alles in seinem Gesicht sehen will, was es zu sehen gibt. Doch er muss sich wegdrehen, damit die Worte, die nun in ihm hochfluten, nicht zu Lukas schwappen, sondern zu seinem Vater, der wie eine Holzstatue streng und unnachgiebig in der Tür steht. »Er gehört zur Familie«, hört Peter ihn sagen, bevor er sich mit einem ungezügelten Schwall von Worten Luft macht. Er wäre erstickt, hätte er es nicht getan. Worte gegen die ewige Bevormundung, gegen das Einmischen, gegen die Oberhoheit der Familie, gegen dieses Gefühl des Ausgeliefertseins. Worte für seinen Vater, nicht für Lukas. Keine Begrüßungsworte für Lukas. Er ruft ihm zu, dass er mal Luft holen muss, und stürmt an seinem Vater vorbei, der genau in seinem Fluchtweg steht. Er stößt die Haustür auf, die solide, schwere Eichentür, und rennt hinaus in den Vorgarten.
Auf dem perfekt gestutzten Rasen tigert er unruhig auf und ab, holt immer wieder tief Luft, als ob er sich vergewissern müsste, dass es noch geht, dass genug Luft für ihn da ist. Dass er nicht erstickt. Okay, sagt er sich. Okay. Ich gehe jetzt wieder rein, ich gehe zu Lukas und ignoriere alle anderen. Ich gehe direkt zu Lukas und sage ihm, dass es schön ist, ihn zu sehen. Und dann frage ich ihn, ob wir zusammen abhauen wollen. So mache ich es. Ich nicke freundlich in die Runde, verabschiede mich, und dann machen wir zwei uns davon. Noch zwei Mal Luft holen.
Da öffnet sich plötzlich die Haustür, und Marie tritt hinaus. Aha. Sie haben Marie geschickt. Marie soll ihn holen. Er kann es deutlich hören, wie sie gesagt haben, geh du mal, Marie. Du kannst doch am besten mit ihm. Er spürt die Wut wieder brodeln, sie ist noch lange nicht aufgebraucht, das Wutgefäß in seinem Innersten füllt sich schnell, wenn die Voraussetzungen stimmen. Und in diesem Moment stimmen sie besonders gut. Er kann nicht anders. Sein unruhiges Auf- und Abtigern wird zum Rennen. Er läuft zum Gartentor. Marie ruft ihm hinterher. Er kann sich noch nicht einmal mehr umdrehen, und der Autoschlüssel rutscht ihm wie von selbst in die Hand, steckt plötzlich in der Autotür, dreht sich um, die Tür öffnet sich und Peter lässt sich ins Auto fallen. Er lässt den Motor an, er gibt Gas, er sieht Marie, die die Arme hochreißt und etwas ruft, aber er hört es schon nicht mehr, er kurbelt das Fenster herunter, damit er Luft bekommt, damit er nicht erstickt, und da ist es wieder, das Bild mit den quietschenden Reifen und dem schlitternden Heck, aber er fährt keine Mülltonne um, er fährt einfach nur davon.
Nach einigen Kilometern hat er sich beruhigt. Und Lukas steht da jetzt noch immer, ich muss zurück, denkt er. Ich muss sofort wieder zu ihm. Er wendet den Wagen und braust zurück, doch je näher er der Kreuzung kommt, an der er links zum Birkenhain abbiegen muss, desto schlimmer wird die Vorstellung, wieder zu klingeln, angegafft zu werden, Vaters anklagende Worte, eine Schimpftirade wie einst im Mai, als er von der Schule flog, mindestens, dazu Mutters leidender Blick. Und was soll er verdammt noch mal zu Lukas sagen? Was? Als er die Kreuzung erreicht, fährt er einfach geradeaus weiter. Es scheint in diesem Moment das einzig Mögliche.
Er fährt noch eine Weile ziellos umher und gelangt dabei zu der trotzigen Überzeugung, dass er verdammt noch mal keine andere Möglichkeit hatte, dass ihm wirklich übel mitgespielt wurde. Als er spürt, dass er Hunger bekommt, fährt er in die Stadt. Ihm ist jetzt kalt, das Autofenster war die ganze Zeit offen, damit das erstickte Gefühl aus seiner Lunge weicht, und er freut sich auf einen Teller Nudeln und ein Glas Rotwein. Direkt vor seinem Stammitaliener gibt es eine große Parklücke. Wenn das kein gutes Zeichen ist, denkt Peter und beginnt am Steuer zu kurbeln, um einzuparken. Mit seinem überlangen, alten Citroën findet er normalerweise nicht einfach so einen Parkplatz, meist stellt er sich irgendwohin, oft genug ins Parkverbot, aber er bekommt selten einen Strafzettel. Vielleicht gibt es unter den Verkehrswächtern in diesem Viertel ein paar Liebhaber, die wissen, dass sein Auto kaum in normale Parklücken passt, und die ihn deshalb verschonen. Er spürt, wie das Auto sich senkt, spürt eine bleierne Schwere in seinen Gliedern und hebt sich aus dem Wagen. Er hat das Gefühl, kaum gegen die Schwerkraft anzukommen, und wundert sich, dass er so müde ist. Der Abend war wohl doch anstrengender, als er wahrhaben will.
Als er das Lokal betritt, steht Francesco hinterm Tresen und nickt ihm freundlich zu. Es ist voll, und Peter steuert gleich auf einen der letzten freien Plätze an der Theke zu, angelt sich den Hocker und beschließt, dass alles gut so ist, wie es ist. Dass etwas anderes nicht möglich ist.
»Rosso della casa?«, fragt Francesco, und Peter nickt.
»Und einmal aglio e olio.«
»Kommt subito.«
Francesco, immer fröhlich, immer am Arbeiten, immer von seiner Familie umgeben. Wie machen die Italiener das bloß? Francesco wirkt alles andere als erstickt, auch wenn der alte Padrone oft genug in der Ecke sitzt und genau beobachtet, was sein Sohn Francesco macht und die Mamma und die Brüder, die ganze Sippe, und alle reden durcheinander und lachen.
Ein Stück weiter hört Peter ein Lachen, das er kennt, und schaut in die Richtung. Ein Grüppchen von Leuten, Theaterleute, er muss kurz grinsen. Immer am Gestikulieren, Argumentieren, immer auf der Bühne, immer lauter als die anderen. Einen kurzen Moment muss er sich überwinden, dann winkt er der Gruppe zu. Überspielt seine Müdigkeit, ist ein bisschen zu fröhlich. »Ich dachte, ihr macht Kostümbesprechung und ich kann hier mal in Ruhe einen trinken – wieder nichts!«
Der Regisseur, Tommi, lacht ihn breit an, und Peter denkt, das ist nicht sein erstes Glas Wein. Es kommt Peter immer so vor, als sei Tommi halb so alt wie er selbst, was natürlich nicht sein kann.
»Wir haben gedacht, wir warten auf dich, und haben alles auf morgen früh vertagt. Du entkommst uns nicht!«
Francesco stellt ihm sein Glas Roten auf den Tresen, und Peter hat das Gefühl, dass es auch bei ihm heute wahrscheinlich nicht bei dem einen bleiben wird. Er spürt die Wärme, die sich mit dem Wein in ihm ausbreitet, spürt die besänftigende Wirkung, die ein paar Schlucke Rotwein auf einen nüchternen Magen haben können, steht auf und geht zu den anderen, und da sieht er Hanna. Hanna schaut ihn an, mit ihren grünen Augen mustert sie ihn, und für einen Moment sind sie allein, in ihren Blicken gefangen, bis Hanna etwas zur Seite rückt, um ihm Platz zu machen, und dabei leise und etwas kokett feststellt, dass sie bis eben dachte, er hätte heute Abend keine Zeit. Die anderen beobachten das interessiert. Ist etwas zwischen Peter und Hanna? Und wenn ja, was? Peter weiß es selbst nicht, aber dieser Zustand ist okay für ihn.
»Hatte ich auch nicht.«
»Das sehe ich.« Hanna grinst.
»Familienfeier.« Peter zuckt die Achseln. »Themawechsel. Bitte.«
»Du hättest mich mitnehmen können. Ich liebe Familienfeiern. All die Tanten, Nichten und Neffen! Ich mach mich gut bei so was.«
Peter lacht bitter. »Keine gute Idee.«
Hanna schaut ihn von der Seite an. »Kann es denn mal eine gute Idee werden?« Peter schweigt. Niemals, würde er am liebsten sagen, nie, doch das würde Hanna jetzt völlig falsch verstehen. Ihm fällt keine andere Antwort ein. Sein Schweigen verursacht ein kleines Zucken zwischen ihren Brauen, dann glättet sich ihr Gesicht wieder. Es beruhigt ihn, dass sie ihn nicht bedrängt. Er kann sie anlächeln. Und Hanna versucht, sein Lächeln zu erwidern.
»Auf die besseren Ideen.« Hanna prostet ihm zu. Er hebt sein Glas, trinkt es zu schnell aus und dreht sich zur Theke, um bei Francesco mehr Wein zu bestellen. Er legt eine Hand auf Hannas Schulter, lehnt sich zu ihr und atmet ihren sonnigen, grasigen Geruch ein, in den er sich einfach fallen lassen will. Wie ein Kind sich in eine warme Ladung Heu fallen lässt, in einer Scheune, in der die Staubteilchen in den goldenen Sonnenstrahlen tanzen, die durch die Ritzen dringen. Peter weiß in diesem Moment, dass ihn genau das heute retten wird. Hanna wird ihn retten.
»Trinkst du noch einen Roten mit mir?«, flüstert er ihr ins Ohr, und sie nickt fast unmerklich, ohne ihn anzuschauen.
3
Lukas will nur noch weg. Was soll er hier eigentlich? Alle schauen ihn betroffen an, lächeln mitleidig, wollen ihm Teller vollladen, Getränke eingießen, ihn in Gespräche verwickeln, auf die er keinen Bock hat. Überhaupt keinen.
Er kommt bestimmt gleich wieder, das hat er nun bestimmt schon siebenmal gehört, aber er hat gesehen, wie der Mann, der sein biologischer Vater ist, sich in sein Auto gestürzt hat und weggefahren ist. Der kommt mit Sicherheit nicht wieder. Das sah ganz nach Flucht aus, nach endgültiger Flucht. Nach Auf-Nimmerwiedersehen-Flucht. Idiot. Was für eine blöde Idee, hierher zu fahren. Seine Mutter hatte völlig recht. Er hätte doch auf sie hören sollen. Jetzt kommt Marie auf ihn zu, den großen Besorgnisblick schickt sie schon von weitem quer durch den Raum.
»Ich hätte nicht rausgehen dürfen, ich hätte es wissen müssen. Er hätte einfach einen Moment gebraucht, allein, verstehst du, ich hab’s vermasselt, es tut mir so leid.«
Lukas versucht, bitter zu lachen, es klingt sogar überzeugend. Er kann bitter lachen, das hat etwas verdammt Erwachsenes. Er findet, dass bitteres Lachen eine angemessene Reaktion auf die Begegnung mit seinem biologischen Vater ist. Er fühlt sich sicher dabei.
»Wie komme ich zum Bahnhof?«
»Willst du nicht noch ein bisschen …«
»Nein.«
Lukas weiß genau, dass er kein bisschen von dem will, was Marie ihm vorschlagen möchte. Bleiben, essen, warten, reden. Er will weg. Einfach nur weg. Möglichst schnell. Zum Glück scheint Marie das zu verstehen. Sie versucht nicht, ihn zum Bleiben zu überreden. Sie nickt.
»Ich fahr dich hin.«
Lukas geht los, um seine Jacke zu holen und sich irgendwie zu verabschieden. Er weiß nicht, was er bloß zu seiner Oma sagen soll. Eigentlich könnte er ihr etwas Nettes sagen, sie hat heute Geburtstag und hat sich das alles bestimmt anders vorgestellt. Aber ihm fällt absolut nichts Nettes ein. Außerdem ist sie selber schuld. Es war schließlich nicht seine Idee, herzukommen und den Überraschungsgast zu geben. Sie hätte wissen müssen, dass das schiefgeht. Sie muss ihren Sohn doch kennen. Lukas spürt, wie er wütend wird. Wenn er jetzt nicht sofort geht, sagt er noch etwas ganz und gar nicht Nettes. Der Großvater klopft ihm auf die Schulter und kündigt an, Peter den Kopf zu waschen. Aber gehörig. Als wäre Peter Lukas’ kleiner Bruder, der etwas ausgefressen hat. Das Handy kaputtgemacht hat. Oder Lukas’ Sparschwein geplündert. Als könne er reparieren, was nicht zu reparieren ist. Mit einer Kopfwäsche. Für einen Moment malt Lukas sich aus, wie die dunkle tropfende Mähne links und rechts Peters Gesicht umrahmt wie zwei Vorhangschals und wie Peter zu Lukas aufschaut, während der Großvater mit einer zweiten Ladung Wasser kommt, um seinem Sohn den Kopf zu waschen. Peters Blick ist bittend. Es ist der Blick, mit dem er ihn angeschaut hat, als er ihn erkannte. Hilflos, verletzlich, verletzt. Lukas will nicht an diesen Blick denken. Er könnte nicht mehr bitter lachen, wenn er an diesen Blick denkt. Dieser Scheißkerl.
Im Zug presst er sein Gesicht an die kühle Scheibe und schaut zu, wie die Lichter draußen im Dunkel auftauchen und verschwinden. Straßenlaternen. Erleuchtete Fenster. Scheinwerfer. Ein Licht nach dem anderen zieht vorbei. Goldbergvariationen in seinem Ohr. Lukas konzentriert sich auf die Musik. Glasklare Töne. Unruhige, fragende Töne und Töne wie beruhigende Antworten. Beides ist ihm gleichermaßen zu viel, aber trotzdem fühlt er sich in diesen Tönen aufgehoben. Die Rückfahrt kommt ihm länger vor als die Hinfahrt. Vielleicht, weil er die Strecke heute schon zum zweiten Mal fährt. Vielleicht, weil die Erwartung fehlt. Wenn er ehrlich ist, war er auf der Hinfahrt voller Erwartung, die geplatzt ist wie ein Ballon, als sein biologischer Vater aus dem Wohnzimmer gestürmt ist. Vielleicht kommt ihm die Fahrt aber auch länger vor, weil er seiner Mutter am Ende sagen muss: Du hattest recht.
»Du hattest recht«, sagt Lukas in das erstaunte Gesicht seiner Mutter, die erschrickt, als er plötzlich in der Tür steht. Sie hat erst morgen mit ihm gerechnet. Zusammen haben sie den Zug herausgesucht, der so früh in Frankfurt losfährt, dass er halbwegs pünktlich zur Zweiten in der Schule gewesen wäre.
»Du hattest recht. Er ist einfach ein Arsch.«
Seine Mutter zuckt bei diesem Wort instinktiv zusammen. Das Wort ist verboten, aber das ist Lukas egal.
»Ist doch wahr«, setzt er hinzu und geht in sein Zimmer. Er wirft ihr noch ein knappes »Nacht« zu, weniger, um seiner Mutter eine gute Nacht zu wünschen, als um klarzustellen, dass er jetzt überhaupt gar keine Lust hat zu reden. Er dreht sich noch nicht einmal mehr um, um sich zu vergewissern, dass die Botschaft angekommen ist. Er will nur noch allein sein und sich auf sein Bett fallen lassen. Mit Kleidern, mit Schuhen, alles egal. Fallen lassen.
Als er das Licht ausgeschaltet hat, ziehen im Dunkeln Gesichter an ihm vorbei. Marie, seine Großmutter, der Großvater, auch Peters Gesicht taucht auf, zieht an ihm vorbei. Irgendwann schläft er ein.