Barbara Büchner
Roman
Nie war ein August so gnadenlos heiß gewesen wie dieser. Jeder Stein war ein Backofen, der Asphaltbelag der Straßen ein schwarzer Sumpf, in dem die Schuhe kleben blieben. Man musste aufpassen, wo man hintrat und hinfasste. Der Straßenbelag war so heiß, dass er sich sogar durch dünne Schuhsohlen hindurch schmerzhaft bemerkbar machte, und ich hütete mich sehr, Metallgeländer und dergleichen anzufassen. Die Sonne erschien mir wie ein Brennglas, in dem sich die über den ganzen Himmel ausgegossene Gluthitze sammelte. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang breitete sich ein milchiger, orangefarbener Dunst über die Stadt, der das harte Licht jedoch keineswegs milderte. Im Gegenteil, die Strahlung, die durch die zerfledderte Ozonschicht drang, war so aggressiv, dass Radio und Fernsehen jeden Morgen davor warnten, ohne Schutz längere Zeit in die Sonne zu gehen – wobei unter längere Zeit, zehn Minuten zu verstehen waren. Wenigstens führte der Weg zum Briefkasten der Villa Maunaloa unter Schatten spendenden Bäumen und Büschen hindurch, sodass ich nicht auf die Uhr zu schauen und nachzurechnen brauchte, ob mein Risiko an Hautkrebs zu erkranken schon wieder gestiegen war.
Ich empfand aber auch aus einem anderen Grund jedes Mal eine gewisse Beklemmung, wenn ich zum Gartentor ging, um die Post aus dem Kasten zu holen. Das unscheinbare, rot lackierte Behältnis wurde, so schien es mir, je nach Lust und Laune des Postboten für mich einmal zu Fortunas Füllhorn, ein anderes Mal zur Büchse der Pandora. Was hatte ich nicht schon alles hinter der angerosteten Klappe gefunden! Letzte Mahnungen, Todesanzeigen, Verträge, die sich als Meilensteine in meiner Karriere als Schriftstellerin erwiesen, Absagen, die derselben Karriere ein jähes Ende zu bereiten drohten, Geldsendungen, Liebesbriefe, anonyme Schmähschriften, Traktate und Kettenbriefe, die mich eindringlich aufforderten ‚diese wunderbare Botschaft umgehend an zehn weitere Menschen zu senden, denen Sie Glück wünschen‘. Aber was die Post am achten August brachte, fiel in eine ganz andere Kategorie. Den Briefkasten zu öffnen und die Kuverts herauszunehmen, war der erste Schritt auf einem Weg, der mich in ein Labyrinth des Schreckens führen sollte.
Dabei dachte ich zuerst, es sei nichts Besonderes in der Post, weder für mich noch für meinen Lebensgefährten Alec oder unseren gemeinsamen Freund Robert. Einen privaten Brief, der an Frau Charmion Sperling, Schriftstellerin adressiert war, hielt ich für Fanpost, wie ich sie hin und wieder an meine Privatadresse bekam, wenn es einem detektivisch begabten Fan gelang diese ausfindig zu machen. Der Absender Jan Carl Zelda sagte mir nichts. Erst als ich dann in der Küche das Kuvert aufschlitzte und ein Foto herausfiel, wurde mir auch der Name plötzlich wieder ein Begriff. Ja, diesen schmächtigen jungen Mann mit dem mahagonifarbenen Haarbusch und den vorzeitig abgelebten Zügen kannte ich. Er wäre mir schon wegen seiner Augen in Erinnerung geblieben, denn die waren verschieden gefärbt – eins stachelbeergrün, das andere hellbraun. Der Briefanfang beseitigte die letzten Zweifel.
Liebe Frau Sperling,
ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich. Wir sind uns auf den Literaturtagen im Rathaus begegnet (beiliegendes Foto diene als Gedächtnisstütze). Camilla Agarvi riet mir, mich an Sie zu wenden …
Hol der Teufel Camilla, dachte ich, während ich die Lektüre unterbrach, um mir ein zweites Halbliterglas eisgekühlter Orangeade einzuschenken. Wir waren an sich gut befreundet, aber manchmal wurde sie mir lästig. Als Herausgeberin eines Newsletters für Autoren und Hansdampf in allen Gassen des Literaturbetriebs kannte sie alle und jeden, der schon einmal ein Keyboard unter den Fingern gehabt hatte. Sie setzte sich mit großem Engagement für Sonntagsschreiber und Möchtegern-Autoren ein und es passierte immer wieder, dass sie mir solche Typen wie Jan Carl Zelda auf den Hals hetzte. Sie versprach den Leuten, ohne mich vorher zu fragen, ich würde ihre Manuskripte begutachten, ihre Werke meinen Verlagen empfehlen – einmal hatte sie mich allen Ernstes animieren wollen mein sauer verdientes Geld in das Erstlingsbuch eines völlig unbekannten Autors zu stecken, das bei einem Selbstkostenverlag erscheinen sollte, weil es, einmal erschienen, sicher ein Bestseller werden würde.
Jan Carl Zelda hatte ich in Erinnerung als einen freundlichen, sehr amüsanten Mann Mitte dreißig, der sein Geld als Autor von Gruselheftchen verdiente, und damit auch schon den Plafond seiner literarischen Fähigkeiten erreicht hatte. Wenigstens war er ein vernünftiger Typ, der sich nicht einbildete, ein zweiter Dante zu sein. Sein literarischer Ehrgeiz, hatte er mir bei den Literaturtagen erklärt, reichte nicht höher als der Wunsch, zumindest einmal ein ‚richtiges‘, gebundenes Buch herauszubringen. Vielleicht hing der Brief jetzt mit diesem Wunsch zusammen? Wollte er, dass ich ihn bei meinem Verlag pushte?
Zu meiner Überraschung hieß es jedoch in den nächsten Zeilen:
… da Ihr Mann, wie ich höre, ein berühmter Rechtsanwalt ist und mir vielleicht aus dieser entsetzlichen Situation heraushelfen kann.
Wenn er mich um berufliche Protektion anschnorren wollte, hätte er Alec nicht gebraucht, der mit Literatur überhaupt nichts zu tun hatte, sondern Strafverteidiger im Ruhestand war. Und was meinte er mit ‚entsetzlicher Situation‘?
Ich wurde nun doch neugierig und überflog eilig die folgenden Zeilen. Der Brief wurde zusehends konfuser, als hätte die Fassung des Briefschreibers nur für die ersten paar Sätze gereicht.
Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen erklären soll – ich bin noch so durcheinander und ich habe eine Todesangst vor dieser schrecklichen Anklage. Für Brandstiftung kann man Jahre lang ins Gefängnis kommen, sagte man mir, für Einbruch auch, von den kleineren Delikten wie Sachbeschädigung und alledem gar nicht zu reden. Dabei bin ich völlig unschuldig, ich meine, jeder andere hätte an meiner Stelle dasselbe getan, das muss man doch verstehen. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, mir dieses gräuliche Ding vom Leib zu halten. Sie werden mir das doch glauben, nicht wahr? Die Polizei behauptet ich lüge. Aber was für einen Grund hätte ich denn gehabt? Ich kenne die Leute doch gar nicht, warum sollte ich ihnen schaden und ihr Haus anzünden? Ich bin völlig verzweifelt. Camilla hat mich getröstet, Ihr Mann würde sicher nicht zulassen, dass ich unschuldig Jahre lang ins Gefängnis komme. Ich habe solche Angst davor, lieber bringe ich mich um.
So weit war ich gekommen, als Alec in der Küchentüre auftauchte. Alec kam nie einfach herein. Er betrat den Schauplatz – eine so monumentale Erscheinung wie die des Komturs in Don Giovanni. Wenn er formell gekleidet war, strahlte seine ganze Erscheinung, vor allem der weißhaarige Charakterkopf mit dem kurz gestutzten weißen Vollbart, eine geradezu atembeklemmende Majestät aus. Sogar in dem eher absurden Outfit, das er im Augenblick trug, ähnelte er noch einer Marmorstatue – eben einer mit weißem Panamahut, Seidenkimono und Sandalen bekleideten Statue. Andere Leute hätten bei 34 Grad im Schatten auf einen Kimono mit langen Ärmeln verzichtet, aber Alec war ein Mann, der unter allen Umständen Wert darauf legte angezogen zu sein. Selbst in unseren intimen Augenblicken bekam ich ihn bei Licht nur in einem prunkvollen, kirschroten Damast-Morgenmantel zu sehen, den er diskret vorne öffnete.
Während er sich mit einem Feuchtigkeitstüchlein Stirn und Wangen abtupfte, sagte er: „Wir sind fast fertig, Charmion. Robert topft noch ein paar von seinen Blumen –“ Er unterbrach sich mitten im Satz und musterte mich scharf. In den vielen Jahren, in denen Dr. Alec Marhold Leiter einer prominenten Anwaltskanzlei und ein viel gefragter Strafverteidiger bei Gericht gewesen war, hatte er gelernt in den Gesichtern anderer Menschen zu lesen, und so fragte er prompt: „Schlechte Nachrichten?“
„Nichts, was uns unmittelbar betrifft, aber –“
„Aber schlimm genug, dass du beim Lesen finster und verkniffen aussiehst?“
„Moment noch.“ Ich las rasch die letzten Zeilen des Briefes.
Seit einem Monat sitze ich in U-Haft, der schlimmste Monat meines Lebens. Sie haben mich in die Psychiatrie gesteckt, zur Evaluation meiner geistigen Fähigkeiten, um festzustellen wie gemeingefährlich ich bin. Es ist zum Verzweifeln. Ich habe zwar einen Anwalt, Dr. Steeger, aber der sagt immer nur wir müssten den Prozess abwarten, und bis dahin bin ich verrückt oder tot, ich halte diese Situation nicht aus. Bitte, liebe Frau Sperling, helfen Sie einem Kollegen!
Mit einem schwachen Anflug seines alten Witzes hatte er noch hinzugefügt: Auch wenn es nur ein Schundheftchenschreiberling ist.
Ich musste lächeln, als ich das las. Im Rathaus hatte er mir ein halbes Dutzend Belegexemplare seiner Werke in die Hand gedrückt, Heftchen mit derb-bunten Umschlägen und so verheißungsvollen Titeln wie Das Testament des Schreckens, Das Haus der eisigen Schatten und Das Ungeheuer des Hexenmeisters. Er hatte – worauf er sehr stolz war – mit Tom Tombstone, der Unsterbliche einen der beliebtesten Helden der Reihe erfunden, einen jungen Kerl mit Pferdeschwanzfrisur und Dreitagebart, der zu jeder Jahreszeit ärmellose Lederwesten trug, auf einer Harley Davidson herumkurvte, wenn er nicht gerade auf irgendwelchen Mädchen lag, und Vampire mit Karateschlägen erledigte. Da ich Jan nicht kränken wollte, hatte ich die Hefte mit höflichem Dank eingesteckt, aber sie lagen immer noch ungelesen in der untersten Schublade meines Schreibtischs.
Ich reichte Alec den Brief. „Lies selber.“
Auf seinen Krückstock gestützt, trat er an den Küchentisch heran, nahm mir den Brief aus der Hand und ließ sich dann schwerfällig nieder. Ich beobachtete ihn, wie er bedächtig die Lesebrille aufsetzte, das Papier glatt strich und aufmerksam Satz für Satz studierte. Schließlich schob er ihn weg. „Und du kennst also diesen Jan Carl Zelda?“
„Nur flüchtig. Wir haben uns bei den Literaturtagen im Rathaus kennengelernt. Es war ziemlich langweilig dort, und er ist ein witziger und unterhaltsamer Mensch, also haben wir den Großteil der Zeit gemeinsam verschwatzt. Ich erinnere mich, wie er an mich herantrat, mir mit seinem Schuljungengrinsen die Hand hinstreckte und sich vorstellte: ‚Zelda ist mein Name. Der Familienname, wohlgemerkt, nicht der Vorname. Der lautet Jan Carl.‘“
In Gedanken hatte ich wieder den museumsartigen Bibliotheksaal mit den gotischen Fenstern vor mir, die endlosen Reihen der Büchertische und die Kaffeebar im Winkel, wo man sich zwischen den Lesungen die Kehle anfeuchten konnte. Ich hatte eine längere Pause bis zum nächsten Auftritt absitzen müssen, den ich normalerweise mit einem Spaziergang verbracht hätte, aber das machte die Hitze unmöglich. Die Straßenschluchten des Zentrums erschienen mir wie ein überheiztes Spiegellabyrinth mit kaputter Belüftung. Sogar die sonst so unerschütterlichen Platanen entlang der Straße ließen gelb verwelkte Blätter hängen, und das Laub der Büsche war silbergrau vom Staub. In den Teichen im Rathauspark, die wegen Wassermangels nicht mehr aufgefüllt werden durften, hatte sich das Wasser in ein wolkiges Gelee verwandelt, auf dem Entengrütze und tote Blätter trieben. Die vergoldete Sphinx in der Mitte des Weihers gleißte, als stünde sie in Flammen. Wie Moreaus Sphinx triumphierend auf den Leichen der Verführten hockte, die sie sich zum Thron getürmt hatte, hockte die städtische Sphinx auf einem Haufen leerer Plastikflaschen, Hamburger-Packungen und anderem Unrat, der reglos im Wasser um ihren Sockel schwamm.
Ich hatte mich nach einem Blick aus dem Fenster rasch wieder in der schützenden Kühle des Bibliothekssaals verkrochen. Dort hatte ich mich nach Unterhaltung umgesehen und war sehr froh gewesen unter den anwesenden Literaten einen wie Zelda zu finden, der auch über etwas anderes reden konnte als seine eigenen unsterblichen Werke. Außerdem war er einer von den Männern, die einer 50-jährigen Frau das Gefühl geben können, dass sie immer noch eine Sünde wert sei, ohne dass sie dabei aufdringlich oder plump werden – aber das erzählte ich Alec nicht.
„Rück einmal alles heraus, was du über ihn weißt.“
In den drei Jahren, die wir jetzt zusammenlebten, hatte ich Alec gut genug kennengelernt, um zu wissen, dass er solche Fragen nicht müßig stellte. Die Geschichte interessierte ihn wirklich. Er hatte die Nase eines Trüffelschweins, wenn es darum ging, im Bodenmull des Alltäglichen und Unscheinbaren, das Außergewöhnliche zu entdecken. Also bemühte ich mich um eine möglichst detaillierte Auskunft.
„Er ist fünfunddreißig, war mal verheiratet, lebt aber jetzt geschieden oder getrennt von seiner Frau und arbeitet als Hausautor für den Kiltra-Verlag, Reihe Mitternachtsromane. Verdienst: Bescheiden, aber ziemlich regelmäßig. Bescheiden sind auch seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Mir scheint, er wäre besser Journalist geworden als Schriftsteller, das Recherchieren liegt ihm mehr als das Dichten, aber er will nun mal als Autor sein Geld verdienen. Sein großer Ehrgeiz ist es ein richtiges Buch zu veröffentlichen, nicht nur Heftchen. Das ist allerdings auch schon alles, was ich über ihn in Erfahrung bringen konnte.“
„Weißt du irgendetwas über ihn, was diesen Brief erklärt? Ich meine, ist er ein Mensch, den man leicht mit Einbruch, Brandstiftung und geistiger Verwirrung in Verbindung bringt?“
„Eigentlich nicht. Er machte einen sympathischen und keineswegs überspannten Eindruck auf mich. Wir debattierten sogar eine Weile, weil er ziemlich skeptisch war, was echte paranormale Phänomene angeht, und es zuerst für einen bloßen Werbegag hielt als ich ihm sagte, dass ich fest daran glaube. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass er zu viel trinkt und auch eine Menge Drogen konsumiert. Im Rathaus servierten sie nur Kaffee, und er lief extra hinunter und kaufte eine Flasche Weinbrand, mit dem er seinen Kaffee aufpeppte. Und er hatte die typischen entzündeten Nasenlöcher eines gewohnheitsmäßigen Kokainschnupfers.“
Alec betrachtete das Foto eingehend. Sein Blick ruhte auf den wässrigen, verschwiemelten Augen des Dargestellten. „Er trinkt jedenfalls so viel, dass man es ihm ansieht.“
„Das ist in unserer Branche leider ein sehr weit verbreitetes Übel. Viele saufen, um schreiben zu können, manche können schreiben obwohl sie saufen, und manche glauben sie brauchten nur zu saufen, um schon ein Hemingway oder Bukowski zu sein.“
Alec nickte und fuhr mit dem Stiel eines Kaffeelöffels über das zerknitterte weiße Jackett und den offenen Kragen des Mannes auf dem Foto. „Scheint überhaupt ein Windhund zu sein, stimmt's?“
Ich musste lächeln. „Ja. Er lebt mit einem Kollegen zusammen – sie teilen sich die Miete, um billiger durchzukommen – und dürfte viel von seiner Freizeit in Bars und mit One-Night-Stands verbringen. Er kam mir irgendwie ein bisschen verloren vor. Du weißt schon, diese Typen, die nirgends richtig haften bleiben. Keine wirklichen Freunde, keine stabilen Beziehungen. Aber ich kann dir natürlich nur sagen, was ich im Lauf dieses Gesprächs von ihm erfahren und mir selbst zusammengereimt habe. Vergiss nicht, ich habe damals nicht daran gedacht, ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen.“
Alec lächelte, schien aber mit den Gedanken woanders. Schließlich sagte er: „Ich würde mir wirklich gerne persönlich anhören, was der Mann für Sorgen hat. Schreib ihm das. Ich kümmere mich inzwischen schon einmal um die Formalitäten.“
Kaum war Alec verschwunden, als Robert in die Küche schlüpfte, um nachzuforschen worüber wir geredet hatten. Wie man es den Rothaarigen allgemein nachsagt, war er ein katzenhafter Mensch, der seine Nase in alles hineinsteckte, was ihn nichts anging. So fragte er auch sofort: „Warum ist Alec denn mit diesem arbeitswütigen Ausdruck auf dem Gesicht an mir vorbeigehumpelt? Eben war er noch ganz entspannt. Ist irgendetwas passiert?“
Seinen eigenen Intimbereich hütete Robert, der ein geradezu zwanghafter Geheimniskrämer war, aufs Sorgfältigste und schützte ihn mit Passwörtern und Chiffren vor allen neugierigen Augen. Umgekehrt war er aber der Erste, der von anderen alles ganz genau wissen wollte. Da er sowieso keine Ruhe geben würde, bis er alles wusste, reichte ich ihm den Brief. „Das hier ist die Ursache.“
Ich beobachtete ihn, wie er seine Brille abnahm – eine extravagante Brille mit einem sechseckigen, orangefarbenen Hornrahmen – und sie mit dem Saum seines T-Shirts blank putzte. Die Designerbrille war die letzte Erinnerung daran, dass der Diplom-Kaufmann Robert Junkarts, der heute ein so bescheidenes Leben führte, einmal einer der reichsten Männer der Stadt gewesen war.
Weder Alec noch ich hätten gedacht, dass wir einmal eng mit einem Mann befreundet sein würden, der ein riesiges Vermögen als Berufsverbrecher gemacht hatte. Nicht als Einbrecher oder Schmuggler, sondern auf eine noch viel widerwärtigere Art: Er war ein typischer white collar criminal gewesen, der sich mit gefinkelter Bauernfängerei an den Ärmsten und Schwächsten bereichert hatte. Damals hatten nicht wenige Leute in der Stadt ausgespuckt, wenn sein Name genannt wurde. Aber Menschen können sich ändern, und Robert hatte sich geändert, nachdem er selbst Opfer eines bestialischen Verbrechens geworden war. Seine eigene Tochter und sein Schwiegersohn, der zugleich sein engster Komplize war, hatten ihn gekidnappt und gefoltert, um ihm sein Vermögen und die Schwindelfirma, mit der er es angehäuft hatte, aus den Händen zu reißen. Er hatte nur knapp überlebt und war so völlig zusammengebrochen, dass er ein Jahr lang krank und verwirrt auf den Straßen herumirrte. Es war ein Jahr der Qual gewesen, aber auch ein Jahr der Heilung. Er war durch ein Fegefeuer gegangen, das einen Menschen entweder reinigen oder vernichten konnte.
Viele Menschen – allen voran Alecs erwachsene Adoptivkinder – betrachteten ihn weiterhin als Verbrecher, bestenfalls als einen Verbrecher im Ruhestand, und weigerten sich strikt die Villa Maunaloa zu betreten, solange wir zusammenwohnten. Für uns aber wurde er der engste Freund, den wir je gehabt hatten. Uns verband vieles, darunter auch die Tatsache, dass wir über viele Dinge, die wir erlebt hatten, mit einem Außenstehenden nie hätten reden können. Solche gemeinsamen Geheimnisse schweißen Menschen zusammen. Unsere Beziehung war außergewöhnlich und kompliziert – es genügt zu sagen, dass Alec, Robert und ich einander sehr nahestanden und dass die Liebe, die uns verband, von einer nicht alltäglichen Art war.
Robert war (von dem unvergleichlichen Alec Marhold abgesehen) der aufregendste Mensch, der mir je begegnet war. Alles an ihm war Kraft und Wärme. Er gehörte zu den Menschen, deren Aura beinahe mit Augen zu sehen war, so intensiv war sie. Er war kein Jüngling mehr, sondern zählte mit seinen zweiundfünfzig Jahren wie Alec und ich zu den älteren Herrschaften. Mittelgroß, mit breiten Schultern und derben, unschönen Zügen, war er ein Mann mit außergewöhnlicher physischer und psychischer Energie, entschlossen zupackend und sogar ziemlich rauflustig. Schon sein Gesicht unter dem langen, rot-braun-goldenen Haar war eines, das man nicht leicht vergaß. Eine lebhafte, überdurchschnittliche Intelligenz und eine außergewöhnliche Persönlichkeit sprachen daraus. Die braunen Augen blickten milde, fast seelenvoll, während die vorgeschobene Unterlippe und das feste Kinn ein herausforderndes, unbeugsames Naturell verrieten.
Er las aufmerksam, dann fragte er: „Was war das für ein gräuliches Ding, von dem da die Rede ist?“
„Keine Ahnung. Alec versucht gerade herauszufinden, was eigentlich passiert ist. Der Mann, der den Brief geschrieben hat, trinkt ziemlich viel und konsumiert auch eine Menge Drogen – vielleicht ist das sein ganzes Problem.“
„Was ich dir immer sage – das Zeug macht das Hirn kaputt!“, kommentierte Robert, sehr stolz darauf, dass er in seinen schlimmsten Zeiten inmitten der Spiritusbrüder der Stadt nicht zum Säufer geworden war, und der es Alec und mir ankreidete, dass wir gerne aus dem Giftschränkchen naschten. Ich hatte mich oft darüber gewundert, dass Robert Junkarts, der in geschäftlichen Dingen keinerlei Skrupel gekannt hatte, in Sachen der bürgerlichen Moral stets geradezu katholisch gewesen war.
Nachdem Jan Carl Zelda auf so unerwartete Weise wieder in mein Leben getreten war, raffte ich mich auf und holte seine Belegexemplare hervor. Kein Lügendetektor verrät einem so viel über einen Schriftsteller wie seine Werke, und zwar ganz unabhängig davon, auf welchem literarischen Niveau sie sich bewegen.
Ich zog mich in den schattigsten Teil des Gartens zurück, in die Laube unter den Zypressen, die das Haus umringten, und vertiefte mich in Jans Romane. Bei aller Freundschaft – sie waren schauderhaft. Ich konnte ihm nur zugutehalten, dass ein Autor des Kiltra-Verlages an eine sehr kurze Kette gelegt wurde, was seine dichterische Freiheit anging. Erstes Gespenst auf Seite eins, dann spätestens alle zwei Seiten ein weiteres, lautete der Tagesbefehl, der dort ausgegeben wurde. Jan Zelda hatte fleißig sein Plansoll erfüllt. Pünktlich alle zwei Seiten stieß sein nie rasierter und stets schwitzender Tom Tombstone auf Vampire, Hexen, Satansjünger, Aliens oder ähnlich unsympathisches Volk, wurde kurzfristig von ihnen überwältigt und (auf eine bemerkenswert erotische Weise) gemartert, befreite sich wieder, metzelte alle Feinde nieder, erlegte im Vorübergehen ein Dutzend weiblicher Beutetiere und beendete jeden Band mit dem stereotypen Satz: Diesmal haben wir gesiegt, aber wir haben nur eine Schlacht gewonnen, nicht den Krieg! Das Böse ist noch lebendig!
Nun war mein eigener Geschmack keineswegs elitär, ich liebte literarische No-Name-Produkte, aber die Mitternachtsromane waren penetrant. Nicht zuletzt, weil der Verlagschef auch noch Wert auf Witz legte, der die ohnehin schon saure Suppe vollends ungenießbar machte. Schade, dachte ich, denn Jan hatte einen lockeren, gut pointierten Erzählstil, und verstand es, mit ein paar geschickt gewählten Worten Atmosphäre zu schaffen. Ich war überzeugt, dass er Besseres zustande gebracht hätte als diesen pseudo-okkulten Ramsch.
Im Moment war es allerdings nicht seine literarische Karriere, die uns beschäftigen musste. Deshalb las ich die fünf Heftchen, die er mir geschenkt hatte, tapfer von der ersten bis zur letzten Zeile durch und versuchte zwischen den Zeilen zu lesen, was Jan (ohne es zu wissen) über sich selber sagte.
Ich stieß auf Einiges, das mir sehr interessant erschien. Vor allem die Atmosphäre der Geschichten faszinierte mich. So lächerlich Handlung und Figuren waren, diese Atmosphäre war wirklich beängstigend, und das überzeugte mich, dass Jan von einer Angst schrieb, die er tatsächlich empfand. Es gelingt ja kaum einem Schriftsteller in seinen Lesern eine Furcht zu erzeugen, die er nicht selber verspürt. Nur was einen selber ängstigt, macht auch dem Leser Angst. Jans Werke waren durchtränkt mit der paranoiden Furcht vor einer überwältigend böswilligen Präsenz, die stets im Hintergrund auch der harmlosesten Situation lauerte, immer bereit hervorzuspringen und ihr ahnungsloses Opfer zu packen. Was immer geschah, man musste damit rechnen, dass urplötzlich eine Türe aufflog und dieser riesige schwarze Schatten hereinstürzte. Je idyllischer die Situation war, desto größer die Gefahr, dass das Ungeheuer zuschlug – wie die Gedankenpolizei in 1984 Winston und Julia in dem Augenblick überrascht, in dem beide ganz in ihre zarte Liebe versunken sind; wie der dämonische Emeric Belasco in Hell House sich just in der Sekunde auf seinen Gegenspieler stürzt, als der überzeugt ist, dass keine Gefahr mehr besteht.
Es war als hätte Jan wiederholt die Erfahrung gemacht, dass friedliche und glückliche Situationen nichts weiter als eine Falle waren, in die der Feind seine Opfer lockte um sie desto härter zu treffen. Was die Personen anging, so war die Figur des Tom Tombstone eine inhaltsleere Männlichkeitsschablone, aber seine Gegenspieler waren bemerkenswert. Mit denen wollte ich mich noch einmal ausführlicher beschäftigen. Aber zuerst einmal musste ich dem armen Kerl ein Hoffnungszeichen in Form einer freundlichen Antwort senden.
***
Wenn Alec sich um eine Sache kümmerte, dann tat er das gründlich. Ich hatte eben erst meinen Brief vollendet, da hatte er bereits mit seinem Kollegen Dr. Steeger telefoniert und konnte mir erzählen, worum es eigentlich ging. „Dein Freund –“
„Alec“, stellte ich vorsichtshalber richtig, „er ist nicht mein Freund, sondern ein Kollege und obendrein einer, mit dem ich gerade mal zwei Stunden geplaudert habe.“
„Wie auch immer, dieser Herr sitzt tief in der Tinte. Wenn die Anklage in allen Punkten hält, kommt er tatsächlich für eine ganze Weile ins Gefängnis.“
„Was soll er denn überhaupt verbrochen haben? Sein Brief war so konfus.“
„Steeger sagte mir, ihm wird vorgeworfen, dass er in der Nacht vom achten auf den neunten Juli mit einem Nachschlüssel in eine Villa im zweiten Sprengel eingedrungen sei, dort allerhand Sachschaden anrichtete – anscheinend lief er herum und zertrümmerte wahllos wertvolle Gegenstände – und zuletzt Feuer legte. Glücklicherweise konnte das Feuer gelöscht werden, bevor es ernsthaften Schaden anrichtete, sonst sähe es noch viel schlimmer für Herrn Zelda aus.“
„Aber warum hat er das getan? War er volltrunken?“
„Nein. Er nannte einen anderen und sehr merkwürdigen Grund. Ich glaube nicht, dass eine ähnliche Verantwortung schon einmal vor Gericht vorgebracht wurde.“ Alec, der es sehr genoss, wenn er mich auf die Folter spannen konnte, lehnte sich bequem in der Couch zurück und presste die Fingerspitzen aneinander. „Wirklich äußerst merkwürdig. Fällt ein bisschen in dein Gebiet.“
„Alec“, sagte ich, „hör auf, hier auf Perry Mason zu machen und erzähl mir endlich was los ist.“
Er lächelte unschuldig. „Ich bin ja gerade dabei. Er entschuldigte sich damit, er habe in Notwehr gehandelt, weil er von einem Gespenst attackiert wurde.“
Ich starrte ihn mit offenem Mund an.
Er lachte, sehr zufrieden über die Wirkung seiner Worte, und fuhr fort: „Also, hör zu …, Jan Carl Zelda hat das meiste, was ihm vorgeworfen wird, sofort zugegeben. Er legte schon auf dem Polizeirevier ein umfangreiches Geständnis ab. Er gab zu Protokoll, er sei gegen zehn Uhr abends mit einem Nachschlüssel in das Haus eingestiegen und hätte sich danach in einem Saal im ersten Stock aufgehalten, ohne dort irgendetwas zu beschädigen oder auch nur anzurühren, obwohl das Gebäude voll möbliert ist und wertvolle Objekte wie Gemälde, Porzellan, Silber und alte Bücher enthält. Er setzte sich mit einer Campinglampe, einer Flasche Cognac und einer Stange Zigaretten hin und wartete auf das Gespenst, das in dem Haus umgehen soll.“
Jetzt ging mir ein Licht auf. Natürlich, das sah dem Burschen ähnlich! Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie er mir erzählt hatte, dass er gerne einen Bericht über einen echten Spuk veröffentlichen würde, in der Hoffnung damit einen ähnlich durchschlagenden Erfolg zu haben wie Jay Anson, der mit The Amityville Horror unverschämt viel Geld gescheffelt hatte. „Und dann?“
Alec streckte sich und gähnte ein wenig, als er antwortete: „Tja. Das Gespenst kam. Und erschreckte unseren Geisterjäger so entsetzlich, dass er völlig die Nerven verlor, mit allen möglichen teuren Gegenständen – die dabei zu Bruch gingen – nach der Erscheinung warf und zuletzt mit brennenden Papierfetzen herumfuchtelte, die zwar das Gespenst vertrieben, aber auch einen Vorhang in Brand setzten. Dann türmte er durch ein eingeschlagenes Fenster im Erdgeschoss und wurde noch im Garten vom Nachtwächter hopsgenommen, der ihn der Polizei übergab. Bei dieser Erklärung blieb er steif und fest, auch wenn sie ihm kein Mensch glaubte.“
„Was ist das für ein Spukhaus?“, fragte ich. „Ich meine, hast du die Adresse, und weißt du Näheres darüber?“
„Noch nicht. Steeger hielt verständlicherweise nichts von dieser Erklärung seines Mandanten, also ist er dessen Behauptungen nicht näher nachgegangen. Er will darauf plädieren, Jan Carl Zelda hätte die Tat nach einem Barbesuch im Vollrausch begangen und wüsste selbst nicht warum. Immerhin hatte er aber die Adresse des Tatorts. Schrebergasse 16, im zweiten Sprengel. Das Haus ist eine von den pompösen Villen, die dort reihenweise stehen, und wird seiner Architektur wegen Glaspalast genannt.“
„Und die Besitzer? Wer wohnt in dem Haus?“
„Niemand. Es gehört einer Familie Hollenthon, aber die wohnen schon seit ewigen Zeiten nicht mehr dort. Verwaltet wird es von einer Anwaltskanzlei, eine Reinigungsfirma sorgt dafür, dass es instand gehalten wird, und es gibt eine Art Wächter oder Portiersleute, ein altes Ehepaar, das im Souterrain wohnt und auch das Feuer entdeckt hat.“ Er stand auf und streckte seine massige Gestalt mit der Gebärde eines Feldherrn, der das Signal zum Angriff gibt. „Steeger fährt heute Nachmittag in die psychiatrische Klinik zu seinem Mandanten. Ich fahre mit. Und du?“
Ich verzichtete auf eine Antwort, sondern stand auf um meine Jacke zu holen. Dass ich in einer solchen Situation nicht zu Hause sitzen bleiben würde, das wusste Alec gut genug.
***
RA Dr. Joachim Steeger entpuppte sich als ein langer, magerer, ausnehmend kurzsichtiger Mann, und schon nach kurzer Bekanntschaft wusste ich, warum Jan Carl Zelda sich keine großen Hoffnungen machte, dass er ihm helfen könnte. Der Anwalt strahlte eine Art verzweifelter Inkompetenz aus, die das Schlimmste für seine Mandanten befürchten ließ. Vielleicht war er gar nicht so unfähig, aber seine fahrigen Bewegungen, seine unklare Redeweise, seine unsicher hin und her huschenden Blicke schienen zu sagen: ‚Ich weiß selbst nicht, was ich tun soll, also lass mich in Ruhe mit deinen Problemchen!‘
Er war sichtlich verwundert, dass Alec – der immerhin schon drei Jahre nicht mehr aktiv war – sich für die Affäre interessierte, schien aber auch sehr erleichtert. Ich begriff rasch, dass er hoffte, den Fall abwälzen zu können. Zelda war kein reicher Mann, und in Dr. Steegers Augen schien seine Sache von vornherein verloren, sodass es auch kein Ruhm zu ernten gab. „Der Bursche ist ein chronischer Trinker“, erklärte er uns, „und hat selber eingestanden, dass er schon mehrmals im Vollrausch allen möglichen Unfug getrieben hat. Sicher war es auch diesmal so. Als er vom Polizeiarzt untersucht wurde, hatte er eine Menge Alkohol und Kokain im Blut. Die Gespenstererscheinung sind erfunden, oder er erlitt einen Anfall von alkoholischer Paranoia und hat ein Gespenst gesehen, wie andere Säufer rosa Elefanten sehen.“
„Was hat er denn eigentlich gesehen – oder glaubt, dass er gesehen hat?“
„Ich weiß nicht. Er konnte oder wollte nichts Genaueres sagen und ich habe auch nicht nachgefragt, ob es nun eine weiße Frau ohne Kopf war oder ein anderer Unsinn.“
„Das Palais Hollenthon, in das er einbrach, hat aber den Ruf eines Spukhauses, nicht wahr?“
Der Anwalt zuckte die Achseln mit einer Bewegung, die besagte: ‚Mich für solchen Schwachsinn zu interessieren ist nun wirklich unter meiner Würde!‘
***
Die psychiatrische Klinik war zu einer Zeit erbaut worden, als man Verrückte und andere peinliche Zeitgenossen noch möglichst weit von der Gesellschaft absonderte – was den Vorteil hatte, dass die Zufahrtsstraße durch dunklen, kühlen Wald führte und uns die Bratpfanne der Stadt erspart blieb. Es war kein einheitlicher Komplex, sondern bestand aus einem Dutzend einzelner Gebäude, die verstreut zwischen Baumgruppen, Bosketten und Rasenflächen lagen. Sie waren aus roten Ziegeln im Stil der Industriegotik erbaut, sodass man bei ihrem Anblick eher an kleine Fabriken, als an ein Krankenhaus dachte. Der Pavillon für geisteskranke Rechtsbrecher unterschied sich von den anderen durch die massiv vergitterten Fenster und die Eingangstüre, bei der man eine Schleuse passieren musste. Hinter der äußeren Tür befand sich innen noch eine zweite, die elektrisch verriegelt wurde. Die beiden Türen trennte eine Pförtnerloge, in der ein muskulöser Bursche im weißen Pflegerkittel Dienst tat. Da wir avisiert waren, geleitete er uns sofort ins Innere des Pavillons.
Der Flur war feuchtkühl und wirkte zutiefst bedrückend: Ein langer Tunnel mit Bogengewölben, ähnlich einer Krypta, wurde in Abständen von engmaschigen Gittertüren unterbrochen, hinter denen jeweils ein Wärter mit einem elektronischen Öffner hockte. Das Licht der Neonröhren war kalt und fahl. Es roch nach Desinfektionsmitteln und abgestandenem Essen. Die Anstaltsleitung hatte einen Versuch gemacht, den Ort durch frische, weiße Tünche und die bunten Malkreiden-Zeichnungen künstlerisch begabter Patienten aufzuheitern, aber es blieb beim Versuch, und ich konnte verstehen, dass Jan Zelda in diesem Psycho-Zuchthaus in bodenlose Depressionen verfiel.
Dr. Steeger hatte natürlich freien Zugang zu seinem Mandanten, bestand aber darauf uns dem leitenden Arzt der Station vorzustellen, ehe er uns ins Sprechzimmer mitnahm. Wir lernten Oberarzt Dr. Bastian kennen, dem die Kanzlei Marhold (die jetzt von Alecs Adoptivkindern geführt wurde) ein Begriff war, und der uns entsprechend bereitwillig Auskunft gab. Er meinte aber, Alec verschwende nur seine Zeit mit dem Fall. „Leider eine ganz alltägliche Geschichte. Zelda mag ein netter Kerl sein, aber er ist ein Trinker und war schon mehrmals in Schwierigkeiten, weil er im Vollrausch auf dumme Ideen kommt. Wenn er Glück hat, lautet die Anklage nur auf selbst verschuldete Berauschung, Sachbeschädigung und groben Unfug, dann kommt er mit einer bedingten Strafe, Schadenersatz und der Zwangseinweisung in eine Trinkerheilanstalt davon.“
„Mein Kollege Steeger sagte, es hätte sich bei der angeblichen Gespenstererscheinung um einen Anfall von Säuferwahn gehandelt?“
„Ja, natürlich.“ Der Arzt lächelte amüsiert und zugleich etwas abschätzig. „Sie glauben doch nicht etwa, dass er wirklich ein Gespenst gesehen hat? Nein, die Symptome waren eindeutig. Optische und auditive Halluzinationen, bedrohliche Erscheinungen, Angst- und Schuldgefühle, religiöser Wahn – alles wie aus dem Lehrbuch. Sogar die unheimlichen, stechenden Augen, deren Blick das Opfer überallhin verfolgt, waren präsent.“
„Interessant. Hat er Ihnen Einzelheiten erzählt?“
„Nein, ich konnte mir nur in groben Zügen ein Bild machen. Ein Alkoholdelir ist ein erschreckender Zustand, die meisten Patienten reden nachher nicht gerne darüber, was sie erlebt haben. Es geht ganz schön an die Nieren – zerrt das Schlimmste, was sich in den Schatten des Unbewussten verbirgt, ans Licht.“ Er suchte auf seinem Schreibtisch herum, zog eine Mappe hervor und schlug sie auf. „Diese Notizen haben wir im Zimmer des Patienten gefunden. Ich fragte ihn danach, aber da wurde er patzig und warf mir vor, dass ich ihm ja ohnehin nichts glaubte, also würde er mir auch nichts mehr erklären. Wollen Sie es ansehen? Vielleicht können Sie mehr damit anfangen als ich.“
Alec betrachtete die eng beschriebenen Blätter durch seine Lesebrille, schüttelte ratlos den Kopf und reichte sie mit der Bemerkung an mich weiter: „Klingt wirklich, als hätte er deliriert.“
Ich überflog sie neugierig. Die Notizen waren in einer Handschrift geschrieben, die wohl normalerweise kräftig und gut leserlich war, aber jetzt verriet, dass die Hand des Schreibers heftig gezittert hatte. Kein Wunder. Jan Carl Zelda hatte nicht nur einen schlimmen Schrecken erlebt, sondern während der ersten Wochen seiner Haft auch unter massiven Entzugserscheinungen gelitten. Was er geschrieben hatte, lautete:
Der Tod hockt im Aschkasten, in den Absperrhähnen …, Dr. Holmes, die Todeszimmer. Fallschächte, mit menschlichem Fett beschmiert. Mudford. Gott, diese sieben unregelmäßigen Fenster, täglich ein anderes! Das eiserne Leichentuch. Die Eisenwände des rhombischen Kerkers, aus dem der Arm des Generals Lassalle errettet. Toledo. Die grinsenden Leichengesichter der Kerzen auf dem Richtertisch.
„Sagt Ihnen das Gestammel etwas?“, fragte Dr. Bastian stirnrunzelnd.
Ich genoss es immer sehr, wenn ich mich Akademikern als geistig überlegen erweisen konnte. „Aber natürlich. Das sind Hinweise auf Literatur – Edgar Allan Poes Grube und Pendel, William Mudfords Das eiserne Leichentuch und Robert Blochs Das Geheimnis des Dr. Holmes', wobei es sich bei Letzterem um einen Bericht über einen unglaublichen, aber absolut authentischen Kriminalfall handelt.“
„Ach so.“ Dr. Bastian, dem es sichtlich peinlich war, dass er nicht gleich auf diese Lösung gekommen war, tat die Sache mit einem Achselzucken ab. „Nun ja, er ist Schriftsteller, klar! Aber wie gesagt: ein alltäglicher Fall. Wir haben hier Patienten, die noch viel schlimmeres Zeug fantasieren.“
„Ich möchte Herrn Zelda trotzdem gerne persönlich sprechen.“
„Aber natürlich. Bitte sehr. Der Pfleger wird Sie hinbegleiten.“
Der Pavillon für kriminelle Geisteskranke hatte ein ähnlich kahles und düsteres Sprechzimmer wie ein Gefängnis. In der Mitte stand ein Metalltisch, der wie ein Pingpong-Tisch in der Mitte durch ein Netz geteilt wurde, rund um den Tisch am Boden angeschraubte Sessel. Eine Glasscheibe bot dem im Nebenzimmer stationierten Wärter die Möglichkeit, das Gespräch zu beobachten und im Gefahrenfall einzugreifen.
In dieser Umgebung sah Jan Carl Zelda, der schon in besseren Tagen keine glanzvolle Erscheinung gewesen war, selber wie ein Gespenst aus, als er von einem Pfleger begleitet, hereinschlurfte: blass und hinfällig, mit erloschenen Augen und eingefallenen Zügen, jeder Zoll ein Mann, der sich verloren glaubte. Obwohl er Zivilkleider trug, umgab ihn die graue, trübe Aura eines seit Jahrzehnten Inhaftierten. Dann sah er mich, und ein hoffnungsvolles Aufleuchten zog über sein Gesicht. „Frau Sperling! Sie sind wirklich gekommen! Und Ihr Begleiter …“ Seine schwimmenden Augen, das eine grün, das andere braun, forschten hilfeflehend in Alecs Gesicht. Bist du es, der mich retten kann? Bist du es, an dem meine ganze Hoffnung hängt?
„Mein Lebensgefährte, Dr. Alec Marhold“, stellte ich vor.