Band 733
»In den Wissenschaften gilt die Autorität von Tausend Meinungen weniger als ein kleiner Funken Vernunft in einem einzelnen Menschen.«
GALILEI, Briefe über Sonnenflecken
»Deshalb halte ich es für nicht sehr klug, die Güte einer Ansicht durch die Zahl ihrer Anhänger zu bewerten.«
GALILEI, Il Saggiatore
1. Auf lage 2015
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ISBN 978-3-17-021301-2
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Galilei ist nicht nur ein bedeutender Name aus der Geschichte der Wissenschaften, er ist vor allem ein Symbol – ein Symbol für die Emanzipation der Wissenschaft von Religion, Philosophie und politischer Ideologie. Der Name »Galilei« steht für die Befreiung des wissenschaftlichen Denkens aus der Klammer jedweder Bevormundung, woher sie auch kommen möge. Dass Galilei dabei mit der Inquisition in Konflikt kam und zum Schweigen – verbunden mit lebenslangem Hausarrest – verurteilt wurde, gibt seinem Fall eine dramatische Note.
Diese Symbolfunktion des italienischen Denkers ist heute noch ebenso lebendig wie vor 300 Jahren. Dies macht nicht die gesamte, aber immerhin einen großen Teil der Bedeutung Galileis für das moderne Denken aus. Nicht für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung, aber für Galileis Funktion im sogenannten Diskurs der Moderne.
Innerhalb dieses Diskurses gibt es eine wichtige Verzweigung, in der die Beweislage umgekehrt erscheint. In ihr gilt Galilei zwar ebenfalls als ein Vorkämpfer für die Emanzipation der Wissenschaft von Religion, Ideologie, ethischem und politischem Fundamentalismus und sozialen Interessen. Aber dieser Umstand wird hier nicht mehr positiv, sondern negativ gewertet. In dieser Sicht sind die globalen Probleme der heutigen Welt vor allem der ungehemmten Entwicklung der Wissenschaft und ihrer technischen Anwendungen zuzuschreiben. Galilei gilt dann als einer derjenigen, die Wissenschaft und Technik auf diesen Pfad gebracht haben.1
Galilei hat in den Händen seiner Interpreten ein wechselvolles Schicksal gehabt. Sahen die einen2 in ihm den wahren Begründer der empiristischen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft, so betonte eine zweite Gruppe eher den kontinuierlichen Fortschritt.3 Für sie war Galilei die Krönung einer Entwicklung, die bereits in der Spätscholastik eingesetzt hatte. In einer dritten Deutung sieht man in Galilei vor allem den rationalen Denker, der zwar eine Revolution ausgelöst hatte; aber diese Revolution war ein Ergebnis der Vernunft, nicht der Erfahrung oder des Experiments.4 Zwischen diesen Extremen gibt es auch vermittelnde Positionen.5
Die hier skizzierten Deutungstypen, die man als die »empiristische«, die »kumulative« und die »rationalistische« Auffassung bezeichnen könnte, erschöpfen nicht das Spektrum der möglichen und historisch vorfindbaren Interpretationen. Es handelt sich dabei allerdings um die vorherrschenden Muster, die auch heute noch die Diskussion bestimmen. Die Debatte hat noch keinen Konsens, sondern nur einen neuen Zyklus erreicht, in dem mit geschärftem Instrumentarium und neuem Material gearbeitet wird. Neues Material fand man beispielsweise in den teilweise erhaltenen Arbeitsunterlagen Galileis, anhand derer man erkennen kann, wie Galilei das Problem des Falls und andere Probleme mit den Mitteln des Experiments und der Mathematik lösen wollte.6
Warum beschäftigen wir uns heute noch mit Galilei. Gibt es überhaupt einen Aspekt des Lebens oder der Wissenschaft dieses großen Naturphilosophen, der in den Tausenden von Artikeln und Büchern, die bisher zu Galilei verfasst worden sind, nicht viele Male hin und her gewendet, von allen Seiten beleuchtet, gelobt, kritisiert und je nach Standpunkt mit der gleichen Entschiedenheit gutgeheißen wie verdammt worden ist?
Ja, es gibt solche Aspekte! Selbst die umfassendsten Arbeiten erzählen nicht die ganze Geschichte – »wie sie wirklich gewesen ist«. Dies gilt selbst für die Edizione Nazionale, die Antonio Favaro in 20 Bänden herausgegeben hat. Favaro hat vieles, was an handschriftlichen Notizen, Skizzen, Berechnungen erhalten ist, beiseite gelassen. Viele der unzähligen Briefe, die Galilei schrieb, sind vernichtet, verloren oder in diversen Archiven und Sammlungen unerkannt vergraben. Es ist also durchaus möglich, dass neue Quellen auftauchen. Aber dies ist nicht der einzige Grund, warum unser Bild Galileis nicht als vollständig bezeichnet werden kann.
Unbestreitbar ist es der Detailforschung im Laufe der letzten 50 Jahre gelungen, viele Fragen zu beantworten und neue Quellen zu erschließen. Unbestreitbar ist aber auch, dass sie im gleichen Zuge neue Fragen gestellt hat, die vielleicht sogar die gelösten zahlenmäßig übertreffen. Die verschiedenen Deutungen Galileis auf der Basis spezifischer Selektionen aus den vorliegenden Quellen zeigen, dass ein Verständnis dieses Forschers keineswegs eine lineare Funktion der Menge an bekannten Tatsachen über sein Leben und sein Umfeld ist. Ebenso wichtig wie neue Quellen sind neue Perspektiven und neue theoretische Gesichtspunkte. Der »laufende Diskurs« erzeugt ein Bedürfnis nach neuen Interpretationen, das in der Regel auch bedient wird. In der Wissenschaftsgeschichte wie in anderen Bereichen der Forschung äußern sich diese Gesichtspunkte der Betrachtung als Moden, Stile, Weltbilder, Paradigmen, Perspektiven, allgemein: kognitive Filter, die den Forscher davor bewahren, sich in einer Welt ungeordneter Tatsachen zu verlieren. Diese Filter wählen die für ihn bedeutsamen Tatsachen aus und sie stellen ihm Ordnungskriterien zur Verfügung, mit denen Hilfe er die Tatsachen miteinander verbindet. Ein neueres Beispiel hierfür ist die Studie von Mario Biagioli,7 der die These vertritt, dass sich Galileis Konflikte mit seinen akademischen und klerikalen Gegnern nur auf dem Hintergrund der höfischen Normen dieser Zeit begreifen lassen. Ein anderes Beispiel ist die Studie von Pietro Redondi über »Galilei den Ketzer«, in der der angebliche geheime Atomismus Galileis zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kontroversen mit Kirche und Inquisition gemacht wird.
Um keine falschen Prioritäten zu setzen, muss aber betont werden, dass die Suche nach neuen Quellen ebenso wichtig wie die Suche nach neuen Perspektiven bleibt. Kaum ein anderes Ereignis hat die Sicht der Galileischen Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten so sehr verändert wie Stillman Drakes Entdeckung der sogenannten »Arbeitsblätter« Galileis. Hierbei geht es in der Regel um undatierte und unzusammenhängende Notizblätter, auf denen Galilei über viele Jahre hinweg die Ergebnisse seiner Experimente aufgezeichnet hat. Bei einem Hochwasser wären sie um ein Haar in dem Archiv, in dem sie unausgewertet lagerten, vernichtet worden. Dies verweist auf einen Faktor, den man nicht kalkulieren kann, der aber stets bereit ist zu intervenieren: den Zufall.
Uns geht in diesem Buch nicht um einen Beitrag zur Quellenforschung, sondern um eine Zusammenfassung und Bewertung der bisherigen Forschungsergebnisse zur intellektuellen Biographie Galileis. Episoden und Ereignisse im Leben Galileis interessieren uns nur, wenn sie in die Entwicklung seines wissenschaftlichen Denkens eingegriffen haben. Für die Persönlichkeit oder die Lebensumstände des Forschers gilt das gleiche: Wenn sie geeignet sind, Licht auf den Ablauf oder das Ergebnis bestimmter intellektueller Entwicklungen zu werfen, so finden sie Berücksichtigung, andernfalls nicht.
Entsprechend der skizzierten Auffassung von intellektueller Biographie beginnt die Darstellung nicht mit der Geburt Galileis, sondern mit der Beschreibung der mittelalterlichen »Wirklichkeit«, deren Transformation in die neuzeitliche sich mit dem Leben des Galilei schneidet und in deren Ablauf er in sehr wirksamer Weise eingreifen konnte. Gefragt wird nach den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, nach dem Weltbild der Zeit, in die er hineingeboren wurde, aber auch nach den Quellen für neue Ideen, die ihm im Prinzip zur Verfügung standen. Wir fragen weiter, wie Galilei zu seinen Ideen kam, welche Wege und Umwege sein Denken ging, was die zentralen Beweggründe und Interessen seines wissenschaftlichen Handelns waren und natürlich auch, wo er sich irrte und wo er erfolgreich war.
Im ersten Teil wird ein kurzer Abriss des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Wandlungsprozesses vom späten Mittelalter bis zur Zeit Galileis gegeben. Ziel dieser Überlegungen ist es, möglichst klar herauszustellen, wo die sichtbaren oder verborgenen Schwachpunkte des alten Weltbildes lagen, in welcher Weise man es kritisierte und verbesserte und welche Strategien die Verteidiger der alten Ordnung verfolgten.
Der zweite Teil befasst sich mit der Rolle, die Galilei in diesem Wandlungsprozess spielte. Im Mittelpunkt stehen seine spezifischen Lösungen der astronomischen, physikalischen, methodologischen und philosophischen Probleme seiner Zeit, und zwar in der Reihenfolge, wie sie sich ihm stellten. Wir untersuchen seine wissenschaftliche Entwicklung vom Aristotelismus der frühesten Schriften über die archimedische Periode und die Impetusphysik der darauffolgenden Phase bis zu seiner spezifischen Form des Trägheitsprinzips in der Spätzeit. Dazwischen liegen die beiden Konflikte Galileis mit der Kirche, die zwar kaum einen Einfluss auf seine fachwissenschaftlichen Ideen hatten, aber für das Verhältnis von Wissenschaft und Religion von größter Bedeutung waren. Dazwischen liegen aber auch viele Kontroversen mit der aristotelischen Schulphilosophie, in der es unter anderem um die Legitimität mathematischer Argumente zur Klärung von Fragen der Naturphilosophie sowie um die Stellung der Mathematik in der Hierarchie der Wissenschaften ging.
Stellt man die Verflechtung der verschiedenen Komponenten des Galileischen Denkens in Rechnung – Astronomie, Mechanik, Theorie der Materie, Kosmologie – dann erhält man als Endresultat von Galileis Arbeit ein neues Bild der Wirklichkeit, das kaum etwas am mittelalterlichen Weltbild intakt lässt – weder die Vorstellung von der Mikrostruktur der Materie, vom Aufbau des Kosmos, von der Mechanik der irdischen und himmlischen Bewegungen, noch die Folgerungen bezüglich Erkenntnistheorie, Methodologie und Wissenschaftsauffassung. Dabei wird deutlich werden, dass das oft zitierte Bild der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit als eines Kampfes zwischen Religion und Wissenschaft an den Tatsachen vorbeigeht. Für Galilei war es ein Konflikt zwischen guter und schlechter Wissenschaft, zwischen denen, die das Neue akzeptierten und förderten und denen, die dies nicht taten, sondern aus den falschen Gründen auf die Bewahrung des Alten setzten. Unter den gegebenen Umständen war es deshalb auch ein Konflikt zwischen zwei umfassenden Kosmologien, die im 17. Jahrhundert um die intellektuelle Dominanz kämpften. Als Konflikt mit der Religion hat Galilei diese Auseinandersetzung niemals empfunden. Für ihn gab es keinen Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft. Es gab nur einen Konflikt zwischen wissenschaftlichen Neuerern, die das Wissen über die Natur erweitert haben und uninformierten Klerikern im Verbund mit orthodoxen Aristotelikern, die die kosmologischen Lehren des großen Griechen retten wollten und zu diesem Zweck einige volkstümliche Formulierungen der Bibel über astronomische Begebenheiten als Vorwand benutzten, ohne zu sehen, dass sie mit ihrem Starrsinn der Kirche letzten Endes sehr viel mehr schaden als nutzen werden. Und so kam es auch.
Wer vom »mittelalterlichen Weltbild« spricht, sollte wissen, dass er ein hohes Maß an Vereinfachung und Abstraktion in Kauf nimmt. Das Weltbild des Mittelalters war bemerkenswert komplex, es gab verschiedene Interpretationen seiner Bestandteile, und es gab abweichende Meinungen, die vom akademischen Schulstreit bis zur Häresie reichten. Das Weltbild des Mittelalters war kein statisches System; im Laufe der Zeit erfuhr es Veränderungen und Umdeutungen von erheblicher Tragweite. Für die Zwecke unserer Untersuchung genügt jedoch eine Beschränkung auf die Hauptlinie der Entwicklung, also auf das, was als offizielle Lehrmeinung der Kirche und somit – bedingt durch die dominante Stellung dieser Kirche – auch als dominantes Interpretationsschema der Naturphilosophie und der Wissenschaften dieser Zeit erscheint. Auch das säkulare Denken im weitesten Sinne war von dem gleichen Weltbild – wenn auch teilweise in volkstümlichen Formen – geprägt.1
Die Entstehung und Entwicklung des mittelalterlichen Weltbildes war in hohem Maße von der antiken Überlieferung, von der Art und Weise ihrer Aufnahme und von Weg und Charakter ihrer Verbreitung im abendländischen Kulturkreis abhängig. Die Geschichte dieser Vermittlung ist ein eigenes Thema. Wir können uns damit nicht befassen.2 Was uns hier interessiert, ist vor allem das Ergebnis dieses Prozesses, so wie es sich etwa ab dem 12. Jahrhundert darstellte, d. h. während und nach der Rezeption der aristotelischen Schriften.
Um das Jahr 1000 kannte Mitteleuropa nur wenige naturphilosophische Schriften aus der Antike. Die wichtigsten unter ihnen waren Platons Timaios (davon die ersten 53 Abschnitte), Arbeiten von Vitruv (De architectura), Seneca (Quaestiones naturales) und Plinius (Historia naturalis), ferner Schriften der Platonisten Macrobius und Boethius sowie der römischen Enzyklopädisten (Capella, Cassiodor, Varro etc.). Von Aristoteles kannte man im 11. Jahrhundert nur einige logische Schriften unter dem Titel Logica vetus (»Alte Logik«). Im 11. Jahrhundert setzte sich das naturphilosophische Wissen des Mittelalters aus einem eigenartigen Amalgam mehrerer Quellen zusammen. Einmal natürlich aus der Überlieferung der Bibel und ihrer Interpretation durch die Kirchenväter, die alles andere als einheitlich war und bereits die Saat für spätere Schulstreitigkeiten enthielt. Eine andere Quelle der hochmittelalterlichen Naturphilosophie war ein christlich interpretierter Neoplatonismus, wie er durch die unter anderem von Albertus Magnus und Thomas von Aquin geschätzten Arbeiten des Pseudo-Dionysos tradiert wurde.
Außer diesen beiden Quellen wäre noch eine dritte zu nennen, deren Gewicht im 12. Jahrhundert enorm zunimmt: das aristotelische Lehrgebäude. Durch die Übersetzungen, die im Laufe des 12. Jahrhunderts in Sizilien und in Spanien (Toledo) zumeist aus dem Arabischen angefertigt wurden, tat sich dem Mittelalter eine neue Welt auf, die intellektuell aufregend, aber für die christliche Religion problematisch war. Aristoteles Schriften wurden zunächst mehrfach verboten – unter anderem 1277 durch den Bischof von Paris, Etienne Tempier.3 Aber der Geist war aus der Flasche, das neue Wissen konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Schließlich fanden Albertus Magnus und Thomas von Aquin nach Überwindung vielfacher Widerstände einen modus vivendi zwischen christlicher Theologie und heidnischer Naturphilosophie, der die Belange sowohl des Glaubens als auch der Vernunft im Urteil der meisten Zeitgenossen zufriedenstellend berücksichtigte.
Man betrieb Arbeitsteilung: Während in Fragen, die den religiösen Bereich im engeren Sinn betrafen: theoretische und praktische Ethik, Wege zum Seelenheil, kirchliches Ritual etc., die Theologie zuständig war, hielt man sich in Fragen der Naturphilosophie und der Naturlehre zumeist an die antike Überlieferung, nachdem man sie in christlichem Sinne reinterpretiert hatte. Aber die Einbettung des antiken Wissens in die christliche Theologie blieb unvollkommen. Die Religion war stets in Gefahr, sich in diesem Prozess mehr Wissen einzuverleiben, als sie verdauen konnte. Eines war klar: man kann nicht ein System von Wissenschaften aufsaugen, einschließlich einer Methodologie, die auf Vernunft, Beobachtung, Argument und Kritik beruht, ohne dabei deren Maßstäbe, Kriterien und Argumentationsmuster in die Religion einzuschleusen. Dies war – um eine Analogie zu gebrauchen – »religionsfremde DNS«. Vom Ende der Geschichte her gesehen, ging die Kirche ein großes Risiko ein, als sie sich darauf einließ, das neue Wissen in sich aufzunehmen. Und sie zahlte den Preis dafür in einer unendlichen Reihe von Konflikten mit Abweichlern und Häretikern, die nicht einsehen wollten, dass bestimmte Ideen nicht vertreten werden durften, dass man bestimmte Sätze und Phänomene auf eine ganz besondere Weise interpretieren müsse, dass man diese oder jene Lehrsätze gefälligst von der Kritik auszunehmen hatte, oder dass man bestimmte Hypothesen, die sowohl mit der Vernunft als auch mit der Beobachtung übereinzustimmen schienen, dennoch nicht vertreten dürfe. Und mit »Konflikten« meinen wir nicht die Metzeleien unter den Mitgliedern abweichender Sekten (Waldenser, Beginen und Begarden etc.), unter Astrologen, Zauberern und Hexen, sondern die internen Kontroversen um die richtige Anwendung der Vernunft und um ihr Verhältnis zum Glauben. Wie hoch der Preis wirklich war, sah man erst im 17. Jahrhundert, als ein Teil der aristotelischen Naturphilosophie nach dem anderen einstürzte. Da man sich mit diesem System auf Gedeih und Verderb verbunden hatte, fiel es der Theologie sehr schwer, die aristotelische Bürde wieder los zu werden und dabei die Religion zu retten.
Es f ällt schwer, sich einen größeren weltanschaulichen Kontrast vorzustellen als den zwischen moderner und mittelalterlicher Kosmologie und Kosmogonie. Die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts haben gelernt, nichts als real anzuerkennen, sofern es sich nicht in irgendeiner Weise mit sinnlicher Erfahrung oder mit vermeintlich gut bestätigten Theorien in Verbindung bringen lässt.4 Dies gilt in gleicher Weise für die Existenz Schwarzer Löcher, des expandierenden Universums, des Urknalls, wie für den Nachweis von Neutrinos, Quarks oder des Higgs-Bosons. Obwohl die Welt im Bereich der Quantenphänomene sehr ungewohnt aussehen dürfte, bedeutet der Übergang von der Makroebene des Universums zur Mikrodimension der Elementarteilchen, von der unbelebten Materie zum lebenden Organismus ontologisch gesehen keinen Unterschied. Unser Universum ist in qualitativem Sinne flach, ungeschichtet, vertikal undifferenziert. Ein und dieselbe Erfahrung ist für jeden seiner Aspekte, jede seiner Dimensionen gültig. Die Strukturen der Welt werden auf allen Ebenen, im Makro- wie im Mikrobereich durch Gesetze der gleichen Kategorie und Art in der Universalsprache der Mathematik beschrieben. Auch die Evolution des Lebens bis hin zur Entwicklung menschlicher Gesellschaften, der Prozess des Denkens, die Entstehung des Bewusstseins, der Moral und der Religion sind legitime Gegenstände dieser naturalistischen Weltauffassung. Das Schicksal des Individuums und seiner Seele, das im Zentrum des mittelalterlichen Denkens steht, f ällt aus dem Gegenstandsbereich der neuzeitlichen Wissenschaft heraus, soweit es sich einer Operationalisierung, einer Objektivierung von außen entzieht. Die neuen Wissenschaften vom Menschen machen zwischen dem Erkenntnisobjekt Mensch und einem beliebigen anderen Gegenstand der Realwissenschaften keinen ontologischen Unterschied.
Für den Wissenschaftler des Mittelalters dagegen ist dieses sichtbare Universum der Moderne nicht mehr als der Bodensatz der Wirklichkeit, die unterste Ebene des kosmischen Prozesses. Für ihn besitzt die Welt eine reichhaltigere, tiefere, dynamischere Struktur als für den Vertreter der Neuzeit. Ihr sinnlich erfahrbarer Teil ist für ihn zugleich ihr uninteressantester und unvollkommenster. Im neoplatonischen Modell des Proklos etwa, das bei Pseudo-Dionysos zur Grundlage des christlichen Platonismus wird, bildet er die letzte Stufe der Emanation des Kosmos aus der Gottheit, die am wenigsten an der Natur des Urgrundes teilnimmt.5
Dionysos hat seinen Entwurf einer hierarchischen Weltordnung nach christlich-neoplatonischen Prinzipien nur für die Hierarchien der Engel und der Kirche ausgeführt. Aus seinen physikalischen Vergleichen geht jedoch die Gültigkeit dieser Ordnungsvorstellungen auch im materiellen Bereich hervor. Aus seinem Brief an Demophilos kann man ersehen, dass Dionysos auch den Staat und die soziale Ordnung nach dem Prinzip der Hierarchie begreift. Das Prinzip soll universelle Gültigkeit haben.6 Der Einfluss dieser kosmischen Ordnungsvorstellung auf das Weltbild des Mittelalters war dominant und beschränkte sich nicht auf theologisch oder wissenschaftlich gebildete Kreise. Er zeigte sich auch in der Kunst, der Literatur und im Denken des »gemeinen Mannes« – in geeignet abgewandelter oder vereinfachter Form.
Dionysos Areopagita war nicht der einzige Vermittler neoplatonischen Denkens ins Christentum. Der Neoplatonismus war vom 3. bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts der große philosophische Gegner des Christentums. Diesem Umstand haben wir es zu verdanken, dass die Theologen der Frühzeit, insbesondere die sogenannten Kirchenväter, gezwungen waren, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Und dazu mussten Sie ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen. Man könnte es als List der Vernunft bezeichnen, dass erst die Rezeption von Teilen des antiken Wissens die christlichen Theologen in die Lage versetzte, die Kontroverse mit den Neoplatonisten auf gleicher philosophischer Augenhöhe führen zu können. Nur wenigen gelang dies wirklich, aber in diesen Kontroversen zeigte sich, dass nicht in allen Punkten Uneinigkeit bestand. Zum einen waren schon in der Entstehungsgeschichte des Christentums von jüdischer Seite her Vorstellungen einer hierarchischen Weltordnung eingeflossen, zum andern besaß der Neoplatonismus als umfassendste Synthese des antiken Denkens auch für seine Kritiker eine beträchtliche Attraktivität. Bei aller Gegnerschaft im Religiösen konnte vieles in den Rahmen der christlichen Vorstellungen eingepasst werden. Vor allem die Ideen der kosmischen Hierarchien, der korrespondierenden Teilordnungen und des Hervorbringens des Niedrigeren durch das Höhere waren geeignet, der Theologie eine naturphilosophische Dimension hinzuzufügen und gleichzeitig eine Brücke zu den Wissenschaften zu schlagen. In diesem Vorgang des Aufsaugens und Anpassens konkurrierender aber nützlicher Ideen zeigt sich ein Muster, das sich 800 Jahre später am Beispiel des aristotelischen Werkes wiederholen sollte.7
Wir können die Wirkungsgeschichte der areopagitischen Schriften hier nicht im einzelnen verfolgen. Symptomatisch ist, dass Dionysos bei Thomas von Aquin zur meistzitierten Autorität geworden ist und dass sich gewisse Teile der Summa Theologica lesen wie Kommentare zu den Arbeiten des Areopagiten.8 Auch der berüchtigte Hexenhammer der Dominikaner Jakob Sprenger und Heinrich Institoris, der in seinen ersten beiden Teilen als herausragendes Dokument zur offiziellen mittelalterlichen Weltanschauung zu werten ist (obwohl er erst Ende des 15. Jahrhunderts geschrieben wurde), beruht auf dem hierarchischen Kosmosmodell und der Dämonologie des christlichen Neoplatonismus. Der Hexenhammer zitiert Autoren wie Thomas von Aquin, Aristoteles, Augustinus und Gregorius allerdings häufiger als Dionysos.
Ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz: Das zähe Leben und die große Überzeugungskraft des hierarchischen Weltbildes des christlichen Mittelalters war eine Folge seiner Verschmelzung mit einem uminterpretierten Aristotelismus, wie er seit Thomas von Aquin zum festen Bestandteil der Scholastik geworden war. Der christliche Neoplatonismus allein hätte der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts wesentlich weniger Widerstand leisten können. Nicht von ungefähr griff Galilei im Brief an die Großherzogin Christina auf Ideen von Dionysos Areopagita zurück, um den Klerikern die neue Astronomie schmackhaft zu machen. Die Flexibilität des christianisierten Platonismus war darin begründet, dass er keine Erklärung konkreter Naturprozesse anbot, sondern allgemeine Strukturprinzipien festlegte, denen eine Theorie der Natur genügen musste. Er setzte einen metaphysischen und ontologischen Rahmen, der gerade vom aristotelischen System der Naturerklärung in hervorragender Weise ausgefüllt wurde. Anpassungen waren dort unumgänglich, wo die beiden Theoriensysteme sich widersprachen – etwa in der Frage der Ewigkeit der Welt oder der Sterblichkeit der Seele. Doch ohne Frage hätte die neuzeitliche Naturwissenschaft ein leichteres Spiel gehabt, wäre sie nicht auf die zu einem Guss verschmolzene Einheit von Christentum, Platonismus und Aristotelismus getroffen. Diese Verschmelzung war nicht konfliktlos verlaufen, und es konnten keineswegs alle Spannungen im System beseitigt werden. Doch am Ende des Mittelalters war das aristotelische System so fest mit der christlichen Doktrin verbunden, dass ein Angriff auf das eine zugleich als Angriff auf die andere gewertet werden musste.
Für die Zwecke der folgenden Darstellung, und um begreifbar zu machen, wie die Theorien aussahen, mit denen Galilei zu tun hatte, müssen wir die wesentlichen Komponenten der aristotelischen Naturphilosophie kurz darstellen. Die wichtigsten Hypothesen und Definitionen des Aristoteles zur Theorie der Materie, des Raumes und der Bewegung lassen sich wie folgt zusammenfassen:9
Alle Stoffe sind Mischungen der Grundelemente Erde, Wasser, Luft und Feuer. Die Grundelemente konstituieren sich aus einem eigenschaftslosen Grundstoff (der als solcher nicht in der Natur vorkommt) durch Hinzufügung der Grundqualitäten trocken, feucht, warm und kalt. Durch Addition oder Subtraktion einer bestimmten Qualität sind die Grundelemente – ausgenommen das siderische Element Äther, das eine Sonderstellung einnimmt – ineinander umwandelbar.
Die vier Elemente kommen nie in reiner Form vor. Alle Stoffe in der Natur sind Mischungen, in denen aber eines der Elemente dominieren kann. So herrscht in schweren festen Körpern das Element Erde vor. Allerdings muss in allen Metallen auch das Vorhandensein von Wasser angenommen werden, um die Schmelzbarkeit zu erklären.10 In reiner Form existiert nur der Äther, der nicht mit den anderen Elementen vermischbar ist und einen abgesonderten Teil des Kosmos exklusiv beherrscht.
Es gibt weitere Eigenschaftspaare, die der Materie in unterschiedlicher Ausprägung zukommen: leicht und schwer, dicht und dünn, rauh und glatt etc. Dabei werden die Eigenschaften als absolute verstanden. Das Element Erde ist »schwer« aufgrund seiner Natur, nicht etwa aufgrund der in ihm vorliegenden Dichte der Materie im Vergleich zur Dichte der Umgebung. Feuer ist aufgrund seiner Natur absolut »leicht«. Für die Elemente Wasser und Luft gilt dagegen, dass in ihnen die Qualitäten der Schwere und der Leichtigkeit gemischt sind. Dies hat zur Folge, dass Wasser sich in Erde wie ein leichter Stoff verhält, während es in der Luft schwer wirkt. Luft ist leicht in Erde und Wasser, dagegen schwer in Feuer.
Ein zentraler Aspekt der aristotelischen Materietheorie ist, dass der Stoff eine kontinuierliche Struktur hat. Er ist nicht in Partikel zerteilt, sondern kann durch Änderung der Qualitäten, etwa durch Verdichtung und Verdünnung sein Volumen ändern, ohne dass irgendwo ein Vakuum entsteht. Die Kontinuumsauffassung impliziert auch, dass die Stoffe in beliebigen Verhältnissen gemischt oder verbunden werden können.
Die Struktur des Kosmos ist eine Folge der physikalischen Eigenschaften der Elemente Erde, Wasser, Luft, Feuer und Äther. Das schwerste Element, Erde, ballt sich in der Mitte der anderen zusammen und bildet somit in einem natürlichen Prozess das Zentrum des Kosmos. Um dieses herum lagern sich in konzentrischen Kugelschalen die jeweils leichteren Elemente Wasser, Luft, Feuer und Äther. Die Sphäre des Feuers reicht dabei bis zum Mond (der selbst nicht mehr zur Sphäre des Feuers zählt). Der Bereich des Äthers nimmt eine Sonderstellung ein, sowohl im Hinblick auf seine Unterteilung in weitere acht Sphären (Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn, Fixsterne) als auch auf die in ihm geltenden Bewegungsgesetze (gleichförmige Kreisbewegungen) und ihre Ursache (bei Aristoteles: der ›Unbewegte Beweger‹ im Mittelalter: Sphärenintelligenzen bzw. eine nicht erschöpfbare Bewegungskraft). Diese fünf Bereiche, in denen sich die Elemente konzentrieren, stellen jeweils deren »natürliche Orte« dar. Dies ist ein außerordentlich wichtiger Begriff, dessen Überwindung eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung der neuen Mechanik spielte.
Der kosmische Raum besitzt keine absolute, sondern nur bedingte, akzidentelle Existenz. Er ist die Summe der von allen Gegenständen eingenommenen Räume und hat keine von diesen getrennte Existenz. Die Endlichkeit des Raumes ist somit eine direkte Folge der Endlichkeit der Menge an Materie. Mit dieser Raumauffassung verbindet Aristoteles eine eigenartige Definition des »Ortes« eines Gegenstandes. Der »Ort« eines Gegenstandes wird als die »Oberfläche des ihn umfassenden Körpers« bestimmt. Der Ort einer Kugel wäre somit die Grenzfläche zu der ihn umgebenden Materie. Der Ort der Erde ist die Kugelfläche, an der die Sphäre der Erde aufhört und die des Wassers oder der Luft beginnt. Wenn es Gott einf ällt, die Erde mit der sie umgebenden Sphäre des Wassers, der Luft und des Feuers um ein Stück zu verschieben, ändert sich weder der Ort der Erde, noch der des Wassers oder der Luft. Nur der Ort der Sphäre des Feuers innerhalb der Ätherregion wäre jetzt ein anderer. Diese relativistische Definition des Ortes liegt insofern nahe, als die Vorstellung eines abstrakten Koordinatensystems, das die Relationen der im Raum vorhandenen Gegenstände zueinander nicht nur topologisch, sondern auch metrisch festlegen kann, durch die Ablehnung eines absoluten Raumes erschwert wird. Gibt es keinen absoluten Raum, den man zur Bestimmung der Entfernungen oder der Größenbeziehungen zwischen verschiedenen Körpern heranziehen könnte, dann gibt es nur noch die konkreten Körper, ihre Ausgedehntheit und ihre direkten körperlichen Verbindungen. Sowohl aus der Definition des Raumes als auch aus der des Ortes folgen die Unmöglichkeit des Vakuums und infolgedessen auch die Falschheit des Atomismus. Denn nach dem Atomismus werden zumindest zwei Dinge als notwendig erachtet: die Atome und der leere Raum.
Jede Bewegung benötigt bei Aristoteles eine unmittelbare Antriebsquelle. Versiegt diese, so hört Bewegung augenblicklich auf, da weder eine natürliche Trägheit noch eine Fähigkeit des Körpers, Energie zu speichern, angenommen wird. Die natürliche Bewegung jedes Körpers – mit Ausnahme des Äthers – ist das geradlinige Streben zum natürlichen Ort des dominierenden Elementes. Ein Stück Metall, der sich in der Luft befindet, hat somit die Tendenz, in eine geradlinige Bewegung in Richtung auf seinen natürlichen Ort einzuschwenken, und es tut dies um so bereitwilliger und schneller, je unvermischter das dafür verantwortliche Element in ihm vorliegt. Ein Stück kaltes Metall sollte sich deshalb schneller nach unten bewegen als ein nasser Klumpen Erde oder ein heißer Lavabrocken, der gerade von einem Vulkan ausgespeit wurde.
Auch für die Fallbeschleunigung findet der Aristoteliker eine einleuchtende Erklärung: Die Fallbeschleunigung erklärt sich aus der Zunahme des Gewichts bei Annäherung an den natürlichen Ort. Die Fallgeschwindigkeit wird also dem Gewicht des fallenden Körpers proportional gesetzt. Dies ist eine Annahme, die Galilei bereits in seinen frühesten Schriften angreift.
Neben den natürlichen Bewegungsabläufen gibt es die gewaltsamen Bewegungen. Sie werden von der Wissenschaft der Mechanik behandelt. Jede Bewegung, die einen Körper vom natürlichen Ort seines Elementes entfernt, ist eine gewaltsame Bewegung. Die wirkende Ursache ist hierbei nicht die Schwere oder Leichtigkeit, sondern eine gezielt eingesetzte Kraft, die den Körper in eine seiner natürlichen Tendenz zuwiderlaufende Richtung zwingt. Sie kann dies jedoch nur, wenn sie stärker ist als die Tendenz des Körpers, zu seinem natürlichen Ort zu gelangen. Wenn die Kraft, die einen Körper vom Fallen abhält, ebenso groß ist wie die natürliche Tendenz des Körpers nach unten, dann verharrt der Körper in seiner Position. Andernfalls bewegt er sich nach oben oder unten. Auch hier gilt, dass nur eine kontinuierlich wirkende unmittelbare Antriebskraft zu einer kontinuierlichen und gleichmäßigen Bewegung (jedoch nicht zu einer Beschleunigung, wie in der modernen Mechanik) führt.
Die große Ausnahme in der aristotelischen Stofflehre ist das fünfte Element, der Äther. Jedes andere Element bewegt sich geradlinig in Richtung auf den natürlichen Ort des Elements. Nicht so der Äther. Die natürliche Bewegung des Äthers ist die gleichförmige und kreisförmige Bewegung in seinem natürlichen Ort selbst. Im Himmel gibt es keine andere Veränderung als die in sich zurückkehrende kreisförmige Bewegung der ätherförmigen Körper. Dies hat einen guten Grund: Wenn sich der Äther geradlinig bewegen könnte, dann wäre es schwierig, die Grenze des Kosmos anzugeben. Ein Stück des Äthers könnte sich theoretisch unendlich weit vom Mittelpunkt des Kosmos entfernen und somit die Annahme eines unendlich großen Kosmos erzwingen. In einem unendlich großen Kosmos gibt es aber keinen Mittelpunkt mehr. Also kann sich der Äther nur in endlichen Kreisen um den Mittelpunkt bewegen. Weiterhin muss die Bewegungsursache des Äthers als unerschöpflich angenommen werden, da die Sterne sonst im Laufe der Zeit langsamer werden müssten.
Klaudios Ptolemaios (101–179 n. Chr., nach anderer Datierung 85–165 n. Chr.) war der Erbe einer jahrhundertelangen astronomischen Tradition. Er fasste zusammen, was andere Astronomen von den Chaldäern bis zu Hipparch über lange Zeiträume erarbeitet hatten. Mit seinem astronomischen Hauptwerk, der Syntaxis mathematike, das die Araber später den Almagest nannten, kodifizierte er das Wissen der Hauptlinie der antiken Astronomie über die Bewegungen der Himmelskörper.
Ptolemaios führte im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine mathematische Astronomie zur Vollendung, bei der die Erde das Zentrum der Bewegungen aller Himmelskörper bildete. Diese Astronomie war so ausgefeilt und so gut, dass sie über 1300 Jahre hinweg konkurrenzlos das Feld beherrschte. Die Syntaxis kann man ohne Übertreibung als eines der zehn wichtigsten Bücher in der Geschichte der okzidentalen Wissenschaft vor dem 19. Jahrhundert bezeichnen. Im lateinischen Westen wurde das Hauptwerk des Ptolemaios erst im 12. Jahrhundert und damit etwa zur gleichen Zeit wie die meisten Werke des Aristoteles bekannt.
Wir können auf die Entwicklung der Astronomie vor Ptolemaios hier nicht näher eingehen, sondern müssen uns auf eine Skizze der wichtigsten Innovationen und des Ergebnisses beschränken. Nach üblicher Auffassung hatte Platon den Astronomen seiner Zeit die Aufgabe gestellt, die Bewegungen der Himmelskörper durch gleichförmige Kreisbewegungen zu beschreiben. Abgesehen von der absoluten Ruhe war nur diese geschlossene, in sich selbst zurückkehrende Art von Bewegung der göttlichen Natur des Himmels angemessen. Platon steht keineswegs am Anfang der Entwicklung der Astronomie, sondern war von den Ideen der Pythagoräer beeinflusst. Während die Pythagoräer allerdings noch nicht unisono die Erde als Zentrum der himmlischen Kreise ansahen, und Platon (nach einer umstrittenen Auffassung11 noch schwankte, lieferte kurze Zeit nach Platon Aristoteles den physikalischen Beweis, dass nur das Element Erde im Zentrum des Kosmos stehen könne.
Schon zur Zeit des Aristoteles war den beobachtenden As tronomen klar geworden, dass die vorhandenen Beobachtungen nicht mit einfachen Kreisbewegungen um ein einziges Zentrum erklärt werden konnten. Es handelte sich dabei um Beobachtungen wie die folgenden:
Die Himmelskörper durchliefen ihre Bahn um die Erde nicht gleichförmig. Dies war am Lauf der Sonne vor dem Hintergrund der Sterne zu sehen. Die Folge dieser »ersten Anomalie« ist, dass die Jahreszeiten ungleiche Längen haben. Noch deutlicher konnte man den ungleichen Lauf von Himmelskörpern am Mond sehen. Dieser ändert seine Größe in seinem rund 19-jährigen Zyklus um etwa 30 % – was realistischerweise nur bedeuten kann, dass er seinen Abstand zur Erde ändert.
Einige der Planeten zeigten merkwürdige Besonderheiten in ihrem Lauf um die Erde. Sie schienen an bestimmten Punkten ihrer Bahn stillzustehen, dann eine gewisse Zeit rückwärts zu laufen, dabei eine Schleife zu beschreiben, um schließlich in beschleunigter Bewegung wieder auf den normalen kreisförmigen Kurs einzuschwenken. Dies nannte man die »zweite Anomalie«.
Die geheimnisvollste Abweichung von der gleichförmigen Kreisbewegung ist die, die man als die Präzession der Äquinoktien, also die langsame Verschiebung des Frühlings- und Herbstpunktes bezeichnet. Diese Verschiebung ist regelmäßig und sorgt dafür, dass nach circa 26 000 Jahren der Ausgangspunkt wieder erreicht wird. Wann diese »dritte Anomalie« entdeckt wurde ist umstritten. Einige Historiker schreiben die Entdeckung bereits den Chaldäern oder gar den Steinzeitastronomen zu.12
Mathematiker wie Eudoxos, Appollonius und Hipparch ersannen in den Jahrhunderten nach Platon verschiedene Möglichkeiten, gleichförmige und kreisförmige Bewegungen so zu kombinieren, dass man die Beobachtungen durch ein entsprechendes Modell erklären konnte. Die wichtigsten dieser mathematischen Innovationen waren13:
Die Kombination mehrerer konzentrischer Kreisbewegungen mit unterschiedlicher Drehachse (homozentrisches Sphärenmodell von Eudoxos und Kallippos). Damit konnte man – zumindest im Prinzip – die zweite Anomalie beherrschen. Allerdings ist ein wirklichkeitsnahes Modell dieses Typs unanschaulich und formal schwierig zu handhaben.
Die exzentrische Bewegung: Dabei verschiebt man den Mittelpunkt der Kreisbewegung an einen Punkt, der nicht mehr mit dem Mittelpunkt der Erde übereinstimmt. Dies macht die erste Anomalie beherrschbar.
Die epizyklische Bewegung: Dabei belässt man die Erde im Mittelpunkt des Großkreises, den man den Deferenten nennt. Auf den Deferenten setzt man einen zweiten Kreis, der seinerseits den Himmelskörper trägt. Beide Kreise rotieren gleichsinnig und gleichförmig, aber mit unterschiedlicher Frequenz. Die Größen der Kreise und ihre Rotationsfrequenzen müssen so gewählt werden, dass das resultierende Modell die Beobachtungen vorhersagen kann. Mit einer Kombination epizylischer und exzentrischer Bewegungen lassen sich die drei bekannten Anomalien erklären. Islamische Astronomen (al-Tusi) haben das Instrumentarium weiter verfeinert, indem sie in den ersten Epizykel noch einen zweiten Epizykel einfügten.
Der Ausgleichspunkt: Dies ist ein fiktiver Punkt im Raum, der weder mit dem Mittelpunkt der Erde noch mit dem Mittelpunkt des Deferenten oder des Epizykels übereinstimmt. Die Funktion des Ausgleichspunktes (punctum aequans) ist ein anderer: von ihm aus gesehen bewegt sich der Himmelskörper vor dem Hintergrund der Sterne in gleichförmiger Weise. Damit wird formal die Forderung Platons erfüllt, inhaltlich allerdings nicht, da das punctum aequans nur eine mathematische Fiktion ist. Viele Astronomen bis hin zu Kopernikus betrachteten den Ausgleichspunkt als mathematischen Trick, der nicht durch physikalische Prinzipien gedeckt war und nur dazu diente, einen Widerspruch mit den Beoachtungen zu vermeiden. Kombiniert mit Epizykel und Exzenter macht der Ausgleichspunkt das Instrumentarium der antiken Astronomie so flexibel, dass alle realen Bahnformen mit guter Näherung modelliert werden konnten. Vor dem Hintergrund der Keplerschen Entdeckung wird auch klar warum: der Ausgleichspunkt imitiert den zweiten Brennpunkt der Kepler-Ellipse.
Ungeachtet ihrer Leistungsf ähigkeit blieb die ptolemäische Astronomie ein Problemfeld. Ptolemaios hatte jeden Planeten gesondert behandelt. Das Gesamtsystem bildete keine organische Einheit, sondern nur ein Agglomerat der Modelle der einzelnen Planeten. Zum zweiten widersprach das ptolemäische System der epizyklischen und exzentrischen Bewegungen den Prinzipien der aristotelischen Himmelsphysik, die nur gleichförmige konzentrische Kreisbewegungen kennt. Zudem werden die Planeten nach Ptolemaios in direkter Weise von innewohnenden Kräften bewegt, während bei Aristoteles die Bewegungskraft von der äußersten Sphäre ausgeht und sich nach innen graduell abschwächt.
Ptolemaios repräsentiert die Hauptlinie der antiken Astronomie, aber es gab abweichende Meinungen. Archimedes von Syrakus berichtet über das System eines gewissen Aristarch aus Samos, der nicht die Erde, sondern die Sonne ins Zentrum der Welt setzte. Obwohl viele Details unbekannt sind, reichen die vorhandenen Informationen aus, um sagen zu können, dass die Grundideen des Kopernikus bereits 1800 Jahre vorher geäußert und in ein Planetenmodell umgesetzt wurden.
Diese Vorwegnahme scheint keine bloße Laune der Geschichte gewesen zu sein. Inzwischen wissen wir, dass die Zeit zwischen Aristoteles und Ptolemaios eine – mit politisch bedingten Unterbrechungen – wissenschaftlich ungemein fruchtbare Periode war, die durch eine bestimmte Institution getragen wurde, an der wie in einer modernen Universität vom Staat eingestellte und finanzierte Wissenschaftler forschten und lehrten: das Museion von Alexandria. Glanzlichter der alexandrinischen Wissenschaft waren die Physik eines Straton, die Geographie eines Eratosthenes, die Physiologie eines Erasistratos, die Medizin eines Herophilos, die Mathematik eines Apollonios und Archimedes, die Mechanik eines Heron, die Astronomie eines Hipparch und Aristarch.
Einige der Genannten waren nur für wenige Jahre am Museion tätig – und dennoch scheint das intellektuelle und kulturelle Milieu Alexandrias entscheidend für viele der großartigen wissenschaftlichen und technologischen Innovationen dieser Zeit gewesen zu sein.14 Der experimentelle Nachweis des Vakuums, die Messung des Erdumfangs, die Erfindung der Dampfturbine (Herons-Ball), die Begründung der Wissenschaft der Statik, die Erforschung der Kegelschnitte, die Verwissenschaftlichung der Technologie, die Erfindung der heliozentrischen Astronomie und die Entwicklung einer hierfür notwendigen alternativen Dynamik – all dies waren Leistungen der alexandrinischen Wissenschaft.
Ein ferner und leider auch trüber Spiegel der damals diskutierten Ideen ist eine Schrift von Plutarch (ca. 50–100), die der Erklärung des Aussehens der Mondoberfläche (De facie in orbe lunae)15 gewidmet war. Es ist kein Zufall, dass Kopernikus zur Verteidigung seiner neuen Astronomie auf diese Schrift des Plutarch und auf die darin geäußerte Vorstellung von einer inclinatio ad simile zurückgreift. Die inclinatio ad simile war das Streben nach dem Verwandten, das jeden Körper dazu veranlassen sollte, zu dem Himmelskörper zu fallen, von dem er stammt oder dem er seinen Eigenschaften nach am ähnlichsten ist. Ein Stück Materie vom Mond f ällt danach nicht zur Erde, sondern zum Mond, wenn man es auf halbem Wege loslässt. Ein Stück vom Mars f ällt zum Mars zurück und ein Stück von der Sonne f ällt wieder auf die Sonne zurück. Warum aber f ällt der Mond nicht auf die Erde? Der Mond f ällt deshalb nicht auf die Erde – so die Antwort – weil er durch seine Fliehkraft daran gehindert wird.16
Wenn es sich aber so verhält, dann ist es keineswegs notwendig, dass die Erde das Zentrum der gesamten Welt sein soll. Zum einen würde ein Stein auch dann zur Erde zurückfallen, wenn die Erde nicht das Zentrum der Welt einnehmen würde. Er strebt danach, sich mit den anderen Teilen des Stoffes, aus dem er besteht, zu vereinigen. Zum anderen braucht der Physiker, der die von Plutarch zitierte Idee einer Zentrifugalkraft (den Begriff kennt die Antike allerdings noch nicht) vertritt, keine göttlichen Kreisbahnen mehr. Die Bahn des Mondes erklärt sich durch das Wechselspiel zentripetaler und zentrifugaler Kräfte. Hierin steckt die Idee, dass die natürliche Bewegungstendenz des Mondes (Plutarch nennt als Analogie einen an einer Schnur herumgewirbelten Stein) eine andere wäre, und dass diese andere Bewegungstendenz nur deshalb zu einer annähernd kreisförmigen transformiert wird, weil zu jeder Zeit eine anziehende Kraft der Erde auf der Verbindungslinie zwischen Mond und Erde wirkt. Plutarch sagt noch nicht, dass diese »andere« Bewegung eine geradlinige in Richtung der Tangente ist. Er ist kein Wissenschaftler und versteht die Ideen, die er in einen Dialog einarbeitet, nur teilweise.
Dennoch reichen die Informationen aus dieser Quelle aus, um sagen zu können, dass das Spektrum der in dieser Zeit erarbeiteten Vorstellungen wesentlich größer und reichhaltiger und vor allem fortschrittlicher ist als bisher gedacht. Plutarch zitiert unter anderen Empedokles, Aristoteles, Hipparch, Aristarch, Poseidonios (135–50 v. Chr.). Letzterer hatte die Anziehungskraft des Mondes zur Erklärung der Gezeiten angeführt und war einer der großen Universalgelehrten der Antike. Dass auf der Basis dieser Ideen die Vorstellungen eines kosmischen Mittelpunktes, eines natürlichen Orts und natürlicher Bewegungen ihren ursprünglichen Sinn verlieren, ist bei Plutarch ebenfalls angesprochen. Der Kosmos wird als unendlich gedacht, man spricht von der Existenz vieler Welten und der Mond ist ein Himmelskörper mit Tälern, Bergen und Schluchten, auf dem sogar unbekanntes Leben existieren könnte.
Die ptolemäische Astronomie war die mathematische Darstellung der Bewegungen des aristotelischen fünften Elementes, also des Äthers. Aber es gab Unstimmigkeiten, und es ist von größter Bedeutung für die nachfolgende Entwicklung der Astronomie geworden, dass es nicht gelang, die vorhandenen Inkonsistenzen völlig zu beseitigen. Die Grobstruktur der ptolemäischen Planetenordnung und Kosmographie stimmte mit den physikalischen Grundsätzen des Aristoteles und mit dem hierarchischen Weltbild der christlichen Theologie recht gut überein. Aber den wirklichen Kennern der Materie war bewusst, dass die Astronomie des Ptolemaios die von Aristoteles geforderten Prinzipien für die Bewegung des fünften Elements auf subtile Weise verletzte. Es war nicht möglich, die beiden Forderungen nach Kreisförmigkeit und Gleichförmigkeit der Himmelskörperbewegungen zugleich zu erfüllen. Die Planeten bewegten sich auf eine unverkennbare Weise irregulär, und es ist den ptolemäischen Astronomen nicht gelungen, für diese Bewegung eine Erklärung zu geben, die die Axiome der Gleichförmigkeit und Kreisförmigkeit zugleich erfüllt. Dieser Widerspruch war einer der strategischen Schwachpunkte des scholastischen Systems der Naturerklärung. Genau an dieser Stelle setzte Kopernikus den Hebel an.
Aber dies war vier Jahrhunderte nachdem die SyntaxisAlmagestAlmagestAlmagestTractatus de spheraSphären des Sacrobosco