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Ein Schlüsselroman zum Verständnis der modernen USA, ihrer tiefen Ambivalenz und inneren Zerrissenheit

Carol Kennicott, eine junge Frau aus Neuengland, hat es in ein Provinznest verschlagen, deren Einwohner, so merkt sie rasch, völlig anders ticken als sie. Um keinen Preis wollen sie von Vorurteilen abrücken und mit neuen Ideen beglückt werden. Im Gegenteil: Wer an ihren tief verwurzelten Überzeugungen rüttelt, kann sein blaues Wunder erleben. So entspinnt sich ein Kampf zwischen zwei konträren Weltbildern – urbane Liberalität gegen rustikalen Traditionalismus. Dass Letzteres nicht so einfach zu überwinden ist, sondern böse zurückschlägt, wenn es sich bedroht fühlt, lässt sich an der USA der Gegenwart ebenso studieren wie an diesem turbulenten, unterhaltsamen Klassiker.

Sinclair Lewis (1885–1951), geboren in einer Kleinstadt in Minnesota, studierte in Yale und arbeitete als Journalist und Lektor in New York, San Francisco und Washington. Seit dem Erfolg seines Romans«Main Street« konnte er von der Schriftstellerei leben. 1926 erregte er mit seiner Ablehnung des Pulitzerpreises Aufsehen, der ihm für«Arrowsmith« zuerkannt worden war; 1930 erhielt er als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis.

Sinclair Lewis

MAIN STREET

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
von Christa E. Seibicke

Neuausgabe

Nachwort von Heinrich Steinfest

MANESSE VERLAG

Für James Branch
und Joseph Hergesheimer

Das ist Amerika – eine Kleinstadt wie tausend andere in einem Landstrich mit Weizen- und Maisanbau, mit Milchwirtschaft und kleinen Waldungen.

In unserer Erzählung heißt die Stadt «Gopher Prairie1, Minnesota». Doch ihre Main Street ist eigentlich nur die Fortsetzung jeder anderen Hauptstraße im Land. Die Geschichte wäre in Ohio oder Montana, in Kansas, Kentucky oder Illinois dieselbe und auch droben im Staat New York oder in den Bergen der beiden Carolinas keine wesentlich andere.

Die Main Street, das ist der Höhepunkt der Zivilisation. Damit heute jenes Ford-Automobil vor dem «Bon Ton»-Warenhaus2 stehen kann, ist Hannibal in Rom einmarschiert und hat Erasmus in der klösterlichen Abgeschiedenheit von Oxford zur Feder gegriffen.3 Was Kaufmann Ole Jenson dem Bankier Ezra Stowbody erzählt, wird zum neuen Gesetz für London, Prag, ja selbst für die keinerlei Gewinn bringenden Meeresinseln; alles, was Ezra nicht kennt und nicht gutheißt, ist Ketzerei – nutzloses Wissen und frevelhafte Beschäftigung.

Unser Bahnhof erfüllt höchste architektonische Ansprüche. Sam Clark erzielt mit seinen Eisen- und Haushaltswaren einen Jahresumsatz, um den die vier Countys, die «Gottes Land»4 ausmachen, ihn beneiden. Die gefühlvolle Kunst der «Rosebud»5-Lichtspiele vermittelt uns Denkanstöße und jugendfreien Humor.

So viel zu unserer behaglichen Tradition und unserem festen Glauben. Würde sich da nicht als zynischer Fremdling entlarven, wer die Main Street anders schildern oder ihre Bewohner mit Spekulationen darüber erschrecken wollte, ob es noch andere Bekenntnisse gibt?