Michael Ende

Das Gefängnis der Freiheit

Erzählung

Die Geschichte der Tausendundelften Nacht

Der blinde Bettler, den alles Volk »Insch’allah«[1] nannte, fuhr zum Kalifen gewendet fort in seiner verstatteten Rede:

Du hast gehört, o Gebieter aller Gläubigen, wie ich unter den Einfluss jenes griechischen Weinsäufers und Schweinefleischfressers geriet, der sich als Philosoph ausgab und der mich durch sein Gefasel an der Allmacht und Allwissenheit Allahs – Sein Name sei gepriesen! – und an der allein wahren Lehre Seines Propheten – gesegnet sei Er! – irre machte, indem er mir allerlei listige Beweisführungen dafür vorgaukelte, dass der Mensch einen freien Willen habe und nach eigenem Ermessen, einzig aus sich selbst heraus, Gutes oder Böses hervorbringen könne. Doch dies ist Lästerung, denn es würde bedeuten, dass das Geschöpf seinen Schöpfer zu überraschen vermöchte und es also auch für den Höchsten und Einzigen ein Vorher und ein Nachher gäbe, und Er mithin nicht über der Zeit stehe, sondern ihr unterworfen sei wie alles, was Er geschaffen hat.

Du aber, o Gebieter aller Gläubigen, weißt wohl, dass der Mensch vor dem Angesicht des Ewigen – gelobt sei Er! – nicht mehr bedeutet als ein Sandkorn in der Wüste, denn so wie dieses vom Sturmwind dahin und dorthin geblasen wird und sich aus eigener Kraft nicht regen kann, so ist es einzig der Wille Allahs – Sein Friede sei mit Dir, Herr! –, der uns zu dem oder jenem Tun bewegt, und aus eigener Entscheidung vermögen wir nicht das Geringste. So war es von Anbeginn der Zeiten, und so wird es sein bis zu deren Ende, denn Er, der über allen Zeiten steht, weiß allein den Ausgang aller Dinge und kennt unser heimlichstes Dichten und Trachten in jeder Einzelheit schon von Ewigkeit her.

Darum höre nun, o Gebieter aller Gläubigen, wie die Güte und Strenge des Allmächtigen mit mir verfuhr, um mich zur völligen Unterwerfung unter Seinen heiligen Willen zu führen, indem Er Iblís, dem Lügner[2] erlaubte, mich für eine zugemessene Zeit zu versuchen und zu verblenden.

Ich war damals noch ein Jüngling in der Blüte meiner Jugendkraft und voll der eitlen Anmaßung, die das Gift des Griechen in meinem Herzen hervorgerufen hatte. Ich glaubte, all mein Glück und meinen Reichtum meinen eigenen Fähigkeiten und meiner Klugheit als Kaufmann zu verdanken. Ich vergeudete meine Tage in philosophischen Gesprächen mit jenem vermeintlichen Lehrer und Freund und meine Nächte in immer neuen Schwelgereien. Ich glaubte, mich nicht mehr an die von Allah durch Seinen Propheten geoffenbarte Weltordnung halten zu müssen, hielt die vorgeschriebenen Gebete und Waschungen nicht mehr ein und vernachlässigte auch alle anderen Gebote unserer Religion mehr und mehr.

Schließlich ging ich sogar so weit, den Fastenmonat zu missachten. Selbst am 27. Ramadan, in dem der Lailat Al Kadr[3] gefeiert wird, aß und trank ich den ganzen Tag. Meine Diener entsetzten sich vor mir und vor dem Unheil, das ich über mein Haus heraufbeschwor, und flohen. Ich lachte aber nur über sie und beschloss, sie am folgenden Tag, wenn sie zurückkämen, allesamt öffentlich auspeitschen zu lassen.

Jedenfalls war ich an jenem Abend allein und von meinen Ausschweifungen trunken und schläfrig, deshalb weiß ich nicht zu sagen, woher jene schöne Tänzerin kam, die plötzlich in meinem Diwan[4] stand. Ich hatte sie nicht gerufen und kannte sie auch nicht. Es war, als habe sie sich unversehens aus den süßen Haschischwolken gebildet, die meinem Nargileh[5] entquollen.

Sie trug ein loses Gewand aus schwarzen, silberdurchwirkten Schleiern, das den Elfenbeinglanz ihrer wohlgeformten Glieder allenthalben erahnen ließ. Ihr Gesicht war wie der volle Mond, und ihre Lippen glichen den Rosen aus Samarkand. Ihr Haar, das gelöst bis zu ihren Kniekehlen herabhing, hatte die Farbe des Rabengefieders, und ihre Hände und Füße waren von Henna gerötet. Der Duft, der von ihrem Körper ausging, war so betörend, dass ich vermeinte, eine Huri[6] vor mir zu sehen. Als sie nun begann, sich im Tanze zu drehen und ihren schlanken Körper zu biegen, klirrten ihre goldenen Armreifen, und die silbernen Schellen an ihren Fußgelenken läuteten wie zartes Grillengezirpe. Zugleich ertönte, ich wusste nicht woher, Musik von so sinnenberauschender Leidenschaft, dass ich mich nicht länger zu beherrschen vermochte.

»Wer bist du, o du köstliches Juwel der Liebe?«, rief ich aus. »Du musst mir gehören, und koste es alles, was ich besitze. Sage mir, was du dafür forderst.«