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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Ästhetik des Schreibens, Band 1 herausgegeben von Hanns-Josef Ortheil

Vorwort
Einem alten Witz zufolge lautet eine der wichtigsten Regeln in Creative-Writing-Kursen: »Das bisschen, was wir lesen, schreiben wir selbst!« Der Witz teilt viel von der Unbedarftheit mit, auf die man zuweilen bei Leuten trifft, die auf Formularen als Berufswunsch »Autor bzw. Autorin von literarischen Texten« ankreuzen. Was interessiert einen schon Prousts zehnbändige Suche nach der verlorenen Zeit, wenn man doch einen eigenen verborgenen Energiekern hat, den man nur aktivieren muss, um selbst elf tolle Bände zu schreiben?
Wie weit man mit so einem Verständnis vom Schreiben kommt, merkt man, wenn man vor dem eigenen Text sitzt und den eigenen Energiekern nicht findet. Erst recht, wenn man ihn mit Mühe und zwei Gläsern Rotwein so weit aktiviert hat, dass man tatsächlich einen Text aufs Papier oder auf den Bildschirm bringt, der nur ein Problem hat: dass er nicht toll ist.
Vielleicht hilft in solchen trüben Momenten ein Blick in die Suche nach der verlorenen Zeit. Man nimmt eins der Bücher, schlägt es irgendwo auf und beginnt so zu lesen, als würde man dicht an ein Gemälde herantreten – um zu erkennen, wie der Text gemacht ist: wie die Buchstaben gesetzt sind, die Worte, die Sätze; wie eine Figur durch die Tür kommt, nachdem sie angeklopft hat und man sie tatsächlich durch die Tür kommen sieht und das Klopfen noch im Ohr hat. Je genauer man hinschaut, umso dringender möchte man dem Autor die Frage stellen, die einst der Regisseur François Truffaut einem hochverehrten Kollegen gestellt hat: »Wie haben Sie das gemacht, Mr. Hitchcock?« – »Monsieur Proust, wie haben Sie das mit dem Klopfen hinbekommen? Und wie kann es sein, dass die Figur so durch die Tür kommt, dass ich beim Lesen denke, ich kann sie tatsächlich sehen?«
Hätten jene Recht, die bei Literatur vor allem an den eigenen Energiekern denken, hätte man Truffaut das Kino verbieten und ihm abraten müssen, Alfred Hitchcock zu besuchen. Und man hätte ihn davor gewarnt, sich bei anderen die Lösungen abzuschauen: François, konzentrier Dich bitte auf Dein eigenes Heft!
Hätte Truffaut darauf gehört, hätte man seine Filme wahrscheinlich nicht sehen wollen. Genauso wenig, wie man die Texte von Autoren lesen mag, die sich nicht für Literatur interessieren und die niemals Kollegen in der Werkstatt besucht haben, um zu fragen, mit was für Tricks, Techniken und Strategien da gearbeitet wird.
Solche Literaturfeindschaft von Leuten, die selbst Bücher schreiben wollen, beruft sich wohl immer noch auf die Idee vom reinen Genie, das es allerdings – entgegen der weit verbreiteten Überzeugung – nie und nirgends gegeben hat. Oder sollte man sich den jungen Goethe, der für solche Vorstellungen gern herbeizitiert wird, als Menschen vorstellen, der nichts gelesen hat? Soll man glauben, er habe nicht bei anderen Autoren geschaut, wie die ihre literarischen Probleme technisch lösen? Nein, man muss sich ihn als Novizen vorstellen, der einen großen Kollegen in der Werkstatt besucht: »Wie haben Sie das gemacht, Mr. Shakespeare?« Und man muss sich ihn als einen energiegeladenen Leser vorstellen, der auch die Texte der weniger geschätzten Autoren genau liest, um zu wissen, wie er es gerade nicht machen will.
Selbst wer sich mit dem Entstehen von Literatur nur beiläufig beschäftigt, weiß genau, dass große Autoren immer auch große Leser sind. »Lehrmeister des Schriftstellers« ist mit den Worten Hans-Ulrich Treichels »die Literatur in ihrer Gesamtheit, auch wenn man diese Gesamtheit nur in Bruchstücken kennt«. Wer dieser Idee folgt, ist kein Konsument, der sich an Büchern bewusstlos liest. Er ist aber auch kein literaturwissenschaftlicher Leser, der sich bei der Lektüre immer schon alles in Fußnoten für den nächsten Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift denkt. Wer liest, um zu schreiben, ist ein produktiver Leser. Er liebt die Lust des Lesens. Zugleich ist er hellwach, um zu sehen, was da eigentlich mit den Worten passiert. »Erst lesen, dann schreiben«, heißt die Parole – schlicht und wegweisend.
Wer produktiv liest, liest alles, was gerade in Griffweite ist. Das Nibelungenlied genauso wie den Roman der jungen Autorin, die gerade in den Feuilletons gefeiert wird. Walther von der Vogelweide und Thomas Mann sind diesem Leser genauso nah wie Conan Doyle und Sigmund Freud, Günter Grass und Felicitas Hoppe. Es sind alles Kollegen, die auch über ihren Texten sitzen und deshalb mit denselben Lüsten und Frustrationen zu kämpfen haben, mit denen man selbst kämpft, wenn man unbedingt schreiben will. Und sie bieten lauter Lösungen, mit denen man im besten Fall selbst etwas lösen kann. Vor allem bieten sie, was man altmodisch die Quellen der Inspiration nennt: Sie können das Hirn des produktiven Lesers so sehr anregen, dass sich die Schreibhand wie von selbst bewegt.
Aber wer so liest, entdeckt noch viel mehr. Wie viel versteht man bei Goethe, Mann, Conan Doyle, Freud, Grass und Hoppe, wenn man sie sich als produktive Leser vorstellt und ihren Leselinien durch die Bücherwelt folgt, um zu sehen, welch unterschiedliche Wege sie eingeschlagen haben. So ergeben sich faszinierende Bewegungsbilder, wenn man Autoren folgt, die Autoren lesen, die wiederum andere Autoren gelesen haben – um eigene Texte zu schreiben.
Von solchen Wegen und Bewegungen erzählen die Essays im vorliegenden Band. Wir haben zweiundzwanzig Autoren eingeladen, darüber zu berichten, wie sie andere Autoren so lesen, dass sie von ihnen etwas über das Schreiben lernen. Die Idee war, dass damit der nächste produktive Leser etwas über das Schreiben, vor allem aber auch über das produktive Lesen lernen kann – um selber neue Texte zu schreiben oder um einfach nur weiterzulesen.
Dabei darf man sich überraschen lassen. Zum Beispiel von Marcel Beyer, der Mein Bienenjahr von Lieselotte Gettert zur Lektüre empfiehlt: »Wer meint, Sprache sei etwas Gegebenes, sei einfach da, und Schreiben heiße, auf Papier zu plaudern, den schicken wir ins Bienenhaus. Es gibt keine natürlichen Sätze.« Überraschen lassen darf man sich aber auch von Klassikern wie Flaubert, Hemingway oder Novalis. Denn sie lassen sich ebenso als unkonventionelle Schreibratgeber nutzen wie jene Autoren, die für die eigene literarische Arbeit entdeckt oder wiederentdeckt werden müssen: Arno Holz, Ole Könnecke, Julio Cortázar …
Damit grenzen sich diese Essays von Büchern zum Kreativen Schreiben ab, die eine für alle Texte passende Regelpoetik propagieren und jene Werke für literarisch ›gelungen‹ halten, die den Marktvorgaben möglichst exakt folgen. Wir verzichten auf solche DIN-Normen fürs Schreiben und gehen davon aus, dass die Regeln fürs literarische Schreiben nicht allgemein formuliert werden können. Sie lassen sich nur aus der individuellen Lektüre individueller Texte ableiten – und dann experimentell im eigenen Schreiben umsetzen. So setzt das simple Prinzip »Erst lesen. Dann schreiben« auf Autoren, die immer auch die anarchische Vielfalt der literarischen Welt kennen lernen möchten, wenn sie sich an ihre eigenen Texte setzen. Einen verlässlichen Lektürekanon hat man am Ende zwar nicht zur Hand, aber vielleicht eine Beziehung zur Literatur entwickelt, die auf das produktive Lesen setzt. Um die Schwelle zwischen Lesen und Schreiben abzusenken, ist jedem Essay eine Schreibaufgabe zugeordnet.
Gewidmet haben wir den Band Robert Gernhardt, dessen Beitrag zu Lichtenberg uns an seinem Todestag erreicht hat.
 
Olaf Kutzmutz und Stephan Porombka, Frühjahr 2007

ROBERT GERNHARDT
Zweimal zwei nicht vier
Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher [1765 ff.]
Georg Christoph Lichtenberg war von Beruf akademischer Lehrer, ein Physiker von Weltrang, Mitglied eines Dutzends bedeutendster deutscher und ausländischer Akademien, als Lehrmeister wird er sich nie empfunden haben. Dennoch war er und – vor allem – ist er dies. Nicht durch sein Leben, das anfangs einigermaßen ungeregelt, dann angestrengt bürgerlich verlief, sondern durch sein Denken. Ein auf den ersten Blick ebenfalls ungeregeltes Denken, da Lichtenberg es nicht in den zu seiner Zeit beliebten Denkgebäuden aufgeschichtet, sondern in Heften verstreut notiert hat. Die Rede ist von seinen von ihm so genannten Sudelblättern und von den ungefähr achttausendeinhundertfünfzig darin niedergelegten Notaten, nicht für die Mitwelt bestimmt, so dass die wahre Größe Lichtenbergs erst der Nachwelt, und auch der erst sehr langsam, bewusst wurde, wobei Goethe mal wieder die Nase vorn hatte: »Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen. Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.«
Und wir können von ihm lernen. Zumindest ich habe das getan, da ich Lichtenberg dank des belesenen Onkels Meinhardt bereits als Schüler kennenlernen konnte. Was alles ich von Lichtenberg gelernt habe, das sei in sieben Danksagungen niedergelegt.

I.

Während der Lehrmeister gemeinhin Sicherheiten anbietet, streut Lichtenberg Zweifel: »Immer sich zu fragen, sollte hier nicht ein Betrug stattfinden«, mahnt er, und er geht noch weiter: »Zweifel an allem wenigstens EINMAL, und wäre es der Satz: zweimal 2 ist 4.«

II.

Lichtenberg weiß, dass der Verstand allein die notwendigen Zweifel zu leisten nicht imstande ist. Größere Stücke hält er auf die Phantasie, also auf seine Einbildungskraft. »Seine Einbildungskraft« – Lichtenberg spricht von sich in der dritten Person -, »seine treueste Gefährtin, verlässt ihn alsdann nie; er steht hinter dem Fenster, den Kopf in die zwo Hände gestützt, und wenn der Vorbeigehende nichts als den melancholischen Kopfhenker sieht, so tut er sich oft das stille Bekenntnis, das er im Vergnügen wieder ausgeschweift hat.«
Die Ausschweifungen von Lichtenbergs Einbildungskraft haben es in sich. Wenn die, Seite an Seite mit Lichtenbergs Verstand, erst einmal zu zweifeln beginnt, dann wehe Gott und allen anderen Übereinkünften, in welchen sich der Durchschnittsmensch sicher glaubte. Nichts da! Stattdessen werden sie allesamt unter Totalverdacht gestellt.
Lichtenberg bezweifelt die Geschlechtsrolle Gottes in der Kurzeintragung: »Mutter unser die du bist im Himmel«, womit man in ihm einen der Begründer der feministischen Theologie sehen könnte.
Er bezweifelt die Existenz Gottes: »Gott schuf den Mensch nach seinem Bilde, das heißt, vermutlich der Mensch schuf Gott nach dem seinigen.« Er belegt diese Vermutung mit einem Beispiel aus der Völkerkunde: »Die Indianer nennen das höchste Wesen Pananad oder den Unbeweglichen, weil sie selber gerne faulenzen.«
Er fühlt dem Heldentum auf den Zahn: »Die Könige glauben oft, das was ihre Generale und Admirale tun, sei Patriotismus oder Eifer für ihre eigene Ehre. Öfters ist die ganze Triebfeder großer Taten ein Mädchen, welches die Morgenzeitung liest.«
Er misstraut Deutschtümelei und Deutschtun. »Es gibt heuer eine gewisse Art Leute, meistens junge Dichter, die das Wort deutsch fast immer mit offenen Naslöchern aussprechen. Ein sicheres Zeichen, dass der Patriotismus bei diesen Leuten sogar auch Nachahmung ist. Wer wird immer mit dem Deutschen so dicke tun? Ich bin ein deutsches Mädchen, ist das etwa mehr, als ein englisches, russisches oder othaheitisches?«
Mehr noch: Lichtenberg verzichtet auf den bis in unsere Tage gängigen Trost, in exotischen Gefilden hätten edle Wilde die Lösung der Menschheits- und Gesellschaftsprobleme gefunden. Was hätte er wohl zu Maos China gesagt? Zu den Exoten seiner Zeit jedenfalls findet er klare Worte: »Die Kunst, Menschen mit ihrem Schicksale missvergnügt zu machen, die heute so sehr getrieben wird. O wenn wir doch die Zeit der Patriarchen wieder hätten, wo die Ziege neben dem hungrigen Löwen graste, und Kain in den zärtlichen Umarmungen seines Bruders Abel seine Saecula durchlebte (hier müssten noch mehr solche feinen Geschichten ausgesucht werden, von Sodomie, Betrug und Erstgeburt), oder in dem glücklichen Othaheite, wo man für einen eisernen Nagel haben kann, was in Hannover und Berlin goldene Tabatieren und Uhren gilt, und wo man bei völliger Gleichheit der Menschen das Recht hat, seine Feinde aufzufressen und von ihnen gefressen zu werden.«
Was für Lichtenberg allerdings nicht bedeutet, seine Landsleute wären einen Deut besser: »Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß.«
Ein Schlachten, das die Großdichter seinerzeit als heldisch zu rühmen pflegen, wenn einer nicht, wie Klopstock, an Großdichtungen wie dem Messias arbeitete, die von der Mitwelt mit hochherzigem Jubel empfangen und – aber das gestand sich damals niemand ein – mit abgrundtiefer Langeweile gelesen wurden. Auch da tanzt Lichtenberg aus der Reihe: »Ich lese die TAUSEND und eine Nacht und den Robinson Crusoe, den Gilblas, den Findling, TAUSEND mal lieber die Messiade, ich wollte 2 Messiaden für einen kleinen Teil des Robinson Crusoe hingeben. Unsere meisten Dichter haben, ich will nicht sagen, nicht Genie genug, sondern nicht Verstand genug, einen Robinson Crusoe zu schreiben.«

III.

Lichtenberg lehrt, dass es Fragen gibt, deren Antwort man besser der Mitwelt überlässt. Fragen wird man ja schon mal dürfen, doch damit das nicht sogleich auffällt und dem Adressaten Arbeit signalisiert, kleidet Lichtenberg seine Fragen gerne in Aussagesätze: »Da werden die Engel einmal recht gelacht haben.« So viel zu der Oberwelt, doch auch in der Unterwelt gibt es Fragwürdiges: »Nun wüsste ich doch auch fürwahr außer dem Teufel niemanden, der etwas hiergegen aufbringen könnte.« Verkehrte Welt: Was um Himmels willen vermag den Fürsten der Finsternis aus der Fassung zu bringen, ihn, dessen Daseinszweck doch darin besteht, die Geschöpfe, die Geschöpfe Gottes in heillose Fassungslosigkeit zu stürzen? Und was in Dreiteufels Namen mag das Lachen der Engel verursacht haben, deren Reaktion – anders als die Jubelrufe der Freude – nie ganz frei ist von der satanischen Beimischung der Häme, der Überheblichkeit, der Albernheit? In beiden Fällen ist die Antwort ebenso wenig vorgegeben, wie ihrem Inhalt Grenzen gesetzt sind – in Frage kommt so gut wie alles zwischen Himmel und Erde. Eben diese Unendlichkeit aber stellt natürlich das Problem dar für den, der in diesem Heuhaufen der Möglichkeiten nach der Stecknadel des Witzes sucht, in strikter Umkehrung des berühmten Goethe-Satzes, den wir bereits gehört haben: »Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen. Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.«
Andersrum wird ein Schuh daraus – jedenfalls bei den erwähnten Sätzen: Wo Lichtenberg ein Problem aufwirft, liegt ein Witz verborgen, doch um auf den zu stoßen, muss der Sucher im Besitz einer Fremdwitz sympathetisch reagierenden Wünschelrute sein, also über eigenen Witz verfügen.

IV.

Große Themen, große Fragen – doch Lichtenberg war zugleich jemand, der das Schlichteste für notierenswert hielt, sobald es ihn, seine Gewohnheiten und seinen Körper betraf: »Er hatte seinen beiden Pantoffeln Namen gegeben.« Oder, körperbezogener: »Es hat mich öfters geschmerzt, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr als drei Mal in einem Atem genieset, noch mich ans Kümmeleckchen gestoßen habe.«
Auch darin ist Lichtenberg vorbildlich, nur wer geerdet ist, kann sich ungebremst in jene geistigen Höhen emporschwingen, in welchen die letzten Dinge verhandelt werden: »Ich glaube kaum, dass es möglich sein wird zu erweisen, dass wir das Werk eines höchsten Wesens, und nicht vielmehr zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen sind zusammengesetzt worden.«

V.

Lichtenberg lehrt eine so fruchtbare, wie selten angewandte Technik: den Blickwechsel. Bilderbuchhaft verwendet er ihn in dem folgenden Sudelspruch: »Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.« Auch mit diesem Urteil stand Lichtenberg allein, in seiner Zeit, die geistig und materiell von dem und für den Kolonialismus lebte – da hieß es, folgen wir Rudyard Kipling, The White Man’s Burden zu besingen und nicht dessen Schuld. Die dürfte sich erst in unserer Zeit herumgesprochen haben: Weiße Staatsmänner entschuldigen sich vermehrt bei andersfarbigen Menschen. Sie tun das im Bewusstsein, dass die Raubzüge getätigt sind, die Schuld nicht einklagbar ist und die meisten Opfer keiner Entschuldigung bedürfen, da sie schon früh ausgerottet wurden. Unter ihnen der Amerikaner, der laut Kolumbus eine »böse Entdeckung« machte, als Kolumbus 1492 erstmals seine Insel betrat. Wie recht sie beide hatten, Lichtenberg und der Indianer.

VI.

Lichtenberg erfand nicht nur, er fand auch. Ihm verdanken wir den Fund des Lichtenbergschen Verlesers: »Er las immer Agamemnon, statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen.« Und er hat mir die Augen dafür geöffnet, wie oft mir ein solcher Verleser bereits passiert ist: Da las ich, etwas beleibt, ›Bauchausstellung‹ statt ›Buchausstellung‹, da las ich, in den italienischen Malern bewandert, ›Cimabue‹ statt ›Klimabau‹, und da las ich in München ›Museum der Reichskristallnacht‹ statt ›Museum Reich der Kristalle‹.

VII.

Und Lichtenberg lehrt nicht zuletzt Präzision. Ihn zu zitieren heißt, ihn wortwörtlich zu zitieren, und das ist nicht allen gegeben. Als Beispiel möchte ich einen Brief anführen, den ich am 11. August 1999 an die FAZ-Redaktion formuliert habe, ihn jedoch der besseren Verbreitung wegen der Titanic überließ, wo er dann auch in der Kolumne Briefe an die Leser zu lesen war:
»An die FAZ-Redaktion, betr.: Georg Christoph Lichtenberg. Am 24. Juli feierte euer Kunstkritiker Eduard Beaucamp den Maler Werner Tübke und nahm ihn folgendermaßen gegen den Vorwurf der Staatsmalerei in Schutz: ›Man könnte diesem Einwand einen Aphorismus Lichtenbergs entgegenhalten, der von einem jungen Homerbesessenen des 18. Jahrhunderts erzählt, der zu seinem Leidwesen in einem Kontor arbeiten muss: Er habe da, so Lichtenberg, statt angenommen stets Agamemnon gelesen.‹
Sieht so ein Aphorismus aus? Der junge Homerbesessene, das Kontor, das Leidwesen – deuten solch breit ausgeführte Details nicht eher auf eine etwas mühselig pointierte Kurzgeschichte hin? Aber hat Lichtenberg dergleichen überhaupt je geschrieben?
Am 7. August jedenfalls erzählte euer Theaterkritiker Gerhard Stadelmeier eine deutlich andere Version. Er erinnert sich in seiner Glosse ›Homerwandel‹ seiner humanistisch gebildeten Lehrer und folgert: ›Auf sie kann man noch immer oder schon wieder Lichtenbergs epigrammatischen Witz machen, dass es Leute gäbe, die seien so gebildet, dass sie statt ›angenommen‹ immer ›Agamemnon‹ sagten.‹
Kein einzelner junger Homerbesessener im Kontor mehr, stattdessen gebildete Leute, und die lesen auch nicht mehr Agamemnon statt angenommen, sondern sie sagen es – zeugen solche etwas krausen Artikulationsschwierigkeiten wirklich vom epigrammatischen Witz? Oder sollte Lichtenberg den Sachverhalt ganz anders artikuliert haben?«
Diese Frage wurde bereits beantwortet. Ich zitiere nur noch den Schluss. »Wir lernen: Wenn ein Aphorismus und ein Blatt zusammenstoßen und es hohl klingt, muss das nicht unbedingt am Aphorismus liegen. Wir empfehlen: Wer in der FAZ-Redaktion zwei Paar Hosen hat, mache eines zu Geld und schaffe sich eine verlässliche Lichtenberg-Ausgabe an, bevor er sich aufs Raten verlegt.«
Nun aber rasch noch einmal zurück zum Lehrmeister Lichtenberg. Verschwiegen wurde bis jetzt, dass Lichtenberg uns vor allem lehrt, dass Vergnügen, Belustigung, ja Lachen durchaus mit Wahrheitsfindung und Erkenntnisgewinn zusammengehen können. »Es hat mir wollen behagen, lachend die Wahrheit zu sagen«, dichtete bereits Grimmelshausen während des 30jährigen Krieges. Ein Behagen, das Lichtenberg jahrzehntelang geteilt und mitgeteilt hat, und das heute noch dafür sorgt, dass der normale Lichtenberg-Leser nach jedem Blick in die Sudelbücher die Welt weniger vernagelt, dafür klarer und hin und wieder auch erfreulicher wahrnimmt. Ein guter Grund, zu staunen und dem Lehrmeister Lichtenberg zu danken.

Aufgabe

Man nehme ein Notizbuch, dem man einen Titel gibt, der Lichtenberg gefallen hätte (aber Achtung: Sudel-, Schmier- und Gedankenbuch sind bereits von Lichtenberg belegt). Dann empfiehlt sich die Lektüre der Sudelbücher, und zwar unter folgender Prämisse Lichtenbergs:
»Wenn man einen guten Gedanken liest, so kann man probieren, ob sich etwas Ähnliches bei einer anderen Materie denken und sagen lasse. Man nimmt hier gleichsam an, dass in der andern Materie etwas enthalten sei, das diesem ähnlich sei. Dieses ist eine Art von Analysis der Gedanken, die vielleicht mancher Gelehrter braucht, ohne es zu sagen.«
Und warum sollen es nicht auch Schriftsteller brauchen können? Aufgabe wäre also, Lichtenbergs Satz ins Notizbuch einzutragen und auf das eigene Lesen und Schreiben zu übersetzen. Dann wäre immer weiter zu notieren, wie man das, was man liest, in anderen Texten ausprobieren kann.

STEPHAN POROMBKA
Für wahre Leser und erweiterte Autoren
Novalis: Blütenstaub-Fragmente [1798]

Lesen / Schreiben

125. Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beim Lesen wieder das Rohe und das Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein zweiter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch, daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischtätige Gefäße kommt, die Masse endlich wesentlicher Bestandteil – Glied wirksamen Geistes.
 
Eigentlich müsste man nur diesen kurzen Text empfehlen, wenn es um die Frage geht, was man lesen soll, wenn man schreiben will. Nur diesen einen kurzen Text, in dem alles steckt, was man braucht, um anzufangen, um weiterzumachen und nicht mehr aufzuhören. Man könnte ihn auf einen Zettel schreiben und über den Arbeitstisch hängen, an den Spiegel oder übers Bett. Man könnte ihn in die Bücher legen, die man gelesen hat und noch lesen wird. Und man könnte ihn an die eigenen Texte heften, wenn man sie weitergibt und vielleicht gedruckt zurückbekommt und lesen kann, als wären sie von eigener und doch von fremder Hand geschrieben.
Es ist ein Stück, das Novalis als Nr. 125 ans Ende seiner Blütenstaub-Fragmente gesetzt hat, die in Auswahl 1798 erschienen sind und im Kern die ganze romantische Theorie der Literatur enthalten. Es übermittelt dem Leser die Aufforderung, selbst zum Autor zu werden und sich dafür zu den eigenen Texten und den Texten anderer so zu stellen, dass man sich lesend und schreibend durch ein Netzwerk bewegt. Wer das tut, folgt dem Blütenstaub-Programm. »Fragmente wie diese«, heißt es im 104. Textstück, »sind literärische Sämereien.« Wer sie liest, dem sind sie in den Kopf gepflanzt. Und wenn sie in größeren Werken aufgehen, die der Leser selber schreibt, dann haben sie ihre Aufgabe erfüllt.
Das ist ein revolutionäres Programm. Hatte man doch eigentlich gedacht, dass sich der Leser dem Autor unterordnen muss und deshalb stumm zu entschlüsseln hat, was in den Text hineingelegt wurde. Novalis dreht die Hierarchie um. Der wahre Leser ist nicht die niedere, er ist die höhere Instanz. Er ist kein passiver Rezipient. Im Gegenteil. Er setzt auf eigene Faust fort, was der Autor begonnen hat. Der ist (wenn er ein wahrer Autor ist oder war) nämlich selbst nichts anderes als ein Leser gewesen. Er hat sich aus seinen Lektüren Material zusammengesucht und hat es zusammengebaut, um einen neuen Text daraus zu machen. Er war selbst einmal die höhere Instanz und gibt nun das, was er geschrieben hat, an den nächsten Leser als nächst höhere Instanz weiter. Und so weiter. Und immer so weiter. Jede produktive Lektüre setzt den einmal begonnenen Prozess des Umschreibens und Weiterschreibens fort.
Die Verfahren, die dieser Forderung des Umschreibens und Weiterschreibens entsprechen, sind heute gut bekannt. Sie kommen nicht nur in den avancierten Künsten der Moderne und Postmoderne zum Einsatz. Sie gehören zu den Grundtechniken in der elektrifizierten und digitalisierten Medienkultur überhaupt. Kopieren (als Vervielfachen, durch das sich das Original verändert). Montieren (als Zusammenbauen von Stücken und Stellen zu einem neuen Werk, bei dem die ›Nähte‹ und ›Klebestellen‹ gut sichtbar bleiben). Zitieren (als Integrieren von Stücken und Stellen in ein neues Werk, bei dem die ›Nähte‹ und ›Klebestellen‹ fast unsichtbar werden). Sampeln (als Hineinmischen von Teilstücken in ein neues Werk, in dem die Einzelteile so aufeinander abgestimmt sind und ineinander übergehen, dass sie sich direkt miteinander verbinden). Covern (als dynamische Interpretation eines Werkes, durch die es so aktualisiert wird, dass es neu gesehen, gehört, gelesen werden kann). Intertextualisieren (als Aufladen eines Werks mit heimlichen und offensichtlichen Verweisen auf andere Werke) … Ob Musik, Bildende Kunst, Film oder Literatur – überall trifft man auf die wahren Leser als erweiterte Autoren, die in den Medien und zwischen den Medien unterwegs sind. Sie alle suchen Material, mit dem sie weiterarbeiten können, um es sich anzuverwandeln und um dabei zu zeigen, wie die Anverwandlung vor sich geht.
Für Novalis geht es dabei aber nicht um die Entwicklung eines besonders modischen Verfahrens. Der wahre Leser als erweiterter Autor leistet für ihn viel mehr. Er führt ein Prinzip vor, durch das Kultur überhaupt erst zur Kultur wird: indem sie sich auf sich bezieht und sich selbst als Material verwendet, um sich zu erneuern. Kein Zufall, dass Novalis vorschlägt, dasselbe Prinzip nicht nur beim Lesen fremder Texte, sondern immer auch auf die eigenen anzuwenden. Je öfter und je genauer man das macht, umso besser versteht man – und umso verständiger bessert man! – den eigenen Text (»Durch unparteiisches Wiederlesen seines Buches kann der Autor sein Buch selbst läutern«, heißt es im 125. Fragment direkt im Anschluss an den oben zitierten Abschnitt.) Und noch etwas: Der Idee nach lässt sich durch die produktive Lektüre das Funktionieren der Kultur besser verstehen. Besser jedenfalls, als wenn man alles immer nur von außen beobachtet und so tut, als sei alles immer schon ein für alle Mal fertig und nicht mehr zu ändern.
Wer sich das Fragment vom wahren Leser als erweitertem Autor über den Tisch, das Bett oder an den Spiegel hängt und in die Bücher legt, wird deshalb vor allem an eins erinnert: dass Lesen immer bedeutet, Material zu sammeln, sich anzueignen und so zu bearbeiten, dass ein neuer Text entsteht. Und man wird auch daran erinnert, dass man diese Transformation genau beobachten muss, um im eigenen Schreiben zu erkennen, wie die Kultur, in der man schreibt, ihre Bedeutungen produziert.

Notieren

120. Wer Fragmente dieser Art beim Wort halten will, der mag ein ehrenfester Mann sein – nur soll er sich nicht für einen Dichter ausgeben. Muß man denn immer bedächtig sein? Wer zu alt zum Schwärmen ist, vermeide doch jugendliche Zusammenkünfte. Jetzt sind literarische Saturnälien – je bunteres Leben, desto besser.
 
Wenn es um die Frage geht, was man lesen soll, wenn man schreiben will, sollte man vielleicht gleich die ganze Sammlung der Blütenstaub-Fragmente empfehlen. Das 125. Fragment erinnert daran, dass der wahre Leser ein erweiterter Autor sein muss. Aber erst alle Fragmente zusammen zeigen, was konkret damit gemeint ist.
Novalis ist ein notorischer Notierer. Seine Fragmente und Studien sind das romantische Labor, in dem er mit Gedanken experimentiert. Dieses Labor bildet das eigentliche Zentrum seines Werkes. Von hier aus wird alles andere auf magnetische Weise zusammengehalten und elektrisiert.
Da gibt es die so genannten Fichte-Studien. Sie umfassen knapp 500 handschriftlich beschriebene Seiten. Mit ihnen hat Novalis bis 1797 seine intensive Lektüre der Fichte-Texte begleitet. Auf diese Studien folgen bis 1798 die Vermischten Bemerkungen, aus denen Novalis die Blütenstaub-Fragmente destilliert. Sie überschneiden sich mit den Politischen Aphorismen und weiteren Fragmenten und Studien, den Naturwissenschaftlichen Studien und dem Allgemeinen Brouillon, von denen allein das letztere 356 Seiten mit 1151 Aufzeichnungen umfasst. Schließlich gibt es, aus Novalis’ letztem Lebensjahr, noch einmal umfangreiche Fragmente und Studien, die von der Forschung als »das Vermächtnis des romantischen Dichters und Denkers« gelesen werden.
Zählt man das zusammen, muss man sich den Leser Novalis ganz praktisch als einen fortwährend Schreibenden vorstellen, als einen daueraktiven Protokollanten, der parallel zu jeder Lektüre die eigenen Gedanken fixiert: vom Exzerpt und der flüchtigen Notiz über den Merksatz, den funkelnden Aphorismus, die Aufzählung bis zum längeren Gedankenspiel. Dazwischen finden sich immer wieder kryptische Notizen, die spürbar machen, mit welcher Dynamik und welchem Spaß am Hochdrehen Novalis die Einfälle notiert: »Die äußere Sozialisation ist nur Ermangelung innerer Selbstheterogeneisierung – und Berührung.!!!!!«
Jede einzelne Notiz bewegt sich in der Schnittmenge von Abgeschriebenem, Nachgesprochenem, Weitergedachtem und Gesponnenem. Das Blatt Papier wird zum Ort, an dem die klarsten logischen Schlussfolgerungen mit ganz persönlichen Erfahrungen (und umgekehrt die ganz persönlichen Erfahrungen mit logischen Schlussfolgerungen) aufgeladen werden. Der Stift wird zum seismographischen Medium, das in Linien fixiert, welche größeren und kleineren Beben sich im Kopf des Lesenden und Denkenden ereignen.
Das Blütenstaub-Programm (»Fragmente wie diese sind literärische Sämereien«) gilt für alle Mitschriften, die Novalis angefertigt hat. Für sie gilt auch, was Novalis hinzugefügt hat: »Es mag freilich manches taube Körnchen darunter sein – indes wenn nur einiges aufgeht.« Damit gibt Novalis nicht nur einen Hinweis, wie die Fragmente zu lesen sind. Er gibt auch einen Hinweis, wie und warum er sie schreibt.
Er schreibt sie en masse. Mitschriften, Gedankenprotokolle anfertigen heißt: konzentriert unkontrolliert schreiben. Novalis bringt nur das aufs Blatt, was ihm beim Lesen, Beobachten und Nachdenken jetzt in den Sinn kommt. Das aber heißt auch: Die Notizen werden nicht überarbeitet. Sie erscheinen auf dem Papier als unmittelbare, seismographische Reaktionen auf das, was im Kopf passiert. Sie werden deshalb auch nicht systematisch aufeinander bezogen. Es gibt keinen Erzählbogen. Die einzelnen Stücke müssen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander stehen, um von selbst Spannungen zu erzeugen. Nicht Homogenität, sondern Heterogenität ist das Prinzip, nach dem sie sich organisieren.
Weil das so ist, darf beim Notieren keine Kontrollinstanz sagen: ›Das widerspricht sich‹. ›Spinn nicht rum‹. ›Das ist Kitsch‹. Oder: ›Stimmt nicht, denk doch mal nach‹. Wichtig ist (erst einmal) nicht, was geschrieben wird. Wichtig ist, dass geschrieben wird. Der Schreibakt selbst ist das Wichtigste.
Der notorische Notierer Novalis notiert so viel, weil es um die Geste des Schreibens als Umschreiben und Weiterschreiben geht. Notiert wird um des Notierens willen. Geschrieben wird um des Schreibens willen. Denn es ist eben das Schreiben als Umschreiben und Weiterschreiben, an dem man, wenn man nur genau hinschaut und den eigenen Schreibbewegungen folgt, etwas über sich selbst, über die eigenen Texte und über die kulturelle Produktion von Bedeutung lernen kann.
Es wäre deshalb völlig falsch, das Schreiben von Fragmenten als sinnlose Ausschussproduktion zu verstehen, die man sich eigentlich auch sparen könnte, wenn man sich nur gleich darauf konzentrieren würde, etwas Brauchbares aufs Blatt zu bringen. Wer schreibend nach ›Brauchbarem‹ sucht, um gleich das ›Unbrauchbare‹ auszusortieren, schaltet Kontrollinstanzen ein, die beim Schreiben von Fragmenten ausgeschaltet bleiben sollen. Was man am Ende brauchen kann, weiß man ja nicht. Besser ist, man kontrolliert sich vorher nicht, lässt sich dafür aber hinterher von sich selbst überraschen. Am besten ist: Man verhält sich gegenüber den eigenen Aufzeichnungen als wahrer Leser und erweiterter Autor. Also: als wäre es ein fremder Text.
Genau das wäre das Ziel des dauernden Schreibens. Dass von all den »literärischen Sämereien« einige am Ende aufgehen mögen, damit man sie aufs Neue umschreiben kann, um zu sehen, ob sich etwas Neues daraus machen lässt.
Erst so erklärt sich die Anweisung an den Leser, die Fragmente nicht als letzte Wahrheiten zu verstehen. »Wer Fragmente dieser Art beim Wort halten will, der mag ein ehrenfester Mann sein – nur soll er sich nicht für einen Dichter ausgeben.« Fragmente sind Experimente. Jedes Fragment ist ein Anfangsverdacht, eine erste Ermittlung, eine erste Frage, eine erste Antwort. Sie sind Ergebnis eines leicht rauschhaften Zustands, in den sich der Schreibende durchs Schreiben bringt, um zu schwärmen, zu übertreiben, zu spinnen, zu riskieren, zu testen – »jugendliche Zusammenkünfte«, »literarische Saturnälien«, »je bunter das Leben, umso besser«: Das Schreiben als Fest, bei dem mit voller Absicht alles durcheinander gehen darf. Denn nur durchs Durcheinander zeigt sich, wie es wirklich geht. Man muss nur lang genug hinschauen. Dann kann man die Ordnung erkennen, die sich durch das Schreiben selbst ergibt.
Man kann viel über die romantische Theorie des Fragments lesen. Man sollte aber parallel zur Lektüre unbedingt Fragmente schreiben, um zu verstehen, was mit fragmentarischem Schreiben gemeint ist. Befolgt man die Anweisungen von Novalis, erzeugt man über das Notieren einen Schreibsog, der nicht wieder zum Stillstand kommt, sondern immer gleich noch den nächsten Gedanken mit in die Schrift zieht.
Wichtig ist nur, dass man auch im stärksten Sog darauf schaut, was der Schreibsog für die Produktion von Erkenntnis bedeutet – dass er es möglich macht, durch die Praxis die Grundregel literarischer Kreativität zu ermitteln: aus dem chaotischen Fließen der Gedanken, temporäre Ordnungen zu stiften, einen Gedanken jetzt festzuhalten, ihm probeweise eine Ordnung zu geben, um ihn im nächsten Moment wieder neu zu fassen und in neue Ordnungen zu übersetzen.
Novalis hat diesen Erkenntnisprozess operationalisiert, um die Arbeit nicht nur an Fragmenten, sondern auch an größeren Texten in Gang zu setzen. Liest man seine Aufzeichnungen, sieht man: Sie funktionieren wie Relais zwischen dem Gelesenen, dem Beobachteten und den Erfahrungen einerseits und der kontinuierlichen Arbeit am literarischen Werk andererseits. Vom literarischen Schreiben aus werden in den Fragmenten die neuen Lektüren, Beobachtungen und Erfahrungen fokussiert. Umgekehrt werden die Lektüren, Beobachtungen und Erfahrungen auf ihren Zusammenhang mit dem literarischen Schreiben experimentalisiert.
Wenn man diese Erkenntnis- und Verknüpfungsfunktion der Fragmente nutzt, dann ist dafür gesorgt, dass man sich nicht mehr in isolierten Bereichen bewegt (hier die Lektüre, dort das Leben und da hinten dann auch noch das Schreiben). Über das Schreiben von Fragmenten lässt sich ein Zusammenhang herstellen, in dem alles so miteinander zusammenhängt, dass sich eins aus dem anderen heraus erneuern und mit Energie aufladen kann. Das Lesen, das Schreiben, das Leben – alles wird, probeweise, zu einem einzigen Projekt.

Projektmanagement

42. Die Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung sind nichts als Mittel der Belebung. Dies bestimmt ihre Wahl – ihren Wechsel – ihre Behandlung. Die Gesellschaft ist nichts als gemeinschaftliches Leben – Eine unteilbare denkende und fühlende Person. Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.
 
Wenn es um die Frage geht, was man lesen soll, wenn man schreiben will, sollte nicht nur die Lektüre der Fragmente von Novalis empfohlen sein. Man sollte dann gleich das ganze Netzwerk von Projekten betrachten, das Novalis zu einem großen Projekt zusammenspannt.
Die Blütenstaub-Fragmente sind in der ersten Ausgabe des Zentralorgans der frühromantischen Bewegung erschienen: im Athenäum, das Friedrich Schlegel und sein Bruder August Wilhelm 1798 gegründet haben und in jeweils zwei Nummern pro Jahr bis Ende 1800 erschienen ist. Für die Schlegels galt die Zeitschrift als ein »Project« unter einer ganzen Reihe von Projekten, die sie mit unermüdlichem Aktivismus aus dem Boden stampften. Vor allem war es Friedrich Schlegel, der in der Projektemacherei an und für sich einen ganz und gar modernen Sinn entdeckt hatte. Projekte sollten Unternehmungen sein, die nicht systematisch durchgeplant und auch nicht systematisch durchgeführt werden sollten. Für Schlegel galten sie – wie er es in einem in der zweiten Athenäum-Ausgabe erschienenen Fragment pointiert hat – als »Fragmente aus der Zukunft«. Wie das Schreiben sollte man auch Projekte einfach beginnen. Man sollte sie vorantreiben, aber auch wieder abbrechen können, um dann wieder etwas Neues zu organisieren. Projekte sind temporär, dynamisch, ergebnisoffen, experimentell. Es sind letztlich selbst wieder »Sämereien«, unter denen (viele Projektemacher kennen das aus eigener schmerzvoller und lustvoller Erfahrung) eine Menge taube Körner sein können, von denen aber einige auch so aufgehen können, dass aus ihnen etwas Größeres entsteht.
So liegt dem Schlegelschen Aktivismus eine Produktionsidee zugrunde, die auch Novalis für die eigenen Fragmente genutzt hat: Projekte sind probeweise realisierte Ideen, Verkörperungen von Einfällen, ambulante Anordnungen für Experimente, von denen man noch nicht weiß, was aus ihnen wird. Fortwährend Projekte zu machen bedeutet, bewusst fragmentarisch zu leben – mit genau den Implikationen, die Novalis in der Blütenstaub-Sammlung entfaltet hat: Wie man Fragmente um des Schreibens willen schreibt, so werden Projekte um der Projekte willen unternommen. Auch durch romantische Projektemacherei erzeugt man einen Sog, durch den sich erkennen lässt, wie das Prinzip Kreativität funktioniert, das Innovationen zugrunde liegt. Und auch die Arbeit an romantischen Projekten lässt sich wie ein Relais nutzen, um die verschiedenen Sachen, an denen man arbeitet, so miteinander zu verknüpfen, dass sie sich gegenseitig mit Energie aufladen.
Das Athenäum war als solch ein energetisches, fragmentarisches Projekt gedacht. Hier sollten die verschiedensten Arbeiten und Autoren gebündelt werden, damit sie Funken schlagen. Dass in der ersten Ausgabe (neben anderen Textformaten) die Blütenstaub-Fragmente von Novalis und in der zweiten Ausgabe (wieder neben anderen Textformaten) Fragmente von Friedrich Schlegel erscheinen, folgt deshalb genau der Logik des romantischen Programms. Die heterogenen Textstücke, aus denen die Blütenstaub-Sammlung besteht, verhalten sich zueinander, wie sich die heterogenen Beiträge in der Zeitschrift aufeinander beziehen. Und die wiederum setzen die unterschiedlichen Autoren miteinander ins Gespräch. Inszeniert wird auf allen Ebenen eine Form literarischer Geselligkeit, in der, wie Schlegel sagt, »einer den anderen anregt« und »eine Ansicht viele andere gebiert« und alle »der drohenden Gefahr« entgehen, »die unendliche Natur in einen engen Begriff drücken zu wollen«.
Das ist der Sinn der Projektemacherei, auf den die Frühromantiker eine Zeitschrift genau so ausrichten wie die Organisation eines Gesprächs, das Schreiben eines Romans, eines Gedichts, eines Fragments oder eines Briefes: nichts abzuschließen und in einen »engen Begriff« zu drücken, sondern alles in Richtung Unendlichkeit zu öffnen. Jede einzelne Unternehmung soll dafür auf jeder Ebene als ein Projekt verstanden sein, in dem die widersprüchlichsten Sachen über Relais miteinander verbunden und aneinander aufgeladen werden. Und alle einzelnen Projekte sind wiederum zu einem noch größeren Projekt zu verbinden, in dem auf nächster Stufe das Widersprüchlichste verknüpft und verschaltet wird, damit eins das andere anregt und eine Ansicht viele neue gebiert.
Wo das gelingt, hat man es mit einer selbstlaufenden Maschinerie zu tun, die darauf angelegt ist, aus Projekten immer neue Projekte hervorgehen zu lassen, aus denen wiederum neue Projekte hervorgehen und so weiter und so fort.
Man sieht: Es wäre falsch, sich am immer noch kursierenden Vorurteil über die Romantik zu orientieren, mit dem der Autor (und immer wieder Novalis) als einsamer, esoterischer Träumer verstanden wird, der in sich gekehrt seine Texte schreibt und mit der schnöden Außenwelt abgeschlossen hat. Das Gegenteil ist der Fall, und man kann sich davon durch die Lektüre der Fragmente überzeugen: Hier wird die Welt nicht ausgeschlossen. Sie wird in das Verknüpfen und Verschalten emphatisch einbezogen.
So hat man es bei den Frühromantikern gerade nicht mit einsamen Träumern zu tun. Man muss sie sich als avancierte Projektmanager denken, die ihre einzelnen Arbeiten, Wahrnehmungen, Lektüren, sozialen Kontakte so organisieren, dass produktive Spannungen entstehen. Mehr noch: Sie verstehen sich selbst als individuelle Projektformationen, in denen selbst wiederum nur Heterogenes so miteinander verbunden ist, dass es produktiv werden kann. »Jeder Mensch«, heißt es folgerichtig in den Blütenstaub-Fragmenten, »ist eine kleine Gesellschaft«. Als solche führt er kleine Selbstgespräche, die in größere Gespräche eingespeist werden und sich auch umgekehrt aus größeren Gesprächen speisen.
Wer das ästhetische Netzwerkprogramm von Novalis studiert, wer seine Fragmente liest und wer sich das Fragment vom wahren Leser als erweitertem Autor über den Tisch, das Bett oder an den Spiegel hängt und in die Bücher legt, wird deshalb vor allem an eins erinnert: dass das Schreiben nichts anderes als eine Verknüpfungsarbeit ist, durch die ganz Unterschiedliches so miteinander verbunden wird, dass sich etwas spannungsreiches Neues ergibt, aus dem sich wieder etwas Neues ergeben kann. Und erinnert wird man daran, dass sich diese Verknüpfungsarbeit am besten als Projekt verstehen lässt, das Teil eines umfassenderen Projekts ist, das wiederum in ein noch umfassenderes Projekt eingebettet ist.
Wer das umsetzt, kann sich im Handumdrehen in eine romantische Schreibmaschine verwandeln, die sich wie von selbst bewegt. Man kann es versuchen. Immerhin wäre das ein echtes Projekt (das man ja probeweise mit anderen Projekten verbinden könnte …).
Aber nicht vergessen: Auch in diesem Fall muss man ein wahrer Leser und ein erweiterter Autor sein. Wer bei allem, was er liest, sich als niedere Instanz versteht und deshalb jedes Wort beim Wort nimmt, mag ein ehrenfester Mensch sein. Ein echter romantischer Projektemacher ist er nicht.

Aufgabe