1 Einführung – Depression als das Ringen einer Person um ihr Gleichgewicht

Die Depressionstherapie ist so vielschichtig wie die depressive Störung selbst. Was dem einen Patienten hilft, kann bei einem anderen nutzlos sein oder sogar schaden. Die Einteilung depressiver Störungen nach der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) oder nach der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (DSM-IV) verhilft zwar zu einer ersten Orientierung, doch sind z. B. bei Menschen mit einer depressiven Episode ganz unterschiedliche Problembereiche zu finden. Deshalb wird in der Forschung heute nach Phänotypen (spezifischen depressiven Erscheinungsformen) und Genotypen (spezifischen erblichen Konstellationen solcher depressiver Erscheinungsformen) gesucht. Sie sollen eine individuellere Behandlungsform ermöglichen. Personorientiert ist jedoch eine Behandlung erst, wenn sie nicht nur individuelle Unterschiede in biologischer und psychosozialer Hinsicht erfasst, sondern die Person als Ganzes ins Zentrum rückt und ihre persönliche Erlebensweise berücksichtigt.

1.1 Der Ausgangspunkt

Jeder therapeutische Ansatz geht von einem bestimmten Depressionsverständnis aus. Deshalb möchte ich zu Beginn dieses Buches meine eigene Position kurz darlegen. Während meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Psychiater und Psychotherapeut habe ich den Wandel verschiedener Konzeptionen in der Psychiatrie und Psychotherapie intensiv miterlebt. Zunächst herrschte in den 1970er Jahren das Interesse an psychodynamischen und familiendynamischen bzw. systemischen Ansätzen vor. Dann wurde unter dem Leitwort „bio-psycho-soziale Medizin“ vermehrt um eine Integration von psychosozialen und biologischen Aspekten gerungen. Schließlich gewannen biologische Zugänge dank neuer Imaging- und molekularbiologischer Techniken insbesondere in der forschungsorientierten Universitätspsychiatrie ein Übergewicht.

Als ehemaliger Hochschullehrer und Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wurde ich in den letzten zwei Jahrzehnten in diese Auseinandersetzungen um das Depressionsverständnis einbezogen. Ich habe dabei versucht, aus einem starken Praxisbezug heraus eine eigene Linie in Forschung und Lehre zu finden. Heute bin ich der Überzeugung, dass ich am meisten von meinen Patientinnen und Patienten und meiner klinischen Tätigkeit gelernt habe, auch wenn die Forschung meiner damaligen Forschungsgruppen in biologischer und psychosozialer Hinsicht internationale Anerkennung fand. Diese Einschätzung ist vom Eindruck geprägt, dass die eigenen Forschungsanstrengungen zwar Teilaspekte des depressiven Geschehens empirisch und mit statistischen Mitteln erfassen konnten, aber das Persönliche der Auseinandersetzung eines depressiven Menschen mit seiner Situation dabei zurücktreten musste. Dieses Persönliche erhält für mich immer mehr Bedeutung, je länger ich mich mit der Behandlung depressiver Menschen beschäftige. Es erscheint mir nicht mehr nur einer unter mehreren Behandlungsaspekten zu sein, sondern der wesentliche. Schon gar nicht betrachte ich es als Vehikel, um die Betroffenen für eine bestimmte Therapie zu gewinnen, die man aus anderen Gründen wählt (wie Lieberman und Rush 1996 empfehlen). Meines Erachtens hat die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung von der Personalität eines Menschen und seinem phänomenalen Selbsterleben auszugehen, auch wenn empirische Fakten und andere Aspekte zum Entscheidungsprozess und zur Therapie beitragen.

Aus dieser Haltung heraus suche ich in diesem Buch die empirischen Erkenntnisse der Depressionsforschung der letzten Jahre und Jahrzehnte in ein Gesamtkonzept einzuordnen, das die Person ins Zentrum stellt. Diese Haltung nenne ich „Personbezogenheit“. Ich verstehe Depression als das Ringen einer Person um ihr Gleichgewicht.

Drei Begriffe sind mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Person, Gleichgewicht und Depression. Alle drei sind, wie alle isoliert gebrauchten Worte, missverständlich. Ich möchte deshalb eingangs erklären, wie ich diese für mich (und für das Verständnis dieses Buches) wesentlichen Begriffe verstehe. Ich will das nicht abstrakt tun, sondern vor dem Hintergrund meiner therapeutischen Auseinandersetzung mit Not leidenden Menschen.

1.2 Depression

Depression (lat. deprimere = niederdrücken, niederschlagen) ist ein Begriff, der in der deutschen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts als Lehnbegriff aus dem Französischen aufkam und im 20. Jahrhundert größte Verbreitung fand. Selbstverständlich kannten auch Menschen früherer Zeiten seelische Befindlichkeiten und Verhaltensweisen, die wir heute als „Depression“ bezeichnen. Nur hatten sie ein anderes Verständnis dieser Leidensformen und nannten sie anders, z. B. Melancholie, Akedia oder Schwermut.

Seit es schriftliche Zeugnisse gibt, finden sich auch Berichte über Menschen, die seit dem 19. und 20. Jahrhundert als depressiv charakterisiert würden. In der griechischen Antike wurden diese Menschen zuerst von den Philosophen, später auch von der hippokratischen Ärzteschule „Melancholiker“ (von griech. melancholia = Schwarzgalligkeit) genannt. Im Mittelalter kam der theologisch beeinflusste Ausdruck „Akedia“ oder „Trägheit“ für leichtere und agitierte Fälle hinzu. In der Renaissance wurde von Mystikern für bestimmte religiöse Menschen die Bezeichnung „Dunkle Nacht“ gewählt. In der Neuzeit fand auch die Beschreibung „Schwermut“ Verbreitung, bis sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert der Ausdruck „Depression“ durchsetzte. Die hier zusammengestellten Begriffe bezeichneten nicht immer Identisches. Vor allem ihre Grenzziehung zum Gesunden und zu anderen psychischen Problemen war unterschiedlich. Alle schlossen aber einen Kernbereich ein, der Niedergeschlagenheit und Antriebshemmung umfasst, Symptome, die auch heute zu den Leitkriterien der Depression gehören (Ackerknecht 1985, Starobinski 1960).

Im historischen Rückblick auf die verschiedenen Versuche, depressive Zustände zu verstehen und zu erklären, fällt auf, dass die Betonung der negativen Seite der Depression immer wieder von Gegenbewegungen der Positivierung abgelöst wurde – etwa in der griechischen Antike, als Melancholiker mit Kreativität in Zusammenhang gebracht wurden, oder in der Renaissance, als die spätmittelalterliche Dämonisierung der Trägheit (Akedia) im Verständnis der „Dunklen Nacht“ entdämonisiert wurde. Auch heute lässt sich als Reaktion auf die Pathologisierung der Depression als funktionelle Hirnstörung eine entpathologisierende Gegenbewegung unter dem Begriff „Burnout“ und seltener unter dem Verständnis einer „spirituellen Krise“ beobachten.

Lange Zeit wurden Depressionen – wie früher auch das melancholische Krankheitsbild oder die Akedia – nur idealtypisch beschrieben und mit charakteristischen Beispielen illustriert (► Kap. 11). Erst in den letzten zwei bzw. drei Jahrzehnten wurde in den internationalen Klassifikationssystemen versucht, Depressionen mit einheitlich definierten Kriterien exakter zu fassen und mit statistischen Mitteln von andern Störungen abzugrenzen (► Abb. 1).

Abb. 1: Kriterien der depressiven Episode nach ICD-10 (Quelle: Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, 1997)

Diese symptomorientierte, kriteriengeleitete Beschreibung erlaubt eine bessere Übereinstimmung der Diagnosestellung zwischen den verschiedenen Ärzten, also eine bessere Reliabilität. Doch bleibt fraglich, wie es mit der Gültigkeit bzw. Validität dieser Diagnose steht bzw. inwieweit unter der gleichen Diagnosestellung ganz verschiedene Problemstellungen subsumiert werden. Denn der Umbruch in der Diagnostik basiert nicht auf neuen psychologischen oder biologischen Erkenntnissen. Vielmehr verhalfen Fortschritte der statistischen Analyse (Computerisierung) dazu, dass verrechenbare Symptommuster vermehrt ins Zentrum rücken. Dadurch findet aber der Lebenskontext der Kranken weniger Berücksichtigung. Eine methodisch hochwertige und gleichzeitig beißende Kritik der aktuellen Depressionsdiagnostik haben die beiden englischen Sozialwissenschaftler Alan Horwitz und Jerome Wakefield verfasst (unter dem Titel: „The Loss of Sadness – How Psychiatry Transformed Normal Sorrow into Depressive Disorder“, 2007. Zur allgemeinen Problematik der psychiatrischen Diagnostik vgl. auch D. Hell: „Seelenhunger – Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben“, 2003).

Depression im heutigen psychiatrischen Sinne ist zweifelsohne ein theoretisches Konstrukt, das sich aus einer Gruppe von Symptomen zusammensetzt, die die wissenschaftliche Gemeinde aufgrund klinischer Erfahrungen und statistischer Zusammenhänge als depressiv anerkennt (► Abb. 1). Würde morgen ein anderes Konzept unter internationalen Experten Konsens finden (was mit dem DSM V und dem ICD 11 zu erwarten ist), würden bestimmte Menschen nicht mehr unter die Depressionsdiagnose fallen, andere dafür neu als depressiv diagnostiziert werden und die Häufigkeit der Diagnosestellung würde verändert.

In Kenntnis dieser Umstände und im Wissen um historische und aktuelle kulturelle und gesundheitspolitische Zusammenhänge scheint es mir dennoch angebracht, die heutige Depressionsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) als diagnostische Übereinkunft zu übernehmen, dabei aber offen zu bleiben für die Vielfalt depressiver Bilder und die Mehrdimensionalität depressiven Leidens. Wenn die aktuelle kategoriale Depressionsdiagnostik mit den nötigen kritischen Vorbehalten übernommen wird, verringert sich die Gefahr, dass das Kästchen-Denken in Diagnosekategorien in der therapeutischen Praxis zum Prokrustesbett wird, in das ein Patient hineingepresst wird, obwohl vieles, was seine Problematik ausmacht, nicht hineinpasst (und letzteres sogar wichtiger sein kann als seine unter der Diagnose Depression zusammengefassten Symptome). Infolgedessen scheint es mir nach wie vor sehr wichtig zu sein, das depressive Geschehen nicht nur an den vorliegenden Symptomen zu erkennen, sondern das ganzheitliche Erleben, die depressive Gestalt eines Menschen, im Blick zu behalten. Denn eine Person leidet nicht nur an einzelnen Beschwerden, sondern vor allem an der gesamten Veränderung ihrer Gestimmtheit und ihres Antriebs. Sie fühlt sich besser verstanden, wenn diese umfassende Veränderung ihrer Vitalität und Befindlichkeit erkannt wird, als wenn sie nur als Symptomträgerin eingeschätzt wird (Tellenbach 1987).

Deshalb können einem Menschen Bilder und Metaphern für sein Leiden manchmal mehr entsprechen als die Zusammenfassung von Symptomen in einer Beschwerdeliste. Insbesondere der Vergleich mit einem reibungsvollen Bremsmanöver, das der Körper gegen den Willen des Betroffenen einleitet, hat sich bei vielen meiner Patienten bewährt. Viele moderne, mit der Technik aufgewachsene Menschen erfahren ihre depressive Einschränkung tatsächlich so, als ob sie mit angezogener Handbremse vorwärts kommen müssten. Weniger mechanistisch ist der schöne Vergleich mit einem winterlichen Zustand, einer Art aufgezwungenem Winterschlaf. Dieses Bild einer Depression weckt auch die Hoffnung auf einen Frühling, an dem die winterlich eingefrorene Natur wieder erwacht und Blüten treibt.

Aus epidemiologischen und interkulturellen Studien ist bestens bekannt, dass sich Depressionen je nach Sozialisation und gesellschaftlichem Hintergrund unterschiedlich äußern (Übersicht bei Stoppe et al. 2006). Auch Geschlechts- und Alterseinflüsse spielen eine wichtige Rolle. So werden im höheren Alter vermehrt körperliche Symptome (wie Inappetenz, Obstipation etc.) in den Vordergrund gestellt. Frauen und Männer zeigen ihre Depressivität, insbesondere wenn diese geringgradig ausgeprägt ist, nicht immer auf die gleiche Weise. Frauen sind tendenziell in ihrer emotionalen Ausdrucksweise offener und stehen auch oft unter größerem sozialem Verpflichtungsdruck. Männer suchen demgegenüber depressive Zustände vermehrt mit Substanzgebrauch oder ablenkendem, auch gereizt-aggressivem Verhalten abzuwehren. So wird die doppelt so hohe Depressionsrate unter Frauen gegenüber Männern auch mit einer leichteren diagnostischen Erfassung der Depression bei Frauen in Zusammenhang gebracht. Zudem scheint die Kriterien geleitete aktuelle Depressionsdiagnostik stärker feminin als maskulin orientiert. Interessanterweise gleichen sich die Geschlechtsverhältnisse etwas an, wenn Agitation und andere, nach außen gerichtete Verhaltensweisen wie Aggressivität oder Gereiztheit eingeschlossen werden, die Männer tendenziell häufiger zeigen.

Abb. 2: Depressive Störungen nach ICD-10 und DSM-IV

Bei allen geschlechts-, alters- und kulturbedingten Unterschieden lässt sich doch übereinstimmend eine länger anhaltende, aber meist reversible Einschränkung des Wohlbefindens feststellen, die mit Schwierigkeiten einhergeht, Alltagsaktivitäten zu bewältigen. Dieses depressive Kernsyndrom kann unterschiedlich schwer ausgeprägt sein, verschiedene Verläufe nehmen und mit organischen Krankheiten verknüpft sein. Deshalb macht es Sinn, Depressionen je nach Verlauf, saisonalen und zirkadianen Mustern, organischer Beteiligung und Schweregrad in depressive Subtypen, bzw. verschiedenartige Störungskategorien einzuteilen (► Abb. 2).

1.3 Gleichgewicht

Wenn die verschiedenen aktuellen Depressionstheorien und die historischen Konzeptionen von Melancholie, Akedia und „Dunkler Nacht“ nicht nur auf ihre Unterschiede, sondern auch auf Gemeinsamkeiten hin studiert werden, fällt auf, dass sie regelhaft von einem Ungleichgewicht ausgehen, sei es von einem Ungleichgewicht körperlicher Stoffe, seelischer Kräfte oder sozialer Verhältnisse.

Alle historischen Begriffe zeichnet aus, dass sie die Problematik in einer Störung des Gleichgewichts eines Menschen sehen: die Melancholie in einer Gleichgewichtsstörung der Körpersäfte (Übergewicht der schwarzen Galle gegenüber Blut, Schleim und gelber Galle), die Akedia in einer egozentrischen Störung der göttlichen Ordnung (Maßlosigkeit menschlicher Triebe und Gedanken), die „Dunkle Nacht“ in einem Gleichgewichtsverlust infolge Aufgabe eines untauglichen, aber früher stabilisierenden Gottesbildes und die Depression in einer Störung der Homöostase in biologischer, psychologischer und sozialer Hinsicht. Auf die letzten beiden Aspekte gehe ich detailliert in den Kapiteln 4 bis 9 ein, weshalb ich hier nur beispielhaft und kurz auf das Ungleichgewicht der Botenstoffe bzw. den Aminmangel in biologischen Hypothesen verweise.

Einen Gleichgewichtsverlust beklagen auch die meisten depressiven Menschen. Es ist kein Zufall, dass manche von einem Nervenzusammenbruch sprechen, viele andere von einem Gefühl der Ohnmacht, der psychischen Lähmung, des Schwindels oder davon, dass ihr gewohntes Leben durcheinander geraten ist, nichts mehr selbstverständlich ist und sie nicht mehr ein noch aus wissen. Mit solchen Bildern drücken sehr viele depressive Menschen aus, dass sie ein für sie früher selbstverständliches oder mühsam gehaltenes Gleichgewicht verloren haben.

Die grundlegende Vorstellung der Depression als einer Gleichgewichtsstörung hat den Vorteil, dass nicht nur ganz unterschiedliche biologische, psychologische und soziale Auslösefaktoren, die oft eine Ergänzungsreihe bilden, darunter subsumiert werden können. Es findet auch die anthropologische Beobachtung Berücksichtigung, dass Menschen immer wieder neu um ein labiles Gleichgewicht in ihrem Leben ringen müssen. Der Mensch verfügt nun einmal nicht über eine von allem Anfang an festgelegte Identität oder eine unwandelbare biologische Ausstattung oder gar über eine immer gleich bleibende Lebenssituation. Er macht im Gegenteil eine ständige Entwicklung durch und hat sich auch immer wieder neu an sich verändernde kulturelle und soziale Bedingungen anzupassen. Auch seine Identitätsentwicklung ist im Erwachsenenalter nicht ein für alle Mal abgeschlossen, sondern bedarf besonders in unserer schnelllebigen Zivilisation der ständigen Entwicklung. Die von ihm geforderte Adaptation und Akkommodation machen ihn aber auch als „nicht festgestelltes Tier“ oder als „Mängelwesen“ (Gehlen 1961) besonders anfällig für Störungen des Gleichgewichts. Störungsanfälligkeit und Problembewusstsein sind humane Charakteristika und bilden eine spezifisch menschliche Herausforderung. Sie hängen nach dem deutschen Philosophen Plessner (1957) mit seiner „exzentrischen Positionalität“ zusammen, also der Fähigkeit, sich wie von außen wahrzunehmen. Umso mehr benötigt der Mensch auch Ressourcen und Hilfestellungen, um eine gewisse Stabilität – man könnte auch von einem labilen Gleichgewicht sprechen – zu erreichen. Dazu gehören z. B. die Akzeptanz durch die Mitwelt, transpersonale Werte, die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse wie Bindung und Sicherheit sowie eine gewisse Freiheit zur Selbstgestaltung. Wird ihm sowohl eine sichere Bindung wie die Möglichkeit, sich persönlich auszudrücken, verwehrt und findet er keine Anerkennung, so verliert er an Halt und Bodenkontakt. Auf sich selbst geworfen, ohne Möglichkeit, ein Werk zu schaffen oder auf andere bezogen zu sein, und ohne existenzielle Rückzugsmöglichkeit fühlt sich der Mensch verloren. Gerade depressive Menschen leiden häufig an einer solchen Ohnmachtsempfindung – aus welchen Gründen auch immer. Eine meiner Patientinnen hat dafür das Bild gebraucht, im Treibsand zu versinken. Andere haben vom Gefühl gesprochen, über schwankende Bretter zu gehen, mit den Wellen zu kämpfen oder einfach die Fassung zu verlieren.

In stärker technischen Begriffen kann auch von einer Störung der Homöostase gesprochen werden, womit in der Systemtheorie eine Störung des Gleichgewichts gemeint ist (Egger 2000, 2008). Nach dem bio-psycho-sozialen Modell ist das menschliche Leben durch eine hierarchische Ordnung verschiedener Organisationsebenen charakterisiert (► Abb. 3). Jede Ebene, z. B. die atomare oder die kulturelle, repräsentiert ein dynamisch organisiertes System. Keine Ebene innerhalb dieser hierarchischen Ordnung, von den Superstrings des Mikrokosmos bis zum Universum im Makrokosmos, ist ganz isoliert. Vielmehr ist jede mit der andern (über die nächstliegende) verbunden, sodass eine Änderung auf der einen Ebene, z. B. der atomaren Ebene, Veränderungen in den anderen Ebenen, z. B. zunächst der molekularen, indirekt aber auch z. B. der kulturellen Ebene, bewirken kann.

Nach diesem bio-psycho-sozialen Modell bedeutet Gesundheit, dass ein Mensch unvermeidbare Störungen auf irgendeiner Systemebene autoregulativ bewältigen kann. Krankheit bedeutet demgegenüber, dass der Mensch nicht in der Lage ist, sein Gleichgewicht bei Störungen ausreichend zu bewahren (Petzold 2001, Grawe 2004). Gesundheit und Krankheit erscheinen infolgedessen nicht als stabile Zustände, sondern als dynamische Prozesse.

Abb. 3: Systemebenen des bio-psycho-sozialen Modells (mod. n. Engel 1976 und Egger 2008)

Wird dieses gegenwärtig wohl kohärenteste und kompakteste Konzept zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit auf Depressionen angewandt, so erscheint das depressive Geschehen als eine spezifische Störung des Gleichgewichts, ohne dass allerdings schon klar ist, welche Hierarchieebenen in welcher Weise aus dem Gleichgewicht gebracht sind. Ebenso ungeklärt bleibt zunächst, wie sich die verschiedenen Ebenen gegenseitig beeinflussen bzw. wie sie miteinander verbunden sind. Der Zauberbegriff der Emergenz, der dafür in der Systemtheorie herangezogen wird, übertüncht hier wohl mehr, als er erklärt (Fuchs 2010). Auch die Depressionsforschung muss sich vorerst damit begnügen, einzelne Ebenen, z. B. die molekulare oder die Beziehungsebene, isoliert zu untersuchen. Erst wenn die Verhältnisse und Störungen der einzelnen Ebenen analysiert sind, können in einem zweiten Schritt (über Korrelationen) Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Systemebenen postuliert und in einem weiteren, noch später zu erfolgenden Schritt Wechselwirkungen dieser Ebenen untersucht werden. Derzeit verfügen wir aber erst über begrenzte Erkenntnisse, die sich im Wesentlichen auf einzelne, isoliert untersuchte Ebenen beschränken. Das heißt aber auch, dass die daraus schon heute abgeleiteten Auswirkungen auf weitere Ebenen weitgehend hypothetisch sind. Das gilt gerade auch für neurowissenschaftliche Hypothesen, die heute hoch im Kurs stehen. Es wird meist postuliert, dass von Veränderungen auf der molekularen oder geweblichen Ebene Rückschlüsse auf die Beziehungs- oder Personebene gezogen werden können, ohne dass kausale Zusammenhänge dieser Systemebenen genauer bekannt wären. Als spezifische und isolierte Veränderungen einer bestimmten hierarchischen Systemebene verdienen sie aber Interesse, auch wenn keine Extrapolation auf andere Ebenen vorgenommen wird. Die bestuntersuchten und wichtigsten Veränderungen einzelner Systemebenen werde ich in Kapitel 3 zusammenfassen.

1.4 Person

Das bio-psycho-soziale Modell von Engel (1976) benutzt zwar auch den Person-Begriff, doch meines Erachtens in einer reduktionistischen Weise. Die Person wird nämlich auf Physiologie und Verhalten eines Menschen reduziert, als ob er über keinen Erlebensraum verfügen würde. In ► Abb. 3 ist dieser Kritik bereits Rechnung getragen, indem neben Physiologie und Verhalten aus der Außensicht (genauer der Perspektive der dritten Person) auch das leib-seelische Erleben aus der Innensicht (der Perspektive der ersten Person) Berücksichtigung findet. Schon Egger (2008) hat das Modell von Engel insofern erweitert, als er – dem philosophiegeschichtlichen Gebrauch des Wortes „Person“ entsprechend – auch das Erleben in den Person-Begriff einbezog. Nach meinem Verständnis kann von einer Person ohne Berücksichtigung des subjektiven Erlebensraums eines Menschen – mithin der Perspektive der ersten Person – nicht gesprochen werden. Ich halte dafür, dass eine Person dadurch ausgezeichnet ist, dass sie gerade nicht vollends objektiviert und zu einer Sache gemacht werden kann. Der Mensch als Person ist mehr als sein Bild, das er oder andere von ihm machen. Es ist ihm ein (selbst) bewusstes Erleben eigen, das überhaupt erst die Voraussetzung für jede Erkenntnis bildet.

Was aber das bio-psycho-soziale Modell (insbesondere auch in der erweiterten Form) zu Recht betont, ist der Umstand, dass die Person als eigene Ebene zu behandeln ist. Als solche geht sie weder im Mikrokosmos der Atome und Moleküle, noch im Makrokosmos der Kultur und Gesellschaft auf und weist eine eigene Dynamik auf. Die Person ist im Zwischenbereich von Mikro- und Makrokosmos angesiedelt, in enger Nachbarschaft zur Zweierbeziehung und Familie. Tatsächlich kann die Person nicht als Einzelwesen gedacht werden. Sie setzt andere Personen für ihre Entwicklung voraus. Wenn Martin Buber (1962, S. 15) sagt: „Ich werde am Du“, so gilt das für die personalen Entwicklungen in früher Kindheit wie wohl auch für die Menschheitsentwicklung generell. Nach dem Säuglingsforscher Daniel Stern (1998) kommt das „du bist“ vor dem „ich bin“. Oder anders gesagt: Die Subjektivität setzt eine primäre Intersubjektivität bzw. eine intersubjektive Matrix voraus.

Nach R. Spaemann, der sich als Philosoph in seinem anspruchsvollen Buch „Personen“ (1996) besonders intensiv mit dem Person-Begriff beschäftigt hat, ist Personalität eine Existenzweise und kein Etwas. „Es gibt keine Eigenschaft, die ‚Personsein‘ hieße“ (S. 14). In diesem Sinne gibt es auch kein Ich als solipsistisches oder sich selbst organisierendes Ego, sondern nur ein intersubjektiv angelegtes Bewusstsein, das sich als eigene Person wahrnimmt. Es ist kein Zufall, dass der Person-Begriff aus der Auseinandersetzung mit der christlichen Trinitätslehre entstanden ist. Dort diente er als Erklärung dafür, dass Gott mehrere Realisierungen, sprich „Personen“, umfassen kann und doch eine Einheit ist. Auch im säkularen Sinne kann das Bewusstsein letztlich nicht egoifiziert werden, auch wenn es jedem einzelnen Menschen persönlich gegeben ist. Die Person setzt ein Angesprochenwerden und Antworten voraus. Sie ist in aller Einmaligkeit und einzigartigen Selbstgehörigkeit immer auf andere bezogen. Erst der verbale oder averbale Dialog lässt das Persönliche in seiner Eigenart hervortreten. Deshalb kann Spaemann sagen: „Personen gibt es nur im Plural“ (ebd. S. 248).

Dieser kurze philosophiegeschichtliche Ein- und Rückblick macht deutlich, dass Person etwas grundsätzlich anderes meint als das, was man heute in der „personalisierten Medizin“ darunter versteht. Da erhält die Person genetische oder molekulare Eigenschaften, die sie charakterisieren sollen (► Kap. 2.3). Wenn ich in diesem Buch das Wort „Person“ verwende, so spreche ich damit eine Unverfügbarkeit des Menschen (auch zu medizinischen Zwecken) an. Das personale, aber intersubjektiv eingebettete Bewusstsein ermöglicht dem Menschen, zu seinem Körper, seinen Gefühlen und seinem Denken Stellung zu beziehen. Darin liegt seine Größe, aber auch seine Problematik, weil sich dadurch unter den mikro- und makrokosmischen (Stör-)Einflüssen die Möglichkeit ergibt, sich selbst und andere in Frage zu stellen und damit in ein Ungleichgewicht zu geraten. Das dürfte die Hauptquelle modernen Leidens sein.

1.5 Das Ringen um Gleichgewicht an einem Beispiel

Depression, Gleichgewicht und Person stellen Schlüsselbegriffe dar, die ich in diesem Buch miteinander verknüpfen und in einen größeren Zusammenhang bringen will. Wie stark sie zusammengehören, möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Es kann zeigen, wie eine Person durch ein höchst belastendes Ereignis aus dem Gleichgewicht geworfen wird und wie es ihr aufgrund der Umstände nicht immer möglich ist, dem einsetzenden Zusammenbruch allein mit „gesundem Coping“ und ganz ohne „depressives Bremsmanöver“ Einhalt zu gebieten. Depressive Phänomene sind jedoch von der betroffenen Person als etwas zu akzeptieren und zu verstehen, das nicht schadlos übergangen werden kann.

Frau L. hat ihren Mann nach 34 Ehejahren durch einen Sekundenherztod verloren. Als Ärztin versuchte sie ihren in der Wohnung zusammengebrochenen Mann noch zu reanimieren. Das zugezogene Notfallteam konnte nach weiteren Reanimationsversuchen nur noch den Tod des knapp 60-jährigen Kaufmanns feststellen.

Sein Herztod trat völlig überraschend aus bester Gesundheit ein. Für die 55-jährige Frau bedeutete der Tod ihres Mannes den Zusammenbruch ihres Lebensentwurfs und ihrer Zukunftsvorstellungen. Sie hatte für mehr als drei Jahrzehnte ihr Leben mit ihrem Mann geteilt. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Umso mehr richtete sie sich auf ihren Mann aus. Sie fühlte sich von ihrem Mann gut verstanden und erlebte sich und ihren Mann als Paar, das sich gut ergänzte. Beide waren in ihrer jeweiligen beruflichen Tätigkeit erfolgreich. Ihren Wohnort wählten sie so aus, dass er zwischen den beiden Städten lag, in denen sie tätig waren, um auch in dieser Hinsicht einen „Verlierer“ auszuschließen. Kurz: Frau L. und ihr Mann hatten eine partnerschaftliche und emotional erfüllte Beziehung, wie sie nicht so häufig anzutreffen ist. Ihr Mann gehörte unhinterfragt und selbstverständlich zu ihrem bisherigen Leben, auch wenn sie als praktizierende Ärztin durchaus selbständig, kompetent und wo nötig mit Durchsetzungsfähigkeit arbeitete. Umso mehr warf sie der Sekundenherztod ihres Mannes aus dem Gleichgewicht.

Lebensgeschichtlich wuchs Frau L. in Norditalien als jüngeres von zwei Kindern in einer Kaufmannsfamilie mit engem Zusammenhalt auf. Sie war ein Wunschkind, das eher streng, aber auch liebevoll behandelt wurde. Rückblickend erinnert sich Frau L. einer weitgehend unbeschwerten Kindheit und Jugendzeit. Nach guten Schulleistungen schloss sie das folgende Medizinstudium mit sehr guten Noten ab. Da sie bereits zu Beginn des Studiums ihren späteren Ehemann kennenlernte und ihn früh mit 22 Jahren heiratete, blieb sie nie allein auf sich gestellt. Ihre Ehe schloss sich nahtlos an die beschützende Herkunftsfamilie an.

Auf diesem Lebenshintergrund traf sie der überraschende Tod ihres Mannes besonders hart. Sie verlor ihr seelisches Gleichgewicht und fühlte sich durch nichts mehr gehalten. Es blieb ihr zwar erspart, nach dem Tod ihres Mannes ambivalente Gefühle zu entwickeln, sodass sie ihrer Trauer ungehindert durch Wut oder Ärger freien Lauf lassen konnte. Doch war sie nach einer ersten Phase des Erstarrens und der Benommenheit, in der ihr die aktuellen Lebensumstände wie ein Traum erschienen, in der Realität umso härter mit ihrem Alleinsein konfrontiert. Ein Leben ohne Zweisamkeit mit ihrem Mann erschien ihr unvorstellbar. Sie sagte: „Ich lebe in der Hölle, aber nicht im Dunkeln, sondern in größter Klarheit. Es ist mir, als habe man meinen Mann von mir abgeschnitten oder als wäre mir die Haut abgezogen worden. Ich fühle mich nur als blutendes Fleisch.“ Ihr Alleinsein riss gleichsam auf Schritt und Tritt eine schmerzhafte Wunde auf. Bei allem, was sie im Alltag tat, fehlte ihr ihr Mann, etwa wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, wenn sie zu Hause kochte und ass, wenn sie im Garten arbeitete oder wenn sie einfach Zeitung las und sich mit ihrem Mann nicht über das Gelesene austauschen konnte. Auf immer neue Weise vermisste sie ihn. Die Konfrontation mit dieser neuen, für sie dramatischen Wirklichkeit machte ihr Angst, sodass sie zeitweise Herzrasen verspürte und wenige Male in ausgeprägte Panikzustände geriet. Immer wieder litt sie auch an Intrusionen, nämlich an sich aufdrängenden Erinnerungen, wie sie ihren sterbenden Mann zu reanimieren versuchte. Die Welt war für sie im wahrsten Sinne des Wortes leer geworden. Auch sie selbst fühlte sich hoffnungs- und orientierungslos. Die auf eine unkomplizierte Art gläubige Frau L. fragte sich immer wieder: „Was soll ich denn auf dieser Welt noch?“ Dabei war sie nicht nur zutiefst traurig, sondern wurde wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes auch antriebsarm, interesselos und bedrückt. Sie befürchtete, mit ihrer Situation nicht zurechtzukommen, sie nicht mehr auszuhalten. Trotz großer Erschöpfung fand sie nur zerhackten Schlaf und wurde inappetent. Diese depressiven Symptome veranlassten sie, nach ca. einem Monat therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In den Gesprächen mit der Patientin gewann ich den Eindruck einer gut strukturierten, intelligenten und introspektionsfähigen Persönlichkeit. Sie war mit einem tragischen Verlust konfrontiert, nachdem sie zuvor in ihrem Leben von Schicksalsschlägen weitgehend verschont geblieben war. Sie reagierte darauf mit großer Traurigkeit, zeigte aber auch Symptome, welche die Kriterien einer leichten bis mittelschweren depressiven Episode erfüllten und mit Angstattacken einhergingen. Diagnostisch konnte nach ICD-10 nicht von einer komplizierten Trauerreaktion ausgegangen werden, weil das Vorliegen einer depressiven Episode eine solche Anpassungsstörung ausschließt (was Horwitz und Wakefield 2007 zu Recht kritisieren).

Der therapeutische Verlauf war günstig. Zwar neigte Frau L. aufgrund ihrer Leistungsorientierung dazu, sich für ihre Trauer nicht genügend Zeit zu nehmen und sich ihrer Tränen zu schämen. Umso wichtiger war es für sie, ihr Weinen mit therapeutischer Hilfe als Ausdruck ihrer Lebendigkeit zu verstehen – gleichsam als vitalisierende Gefühlskraft gegen die drohende depressive Devitalisierung. Ihre depressiven Symptome klangen innerhalb weniger Wochen ab, wobei auch ein niedrig dosiertes sedierendes Antidepressivum zur Behandlung der Schlafstörung eingesetzt wurde.

Als hilfreich beurteilte Frau L. vor allem, dass in der Therapie ihr schmerzhaftes Erleben gehört und akzeptiert wurde und dass sie dadurch – wie dank der begleitenden Bewegungstherapie und von Qi Gong – sich selbst wieder besser spüren und annehmen konnte. Auch habe sie durch das Erzählen etwas Abstand vom Geschehenen nehmen können. Am wichtigsten wäre es für sie gewesen, trotz Ausnahmesituation und Verzweiflung „als Person, so wie ich bin“ ernst genommen und in ihren positiven Erinnerungen gestärkt worden zu sein.

1.6 Zum Aufbau des Buches

Das Buch ist in elf Kapitel unterteilt, die so geschrieben sind, dass jedes für sich gelesen werden kann. Die wenigen Redundanzen zwischen den Kapiteln dürften zur leichteren Lesbarkeit beitragen. Mit dem gleichen Ziel eines einfacheren Lesens wird auch auf die konsequente Nennung von männlichen und weiblichen Formen verzichtet. Unter Patienten, Therapeuten etc. sind also immer auch Patientinnen und Therapeutinnen eingeschlossen.

Das Buch beginnt mit grundsätzlichen Fragen – wie sie auch in dieser Einführung gestellt wurden. Je weiter es fortschreitet, desto mehr stehen praktische Probleme im Vordergrund.

So wird im zweiten Kapitel die evidenzbasierte Depressionsbehandlung der personbezogenen gegenübergestellt, ohne dass daraus eine Entweder-oder-Entscheidung wird. Allerdings ist die empirische Vergleichbarkeit verschiedener Patientengruppen dadurch eingeschränkt, dass die aktuellen Depressionskriterien (und die Kriterien ihrer Subtypen) groben Einteilungsmustern entsprechen. Der heutigen diagnostischen Vereinheitlichungstendenz ist denn auch ein Differenzierungsbestreben entgegenzusetzen. In gleicher Weise wird diskutiert, inwieweit die vorherrschende Pathologisierung und Verdinglichung durch salutogenetische und personale Aspekte ergänzt werden müssen. Denn der depressive Patient ist nicht nur ein Objekt, sondern auch eine Person, die um ihr Gleichgewicht ringt.

Im dritten Kapitel werden depressive Subtypen behandelt, die mit besonderen Verletzlichkeiten für eine Gleichgewichtsstörung einhergehen und besonderer therapeutischer Interventionen bedürfen.

Im vierten Kapitel stelle ich ein zirkuläres Depressionskonzept vor, das die heutige empirische Datenlage einbezieht, aber auch das Ringen der einzelnen Person berücksichtigt. Es zeigt auf, wie es zum depressiven Gleichgewichtsverlust in bio-psycho-sozialer Hinsicht kommen kann und welche Stadien dabei durchlaufen werden. Dieses Konzept eignet sich dank seiner Pragmatik besonders als Grundlage für therapeutische Entscheidungen.

Die eigentlichen Behandlungsaspekte kommen ab dem fünften Kapitel zur Sprache. Im fünften Kapitel benütze ich zunächst das zirkuläre Depressionskonzept, um die Ansatzpunkte der Depressionsbehandlung systematisch darzustellen und aufzuzeigen, wie der Einsatz verschiedener therapeutischer Mittel u. a. vom Schweregrad der Depression abhängig zu machen ist. Besonderes Gewicht lege ich auf den therapeutischen Umgang mit der depressiven Aktionshemmung, die wie ein Trauma erfahren werden kann.

Die folgenden Kapitel sind dann besonderen psychotherapeutischen Fragestellungen gewidmet:

Im zehnten Kapitel werden therapeutische Fallgruben und Stolpersteine erörtert, die in engem Zusammenhang mit der Interaktionsdynamik depressiver Menschen stehen. Solche Fallgruben und Stolpersteine können bei Kenntnis der depressiven Interaktionsmuster besser bemerkt und leichter umgangen werden.

Den Schluss bilden ein Rückblick auf das Depressionsverständnis vergangener Jahrzehnte und ein Ausblick darauf, was die Herausforderungen von Morgen sein dürften. Dazu gehört eine sinnstiftende Einordnung des depressiven Geschehens in unsere Geschichte und Kultur.

2 Evidenzbasierte oder personbezogene Depressionsbehandlung – eine komplementäre Gegenüberstellung

Die heutige Psychiatrie und Psychotherapie sind darum bemüht, mit Gruppenvergleichen die Wirkung einer bestimmten therapeutischen Maßnahme zu überprüfen. Das ist im Falle der Pharmakotherapie methodisch insofern relativ einfach möglich, als ein Wirkstoff (Verum-Präparat) gegen ein Scheinpräparat (Placebo) oder gegen einen anderen Wirkstoff unter Verblindung des Patienten wie des Arztes, also doppelblind, verabreicht werden kann. Solche kontrollierten, doppelblinden Versuchsanordnungen sind bei psychotherapeutischen Vergleichsstudien nicht möglich. Hier wissen Patient und Arzt immer, welche Intervention zur Anwendung kommt. Infolgedessen wurde von pharmakotherapeutischer Seite manchmal argumentiert, dass Psychotherapien nicht in gleicher Weise mit Pharmakotherapien verglichen werden könnten, wie es möglich sei, eine medikamentöse Behandlung gegen eine andere doppelblind zu vergleichen.

Dem ist allerdings beizufügen, dass aufgrund von Nebenwirkungen und anderer Auswirkungen eines Medikaments die doppelte Verblindung von Patient und Arzt auch bei Medikamentenstudien nicht immer gegeben ist. So erhöht sich der Placeboeffekt, wenn sogenannte „aktive Placebos“ verwendet werden, die mit einem Nebenwirkungen erzeugenden Stoff wie Atropin angereichert sind. Ein Wirkungsunterschied zwischen Antidepressivum und Placebo ist dann schwieriger und manchmal überhaupt nicht nachzuweisen (Kirsch 2011).

2.1 Evidenzbasierte Medizin und ihre Grenzen

Die Aufwertung doppelblinder, randomisierter Studien hat in den letzten Jahrzehnten in der sog. „evidenzbasierten Medizin“ dazu geführt, den statistischen Befunden von Gruppenvergleichen eine höhere Aussagekraft zuzuschreiben als den Erfahrungswerten von Therapeut und Patient. Diese Haltung ist insofern verständlich, als die Selbstüberschätzung einzelner Psychiater und Psychotherapeuten zu Fehleinschätzungen bestimmter psychotherapeutischer Methoden geführt hat. Aber auch die evidenzbasierte Psychiatrie kann – wie die eminenz- oder prominenzbasierte – zu Fehleinschätzungen führen, wenn z. B. statistische Methoden zum Einsatz kommen, die zur Lösung komplexerer Problemstellungen ungeeignet oder ungenügend sind.

So hat sich etwa eingeschlichen, den Erfolg einer Behandlung an der Differenz des Mittelwertes verschiedener Therapiegruppen abzulesen. Im Falle der Depressionsbehandlung wurde etwa auf die mittlere Punktzahl im Beck-Depressionsfragebogen oder im Hamilton-Rating-Verfahren abgestellt. Demgemäß wurde einer Behandlung der Vorrang gegeben, die im Gruppenvergleich zu einer signifikanten Senkung der Depressionstiefe – gemessen am Durchschnittswert der genannten Verfahren – führen. Vielfach musste aber eine sehr große Zahl von Depressionskranken in die Vergleichsstudien eingeschlossen werden, um angesichts geringerer Differenzen überhaupt statistisch signifikante Unterschiede zu finden. Damit wurde aber die Aussagekraft solcher Studien für den einzelnen Kranken weiter eingeschränkt, umso mehr, als sich die Depressionsproblematik der untersuchten Menschen von Fall zu Fall unterscheidet.

Abb. 4: Durchschnittswerte (Kreise) und Streuung der Individualwerte (Dreiecke) gemäß Hamilton-Depressions-Interview (HAMD) bei 437 Patienten mit depressiver Episode im Verlauf einer 6-wöchigen Behandlung mit dem Antidepressivum Moclobemid (nach Stassen)

Je komplexer ein Problem ist und je stärker sich der Krankheitsverlauf (bzw. das Ansprechen auf eine Therapie) zwischen den einzelnen untersuchten Personen unterscheidet, desto irreführender sind Durchschnittswerte, die von einem „Durchschnittsdepressiven“ ausgehen (► Abb. 4). Gerade der Durchschnittsdepressive lässt sich aufgrund der Vielfalt von Depressionsproblemen in der Realität aber nicht finden.