Bernhard Jaumann

Die Augen der
Medusa

Ein Montesecco-Roman

Aufbau Digital

Impressum

ISBN 978-3-8412-0777-7

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Dezember 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2008 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

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unter Verwendung eines Fotos von mauritius images/imagebroker/Alfred Schauhuber

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(…) Da siegreich jener sich fortschwang,

tröpfelten blutige Tropfen vom Haupt der Gorgo Medusa,

welche die Erd’ aufnehmend in mancherlei Schlangen beseelte:

Darum wimmelt das Land von der Brut feindseliger Würmer.

(Ovid: Metamorphosen, Fünftes Buch)

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

1 – Lunedì, 14 gennaio

2 – Martedì, 15 gennaio

3 – Mercoledì, 16 gennaio

4 – Giovedì, 17 gennaio

5 – Venerdì, 18 gennaio

6 – Epìlogo

Informationen zum Buch

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1
Lunedì, 14 gennaio

Der rote Balken wanderte durch einen stahlblauen Himmel, der wie gefroren aussah. Nur über die Hügel im Osten zog sich ein dünner Wolkenschleier, durch den die Wintersonne milchig schimmerte. Die Kuppen waren dünn mit Raureif überzuckert, doch über die Nordhänge reichte eine fast geschlossene Schneedecke bis ins Tal. Auf ihr stumpfes Weiß schien der Lehm der darunter begrabenen Äcker abgefärbt zu haben. Das Waldstück, das sich an die Felder anschloss, wirkte wie aus Glas. Als ob man nur fest darauf starren müsste, um die kahlen Bäume klirrend zerspringen zu lassen. Vom Waldrand führte eine Spur quer über die weiße Fläche in Richtung des kleinen Orts Montesecco. Der rote Balken folgte ihr. Soweit man das auf die Entfernung beurteilen konnte, war der Rand der Fußstapfen eingefallen, die Spur selbst schon einige Tage alt.

Der Frost biss in die Lippen. Die Atemluft kondensierte zu einer grauen Wolke, wenn man sie ausstieß. Die Finger in den dünnen Lederhandschuhen fühlten sich klamm an.

Immerhin waren die Lichtverhältnisse nahezu optimal. Die Silhouette Monteseccos auf dem Hügelrücken gegenüber war klar auszumachen. Dünne Rauchfahnen standen über einem Gewirr von Natursteinmauern und verwaschenen Ziegelflächen. Auf den Dächern lagen Reste schmutzigen Schnees. Das Dorf wirkte grau und trostlos, auch wenn sich seine Häuser aneinanderdrückten, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Etwas rechts vom höchsten Punkt ragte der Kirchturm Monteseccos ein paar Meter aus dem Schutz der verwinkelten Dächer hervor. In ihm öffneten sich mannshohe fensterlose Luken, durch die man gewiss eine ausgezeichnete Sicht in alle Richtungen hatte. Doch ebenso sicher war es dort kalt und zugig. Nichts rührte sich, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass gerade jetzt jemand von dort oben Beobachtungen anstellte.

Am Dorfeingang stachen ein paar Zypressen schwarz hervor, aber die meisten Bäume unterhalb der Häuser hatten ihre Blätter längst verloren. Durch die kahlen Äste glänzte der Asphalt der Ortszufahrt. Der rote Balken glitt auf ihr durch zwei enge Kurven den Hang hinab, bis er die Straße nach Pergola erreichte. Diese zog sich in sanftem, nur leicht abfallendem Schwung durch die gefrorenen Äcker, ging bei dem Rustico an der Abzweigung nach Madonna del Piano in eine lange Gerade über, um dann wieder anzusteigen und zwischen bewaldeten Hügeln zu verschwinden. Fünfzig Meter vor dem Dorf stand am Straßenrand ein hölzernes Patriarchenkreuz. Die Längsachse verschwand hinter dem roten Balken, nur die zweifachen Querarme ragten seitlich hervor. Die oberen waren ein wenig kürzer, ihre Kanten gestochen scharf. Man glaubte fast, an ihnen entlang streichen zu können, doch sie waren zweihundert Meter Luftlinie entfernt. Plus/minus fünfundzwanzig Meter. Genauer konnte man die Entfernung nicht justieren.

Als der schwarze Wagen zwischen den kahlen Bäumen auftauchte, war von seinem Motor nichts zu hören. Nicht einmal das leise Surren, das man von einer kraftvollen Sechs-Zylinder-Maschine erwartete. Langsam glitt die Limousine die Straße entlang. Wahrscheinlich war die Fahrbahn in den Serpentinen des Waldstücks glatt gewesen. Und der Fahrer blieb nun vorsichtig, weil er die Strecke nicht kannte. Noch vierzig Meter bis zum Kreuz mit den beiden Querbalken.

Die Limousine kam aus der letzten Kurve, drehte auf 12 Uhr ein. Man konnte nun das Nummernschild lesen. Alles war in Ordnung. In den durchbrechenden Sonnenstrahlen glänzte der Kühler silbern. Aluminium. Es hätte auch zehn Millimeter dicker Stahl sein können. Das hätte nichts ausgemacht. Nicht auf lächerliche zweihundert Meter Entfernung. Der rote Balken lief knapp vor dem Kühler her. Noch zwanzig Meter.

Im Graben längs der Straße lagen klumpige Schneehaufen mit einer schwärzlichen Kruste. Das Patriarchenkreuz stand ein klein wenig schräg. Die Limousine schien nun zu beschleunigen. Noch ein paar Wagenlängen.

Der rote Balken in der Optik des OEG-Spezialvisiers zitterte nicht. Er lag senkrecht und genau mittig über Kühlergrill, Motorhaube und Frontscheibe. Die Schulterstütze war kaum zu spüren. Der schwarze Wagen würde nun gleich das Kreuz passieren.

Nein, das würde er nicht. Nicht immer lief alles so, wie es vorgezeichnet schien. Das galt für fahrende Autos wie für das Leben. Der rote Balken lag genau im Ziel. Die Entfernung war justiert. Der Drall würde automatisch korrigiert werden. Den Abzug des MGL-MK 1 durchzuziehen war auch mit klammen Fingern überhaupt kein Problem.

Als der schwarze Wagen genau auf der Höhe des Kreuzes angelangt war, schlug die Vierzig-Millimeter-Granate in seiner vorderen Hälfte ein und hob sie ein wenig an. Es wirkte so unwirklich wie eine Filmszene in Zeitlupe und ohne Ton. Lautlos brach unter der Motorhaube ein Vulkan aus, blähte das Blech und zerriss es wie dünnes Papier. Die ausgefransten Fetzen stellten sich auf, und in einem Feuerball fegte eine ungeheure unterirdische Kraft die Eingeweide aus dem Motorraum, Schlauchteile, abgesprengte Ventile, schmelzende Plastikabdeckungen, zerfaserte Kabelenden, verkrümmte Metallstücke, während die Frontscheibe wie von allein in Tausende von Splittern zersprang, die unter zuckenden Blitzen in den Fahrgastraum prasselten. Der Wagen selbst schlitterte auf die Böschung zu. Noch bevor der Explosionsknall ankam, war die zweite Granate im Ziel. Als sei sie enttäuscht, zu spät gekommen zu sein, kippte sie den Wagen halb über die Böschung, zerfetzte grimmig die Fetzen, die die erste gelassen hatte, zerstörte schon Zerstörtes, legte Feuer ans Feuer. Ein Rad drehte leer durch, der Kühlergrill schoss unsinnig rotierend durch die Luft, hoch und höher, weit und weiter, schien auf dem Weg in eine Erdumlaufbahn, bis er sich doch wieder senkte, die Kronen der Bäume durchbrach und auf dem gefrorenen Boden aufschlug. Äste prasselten herab, und dann flimmerte die Luft zwischen den Stämmen vor Schneekristallen, die im Sonnenlicht glänzten und langsam nach unten schwebten.

Der rote Balken wanderte zurück. Splitterregen und Qualm erschwerten nun die Sicht. Dennoch konnte man erkennen, wie die Flammen meterhoch aus dem Motorraum schlugen und die Benzindämpfe in weißlich-blauen Explosionen verpufften. Ein dritter Schuss war wohl nicht mehr nötig, doch sicher war sicher, und es war so einfach, mit dem Granatwerfer zu treffen. Man musste nur den roten Balken übers Ziel legen, auch wenn es eigentlich kein Ziel mehr gab. Es gab nur noch eine gewaltige lodernde Fackel in einer klirrenden Winterlandschaft.

Ein wenig höher halten, den Druckpunkt nehmen, durchziehen. Man sah die Granate nicht einschlagen, sah nur, wie die Druckwelle die Feuersbrunst auseinanderwischte, so dass der dunkle Rahmen des Wagens einen Wimpernschlag lang von einem wilden Heiligenschein umgeben schien, bevor sich die Flammen wieder schlossen und mit doppelter und dreifacher Gewalt auf alles einstürmten, was sich zu Asche machen ließ.

In weitem Umkreis lagen undefinierbare brennende Teile, die die Explosion auf die Äcker gestreut hatte. Wie Lagerfeuer, die überstürzt verlassen worden waren. Auch das Patriarchenkreuz hatte Feuer gefangen. Gierig leckten die Flammen an den beiden Querbalken. Der Schnee am Fuß des Kreuzes war noch nicht geschmolzen. Doch das abzuwarten, dazu blieb nun wirklich keine Zeit.

Die Schulterstütze war im Nu eingeklappt, und dann maß die Waffe nur noch sechsundfünfzig Zentimeter. Sie passte problemlos in einen mittelgroßen Rucksack. Schnell waren die Verschlüsse zugeklickt. Ein letzter Blick auf die Feuerwand, die um das dunkle Skelett des Wagens toste. Wer sich da drinnen befand, war hundertprozentig tot, und wenn er sieben Leben besessen hätte.

Meist gehen Welten langsam unter. Manchmal so unmerklich, dass sich selbst ihre Bewohner erstaunt fragen, wann ihnen eigentlich der Boden unter den Füßen weggebrochen ist. In Montesecco begann das Ende vielleicht in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Mine von Cabernardi dichtgemacht hatte. Damals wohnten an die achthundert Menschen in Montesecco, doch jedes Jahr wurden es weniger. Den Anfang machten die Mutigen, die in der Fremde ihr Glück erzwingen wollten, und die Verzweifelten, die nicht wussten, wie sie die hungrigen Mäuler ihrer vielköpfigen Familien stopfen sollten.

Zuerst gingen nur die Männer. Mit dem Pappkoffer in der einen Hand und dem Dritte-Klasse-Billet in der anderen stapften sie ins Tal hinab, wo sie den Bus zum Bahnhof in Fano nahmen. Sie brachen nach Mailand und Turin auf, in die Schweiz, nach Deutschland, Belgien, und einen verschlug es sogar nach Amerika. Wann immer es möglich war, kamen sie für ein paar Tage in die Heimat zurück, zuerst mit dem Zug, später mit dem Fiat Cinquecento, den sie von den hart erarbeiteten Mark oder Franken angeschafft hatten.

Sie beteuerten, dass es nirgends so schön wie in Montesecco sei und dass sie nur noch zwei, drei Jahre bräuchten, bis sie genug Geld zusammen hätten, um endgültig zurückzukehren und sich hier eine Existenz aufzubauen. Doch auch zwei, drei Jahre sind lang, wenn man einsam ist, und so holte, wer irgend konnte, seine Familie nach. Aus zwei, drei Jahren wurden fünf, sechs, zwölf, zwanzig. Kinder wurden in Berlin oder Bern geboren, wuchsen dort auf, sie sprachen lieber Deutsch als Italienisch, kannten Kreuzberg besser als San Vito drüben auf der anderen Seite des Cesano-Tals.

Immer mehr Häuser in Montesecco standen das Jahr über leer. Man verkaufte sie nicht, denn erstens hätte es sowieso keine Interessenten gegeben, und zweitens würde man ja zurückkehren. Irgendwann. Noch Jahre und Jahrzehnte verbrachte man den Sommerurlaub im Heimatdorf, öffnete die Fenster des Geburtshauses, lüftete die Zimmer durch und ging auf die Piazza, um alte Freunde zu treffen, um Neuigkeiten und Erinnerungen auszutauschen.

Dann schien alles fast wie früher zu sein, nur dass jedesmal ein bisschen weniger von dem übrig war, was Montesecco ausgemacht hatte. Zuerst wurde die Schule geschlossen. Als Don Igino starb, wurde die Pfarrstelle nicht mehr besetzt. Die ursprünglich drei Läden Monteseccos gaben einer nach dem anderen auf, weil das Geschäft elf Monate im Jahr nicht lohnte, und mit dem Mähdrescher, den Vater und Sohn Lucarelli angeschafft hatten, konnten sie zu zweit erledigen, wozu einst dreißig Erntehelfer angeheuert worden waren.

Selbst wer hier sein Auskommen hatte, geriet irgendwann ins Grübeln. Unten in Pergola gab es Geschäfte aller Art, einen günstigen Supermarkt, Ärzte, ein Krankenhaus, Schulen, Banken, Restaurants, und wenn man wollte, ging man am Samstagabend mal schnell ins Capitol und sah sich einen Film mit Marcello Mastroianni an. Das Geld, das man brauchte, um die alten Häuser Monteseccos instand zu halten, konnte man genauso gut in die Raten für eine Neubauwohnung im Tal stecken, die wenigstens ordentlich beheizbar war. Wenn der kalte Januarwind durch die Gassen pfiff und man an den verrammelten Häusern längst weggezogener Nachbarn vorbeiging, entschloss sich mancher, den nächsten Winter auch nicht mehr in Montesecco zu verbringen.

Geblieben waren fünfundzwanzig Menschen, meist verstockte Alte, die sich allen praktischen Erwägungen zum Trotz nicht verpflanzen lassen wollten. Ein paar andere sprachen immer wieder vom Fortgehen, konnten sich aber schlicht nicht aufraffen, den ersten Schritt zu tun. Einzelne waren zufällig hier gestrandet wie Mamadou Thiam, ein Senegalese, der seinen Aufenthalt in Italien durch die Heirat mit der neun Jahre älteren Milena Angiolini legalisiert hatte. Wieder andere meinten, soviel mitgemacht zu haben, dass es für ein paar Leben reichte. An der Steinbrüstung auf der Piazzetta zu stehen und übers Land zu schauen war ihnen Aufregung genug. Wenn jemand sie fragte, was sie in diesem toten Kaff halte, zuckten sie nur die Achseln und dachten, dass alles und jeder irgendwann sterben müsse. Umso besser, wenn Montesecco es schon hinter sich hatte.

Aber vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht hatte Montesecco das Schlimmste noch vor sich, und vielleicht würde der Weltuntergang doch mit einem großen Knall eingeleitet werden. Genauer gesagt mit drei gewaltigen Detonationen, die an diesem Vormittag im Januar die Fensterscheiben des ganzen Orts erklirren ließen.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Franco Marcantoni wie fast jeden Morgen in der Bar an der Piazzetta, um seinen Cappuccino zu schlürfen. Gegenüber Ivan Garzone, dem Wirt, erregte er sich gerade über die Schonzeit für Wildschweine, die am Tag zuvor begonnen hatte. Mit seinen achtzig Jahren ging das verschrumpelte Männchen zwar nicht mehr zur Jagd auf die Felder, er würde jedoch – Schonzeit hin oder her – keineswegs zögern, zur Flinte zu greifen, wenn die Wildschweine in seinen Gemüsegarten unterhalb des Dorfs einbrächen. Die würden nämlich die Beete so gründlich verwüsten, dass das ganze Jahr nichts mehr ordentlich wachsen würde. Jetzt, im Winter, wenn Schnee läge, kämen sie gleich rudelweise aus den Bergtälern, und vielleicht auch, so vermutete Franco, weil sie um die Schonzeit wussten und sie gnadenlos ausnutzten.

»Das sind Tiere, Franco, die kennen doch keinen Kalender!« Ivan Garzone wischte mit einem Tuch über die Theke.

»Instinkt! Die spüren das«, trumpfte Franco auf. Er wischte sich den Cappuccinoschaum aus dem weißen Schnauzbart. Das Wildschwein dürfe man nicht unterschätzen. Es sei schlau. Gefährlich sowieso. Die einzigen Worte, auf die es höre, seien rund und aus Blei, und wenn jemand … Franco brach im Satz ab und zog unwillkürlich den Kopf ein, weil genau in diesem Moment die Schallwellen der ersten Detonation durch die Bar jagten.

»Was war denn das?«, konnte Ivan noch fragen, bevor der zweite und dritte Knall über sie hereinbrachen.

Franco stellte seine Cappuccinotasse vorsichtig auf der Theke ab und blickte den Wirt an. Stumm horchten beide, ob noch weiteres Gedonner folgte. Endlich fragte Franco: »Eine Gasexplosion?«

Noch kochten einige Einwohner Monteseccos mit Gas aus großen Flaschen, die bei einem Leck oder Defekt fürchterliche Zerstörungen anrichten konnten. Franco hatte mal die Auswirkungen gesehen, als in Pergola die gesamte Außenmauer einer Küche im zweiten Stock weggeblasen wurde. Der Druck war so stark gewesen, dass ein Fensterflügel quer über den Corso geschleudert worden war und sich dort ebenfalls im zweiten Stock in einer Wäscheleine verfangen hatte.

Ivan schüttelte den Kopf. »Dreimal kurz hintereinander? Nein!«

Er warf sein Wischtuch neben die Kasse und lief, gefolgt von Franco, aus der Bar. Auf der Piazzetta vor der Kirche stand Francos Schwester Lidia mit einem großen Schlüsselbund in der Hand. Sie trug die Schlüssel für Kirche und ehemaliges Pfarrhaus, die ihr vom Pfarrer in Pergola anvertraut worden waren, immer bei sich. Angeblich, um jederzeit nach dem Rechten sehen zu können, in Wahrheit wohl eher aus angeborenem Misstrauen und vielleicht auch, um die Bedeutung der ihr übertragenen Aufgabe zu unterstreichen. Das Kirchenportal klaffte sperrangelweit auf. Lidia machte keine Anstalten, es zu schließen.

»Im Ort war es nicht«, sagte sie. »Der Knall kam von weiter weg.«

Die Luft war kalt und klar. Nach Osten und Süden hatte man freien Blick über die schneebedeckten Hänge und die Kuppen, an die sich die Dörfer duckten. Sie wirkten tot und verlassen. Nur über dem Industriegebiet unten in San Lorenzo standen weiße Rauchfahnen. Ein Lastwagen fuhr längs des Flusstals Richtung Küste. Das Meer selbst konnte man am Horizont als dünnes graues Band erahnen. Alles war wie gewohnt, nur der Knall der Explosionen schien immer noch durch Montesecco zu hallen.

Ivan Garzone fasste sich als Erster. Er ging zu Lidia, nahm ihr den Schlüsselbund aus den zitternden Händen und fragte: »Welcher ist es?«

»Was?«

»Der für den Kirchturm?«

Lidia zeigte auf einen der Schlüssel. Im Laufschritt zog Ivan los. Er sperrte die Tür zum Kirchturm auf und hastete die steile Holztreppe hinauf. Aus einer breiten Luke, hinter der die Glocken zu erkennen waren, flatterten zwei Tauben auf. Sie flogen hangabwärts, hielten schnurstracks auf den Friedhof zu, der zweihundert Meter außerhalb Monteseccos lag. Mit halb zusammengekniffenen Augen beobachtete Lidia Marcantoni, wie die Vögel zwischen den Zypressen durchsegelten und sich innerhalb des Mauergevierts niederließen. Wenn Lidia nicht alles täuschte, auf einem Sims unterhalb des schneebedeckten Dachs der Friedhofskapelle.

»Das ist ein ganz schlechtes Omen«, murmelte sie.

Normalerweise hätte es sich ihr Bruder Franco nicht nehmen lassen, ihren Aberglauben zu bespötteln, um bei dem zu erwartenden Widerspruch seinen Angriff auf zentrale Doktrinen der katholischen Kirche auszuweiten. Jemanden wie Lidia, die an eine jungfräuliche Empfängnis glaubte und selbige noch dazu für eine Sache hielt, über die sich auch der gehörnte Josef freuen sollte, musste Franco ab und zu in die Schranken weisen. Doch diesmal schien er Lidias Bemerkung gar nicht vernommen zu haben. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute nach oben. Mit der rechten Hand hielt er das Berretto fest, das ihm von den weißen Haaren zu rutschen drohte.

»Was ist?«, rief er, als Ivans Kopf endlich in der Turmluke auftauchte.

»Ruft die Feuerwehr! Die von Pergola, die von San Lorenzo und die von Arcevia auch!«, schrie Ivan herab. Dann hängte er sich an die Seile. Im Nu läuteten die Glocken der Kirche Sturm. Jeder in Montesecco wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Schon bei dem dreifachen Explosionsknall hatten die Meisten alles stehen und liegen gelassen, Marisa Curzio Teig und Nudelmaschine, Matteo Vannoni das Schnitzmesser, Marta Garzone die Buchführung, aus der sowieso nur hervorgehen würde, dass die Einkünfte der Bar nicht einmal zum Sterben reichten. Jetzt stürzten sie und die Sgreccias und Milena Angiolini und alle anderen, die sich im Dorf aufhielten, aus ihren Häusern und eilten zur Kirche.

Ivan ließ die Seile los und brüllte herab, dass draußen auf der Landstraße ein Wagen in Flammen stehe. Während die Glockenschläge leiser wurden und ihren Rhythmus stetig verlangsamten, begann auf der Piazzetta ein wildes Durcheinander. Die Einwohner Monteseccos zogen ihre Handys hervor, rissen Autotüren auf, starteten die Motoren, riefen einander zu, dass man die Erste-Hilfe-Kästen nicht vergessen solle. Und schon gar nicht die Handfeuerlöscher.

Keine drei Minuten später war fast das ganze Dorf auf dem Weg zum Unglücksort. Zuletzt trafen Ivan und Marta Garzone ein, die noch ein paar Damigiane mit Wasser eingeladen hatten. Sie parkten hinter dem Renault der Sgreccias, schleppten die schweren Kanister nach vorn und gesellten sich zu den anderen. Die standen etwa fünfzehn Meter vom brennenden Wagen entfernt und blickten auf meterhoch lodernde Flammen, hinter denen kaum etwas von der Karosserie zu erkennen war. Das Feuer war beängstigend laut, der Ton, den es ausstieß, eine Mischung aus dem Heulen von Sturmböen und dem tausendfachen Gesumme eines riesigen Bienenschwarms. Es stank beißend nach verschmortem Kunststoff.

»Nun tu doch endlich was!«, schrie Catia Vannoni ihren Vater an. Matteo Vannoni zog den Sicherungsstift aus seinem Handfeuerlöscher. Er ging an undefinierbaren rauchenden Trümmern vorbei auf den Brand zu. Bevor er nahe genug war, schlug eine Explosion mit dumpfem Knall aus dem aufgerissenen Motorraum. Die Flammen zuckten noch zwei Meter höher auf und verdichteten sich zu einem unregelmäßigen Feuerball, der gleich wieder verpuffte. Vannoni zog den Kopf ein und wich langsam zurück.

»Sprüh los!«, rief Catia. Vannoni richtete den Feuerlöscher aus. Der Schaumstrahl schoss heraus, erreichte den brennenden Wagen aber nicht. Ein dünner Streifen weißen Teppichs legte sich auf den Asphalt. Im Vergleich zu dem brausenden Inferno dahinter sah er lächerlich, ja grotesk aus. Vannoni kehrte zu den anderen zurück.

»Gib her!«, sagte Catia. Sie streckte die Hand nach dem Feuerlöscher aus.

»Es ist zu gefährlich«, sagte Vannoni.

»Gib schon her!« Catias Lippen zitterten. Vielleicht aus Erregung, vielleicht aus Verachtung gegenüber ihrem Vater und den anderen Feiglingen, die tatenlos um sie herumstanden. Catia war vierunddreißig Jahre alt. Man kannte sie lange genug, um zu wissen, dass sie in Extremsituationen impulsiv reagierte. Doch das war wirklich nicht der Moment, die Heldin zu spielen.

»Nicht, solange der ganze Wagen in die Luft gehen könnte«, sagte Marta Garzone.

Catia strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und sagte: »Da sind Menschen drin!«

Keiner antwortete. Natürlich war der Wagen nicht von selbst hierher gefahren. Und dass jemand es geschafft hatte, rechtzeitig herauszukommen, schien äußerst unwahrscheinlich, wenn man an die drei gewaltigen Detonationen dachte, die so kurz nacheinander erfolgt waren. Im Übrigen war außer den Dorfbewohnern weit und breit niemand zu sehen.

Catia Vannoni bückte sich nach dem Feuerlöscher, den ihr Vater auf der nassen Straße abgestellt hatte.

»Nein, Catia!« Vannoni fiel ihr in den Arm.

Mit einer schnellen Bewegung riss sie sich los und zischte: »Du hast mir gar nichts zu befehlen!«

»Wir können jetzt nichts tun«, sagte Marta Garzone. Sie fasste Catia an der Schulter, und diesmal ließ Vannonis Tochter es zu.

»Es würde sowieso nichts nützen«, sagte Marta. Wer da im Auto gesessen hatte, der hatte nicht überlebt. Das konnte man nicht rückgängig machen, auch wenn man sich selbst in Gefahr brachte. Wieder barsten die Flammen mit einem dumpfen Knall aus dem brennenden Wrack hervor, diesmal fast waagerecht von der Stelle aus, an der sich einmal der Kühlergrill befunden haben musste. Catia schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen.

»Es ist wie im Krieg!«, murmelte der alte Franco Marcantoni. Lidia und Costanza, seine beiden Schwestern, nickten dazu. Als Jugendliche hatten sie miterlebt, wie sich Deutsche und Amerikaner gegenseitig mit Artillerie beschossen hatten. Die einen hatten sich in Montesecco verschanzt, die anderen drüben auf den Hügeln bei San Pietro. Das war vor genau vierundsechzig Jahren gewesen. Die jüngeren Dorfbewohner kannten die Erzählungen, doch sie hätten gern darauf verzichtet, die alten Geschichten auf diese Weise lebendig werden zu sehen.

Der Löschwagen aus Pergola traf bereits zehn Minuten später ein, gefolgt von zwei Einsatzwagen der Vigili. Die Polizisten scheuchten die Dorfbewohner zurück, doch konnte man noch beobachten, wie die Feuerwehr die Flammen erstickte. Wie viele Opfer zu beklagen waren, blieb weiter unklar. Obwohl alle Scheiben des Wagens zerborsten waren, vermochte man auf die Entfernung nur unförmige, dunkle, von Asche und Löschschaum bedeckte Gebilde zu erkennen, die sowohl zerfetzte Autositze als auch verstümmelte menschliche Körper sein konnten.

Sobald es möglich war, näherten sich die Vigili dem ausgebrannten Wrack, schauten hinein, machten aber keine Anstalten, die Leichen herauszuziehen. Das wäre doch die natürlichste Reaktion gewesen! Stattdessen wurden die Fensterhöhlungen abgedeckt und man telefonierte hektisch in der Gegend herum. Dann kamen zwei der Vigili auf die Gruppe der Dorfbewohner zu und befahlen, die Autos wegzuschaffen. Die Straße müsse komplett geräumt werden, denn bald sei hier der Teufel los.

Wie viele denn im Wagen gewesen seien, fragte Franco. Und ob man schon wisse, um wen es sich handle.

»Macht die Straße frei, und zwar sofort!«, befahl der Polizist. Die jeweiligen Fahrer stiegen ein und rollten im Rückwärtsgang bis zur Abzweigung nach Madonna del Piano, wo sie wenden konnten. Nachdem sie ihre Autos auf der Piazza in Montesecco abgestellt hatten, kehrten sie zu Fuß zurück. Schon auf dem Weg wurden sie von ein paar Streifenwagen passiert, die aus Richtung San Lorenzo kamen. Die Absperrung war inzwischen nach hinten verlegt und die Dorfbewohner so weit zurückgejagt worden, dass sie nicht mehr genau erkennen konnten, was sich am Unglücksort abspielte.

Das Heulen der Martinshörner hörte nun gar nicht mehr auf. Carabinieri rückten an, Vigili urbani, Polizia di Stato, sogar ein Fahrzeug der Guardia di Finanza. Alles, was in der Provinz Pesaro-Urbino eine Uniform trug, schien sich einzufinden und lief um die ausgebrannte Limousine herum. Wahrscheinlich nahm dort die Spurensicherung gerade ihre Arbeit auf. Dann ertönten Kommandos, die auf die Entfernung nicht zu verstehen waren. Ein Trupp Uniformierter schwärmte aus und suchte in größer werdenden Kreisen die Umgebung ab. Insgesamt waren schon an die fünfzig Beamte im Einsatz, und es wurden immer mehr.

Die Dorfbewohner standen stumm hinter der Absperrung am Straßenrand. Sie sahen erst einen, dann einen zweiten Hubschrauber von Süden anfliegen. Knapp oberhalb der Baumwipfel drehten die beiden laut knatternden Maschinen ein, schüttelten mit ihrem Rotorenwind den Schnee aus den Zweigen und landeten im Feld neben der schmalen Straße. Unter den drehenden Rotorblättern liefen Männer mit gebückten Oberkörpern auf den ausgebrannten Wagen zu.

Normal war dieser ganze Aufwand nicht. Als Carlo Lucarelli vor vielen Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückt war, hatten sich gerade mal zwei Streifenwagen und die Sanitäter herbequemt. Man begann zu begreifen, dass sich dort vorn mehr als ein tragischer Unfall ereignet hatte. Und dass Personen davon betroffen waren, die hundertmal wichtiger waren als Carlo Lucarelli und sie alle zusammen. Aber wer mochte das sein?

Die Dorfbewohner vergruben die kalten Finger in den Hosentaschen und versuchten vergeblich, von den Vigili hinter dem rotweißen Band irgendwelche Informationen zu erhalten. Auch die Kriminalpolizisten, die bald darauf ihre Personalien aufnahmen, gaben keine Auskünfte, sondern wollten nur selbst welche. Doch was konnten die Leute aus Montesecco schon aussagen? Drei Explosionen hatten sie gehört, kurz hintereinander, und als sie hier angelangt waren, hatten sie ein brennendes Auto im Straßengraben vorgefunden.

»Sind jemandem fremde Personen aufgefallen? Oder sonst etwas Verdächtiges?«

»Etwas Verdächtiges? Nein.«

»Denken Sie nach!«

»Was wäre denn zum Beispiel verdächtig?«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen oder nicht?«, fragte der Polizist. Ein paar schüttelten stumm den Kopf.

Mit der Zeit trafen Schaulustige aus anderen Ortschaften ein, die, weiß der Himmel wie, von den Geschehnissen erfahren hatten. Sie drängten sich an die Absperrung vor und stellten genau die Fragen, auf die auch die Dorfbewohner gern eine Antwort gehört hätten. Doch hier bekam man gar nichts mit, und außerdem war es bitterkalt. Irgendwann hatte man genug und machte sich auf den Weg zurück nach Montesecco.

»Da muss man sich vor den Fernseher setzen, um zu erfahren, was im eigenen Dorf passiert ist«, knurrte Ivan Garzone und lud die anderen in seine Bar ein. Mit der Hilfe Matteo Vannonis stellte er sein privates Fernsehgerät in den Gastraum, und dann schalteten sie die Nachrichtensendung von Rai Due an.

»… wurde bei Montesecco in der Provinz Pesaro-Urbino ein Sprengstoffanschlag auf den Dienstwagen des Oberstaatsanwalts Umberto Malavoglia verübt. Sowohl Malavoglia als auch sein Fahrer kamen dabei ums Leben. Über Urheber und Hintergründe des Attentats konnte die Polizei noch keine Angaben machen. Mit Umberto Malavoglia verliert Italien einen seiner profiliertesten Strafverfolger. Seit drei Jahren war er mit der Leitung der Staatsanwaltschaft Rom betraut. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde er durch seine Ermittlungen gegen die Roten Brigaden und im Italsat-Skandal, als er …«

Der Sender hatte noch keine Bilder anzubieten, aber die Informationen passten durchaus zu dem, was man selbst beobachtet hatte. Der gewaltige Polizeiaufmarsch hatte Ähnliches vermuten lassen. Dennoch schien den Dorfbewohnern kaum glaubhaft, was sie hörten. Ein Attentat auf den bekanntesten Staatsanwalt Italiens? Das konnte nicht stimmen, und wenn doch, musste es irgendwo anders passiert sein.

Sicher, die Nachrichtensprecherin hatte eindeutig von Montesecco gesprochen, aber selbst der so vertraute Ortsname klang seltsam fremd, wenn er aus den Lautsprechern des Fernsehers tönte. Mailand, Rom, New York, das waren die Städte, die man aus dem Telegiornale kannte. Dort spielte sich das Wichtige und Interessante ab, dort handelten die Reichen und Berühmten, dort wurden Entscheidungen getroffen und vielleicht auch Attentate verübt. Nicht in Montesecco.

»Oberstaatsanwalt Malavoglia? Was wollte der denn bei uns?«, fragte Marta Garzone. Montesecco war keine Insel der Seligen. Auch hier hatte es schon Verbrechen gegeben, schreckliche sogar, doch das war lange her, und für keines davon wäre ein Oberstaatsanwalt aus Rom angereist.

»Vielleicht war er privat unterwegs«, sagte Milena Angiolini.

»Im Dienstwagen?«

»Das machen die doch alle!«

»Genau, er hatte eine Geliebte in Montesecco und …«

»Milena vielleicht?«

»… und deren gehörnter Ehemann ist ihm auf die Schliche gekommen und hat beschlossen, ihn …«

»Das ist nicht witzig!«, protestierte Milena.

»… wohl mit einer halben Tonne TNT, die ja jeder von uns Tag für Tag mit sich herumträgt, was?«

Die Nachrichtensprecherin war bei den Börsennotierungen angelangt, und die Dorfbewohner plapperten wild durcheinander. Es war, als wollten sie so das Grauen bannen, das ihnen draußen auf der Landstraße in die Glieder gefahren war. Man ahnte, dass ein Moment der Stille unerträglich wäre. Wie von selbst würde in ihm wieder die Hilflosigkeit wuchern, die sie vor dem brennenden Wagen empfunden hatten. Und so begann Franco Marcantoni von neuem: »Ein Sprengstoffattentat! Ich habe sofort gewusst, dass das kein normaler Unfall war, so hoch wie die Flammen schlugen.«

»Die Flammen schlugen hoch, weil das Benzin ausgelaufen ist«, sagte Ivan Garzone. »Das kann bei einem normalen Unfall genauso passieren.«

»Ach ja? Weil du ja schon so viele Unfälle gesehen hast!« Franco griff nach einer Tüte Kartoffelchips im Ständer auf der Theke.

»Nein, weil ich ein wenig technisches Verständnis habe und …«

Franco brauste auf. »Ich habe schon Attentate miterlebt, als noch nicht mal deine Eltern mit Bauklötzchen gespielt haben. Im Herbst 44 zum Beispiel sprengten die von der Resistenza drüben bei Bellisio einen Lastwagen der Deutschen in die Luft. Die halbe Straße ging mit hoch, und der Wagen brannte, sage ich dir, dagegen war das heute gar nichts. Habe ich recht, Costanza?«

»Das ist der Krieg!« Francos Schwester Costanza nickte heftig.

»Trotzdem«, sagte Ivan, »was da brannte, war Benzin und …«

»Still!«, rief Catia Vannoni. »Der Kommentar auf Rai Uno!«

»… Die Liste der illustren Opfer reicht von Carabinieri-General Dalla Chiesa über Untersuchungsrichter Giovanni Falcone, der genauso von der Cosa Nostra in die Luft gejagt wurde wie kurz darauf Staatsanwalt Paolo Borsellino, bis hin zu Francesco Fortugno, der der ’Ndrangheta im Weg stand. Jetzt setzt sich die Blutspur fort. Es ist müßig zu fragen, ob wir uns im Krieg mit der organisierten Kriminalität befinden. In Frage steht allerdings, ob wir diesen Krieg noch gewinnen können, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine entschlossensten Strafverfolger zu schützen. In der Vergangenheit soll es bereits mehrfach Morddrohungen gegen Oberstaatsanwalt Malavoglia gegeben haben. Unverständlich ist, wieso er nicht in ein Personenschutzprogramm aufgenommen wurde. Ein diesbezüglicher Antrag sei wegen Personalmangels und einer zu geringen Gefährdungsstufe abgelehnt worden, verlautete aus dem näheren Umkreis des Ermordeten. Ein Sprecher des Innenministeriums erklärte dagegen, keine Kenntnis von einem solchen Antrag zu haben …«

Es mochte ja sein, dass Malavoglia der Mafia zu sehr auf die Füße getreten war. Doch hätten sich die Killer dann nicht eine andere Gelegenheit ausgesucht? Alle genannten Attentate hatten in Süditalien stattgefunden, wo die Clans ihre Netzwerke, Waffenlager, Verstecke hatten, wo sie auf die Verschwiegenheit möglicher Zeugen zählen konnten und die Fluchtwege im Schlaf kannten. In Montesecco gab es keine Mafia. Wozu hätte sie auch herkommen sollen? Es existierte ja nicht einmal ein Lebensmittelladen, von dem man Schutzgeld hätte erpressen können. Und das bisschen, das Ivan Garzones Bar abwarf, würde kaum die Benzinkosten decken, die nötig wären, um es einzutreiben.

Man musste sich nur einmal umsehen. Die Dorfbewohner saßen auf klapprigen Stühlen und fröstelten trotz des Heizstrahlers unter der Decke. Von den Tischplatten löste sich das Kunststofffurnier. An die ehemals gelb gestrichenen Wände waren Fotos von längst vergessenen Dorffesten und ein Kalender der Banca delle Marche genagelt. Der Fernseher stand auf einem Tisch links neben dem Kicker, bei dem zwei Spieler der blauen Mannschaft kopflos auf den nächsten Einsatz warteten. Dahinter blinkten die Lichter der beiden zehn Jahre alten Glücksspielautomaten an der Wand.

Hier traf man sich auf eine Partie Settebello am Samstagabend oder auf einen Plausch, wenn es draußen auf der Piazzetta zu kalt war. Etwas Besseres gab es in Montesecco nicht, und auch wenn die Dorfbewohner manchmal darüber klagten, genügte ihnen Ivans Bar eigentlich vollkommen.

»Die Mafia, ich glaube es einfach nicht!«, sagte Marta Garzone, als sie einen Topf mit Glühwein aus der kleinen Küche neben der Theke brachte. Mit einem Schöpflöffel füllte sie ein Dutzend Wassergläser und verteilte sie. Esskastanien hätten gut zum Vin brûlé gepasst, doch zu essen gab es bei den Garzones schon lange nichts mehr. Das sei eine Bar und kein Restaurant, pflegte Ivan auf diesbezügliche Vorstöße zu erwidern, und wer es vor Hunger gar nicht mehr aushalte, solle sich halt ein paar Tüten Chips oder Erdnüsse leisten.

Man wärmte die klammen Finger an den Gläsern, nippte kurz am heißen Glühwein und wartete auf die Nachrichten der anderen Kanäle. Der Lokalsender TV Marche brachte die ersten Bilder vom Tatort. Außer einem Schwenk über die Felder, die Schaulustigen vor der Absperrung und ein paar Polizisten, die sich dort wichtig machten, gab es nicht viel zu sehen. Dann schob sich der Kopf des Reporters ins Bild. Er trug eine Pelzmütze, als wäre er auf dem Roten Platz in Moskau, und raunte ins Mikrofon:

»… Das Gelände ist weiträumig abgesperrt. Noch untersuchen die Spezialisten der Spurensicherung das ausgebrannte Autowrack. Die Menschen hier harren aus, obwohl von der Absperrung aus nichts zu sehen ist. Immer wieder schütteln sie den Kopf, verstehen nicht, wie solch eine Tragödie gerade hier im beschaulichen Hinterland der adriatischen Küste geschehen konnte. Bei aller Bestürzung wurden wir Zeugen eines erhebenden Moments, als der Leichenwagen die beiden Toten abtransportierte. Langsam wich die Menge zur Seite, bildete ein Spalier für den Wagen. Jemand begann zögernd zu klatschen, und alle fielen ein, applaudierten den beiden Männern, die für Recht und Gerechtigkeit ihr Leben gelassen hatten …«

»Im beschaulichen Hinterland der adriatischen Küste«, äffte Franco Marcantoni den Sprecher nach.

»Ja, und?«

»Kein Wort von Montesecco«, murrte Franco.

»Sei doch froh, wenn sie uns unsere Ruhe lassen!«, sagte Marta Garzone.

Franco knurrte irgendetwas, gab dann aber Ruhe, weil er keine neue Auseinandersetzung vom Zaun brechen wollte.

»Mal sehen, was die Berlusconi-Sender bringen«, sagte Ivan. Er nahm die Fernbedienung und zappte durchs Abendprogramm.

»… Wie aus Polizeikreisen durchsickerte, wurde das Attentat höchstwahrscheinlich mit einem schultergestützten, sechsschüssigen Granatwerfer südafrikanischen Fabrikats durchgeführt. Mit einer Waffe also, die weltweit bei Terrorgruppen und paramilitärischen Banden äußerst beliebt ist. Ist der Terrorismus nun auch in der italienischen Provinz angelangt? Noch hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt, doch …«

»… Entsetzen, Wut und Verzweiflung schlagen uns in Pietralata entgegen. Giuseppe Jacopino hinterlässt eine junge Ehefrau und zwei Mädchen im Alter von sieben und fünf Jahren. Erst vor drei Monaten nahm er die Stelle als Fahrer bei der Staatsanwaltschaft Rom an. Hier bei mir steht Frau Rosalia D’Abruzzo, eine Nachbarin der Familie Jacopino. Frau D’Abruzzo, was für ein Mensch war Giuseppe Jacopino? ›Er kam mit allen gut aus, ein ernsthafter, eher zurückhaltender …‹ Ein allseits beliebter Nachbar also. Fühlte er sich gefährdet? Ahnte er, dass er im Visier rücksichtsloser Krimineller war? ›Ich weiß nicht, vielleicht, aber irgendwie musste er doch seine Familie ernähren‹ …«

»… hat Innenminister De Sanctis den Hinterbliebenen Malavoglias und seines Fahrers Jacopino sein tief empfundenes Beileid ausgesprochen. Ganz Italien fühle mit ihnen. Er versprach, dass die Behörden alles daransetzen würden, dieses schreckliche Verbrechen aufzuklären und zu sühnen. Den Tätern werde es nicht gelingen, den Rechtsstaat, für den Malavoglia und Jacopino eingestanden hätten, zu unterminieren …«

Die Dorfbewohner waren zunehmend schweigsamer geworden. Sie tranken, aßen Erdnüsse oder Kartoffelchips und ließen die Flut der Bilder und Kommentare über sich zusammenschwappen. Vielleicht hofften sie, dass sich das Geschehene so in eine der vielen Schreckensnachrichten verwandeln würde, die man jeden zweiten Abend im Telegiornale vorgesetzt bekam. Doch die Eindrücke, die sich in ihre Köpfe gebrannt hatten, wollten nicht vergehen. Im Gegenteil, je routinierter die Redakteure den Fall aufarbeiteten, desto lebendiger kehrte die Erinnerung wieder. Über den Fernsehton legte sich der von prasselnden Flammen, und über die Bilder tropfte schmutziges Löschwasser von ausgeglühtem Blech. Auf der Mattscheibe schienen leere Fensterhöhlungen auf und dahinter leblose graue Schatten, die vielleicht kurz zuvor noch Menschen gewesen waren.

Die Sgreccias machten kurz nach 20 Uhr den Anfang. In den nächsten Stunden murmelte einer nach dem anderen einen kurzen Gruß und zog nach Hause ab. Gegen Mitternacht befand sich außer dem Wirtsehepaar nur noch Catia Vannoni in der Bar. Auch sie hatte sich zwei Mal entfernt, war aber pünktlich zur nächsten Nachrichtensendung wieder zurück gewesen. Dann hatte sie ihre Augen nicht vom Bildschirm gelöst. Es war, als wolle sie jede Einstellung speichern, jede noch so nebensächliche Information und jeden noch so gewagten Erklärungsansatz aufsaugen.

Ivan hatte den Heizstrahler schon vor einer halben Stunde abgestellt, doch das schien Catia Vannoni gar nicht wahrgenommen zu haben. Nun hatte er genug. Er schaltete den Fernsehapparat aus, legte die Fernbedienung auf die Theke und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Um ein Uhr kommen Spätnachrichten auf Rai Due«, sagte Catia Vannoni.

»Heute bringen die nichts Neues mehr«, sagte Marta Garzone.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Catia.

»Wie sollten sie auch?«, fragte Ivan. »Du glaubst doch nicht, dass irgendwer bei der Polizei um diese Uhrzeit noch arbeitet?«

»Nein«, sagte Catia. Auf den Tischen standen Bier- und Weingläser zwischen zerknüllten Kartoffelchips-Tüten. Die Stühle waren leer. Catia starrte auf den Fernseher. Es war ein Sony mit 72-Zentimeter-Bildschirm. Er war dunkel.

»Geh nach Hause, Catia!«, sagte Marta. »Ein wenig Schlaf können wir alle brauchen.«

»Ja«, sagte Catia. Sie blieb sitzen. Ihre Unterarme lagen schwer auf dem Tisch. Den Anorak hatte sie den ganzen Abend nicht ausgezogen. Eigentlich hatte sie ihn schon fast den ganzen Tag an. Zumindest, seit sie mit den anderen zu Malavoglias Limousine hinausgefahren war, dort ihren Vater angebellt hatte und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, sich in die Flammen zu stürzen. Marta bückte sich, holte hinter der Theke ein Tablett hervor und drückte es Ivan in die Hand.

»Schalt nochmal kurz ein, Ivan!«, sagte Catia.

»Du hast doch selbst einen Fernseher zu Hause«, sagte Ivan. Er begann, die Gläser abzuräumen.

»Mach mir noch einen Caffè!«, sagte Catia.

»Ich muss ins Bett.« Ivan trug das Tablett zur Spüle, stellte es dort ab und kam mit einem feuchten Lappen zurück. Schnell wischte er über die Tischplatten. Catia nahm die Arme nicht hoch, als er bei ihr anlangte.

»Catia!«, zischte Ivan.

Sie rührte sich nicht. Marta kam hinter der Theke hervor.

»Du kannst bei uns schlafen, wenn du willst«, sagte sie.

Catia zuckte zusammen und sah sie von unten herauf an. »Nein, nein, ich muss nach Hause zu Minh.«

»Dein Sohn ist siebzehn Jahre alt«, sagte Marta.

»Trotzdem«, sagte Catia. Sie blieb sitzen.

»Ich gehe schon mal vor.« Ivan warf den Lappen in die Spüle, wischte sich die Hände an der Hose ab und wartete ein paar Sekunden. Als sich seine Frau zu Catia an den Tisch setzte, schüttelte er den Kopf und ging.

»Was ist los, Catia?«, fragte Marta.

Catia holte die Fernbedienung von der Theke und schaltete den Fernsehapparat wieder ein. Es lief irgendeine Rateshow, deren Moderator einem johlenden Publikum irgendetwas entgegenkreischte. Catia wechselte den Kanal. Die Nachrichten auf Rai Due hatten noch nicht begonnen.

»Ein scheußliches Gefühl, dass das hier bei uns passiert ist«, sagte Marta, »doch das ist Zufall. Es hätte genauso anderswo geschehen können. Da geht es um Politik und Justiz, um Mafia, Terrorismus oder was weiß ich. Jedenfalls nicht um gewöhnliche Leute, wie wir es sind. Montesecco hat damit nichts zu tun, und die Täter sind garantiert längst über alle Berge. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Wahrscheinlich nicht.« Catia lächelte verkniffen.

»Wenn du Angst hast, kannst du gern hier bleiben. Wir können Minh ja herholen.«

»Nein, nein, ich gehe gleich.« Catias Finger spielten mit der Fernbedienung.

»Irgendwelche Wahnsinnigen haben ein Attentat verübt. Das ist schrecklich, aber wir können es nicht ungeschehen machen. Da nützt es auch nichts, wenn du wieder und wieder …«

»Psst!«, machte Catia und stellte den Ton lauter. Die Nachrichten begannen. Natürlich war der Anschlag auf Oberstaatsanwalt Malavoglia der Aufmacher, und natürlich wurde kein Bild ausgestrahlt, das Catia nicht schon mindestens drei Mal gesehen hatte. Vielleicht in den 3-Uhr-Nachrichten.

2
Martedì, 15 gennaio

Sicut nox silentes. Lautlos wie die Nacht, das war das Motto des Nucleo Operativo Centrale di Sicurezza, und tatsächlich schlug die Spezialeinheit der italienischen Staatspolizei fast immer spätnachts los. Das hatte nicht nur den Vorteil, dass man im Schutz der Dunkelheit leichter an das Zielobjekt herankam und deutlich weniger Unbeteiligte im Weg standen. Entscheidend war, dass Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit in den frühen Morgenstunden stark nachließen. Das galt zumindest, wenn der Gegner nicht ähnlich professionell trainiert war wie die Mitglieder des NOCS.

Enrico Munì war exzellent ausgebildet. Er hatte die medizinischen und psychologischen Tests gemeistert, die sechsmonatige Grundausbildung überstanden, in der neun von zehn Bewerbern scheiterten, und er hatte die zweijährige Schulung in Abbasanta auf Sardinien mit Auszeichnung abgeschlossen. Er lief die hundert Meter in 12,5 Sekunden, er konnte Fallschirm springen, sich von Hochhäusern abseilen und eine Sprengladung unter Wasser anbringen. Es gab kein Waffensystem im Besitz der italienischen Staatspolizei, das er nicht im Schlaf beherrschte. Er war taktisch auf jede denkbare Situation vorbereitet, hatte Stressbewältigungsseminare absolviert und wusste, dass er sich auf die Kameraden seiner Sturmeinheit verlassen konnte. Und doch spürte Enrico Munì das Adrenalin durch seinen Körper jagen. Es war sein erster Einsatz. Der Ernstfall ließ sich mit keiner noch so realistischen Übung vergleichen.

Munìs Sturmeinheit bestand aus vier Mann, die sich den Nordhang hochgearbeitet hatten und im Schutz der letzten Bäume auf das Kommando zum Vorrücken warteten. Eine zweite, gleich starke Gruppe würde von Westen kommen, die dritte musste sich jetzt an der Friedhofsmauer unterhalb von Montesecco befinden. Es war 3 Uhr 42.

Von seinem Standpunkt aus konnte Munì kein direktes Laternenlicht sehen, nur ein schwacher gelber Schein lag über den Dächern von Montesecco. Bis zu den ersten Häusern an der Nordseite des Hügelkamms hatten sie noch circa zehn Meter Aufstieg zu bewältigen. Über eine Fläche fast ohne Schutz, die im Schein des verdammten Mondes hell glänzte. Sie trugen dunkle Kampfanzüge, hatten die Gesichter geschwärzt, und selbst die Helme mit integriertem Headset waren finster wie die Nacht. Die Fenster der flachen Häuser konnte man nur erahnen. Nirgends brannte Licht. Es war 3 Uhr 44.

»Move!«, flüsterte die heisere Stimme des Einsatzleiters aus dem Kopfhörer. »Move!«

Munì warf die Maschinenpistole auf den Rücken und kletterte auf allen vieren den Hang hoch. Der Einsatzleiter würde sich wieder melden, wenn alle Gruppen ihre Position erreicht hatten und die Lage genau eingeschätzt werden konnte. Unschuldige Opfer waren unbedingt zu vermeiden, und sobald der Zugriff eingeleitet war, musste man ihn durchziehen. Da gab es kein Zurück mehr.

»Go, go, go«, wäre dann das Kommando, und sie würden losstürmen, gleichzeitig durch Türen und Fenster eindringen, blitzschnell, schwarz wie die Nacht, bis die Blendgranaten zündeten. Munì und seine Kameraden würden den überraschten Gegner überwältigen, bevor er auch nur den Finger krümmen konnte. Sie würden die Situation unter Kontrolle bringen und die Geiseln befreien, wie sie es gelernt hatten.

Munì drückte sich neben Nummer 3 an die Hauswand. Sie lauschten, sahen auf die vier Spuren zurück, die sich durch die Schneefläche nach oben zogen. Kein verdächtiges Geräusch war zu hören. Vorsichtig brachten sie ihre Waffen in Anschlag. Nummer 1 nickte. Sie glitten an der Wand entlang bis zum Hauseck. Munì überstieg den hüfthohen Maschendrahtzaun als Erster und durchquerte den verschneiten Gemüsegarten bis zu einem kleinen Schuppen. Er kauerte sich in dessen Schatten, spähte auf die Straße hinaus. Die Laternen standen im Abstand von ungefähr vierzig Metern. Sie leuchteten mattgelb. Nichts bewegte sich.

Nummer 2 war hinter ihm. Munì spürte ihn mehr, als dass er ihn kommen gehört hätte. Lautlos wie die Nacht. Nummer 3 zog vorbei, überwand blitzschnell das Türchen zur Straße hin. Lächerliche achtzig Zentimeter hohe Holzlatten. Munì fragte sich, wieso jemand einen Zaun setzte, der nicht das geringste Hindernis darstellte. Auf der anderen Straßenseite verschmolz Nummer 3 mit einem Hochspannungsmast.

Nummer 2 ging links vor, ein dunkler Schatten, der dicht an den Büschen entlang durch das Laternenlicht huschte. Munì und Nummer 1 folgten. Noch waren sie am Ortsrand. Die geduckten Häuser standen einzeln, unterbrochen von kleinen Gärten mit vereisten Obstbäumen und dürren Heckenrosen, doch bald senkte sich die Straße in den Ortskern hinab. Links waren nun graue Felsen, aus denen der Kirchturm gedrungen hervorwuchs. Rechts schloss sich die Häuserreihe. Irgendwo kläffte ein Hund. Drei, vier Mal, dann hörte er wieder auf.

An der Biegung stoppten sie. Zur Seite hin öffnete sich die Piazzetta vor der Kirche. Die Tür der Bar war geschlossen. Im Spalt über der Schwelle schimmerte ein dünner Streifen Licht auf. Munì glaubte leise Stimmen zu hören, doch er war sich nicht sicher. Die beiden Bäume auf der Piazzetta waren geschnitten worden. Was von den Ästen noch übrig war, ragte wie verstümmelte Gliedmaßen nach oben. Auf der Steinbank darunter lag verkrusteter Schnee.

Nummer 1 ging voran. Sie mieden die offene Piazzetta, blieben im Schatten der Mauern und tauchten in eine abfallende Gasse ein. Die Häuser waren nun zweistöckig und lehnten sich aneinander. Munì sicherte nach oben zu den dunklen Fenstern hin. Die Gasse war so eng, dass man sich über sie hinweg die Hände hätte reichen können. Der Mond stand zu tief, doch im schmalen Band zwischen den Dächern blinkten ein paar Sterne auf. Deckung gab es kaum. Sie huschten von Hauseingang zu Hauseingang, sicherten, ließen die anderen vorbei, drückten sich hinter Regenrinnen, sicherten. Alles klar. Weiter!