Die Vipern von
Montesecco
Krininalroman
ISBN 978-3-8412-0775-3
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Dezember 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2005 bei Gustav Kiepenheuer, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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unter Verwendung zweier Fotos von Corbis
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Inhaltsübersicht
Cover
Impressum
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Eine Bitte
Informationen zum Buch
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Für Leonhard Jaumann
Ehrend des Landes Gesetz
und der Götter beschworenes Recht,
ist er groß im Volk.
Nichts im Volk,
wer sich dem Unrecht gab
vermessenen Sinns.
Sophokles: Antigone, Verse 368–373
Beppone konnte es nicht sein. Beppone war schon vor fünfzehn Jahren kein junger Hund mehr gewesen. Jetzt bleichten höchstens noch seine Knochen irgendwo. Und doch sah der Hund am Straßenbrunnen vor dem Palazzo Civico genauso aus wie Beppone damals. Die triefenden Augen, das struppelige braune Fell, der verstümmelte Schwanz.
Matteo Vannoni stellte den Koffer auf der untersten Stufe der Treppe ab, die die Piazza mit dem oberen Teil des Dorfes verband. Es war totenstill. Der Hund war das erste lebende Wesen, das ihm in Montesecco begegnete. Dachten sie, daß er mit der Flinte unter dem Arm zurückkehren würde?
»He, Beppone«, sagte Vannoni. Der Hund streckte sich, gähnte und trottete quer über die glühende Piazza davon.
»Regel Nummer eins: Das Leben ist weitergegangen«, murmelte Vannoni.
Die Mittagssonne sprengte den Himmel und drückte geballte Hitze auf die Dächer. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen. Vannoni hielt es für möglich, daß Augenpaare aus dem Halbdunkel durch die Lamellen blickten, aber er war sich nicht sicher. Lucarellis Haus schräg gegenüber war jetzt grau gestrichen. Vielleicht waren auch die Fenster neu. Der Hund kroch unter einen geparkten Wagen. Ein Volkswagen Golf. Vor fünfzehn Jahren gab es nur Fiats und Ape-Dreiräder im Dorf.
Ein ausländisches Auto, eine andersfarbige Hauswand und ein fremder Hund, der aussah wie Beppone. Sonst war alles wie früher. Die Fassaden, das unregelmäßige Pflaster, die Bruchsteinmauer am Hang, die weißen Plastikstühle neben Lucarellis Haustür. Das blaue Tabacchi-Schild hing noch über der Tür von Rapanottis Laden, der schon vor Vannonis Zeiten aufgegeben worden war. Auch aus dem ehemaligen Waschhaus schräg darunter hatten sie nichts gemacht. Es mußte Jahrzehnte her sein, daß die Steinbecken zum letztenmal Wasser gesehen hatten. Selbst die Zeiger der Uhr am Palazzo Civico standen noch auf zwanzig nach acht.
Vannoni war in Montesecco aufgewachsen. Er hatte lange genug darunter gelitten, wie das Leben hier lief, und doch war er wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß sich alles verändert hatte. Nach fünfzehn Jahren! Aber sie hatten nicht einmal die defekte Uhr instand gesetzt!
Vielleicht war das Leben gar nicht weitergegangen. Vielleicht war es einfach stehengeblieben und ...
Unsinn, Maria war tot, Catia hatte vor einem Monat ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert, und er hatte fünfzehn Jahre lang Zeit gehabt, sich Gedanken zu machen. Plötzlich war er sicher, daß es die falschen Gedanken gewesen waren.
»Regel Nummer zwei: Nimm dich nicht so wichtig!« sagte sich Vannoni. Er hob den Koffer an, stieg die Treppe hoch, bog nach links, zwanzig Meter den steilen Fußweg hinauf. Vor seinem Haus standen noch die beiden großen Terrakottatöpfe. Der Oleander blühte rot. An der Haustür hing ein Zettel. Wir wußten nicht, ob du allein sein willst. Komm rüber, wenn du magst! Catia, Elena, Angelo.
Vannoni drückte die Klinke herab. Die Tür sprang auf. Die Luft, die herausdrang, ließ ihn innehalten. Er hatte bei keinem Besuch seiner Schwester mit ihr darüber gesprochen, doch er war sicher, daß Elena regelmäßig gelüftet, Staub gewischt und die Spinnweben beseitigt hatte. Aus dem Haus roch es auch nicht muffig. Es roch nach gar nichts. Keine Spur von abgestandenem Rauch, von Essensdünsten, von Achselschweiß. Die Luft in seinem Haus war tot.
Weg, nur weg hier, dachte etwas in Vannoni. Er mußte sich zwingen, den Koffer abzustellen. Seine Hand zitterte, als er den Griff losließ. Dann atmete er tief durch. Er hätte nicht hierher zurückkommen müssen, doch er hatte sich nun mal dafür entschieden. Jetzt war er da, und er würde eine Entscheidung, die in fünfzehn Jahren gereift war, nicht über den Haufen werfen, nur weil das Haus einen Geruch ausströmte, der ihm nicht paßte.
Wie sollte ein Haus denn riechen, in dem fünfzehn Jahre keiner gewohnt hatte? Vannoni zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch aus. Er würde jetzt durchs Haus gehen und die Fenster öffnen. Er würde die Zimmer begutachten. Alles wäre wie früher oder eben anders. Es wäre ihm egal. Er würde die Tatsachen zur Kenntnis nehmen, und es wäre in Ordnung. Genau so, wie es war. Er drückte die Zigarette am Türstock aus.
Vannoni ging durchs Haus. Er begann in der Küche. Er hatte Elena gesagt, sie könne sich nehmen, was sie wolle, doch anscheinend hatte sie nichts gewollt. Auch das Bad war unverändert. Im Wohnzimmer hing noch der Kalender von der Cassa di Risparmio aus dem Jahr 1978. Das Foto für den Monat Juli zeigte einen Sonnenuntergang in den Dolomiten. Catias Zimmer war bis auf den großen Schrank leer. Natürlich hatten sie die Sachen für das Kind mitgenommen. Alles war in Ordnung.
Bevor er das Schlafzimmer betrat, zögerte er einen Moment. Dann machte er die Tür auf. Die Läden vor den beiden Fenstern waren geschlossen. Im Raum lag Halbdunkel, durch das helle Striche von den Ritzen der Läden her fielen. Vannoni schaltete das Licht ein. Auch damals hatte er das Licht eingeschaltet. Da war Giorgio Lucarelli schon halb durchs Fenster gewesen. Der behaarte Rücken und der nackte weiße Hintern waren das letzte gewesen, was er von ihm gesehen hatte. Der Schrank, in dem die Lupara auf den Beginn der Jagdsaison gewartet hatte, stand noch im Eck. Bis er das Gewehr geladen hatte, war Lucarelli in der Nacht verschwunden gewesen.
Vannoni öffnete das Fenster und die Läden. Seine Hand strich am Sims entlang. Er drehte sich um. Auf dem Doppelbett lag eine leichte Decke. Die Matratze darunter war nicht bezogen. Damals war das Leintuch auf der rechten Seite zerwühlt gewesen. Maria hatte sich nicht aus dem Bett weggerührt. Ganz auf ihrer Seite hatte sie sich aufgesetzt. Sie hatte den nackten Rücken an die Wand gedrückt und das Laken bis zum Kinn hochgezogen. Sie hatte ihn angesehen. Nie würde er diesen Blick vergessen. Er hatte nicht verstanden, was er ausdrückte. Es war weder Schreck noch Scham, nicht Mitleid, nicht Spott, nicht Trotz gewesen. Er hatte gesehen, was los war, aber er hatte nichts begriffen. Damals nicht, und bis heute nicht.
»Warum?« fragte er leise.
»Warum?« hatte er sie damals angezischt, und sie hatte ihn angesehen wie ein Wesen aus einer fremden Welt.
Sie hätte nur antworten müssen.
Irgend etwas.
Irgendein Wort, das ihm die Möglichkeit gegeben hätte, aufzubrüllen, höhnisch loszulachen, sie niederzuschreien. Doch sie hatte nichts gesagt.
Es war still.
Es war damals still gewesen. Bis auf das Knacken, als er die alte Lupara gespannt hatte.
»Warum?« hatte er noch einmal gefragt, und sie hatte die Lippen aufeinandergekniffen und ihn auf eine Weise angeblickt, die er sein Leben lang nicht verstehen würde. Da hatte er abgedrückt. Einmal, zweimal. Er hatte seine Frau nicht umgebracht, weil sie ihn mit Giorgio Lucarelli betrogen hatte. Er hatte dieses Fremde in ihren Augen auslöschen wollen. Für immer. Er mußte sichergehen. Nur deshalb hatte er nachgeladen. Zweimal. Das hatte seinen Verteidiger später im Prozeß auf Totschlag im Affekt plädieren lassen, während der Staatsanwalt nicht müde geworden war, ihm eine Disposition zu Radikalität und Gewalt nachzuweisen. Vannoni war zu einundzwanzig Jahren Haft verurteilt worden und hatte fünfzehn davon abgesessen.
Sechs Kugeln in ihrem Körper, und Blut überall. Er hätte noch weitergemacht, wenn das Blut nicht gewesen wäre. Vannoni ging zu Marias Seite des Betts und schlug die Decke zurück. Auf der Matratze waren keine Blutflecken zu sehen. Er beugte sich nach unten und strich über die Oberfläche. Nicht die geringste Spur eines Blutflecks. Man müßte doch irgend etwas sehen. Zumindest spüren, wo stundenlang geschabt und gewaschen worden war. Sie hatten doch nicht etwa eine neue Matratze gekauft. Für das Bett einer Toten! Das war doch lächerlich! Er wußte nicht, wieso ihn der Gedanke rasend machte.
Vannoni fühlte das Blut in seinen Schläfen pochen. Ihm war heiß. Er ging ins Bad und drehte den Hahn auf. Das Wasser spritzte in gurgelnden braunen Stößen heraus. Im Gefängnis hatte Vannoni sich tausendmal gesagt, daß die Vergangenheit Vergangenheit war. Er würde sie ruhen lassen. Er würde Blumen an Marias Grab bringen. Er würde Giorgio Lucarelli freundlich grüßen, wenn er ihn auf der Piazza traf. Er würde allem, was draußen auf ihn zukäme, offen, ruhig und gelassen begegnen.
Vorsätze! Vannoni begriff nicht, wieso alles plötzlich zusammenstürzte. Nur weil er keine Blutflecken auf der Matratze fand, konnte doch nicht alles, was er in den letzten Jahren begriffen zu haben glaubte, zu einem Nichts zusammenschnurren. Er mußte nachdenken. Er fragte sich, was Giorgio Lucarelli gerade dachte. Er fragte sich, ob das, was Giorgio Lucarelli die letzten fünfzehn Jahre gedacht hatte, ebenfalls in Trümmer fallen könnte.
Rot versank die Sonne hinter den Hügeln jenseits des Cesano-Tals. Am Horizont klebte Dunst, doch über den Feldern unterhalb von Montesecco lag ein unwirklich heller Schein. Als züngelten Flammen aus der rissigen Erde. Als dampfe sie die Hitze wieder aus, die sie vierzehn Stunden lang versengt hatte. Verbranntes Gras, Gerstenstoppeln, Weizenfelder. Mit hängenden Köpfen standen halbstarke Sonnenblumenheere in Reih und Glied. Der Ginster war größtenteils verblüht, doch noch stachen schmutziggelbe Flecken hier und da aus Waldfetzen.
Auf der Bergkuppe drückten sich die Häuser von Montesecco eng aneinander. Viele davon waren unbewohnt oder wurden nur sporadisch von denen genutzt, die Montesecco auf der Suche nach Arbeit verlassen hatten und in Mailand oder Turin, in Belgien, Deutschland oder den USA gelandet waren. 1959 hatte der Exodus begonnen, als die größte Schwefelmine Europas im nahen Cabernardi geschlossen wurde. Zuerst wanderten die Minenarbeiter ab, doch bald schlug die Krise auch auf Handwerker, Fuhrunternehmer und Bauern durch. Die drei Läden Monteseccos gingen einer nach dem anderen pleite, die Schule machte zu, und das einzige, was im Lauf der Jahre wuchs, war die Zahl der Gräber auf dem Friedhof, da man wenigstens zu Hause beerdigt sein wollte, wenn man schon sein Leben in der Fremde verbringen mußte. Doch noch wohnten siebenundzwanzig Menschen, die mit keinem anderen Ort in der Welt hätten tauschen wollen, ganzjährig in Montesecco.
In der Mitte des Dorfs öffnete sich eine langgestreckte Piazza, die durch schmale Treppen und winklige Durchfahrten mit den paar Gassen verbunden war, über die sich die Häuser in die Augen blickten. Die Torre Civica an der Stirnseite der Piazza war niedriger als der Kirchturm von Santa Maria Assunta weiter oben. Vor dem Kirchenportal lag eine nach Osten vorspringende Piazzetta, die von einer hüfthohen Brüstung zum steil abfallenden Abhang hin begrenzt wurde. Bei klarem Wetter sah man von dort bis hin zum Monte Conero im Süden und fast bis nach Ravenna im Norden.
Nicht nur wegen der Aussicht nannten die Bewohner von Montesecco die Piazzetta ihren Balkon. An diesem luftigen Platz war man zu Hause, hier schlug das Herz der Dorfgemeinschaft, hier traf man sich vor der einzigen Bar des Orts, einem unscheinbaren Häuschen mit abblätterndem rosa Putz, das sich an die Kapelle des heiligen Sebastian anlehnte.
Durch unsichtbare Grenzlinien war der Balcone in zwei Bereiche unterteilt. Den Frauen standen die beiden Steinbänke am hinteren Ende und ein paar Quadratmeter direkt vor der Bar zu. Dort saß Milena Angiolini, eine blonde Schönheit, die auf jedem Laufsteg in Mailand oder Rom eine gute Figur gemacht hätte. Sie fächerte sich mit einem Plastikteller Luft zu und tuschelte mit der Barpächterin Marta Garzone. Deren beide Kinder jagten unter wildem Geschrei einen kleinen braunen Hund und trieben ihn an der Brüstung des Balcone in die Enge. In diesem Bereich, den die Männer für sich beanspruchten, standen ein paar klapprige Stühle um einen Tisch. Auf dessen Plastikoberfläche stellte Ivan Garzone eine Flasche Bianchello und ein Tablett mit einem Dutzend Gläser.
»Und? Kommt er?« fragte Ivan Garzone.
»Wer?« fragte Angelo Sgreccia zurück.
»Wer wohl? Der Papst wahrscheinlich!«
»Der Papst kommt nicht. Der ist zu alt, und er muß keusch bleiben«, sagte der alte Marcantoni. Er kicherte.
»Also?« fragte Ivan zu Sgreccia hin. »Was erzählt Vannoni denn so?«
»Laß ihn doch erst einmal mit seiner Tochter reden«, sagte Angelo Sgreccia.
»Und wenn er mit Catia geredet hat? Kommt er dann?« fragte Ivan Garzone.
»Er kommt nicht«, sagte Sgreccia. Er mußte es wissen. Als Kinder waren Vannoni und er unzertrennlich gewesen. Da hatte es keinen Tag gegeben, an dem sie sich nicht zusammen herumgetrieben und irgendwelche Streiche ausgeheckt hatten. Der Lehrer in Pergola hatte die Spitznamen Kastor und Pollux aufgebracht, und bald wurden sie vom ganzen Dorf so genannt. Zwar war Vannoni schon als Jugendlicher auf Distanz gegangen und hatte Meinungen vertreten, die Sgreccia genausowenig wie alle anderen nachzuvollziehen vermochte, doch die gemeinsame Kindheit konnte er damit nicht vergessen machen. Daß sich Vannoni später mit seiner Gewalttat selbst aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen hatte, war eine andere Geschichte. Im Rückblick blieben Sgreccia und er für das ganze Dorf zwei nur zufällig aus unterschiedlichen Familien stammende Zwillinge. Allen erschien mehr als natürlich, daß Sgreccia später Vannonis Schwester Elena geheiratet hatte und somit zumindest mit ihm verschwägert war.
»Trinkt ihr?« fragte Ivans Cousin Paolo Garzone. Er griff nach der Weinflasche. Sie wirkte zerbrechlich in seiner Pranke.
Ivan schob ihm ein Glas zu. Sgreccia schüttelte den Kopf.
»Für mich gemischt mit Sprite«, nuschelte Franco Marcantoni aus seinem zahnlosen Mund. Er verschluckte das »t« und sprach den Vokal so aus, daß das Wort wie »Spray« klang.
»He, Marta, eine Sprite für Franco«, rief Ivan seiner Frau zu.
»Nicht mal ein Gläschen, Angelo?« fragte Paolo.
Sgreccia schüttelte den Kopf. Es war allgemein bekannt, daß er nie trank. Als Lastwagenfahrer könne er auf seinen Führerschein nicht verzichten und wolle deshalb gar nicht mit der Sauferei anfangen, hatte er mal erklärt. Niemand glaubte, daß das der wahre Grund für seine Abstinenz war, doch etwas anderes war auch durch beharrliche Sticheleien nicht aus ihm herauszubekommen.
»Er trinkt heute nicht«, sagte Paolo und schenkte zwei Gläser ein.
»Hat es dir deine Frau verboten, Angelo?« fragte Marcantoni.
»Er ist bloß zu faul, pissen zu gehen«, sagte Ivan.
Niemand lachte. Sie schwiegen, als die kleine Paty die Dose Sprite brachte. Gigino trippelte hinterher und sah zu, wie der alte Marcantoni sich sein Spezialgemisch braute. Langsam begann der Abend aufzuatmen. Die erste weiche Brise schwang sich über die Brüstung und ließ die Blätter der beiden Eschen leise murmeln. Die zwei Lucarelli-Mädchen tauchten auf und tippten mit den Fingern auf der Gelati-Tafel neben dem Eingang zur Bar herum. Marta wartete, bis sie sich, wie immer, für ein Crocchino entschieden hatten, und ging dann mit ihnen hinein. Der Fliegenvorhang schwang ein wenig nach.
»Es würde sich gehören, daß er mal kurz vorbeischaut«, begann Franco Marcantoni endlich wieder.
»Mal kurz vorbeischaut?« Ivan stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »Am ersten Abend in Freiheit? Wenn ich fünfzehn Jahre lang bei Wasser und Brot gesessen hätte, würde ich da nicht in die Bar meines Vertrauens gehen, mich hier an den Tisch setzen und sagen: Wirt, ich bin frei, der Abend ist schön, und jetzt bring für mich und meine Freunde den besten Wein, den du im Keller hast, damit wir alle zusammen ...«
»Du kennst doch Vannoni gar nicht«, sagte Paolo Garzone.
»Na und?«
»Und du hast gar keinen Weinkeller«, nuschelte Marcantoni.
»Noch nicht. Doch wartet nur! Sobald etwas Geld in der Kasse ist, mache ich etwas aus dem Laden hier.« Ivan kippte den Inhalt seines Glases hinunter. »Aber einen erstklassigen Wein habe ich jetzt schon. Willst du nicht doch einen, Angelo?«
»Er weiß doch genau, daß Giorgio Lucarelli kommt«, sagte Sgreccia.
»Guten Morgen, Angelo, wir sind beim Wein«, sagte Ivan.
»Wegen einem Glas stirbst du nicht gleich«, sagte Marcantoni, doch Sgreccia sprang nicht auf die Stichelei an. Auch sonst wollte niemand das übliche Geplänkel in die übliche zweite Runde führen. Natürlich wiederholten sich Gesprächsthemen, verfestigten sich Rollen, wenn man Jahrzehnte im gleichen Nest gelebt hatte und Abend für Abend beisammensaß. Jeder kannte jeden. Jeder wußte um die kleinen Schwächen seines Nachbarn und scheute sich nicht, darüber Witze zu reißen. Nur an diesem Abend hatte keiner Lust dazu, denn der Abend war nicht wie jeder andere. Matteo Vannoni war zurückgekommen. Man wußte nicht, was das bedeutete. Etwas lag in der Luft, und die gewohnten Rituale schmeckten ausnahmsweise fade.
Es gab keine Geheimnisse, es gab aber sehr wohl Dinge, über die man nicht sprach. Der Mord Vannonis an seiner Frau hatte anfangs nicht dazu gehört. Er hatte das Dorf erschüttert, war über Monate hinweg Hauptgesprächsthema gewesen, Fraktionen pro und contra Vannoni hatten sich gebildet. Als der Prozeß abgeschlossen war, hatte man das Urteil noch heftig diskutiert, doch irgendwann hatte man genug. Hagelstürme kamen, Mißernten und Lotteriegewinne, Todesfälle, Geburten, Dorffeste. Das Leben ging weiter, doch Vannoni, der irgendwo weit weg in einer Zelle saß, gehörte nicht mehr dazu.
Ab und zu, immer seltener, waren Elena und Angelo Sgreccia noch gefragt worden, wie es ihm denn gehe, doch eigentlich wollte es niemand wissen. Seine Existenz hatte für das Dorf in einer Bluttat geendet, die immer ferner rückte und immer unwirklicher wurde. Er selbst war ein Schatten geworden. Grau, fern. Und unangenehm. Wie ein Todkranker, der sich weigerte zu sterben. Also hatte man versucht, ihn zu vergessen. Also hatte man nicht über ihn gesprochen. Mußte man sich jetzt dafür schämen? Sollte man Vannoni ankreiden, daß er von den Toten auferstanden war? War diese alte Geschichte denn immer noch nicht vorbei?
»Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit«, sagte Angelo Sgreccia. Auch für ihn waren fünfzehn Jahre vergangen. Bei Elena und Sgreccia, die keine eigenen Kinder hatten, war Vannonis Tochter Catia damals untergekommen. Sie hatten sie aufgezogen, so gut es eben ging. Sie hatten sie aufwachsen sehen. Fünfzehn Jahre lang. Catia war ihr Kind geworden. Sie liebten sie, und daß sie schwierig war und immer verschlossen blieb, hatte daran nichts geändert.
»Dafür, daß er seine Frau umgebracht hat, sind fünfzehn Jahre gar nichts«, sagte Ivan. »Heutzutage lebst du im Knast wie ein König. Drei feste Mahlzeiten, viel Ruhe, Sportmöglichkeiten. Du kannst am Sonntag in die Messe gehen, kannst irgendwelche Kurse besuchen und hast sogar einen Fernseher.«
»Ich bin gespannt, was er jetzt unternimmt«, sagte Franco Marcantoni.
»Arbeit wird er nicht so schnell finden«, sagte Paolo Garzone.
»Das meinte ich nicht«, sagte Marcantoni. Mit seiner knochigen Hand goß er sich ein halbes Glas Wein mit Sprite auf.
»Ich an seiner Stelle ...« Ivan brach mitten im Satz ab. Um die Ecke der Kapelle bog Giorgio Lucarelli. Er nickte den Frauen am Eingang der Bar zu und zwickte die quengelige Paty liebevoll in die Wange. Dann schlenderte er langsam auf den Tisch zu, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. Er verhielt sich keinen Deut anders als sonst, aber diesmal schien es den anderen, als habe soeben ein Schauspieler die Bühne betreten.
»Habe ich einen Durst!« sagte er. In sein Gesicht hatten Sonne und jahrelange Feldarbeit Furchen gezogen. Noch immer sah er gut aus, zäh, drahtig, doch auch ihm begann man seine vierzig Jahre anzumerken.
Paolo Garzone schenkte ein Glas ein und schob es quer über den Tisch.
»Und? Was gibt es Neues?« fragte Lucarelli.
Neu war, daß Vannoni zurückgekehrt war. Das konnte Lucarelli nicht entgangen sein. Und hatte nicht Vannoni beim Prozeß unumwunden zugegeben, daß er auch ihn erschossen hätte, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte? Jetzt hatte er die Gelegenheit.
»Wir sprachen gerade über ...«, sagte Paolo Garzone zögernd.
»... über die Vipern«, fiel Ivan ein. »Unten bei Madonna del Piano hat es einen Hund von Luigi dem Schäfer erwischt. Der Hund steckt die Schnauze ins Gebüsch, und zack! Eine rabenschwarze Viper, gar nicht mal groß.«
»Das ist die Gluthitze«, sagte Marcantoni, »die macht sie aggressiv.«
»Und giftiger«, sagte Sgreccia. »Die sind wie aufgeladen. Vom Kopf bis zur Schwanzspitze pures Gift, nichts als Gift.«
Wenn er ein anderes Gesprächsthema erwartet hatte, ließ es sich Lucarelli nicht anmerken. Und doch mußte er spüren, daß die anderen ihm auswichen, sei es aus Rücksichtnahme, sei es aus Unsicherheit. Lucarelli kippte den Wein hinunter und griff nach der Flasche. Sie war leer.
»Luigi hat den Hund sofort ins Auto gepackt. Nicht einmal eine Viertelstunde hat es gedauert, bis er die Spritze bekommen hat, aber es war nichts mehr zu machen«, sagte Ivan.
»Ich bin jetzt über siebzig Jahre alt«, sagte Marcantoni, »aber so schlimm wie heuer war es noch nie. Die sind überall. Unter jedem Stein eine Viper. Man könnte glauben, die Erde selbst speie Gift.«
Lucarelli stand auf und sagte: »Ich gehe. Habe Besseres zu tun, als mir euer Geschwätz über Schlangen anzuhören. Als ob die Welt unterginge, bloß weil ein Hund verreckt ist.«
Er warf zwei Tausend-Lire-Scheine auf den Tisch und verschwand.
Ivan steckte das Geld ein und sagte: »Giorgio ist heute nicht gut drauf.«
»Gar nicht gut«, sagte Paolo Garzone.
»Mmh«, sagte der alte Marcantoni.
»Im vierten Monat?« fragte Matteo Vannoni entgeistert. »Warum hast du mir nicht geschrieben?«
»Ich sage es dir ja jetzt«, sagte Catia. Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Man sah noch nichts.
»Herrgott im Himmel, du bist siebzehn!« sagte Vannoni.
Catia sagte nichts. Sie starrte auf den Fernseher. Dort lief das »Telegiornale«. Die Bilder zeigten eine ausgebrannte Limousine hinter einer Polizeisperre. Der x-te Bombenanschlag auf einen Richter in Palermo. Die Bilder waren in Farbe, doch sonst glichen sie zum Verwechseln denen, die seit fünfzehn Jahren immer wieder in Vannoni abliefen. Ein Schlachtfeld, in das die Polizisten wie Geier eingefallen waren.
»Und?« fragte Vannoni. Vielleicht sah man doch schon etwas. Catia hatte ihn die letzten beiden Jahre nicht besucht. Er wußte nicht, ob seine Tochter vor vier Monaten schlanker gewesen war.
»Und was?«
Vannoni hatte Catia fünfzehn Jahre lang nicht besucht. Er hatte kein Recht, jetzt an die Decke zu gehen.
»Und wie ist es dazu gekommen?« fragte er.
»Du weißt nicht, woher die kleinen Kinder kommen?« fragte Catia. Sie sah den flimmernden Bildern zu. Ihr Gesicht war weich, die Augenbrauen dicht, die Nase vielleicht etwas zu groß. Auch sie hatte blondes Haar, doch sonst glich sie Maria nicht.
»Wer ist der Vater?« fragte Vannoni.
Catia starrte auf das Fernsehbild, durch das eine Bahre geschoben wurde. Der Körper darauf war von einer Plane bedeckt. Als Vannoni das letzte Mal in Freiheit ferngesehen hatte, waren es fünf gewesen. Fünf Körper, fünf Bahren, fünf Planen.
»Wer? Wer ist der Vater?« fragte Vannoni.
Ein Politikergesicht in Großaufnahme sagte, daß das Attentat ein Anschlag auf den demokratischen Rechtsstaat gewesen sei.
»Dann ist er jetzt tot«, sagte Catia.
»Wer?«
»Der demokratische Rechtsstaat.«
Gut fünfzig Meter hangabwärts stand eine Gruppe von Ölbäumen. Es waren knorrige Stämme, aus denen ein paar Zweige mickrigen Grüns sprossen. Giorgio Lucarelli stapfte über die Gerstenstoppeln auf die Gruppe zu. Schon um elf Uhr vormittags glühte der Boden unter seinen Arbeitsschuhen. Die Luft flimmerte, und die Häuser von San Pietro schienen wie eine Fata Morgana über dem Hügelkamm im Süden zu schweben.
Im »Corriere Adriatico« hatten sie einen neuen Hitzerekord vorhergesagt. Und kein Tropfen Regen in Aussicht. Immerhin war die Gerste eingefahren. Der Weizen brauchte nur noch ein paar Tage, der würde es schaffen. Dann würde man weitersehen. Irgendwie ging es immer. Das dauernde Gejammere der anderen hatte Lucarelli noch nie ertragen können. Regnete es ein paar Tage nicht, sahen sie die Ernte vertrocknet, regnete es dagegen, sahen sie die Äcker davonschwimmen.
Lucarelli erreichte den ersten Olivenstamm. Der neu gepfropfte Trieb war gut angegangen. Drei Jahre würde es dauern, bis der Baum wieder trug, dann aber große, fleischige Eßoliven statt der kleinen, die fast nur aus Kern bestanden. Lucarelli klappte das Messer auf und begann die Austriebe unten am Stamm zu entfernen.
Auch bei der Sache mit Vannoni übertrieben die Leute. Sie hatten am Abend zuvor das Thema vermieden, solange er dabei war, aber Lucarelli hatte genau gespürt, daß sie felsenfest von einer bevorstehenden Katastrophe überzeugt waren. Als ob einer den anderen umbringen müßte, um selbst weiterleben zu können. Stellten sie sich ein Duell auf der Piazza vor wie in einem amerikanischen Western? Wie er, Giorgio Lucarelli, bewegungslos vor dem Palazzo Civico wartet. Aus der Gasse, die von der Kirche herabführt, hört man schwere Schritte. Matteo Vannoni tritt aus dem Schatten auf der anderen Seite der Piazza heraus und bleibt in zwanzig Schritt Entfernung stehen. Die Mienen beider sind regungslos. Ein Kind wird von der Mutter in einen Hauseingang gezerrt, die Fensterläden schlagen zu ...
Es war lachhaft. Lucarelli ging zum nächsten Baum und prüfte mit ruhiger Hand den Trieb. Vannoni und er würden nicht die besten Freunde werden, aber das mußte ja auch nicht sein. Sie würden sich aus dem Weg gehen, doch wenn sie sich begegneten, würden sie auch ein paar belanglose Worte wechseln können. Vannoni hatte Zeit genug gehabt nachzudenken. Damals war er einfach durchgedreht, das konnte Lucarelli nachvollziehen. Vielleicht wäre es ihm genauso gegangen, wenn er einen anderen mit Antonietta im Bett erwischt hätte. Aber nach fünfzehn Jahren aus dem Knast zu kommen, nur um einen zweiten Mord zu begehen und wieder – und diesmal wirklich für immer – einzufahren, so dumm konnte Vannoni nicht sein.
Alle Triebe hatten prächtig angeschlagen. Lucarelli würde die Bäume wässern, wenn die Trockenheit anhielt. Egal, ob es die Gemeinde verboten hatte. Er steckte das Messer ein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte sich auf den Rückweg. Hangaufwärts.
Er hielt auf das verfallene Rustico zu, in dem der alte Godi gewohnt hatte. Der mußte auch schon zwanzig Jahre tot sein. Er war im Winter gestorben, allein, hatte nie mit irgend jemandem etwas zu tun haben wollen. Die Leiche war ein paar Tage herumgelegen und wäre vielleicht noch viel länger unentdeckt geblieben, wenn nicht Giorgios Vater Carlo die Tiere hätte brüllen hören. Ein Pferd, zwei Kühe und ein paar Schafe, die seit Tagen ohne Wasser und Futter im Stall eingesperrt waren. Furchterregend sei das Gebrüll gewesen, hatte sein Vater erzählt, und dann sei er hineingegangen und habe den alten Godi tot vor dem Waschbecken gefunden. Er habe die Tiere versorgt, das Pferd angespannt und Godis Leiche zum Pfarrer gefahren. Nein, es mußte schon mindestens fünfundzwanzig Jahre her sein. Giorgio war als Ministrant bei der Beerdigung dabeigewesen.
Die noch aufrechten Mauern des Hauses waren mannshoch von Dornengestrüpp überwachsen. Godis Erben wohnten irgendwo im Norden und ließen alles verkommen. Nicht ein einziges Mal waren sie hiergewesen. Die Obstbäume hatten die Lucarellis frei gehalten und geschnitten, erst Carlo und seit ein paar Jahren Giorgio. Mandeln, Pfirsiche und der weit ausladende Maulbeerbaum, in dessen Schatten Giorgio Lucarelli seine Wasserflasche abgestellt hatte. Er setzte sich auf den alten Hackstock vor dem Stamm und lehnte sich zurück. Die Wasserflasche stand links an einem Bruchstein. Lucarelli griff danach, umfaßte den Hals der Flasche, spürte durch das Plastik, daß das Wasser trotz des Schattens zu warm geworden war, dachte noch, daß ein kühles Bier jetzt ... und hörte das Zischen.
Ein leises, kurzes Zischen in nächster Nähe. Ein bedrohliches einsilbiges Zischen, das wie »Halt!« klang. Lucarellis Finger erstarrten um den Flaschenhals. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er den Blick nach schräg unten wandern. Der Kopf der Viper war keine zehn Zentimeter von seinem Handgelenk entfernt. Es war ein dreieckiger schwarzer Kopf, genauso bewegungslos wie der schwarze Rumpf. Nur die Schwanzspitze zuckte nervös.
Lucarelli rührte sich nicht. Er konzentrierte sich darauf, leise und regelmäßig zu atmen. Wenn er nicht die Nerven verlor, würde nichts passieren. Vipern schlugen zu, wenn sie überrascht oder bedroht wurden. Wenn zum Beispiel eine Hand unvermittelt auf sie zufuhr. Den heikelsten Moment hatte Lucarelli schon überstanden. Jetzt hieß es nur zu warten, bis die Schlange sich sicher genug fühlte, um abzuhauen. Nur keine unbedachte Bewegung!
Die Viper rührte sich nicht. Als wäre sie festgenagelt.
Hau jetzt ab! dachte Lucarelli. Hau ab! Er spürte die Plastikflasche unterm Schweiß seiner Hand glitschig werden.
Der Kopf der Viper schwenkte ein wenig zur Seite. So, als suche sie sich den besten Winkel, um ihre Giftzähne in Lucarellis Handgelenk schlagen zu können. Die Viper zischte dreimal. Kurz, verkniffen. Es klang wie ein höhnisches Auflachen. Dann stand der Kopf wieder still. Lucarelli sah jetzt ihre Augen. Sie blickten kalt.
Lucarelli fühlte einen Schweißtropfen von seiner Stirn herabrinnen. An der Nasenwurzel blieb er stehen. Die Spur, die er hinterlassen hatte, schien sich in die Haut einzubrennen. Lucarelli spürte ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, mit der Hand darüberzuwischen.
Und wenn die Viper zubiß? Er würde notdürftig abbinden. In zwanzig Minuten wäre er oben im Dorf, dann eine Viertelstunde mit dem Wagen bis zu Terracinis Praxis in San Lorenzo, oder gleich ins Krankenhaus nach Pergola. Dort hatten sie das Gegengift auf jeden Fall. In einer guten halben Stunde wäre er versorgt. Am Abend würde er die Geschichte lachend in der Bar erzählen. Es war alles halb so schlimm.
Die Viper rührte sich nicht.
Giorgio Lucarelli rührte sich nicht.
Was willst du eigentlich von mir? dachte er.
Die Augen der Viper blickten starr. Die Viper war schwarz wie der Tod.
Sag es mir! dachte Lucarelli. Los! Sprich mit mir, verdammtes Vieh! Sag mir, was du eigentlich von mir willst!
Die Viper züngelte schnell. Ihr Maul schien sich dafür gar nicht zu öffnen, doch Lucarelli sah klar und deutlich die gespaltene Zunge. Wie sie herausschoß und wieder zurückfuhr. Als hätte sie eine Verwünschung ausgespuckt.
Was? dachte Lucarelli. Was hast du gesagt?
Die Viper bewegte keinen Muskel. Sie wartete. Sie hatte Lucarelli etwas gesagt, und nun wartete sie auf eine Antwort. Plötzlich war er sich sicher, daß er jetzt den Mund aufmachen mußte. Erst wenn er mit ihr sprach, würde sie sich davonmachen.
Gut, dachte Lucarelli.
Was willst du hören? dachte er. Er würde irgend etwas sagen. Sie würden keine Freunde werden, die Viper und er, aber das mußte ja auch nicht sein. Lucarelli konnte mit jedem ein paar Worte wechseln. Warum nicht auch mit einer Schlange?
»Gut«, murmelte er, »ich werde jetzt meine Hand von der Flasche nehmen.
Ich werde sie langsam zurückziehen«, sagte er leise, »und du wirst dich nicht rühren.«
Die Viper rührte sich nicht.
Gut. Lucarelli hob erst den Zeigefinger an. Der Finger zitterte ein wenig. Die Viper sah zu. Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger. Die Handfläche löste sich mit einem leisen Schmatzen vom Plastik. Die Viper brummte. Lucarellis Hand erstarrte in der Bewegung.
Ruhig! dachte er. Es ist nichts, dachte er. Er sah den Abdruck seiner Hand, der auf der Plastikflasche von den Rändern her schmolz.
Die Viper brummte.
Und schepperte.
Sie brummte und schepperte wie ein altes Auto, das über den Feldweg auf die Ruine von Godis Haus zuholperte.
Lucarelli machte keine ruckartige Bewegung. Er drehte nicht einmal den Kopf. Es war nur sein Blick, der unwillkürlich nach rechts schweifte. Dem Geräusch des sich nähernden Wagens entgegen. Ein kurzer Schwenk der Augen, die sofort wieder zurückschnellten, als ein heißer Stich durch Lucarelli fuhr. Eher ungläubig als erschrocken weiteten sich seine Pupillen, als sie die Viper in seinen Unterarm verbissen sahen, den Kiefer weit aufgesperrt, den dreieckigen Kopf so tief in seine Haut gegraben, daß er wie ein Tattoo aussah, den Rumpf steif und gestreckt wie ein Stock, wie eine seltsame schwarze Spritze, die unerbittlich ihr schwarzes Gift in Lucarellis Blutbahn drückte.
Es dauerte nur einen Augenaufschlag, bis die Viper losließ, doch Lucarelli bekam sie mit der linken Hand zu fassen. Er schrie nicht auf, sprang nicht in Panik hoch, er sah die Viper, er sah seinen Arm und fühlte sich verraten. Er hatte gedacht, sie hätten sich geeinigt, die Viper und er, doch er hatte sich getäuscht. Sie hatte ihn getäuscht. Ruhig beugte Lucarelli den Oberkörper nach unten, setzte den rechten Fuß knapp hinter den Kopf der Viper, legte alle Kraft in den Druck des genagelten Absatzes. Der Schwanz der Viper schlug noch zweimal, dann war Schluß. Sie war tot. Es war vorbei.
»Heimtückisches Vieh«, sagte Lucarelli. Er besah sich seinen Unterarm. Die Abdrücke der Giftzähne waren deutlich zu erkennen. Aus einem quoll langsam ein Blutstropfen. Die Bißstelle schmerzte nicht mehr als ein Wespenstich, aber Lucarelli glaubte zu spüren, wie das Gift durch seine Adern strömte.
Er zog das Hemd über den Kopf, bohrte sein Messer durch den Stoff, zog an und riß einen Streifen heraus. Er schlang ihn um den Arm oberhalb der Bißstelle. Mit der linken Hand und den Zähnen zog er zu, so fest er konnte.
Hinter Godis Haus erstarb der Motor des verfluchten Autos, das ihn abgelenkt hatte. Lucarelli hörte, wie die Wagentür sich öffnete und wieder zuschlug. Immerhin konnte er sich den Fußweg ins Dorf sparen. Er würde sich ins Krankenhaus bringen lassen, und in spätestens zwanzig Minuten würden sie ihm das Gegengift spritzen. Mit der linken Hand schraubte Lucarelli die Wasserflasche auf. Er nahm einen tiefen Schluck.
Lucarelli hörte stapfende Schritte. Er wandte sich um und sah eine Gestalt durch Disteln und Brombeergestrüpp auf sich zukommen.
»Du?« fragte er.
Gegen dreizehn Uhr war das Risotto fertig. Bis dreizehn Uhr dreißig warteten die Lucarellis, dann entschied Antonietta, daß es genug sei. Ihr Mann erschien öfter mal zu spät zum Mittagessen, weil er angeblich irgendwelche Freunde getroffen habe. Ihr war es egal, solange sich Giorgio sein Essen selbst aufwärmte. Sie saßen zu fünft um den Tisch, Antonietta, die beiden Mädchen und die Schwiegereltern.
Um vierzehn Uhr dreißig räumte Antonietta den Teller, den sie für ihren Mann bereitgestellt hatte, in den Geschirrschrank zurück. Sie deckte den Topf mit dem Rest des Risottos ab und stellte ihn in den Kühlschrank. Dann ging sie ins Schlafzimmer und zog sich aus. Sie legte sich auf das Leintuch. Entlang eines Risses an der Zimmerdecke bröckelte der Putz ab. Giorgio mußte mal darüberspachteln. Es war stickig heiß. Antonietta konnte nicht einschlafen und stand um fünfzehn Uhr fünfzehn wieder auf. Die Schwiegereltern dösten irgendwo, und die beiden Mädchen stritten im Wohnzimmer. Es ging darum, ob man die neue Schallplatte von Laura Pausini mehr als dreimal hintereinander anhören dürfe. Giorgio war noch nicht da.
Es war zu heiß, um im Garten zu arbeiten. Antonietta fegte die Küche. Irgendwann kam Lidia Marcantoni vorbei und fragte, ob sie jemanden wüßte, der sonntags ab und zu die Orgel in der Kirche spielen würde. Dann wusch Antonietta Aprikosen und entsteinte sie. Sie wog Zucker ab und begann Marmelade einzukochen. Sie wurde immer sicherer, daß etwas nicht stimmte. Um siebzehn Uhr schickte sie ihre ältere Tochter Sabrina los, um nach Giorgio zu suchen. Sie sollte bei den gepfropften Ölbäumen beginnen, obwohl Antonietta bewußt war, daß Giorgio dort höchstens eine halbe Stunde zu tun gehabt hatte. Kurz vor halb sieben war Sabrina unverrichteterdinge wieder da.
Antonietta band die Schürze ab und fragte in der Bar nach. Ivan hatte Giorgio den ganzen Tag noch nicht gesehen. Als Antonietta zurück war und gerade den Fliegenvorhang vor der Tür zur Seite schob, bog Paolo Garzones Lieferwagen in die Piazza ein. Paolo hatte das Fenster ganz nach unten gekurbelt und rief Antonietta an. Seine Stimme klang nicht anders als sonst, doch Antonietta wußte sofort, was los war. Sie spürte es.
Die letzten Jahre hatten sie mehr oder weniger gut nebeneinanderher gelebt, sie und Giorgio. Da waren die Kinder, da war die Arbeit, der Alltag, sie hatten ab und zu gestritten, da war alles mögliche gewesen, was plötzlich völlig unwichtig erschien. Ganz von selbst verblaßten die letzten Jahre, zerfielen zu Staub und waren wie weggeblasen von der Abendbrise auf Capri, wo sie barfuß am Strand entlanggegangen waren und zusammen geschwiegen hatten. Glühendrot war die Sonne versunken und hatte dem Meer die glatte Haut eingefärbt. Antonietta hatte Muscheln gesammelt – es gab schöne Muscheln auf Capri, rote, schwarze, orangefarbene, sanft marmorierte im Perlmuttglanz –, und wenn sie eine besonders schöne gefunden hatte, hatte sie sie Giorgio gezeigt und sich dabei leicht an ihn gelehnt, und er hatte sie in den Arm genommen, und sie, sie war glücklich gewesen.
Paolo parkte den Wagen vor der Anschlagtafel der Gemeinde und stieg aus.
Capri war ein wunderbares Fleckchen Erde. Besonders für die Flitterwochen. Eigentlich war es nur eine Woche gewesen. Das bedauerte Antonietta mehr als alles andere. Sie hätten sich wenigstens zwei Wochen gönnen sollen. Damals.
Antonietta spürte Paolos Hand sanft an ihrem Oberarm.
»Antonietta ...«, sagte Paolo mit rauher Stimme. Er sah sie verlegen an.
»Komm, setz dich irgendwo hin!« sagte er.
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Paolo zog seine Hand von ihrem Arm zurück. Er nahm die Kappe ab.
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll«, sagte er. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf den Briefkasten, der an der Wand der ehemaligen Schule befestigt war. Das rote Blech leuchtete in der Abendsonne.
»Giorgio ist tot«, sagte Antonietta. Sie wußte nicht, ob in Giorgios letzten Sekunden noch einmal das ganze Leben vor seinen Augen abgelaufen war. Sie sah auf jeden Fall die Bilder aus ihren glücklichen Tagen vor sich, als wäre es gestern gewesen. Wie Giorgio sich stolz aufrichtete, als er nach Sabrinas Geburt den Olivenbaum gepflanzt hatte. Wie er ihr den viel zu teuren Diamantring an den Finger steckte, als er in der Lotterie gewonnen hatte. Wie er sie bei der Festa di San Lorenzo zum erstenmal zum Tanz aufgefordert hatte. Zu einem langsamen Walzer, bei dem er ihr zweimal auf die Füße getreten war. Giorgio war ein miserabler Tänzer gewesen. Antonietta lächelte.
»Es tut mir so leid«, brummte Paolo. Er zerknautschte die Stoffkappe zwischen seinen mächtigen Händen.
»Danke«, sagte Antonietta. Ihre Stimme klang falsch, tonlos, unbewegt. Es war ihr, als spräche jemand anderer.
»Er ist ...«
»Fahr mich hin!« sagte Antonietta. Sie wollte nicht wissen, wie es passiert war. Nicht jetzt.
Paolo Garzone nickte.
»Gib mir nur ein paar Minuten!« sagte Antonietta.
»Kann ich dir irgendwie ...?« fragte Paolo. Antonietta ließ ihn stehen und ging ins Haus. Am Tisch saß ihr Schwiegervater Carlo über die Zeitung gebeugt. Antonietta konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Mit niemandem wollte sie jetzt sprechen.
»Giorgio ist tot«, sagte sie und huschte die Treppe hoch. Aus dem Schlafzimmerschrank holte sie ihre schwarze Bluse und einen schwarzen Rock. Sie zog sich um und setzte sich einen Augenblick aufs Bett, weil ihr vor den Augen flimmerte. Das Licht bricht in Stücke, das Licht bricht in Stücke, flüsterte eine fremde Stimme in ihr, doch Antonietta hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußte zu Giorgio, mußte ihn sehen. Sofort. Sie stand auf, lief zur Schlafzimmertür, drehte noch einmal um und riß die oberste Schublade der Kommode auf. Sie steckte den Diamantring, den Giorgio ihr geschenkt hatte, an den Mittelfinger. Neben den Ehering.
Am Fuß der Treppe stand Carlo. Antoniettas Blick streifte ihn nur kurz, doch sie wußte, daß er begriffen hatte.
»Was hast du gesagt?« fragte Carlo Lucarelli tonlos.
»Kümmert euch um die Mädchen!« sagte Antonietta. Sie drückte sich an ihm vorbei. Draußen wischte Paolo mit einem Lappen an der staubigen Scheibe seines Lieferwagens herum. Das Abendrot färbte den Himmel blutig. Paolo warf den Lappen ins Wageninnere und lief um den Kühler zur anderen Seite. Antonietta zuckte nicht, als aus dem Haus ein langer, gellender Schrei drang, der in einem tiefen, fast tierischen Gurgeln erstarb. Sie erkannte die Stimme von Giorgios Mutter Assunta erst, als ein an- und abschwellender Klagegesang einsetzte.
»Danke«, sagte Antonietta, als Paolo ihr die Beifahrertür aufhielt.
»Antonietta«, sagte Paolo, »es ist vielleicht nicht der richtige Moment, aber ich muß dir einfach sagen, daß ich dich von ganzem Herzen bewundere. Wie du das alles wegsteckst!«
»Fahr los!« sagte sie.
Selig, wer nie im Leben vom Fluch gekostet!
denn wo Gott ein Haus erschütterte, schwillt ihm
unablässig durch alle Geschlechter Unheil.
Sophokles: Antigone, Verse 583–585
Die Nachricht vom Tod Giorgio Lucarellis verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Jeder Tod war ein Unglück, doch es war ein Unterschied, ob ein Achtzigjähriger friedlich im Bett verschied oder ob ein Mann in den besten Jahren an einem Vipernbiß krepierte. Niemand konnte sich an einen ähnlichen Vorfall erinnern. Nur Costanza Marcantoni behauptete, daß es lange vor dem Krieg in San Vito einen Fünfundzwanzigjährigen auf die gleiche Weise erwischt habe. Und das sei nur der Anfang einer Serie von Unglücksfällen gewesen, die über das Dorf auf der gegenüberliegenden Hügelkette hereingebrochen wäre.
»Ein schlechtes Omen«, murmelte Costanza Marcantoni kopfschüttelnd vor sich hin.
Wenn ihr auch niemand Gehör schenken wollte, so gab es doch manch einen, der neben der Bestürzung über den Tod Lucarellis auch Unbehagen, ja einen Anflug von Schauder fühlte, weil der Vorfall in seiner Banalität so unbegreiflich schien. Sicher, die Vipern waren dieses Jahr besonders gefährlich, doch ein starker, gesunder Mann wie Giorgio Lucarelli starb nicht so schnell an einem Schlangenbiß.
Immer wieder wurde nachgefragt, und immer wieder schilderte Paolo Garzone, wie er Lucarelli gefunden hatte, den Biß am Unterarm abgebunden, eine verkrustete Platzwunde am Kopf, der ganze Körper verkrampft, kein Atem, kein Puls, nichts, er sei schon kalt geworden. Am Waldrand habe er gelegen, kurz vor der kleinen Brücke, ein paar Schritte vom Feldweg entfernt, der zu dem verlassenen Gehöft führte, in dem früher Milena Angiolinis Großonkel gewohnt habe. Garzone sei nach der Arbeit dorthin