Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
ISBN 978-3-492-99194-0
© Steffen Möller, 2008
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas nach einem Entwurf von Hißmann, Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: © Martin Pudenz
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Vorwort zur Neuausgabe 2018
Dieses Buch hat mein Leben verändert!
Peinlich, wenn es der Autor selbst sagt, aber zehn Jahre später darf man ja vielleicht mal ein bisschen Dankbarkeit zeigen. Kaum war »Viva Polonia« 2008 erschienen, flatterten diverse Einladungen zu Auftritten und Talkshows in Deutschland herein, außerdem bekam ich viele Lesermails mit Kritik, Lob und Ergänzungen. Wer hätte gedacht, dass sich so viele Leute für Polen interessieren? Bis dahin war ich nur in Polen unterwegs gewesen, nun durfte ich plötzlich auch die Kabarettkeller und Kulturzentren zwischen Schleswig und Freiburg kennenlernen. Einen luftigen Höhepunkt stellte die Europameisterschaft 2012 dar, als ich in einem Jumbo-Jet vor der deutschen Nationalmannschaft auftrat. Manager Oliver Bierhoff hatte von seinem polnischen Masseur erfahren, dass es da einen Wuppertaler gebe – und so flog ich mit dem Team von Frankfurt nach Danzig und rezitierte über das plärrende Bordmikro den Zungenbrecher »W Szczebrzeszynie chrząszcz brzmi w trzcinie«. Das deprimierte einige Spieler anscheinend so sehr, dass sie sich sofort Kopfhörer aufs Ohr setzten. Die Niederlage im Halbfinale gegen Italien nehme ich deshalb voll und ganz auf meine Kappe.
Einiges musste aktualisiert, gestrichen oder umgeschrieben werden, denn wie nicht anders zu erwarten, hat Polen sich in den letzten Jahren verändert. Manche sagen sogar, es habe sich so stark verändert, dass man es kaum wiedererkennt. 2015 ist es zu einem Regierungswechsel gekommen, der ein regelrechter Systemwechsel war. Es begann mit einer äußerst umstrittenen Reform des Verfassungsgerichts und ging bis zur Neuausrichtung von Schulwesen, Kultur-, Sozial- und Außenpolitik. Die meisten Reformen wurden mit einem solchen Tempo und einer so aggressiven Rhetorik durchgepeitscht, dass die Gesellschaft seither tief gespalten ist. In jedem Lehrerzimmer, in jeder Familie gibt es Kollegen, Freunde oder Verwandte, die aus politischen Gründen nicht mehr miteinander reden. Es ist schwer, ja fast unmöglich geworden, keine Stellung zu beziehen. Das betrifft sogar mein harmloses Buch, das eigentlich völlig unpolitisch war. Eine Leserin wies mich kürzlich darauf hin, dass der Titel »Viva Polonia« im Grunde wie der ideale Wahlslogan der neuen PiS-Administration klinge. Das war mir nun wirklich noch nicht aufgefallen.
Deswegen beeile ich mich, an dieser Stelle meine allerneueste Erkenntnis mitzuteilen: Polen ist toll, ja richtig – aber keineswegs so einzigartig, wie ich früher dachte. Eigentlich ist es sogar ein sehr normales Land, jedenfalls im Weltmaßstab. Das hört die neue Regierung vielleicht nicht gern, aber es ging mir auf, als nach irgendeinem Auftritt ein junger Brasilianer zu mir kam und sagte: »Alles, was Sie über Polen gesagt haben, trifft auch auf Brasilien zu!« Ich fragte ihn, was er meine, und es stellte sich heraus, dass er starke Ähnlichkeiten beim Verhältnis der Bürger zu Staat, Straßenverkehrsordnung, Gesetzen und Steuern sah, aber auch zu Familie, Kindern, Festen, Humor und Liebe. Das Gleiche wiederholte sich bei einem Auftritt an der Krakauer Universität. Diesmal meldete sich eine Türkin und sagte: »Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass Sie von der Türkei sprechen!« Ein anwesender Italiener pflichtete ihr bei: »Auch in Italien ist es unmöglich, offene Kritik zu üben, auch bei uns ist die Hierarchie zwischen Studenten und Professoren sehr stark …«
Es scheint tatsächlich so zu sein: Polen ähnelt mentalitätsmäßig vielen anderen Ländern. Nicht die Polen, sondern wir Deutschen haben eine exotische Mentalität, vermutlich auf protestantische und preußische Einflüsse zurückzuführen. Nur auf deutschen Straßen habe ich zum Beispiel gesehen, wie Hunderte von Autos brav in einem endlosen Stau warten, während nebenan die Busspur völlig frei ist; nur in deutschen Städten werden Fußgänger, die sich aus Versehen auf einen Fahrradweg verirren, von den stolz heranrauschenden Zweiradbesitzern zur Schnecke gemacht. Eine ähnlich aggressive Einhaltung von durchgezogenen Linien und Vorschriften aller Art, verbunden mit einer beklagenswerten Sterilität des emotionalen Lebens, habe ich sonst nur in der Schweiz, England und Japan konstatiert. Wie wäre es, wenn diese Länder bei der UNO in New York eine gemeinsame Vertretung einrichten, am besten unter dem Namen »Exotic Countries«? Alle könnten viel Geld sparen.
Und noch ein weiteres peinliches Geständnis: Der Titel »Viva Polonia« war zweifellos ein Volltreffer und hat viel zum Erfolg des Buches beigetragen. Doch er stammte gar nicht von mir. Eine findige Mitarbeiterin meines damaligen Verlages hatte ihn sich ausgedacht, und das Allerpeinlichste: Ich verstand zunächst nicht einmal die Anspielung, die dahintersteckte. Wie sollte ich auch? Ich komme aus Wuppertal, und »Viva Colonia« ist ein populärer Karnevalssong der Kölner Band »Höhner«. Wuppertal und Köln sind aber mehr als fünfzig Kilometer voneinander entfernt! Genauso wie mir erging es natürlich auch meinen polnischen Lesern, die weder den Wuppertaler, noch den Kölner Karneval kennen. Damit zumindest heute, zehn Jahre später, wirklich alle Leser auf denselben Wissensstand kommen, zitiere ich hier den Refrain von »Viva Colonia«:
Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust.
Wir glauben an den lieben Gott und hab’n noch immer Durst.
Das ist ein Zitat von zeitloser Aktualität, nicht nur in Köln, sondern auch in Polen. Hoffentlich bleiben auch meine eigenen Texte so aktuell! Für die nächsten zwanzig bis fünfzig Jahre bezweifle ich es eigentlich nicht. Polen mag sich verändert haben – doch so ganz anders ist es zum Glück immer noch nicht. Nicht einmal die neue Regierung ist in der Lage, die polnische Mentalität komplett umzumodeln, ganz im Gegenteil: Die blühende Fantasie der gegenwärtigen PiS-Administration kann man vielleicht erst dann vollumfänglich verstehen, wenn man das Kapitel »Ulanenphantasie« gelesen hat …
Auch weiterhin freue ich mich über Mail-Zuschriften, sei es lobend oder kritisch. Meine Adresse lautet unverändert: info@steffen.pl
Warschau, im Mai 2018
Meine Hobbys
Als Kind habe ich eine Zeit lang Briefmarken gesammelt. Obwohl ich die Sache eher halbherzig betrieb, verdanke ich dem damaligen Hobby doch meine erste Begegnung mit Polen. An den wenigen polnischen Marken, die ich ergattern konnte, faszinierte mich nämlich der Aufdruck »Poczta Polska«, zu deutsch: Polnische Post. Der Stabreim ging mir so ein, dass ich stundenlang (und mit falscher Aussprache) vor mich hin sagen konnte: »Potsta polska, potsta polska …«.
Kurze Zeit später stellte ich schon die erste allgemeingültige Behauptung über »die« Polen auf. Es war Anfang der Achtzigerjahre, und ich sah im Fernsehen, wie Wojtek Fibak Tennis spielte und Lech Wałęsa Werften besetzte.
»Alle Polen tragen Schnurrbärte«.
Schon bald musste ich den Satz differenzieren. Der böse General Jaruzelski, der 1981 das Kriegsrecht ausrief, trug nämlich leider keinen Schnurrbart.
Ich reformulierte meine These so: »Alle guten Polen tragen einen Schnurrbart.« Doch auch diese neue Aussage schrie förmlich nach einer weiteren Verfeinerung, da ja auch Papst Johannes Paul II., der so gut Deutsch sprach, keinen Schnurrbart trug.
Ich grübelte lange und fand schließlich eine Lösung:
»Päpste zählen nicht.«
Im vorliegenden Buch mache ich eigentlich genau das Gleiche. Ich stelle Behauptungen über Polen und die Polen auf, deren Grundlage sehr subjektive Beobachtungen sind, aus denen ich höchst allgemeingültig klingende Schlüsse ziehe.
Darf man das?
Keine Ahnung, aber es ist mein aktuelles Hobby. Als Rechtfertigung darf ich höchstens anführen, dass ich ein großer Fan des Landes bin, mehrere Sprachkurse besucht habe und sogar den schwierigsten polnischen Zungenbrecher fehlerfrei herunterbeten kann.
Ach so, und dann lebe ich natürlich seit mehr als zwanzig Jahren in Polen. Zuerst war ich Deutschlehrer an einem Warschauer Gymnasium, danach Sprachlektor an der Warschauer Uni und Schauspieler in einer Telenovela. Heute bin ich Kabarettist und toure kreuz und quer durch das ganze Land. Ich habe die Polen im Zug und im Auto, im Aufzug und auf der Rolltreppe, bei Hochzeiten oder im Urlaub beobachtet, von Rzeszów bis Szczecin, von Augustów bis Bielsko-Biała; ich habe polnische Trinklieder, Flüche, Kultfilmdialoge und Kinderabzählreime auswendig gelernt.
Und wie es Hobby-Ethnologen häufig zu gehen pflegt, bin ich nicht bloß Beobachter geblieben, sondern habe mich meinem Forschungsgegenstand teilweise angeglichen. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich mich selbst schon wie ein Pole verhalte. Ich bin furchtbar abergläubisch geworden, kann dafür aber phantastisch tanzen. Ich interessiere mich brennend für die Geschichte des Mittelalters, besonders für die Schlacht bei Tannenberg 1410, und habe für die Verlierer von damals, die steifen Deutschen, nur noch ein verächtliches Grinsen übrig. Die haben keine Ahnung von Improvisation und müssen sogar einen harmlosen Grillabend schon Wochen im Voraus planen!
Zugegeben: Meine Polonisierung hakt noch da und dort. Irgendwie kann ich mich nicht zum charmanten Handkuss durchringen, und noch nie im Leben habe ich den Nationalsport der Polen betrieben, das Pilzesammeln. Auch fällt es mir schwer, dem polnischen Kultfilm Rejs etwas Komisches abzugewinnen. Und stets und überall fehlt mir unser deutsches Graubrot. Aber das Schöne an Polen ist ja, dass es auch noch für die nächsten tausend Jahre Deutschlands Nachbar sein wird. Da bleibt noch genug Zeit zur weiteren Angleichung.
Nach etwa acht Jahren hatte ich eine kleine Krise. Polen erschien mir bereits viel zu verwestlicht. Ich reiste weiter nach Osten, nach Moskau, Omsk, Nowosibirsk und ins Altaigebirge. Schon nach wenigen Wochen war ich wieder in Warschau. Russland, so erwies sich, war doch etwas ganz anderes, nämlich purer Osten, so wie Paris der pure Westen ist. Und ich wusste nun, was ich an Polen so schätze, nämlich die Tatsache, dass es im Spannungsfeld zwischen Osten und Westen liegt. In solchen Spannungsfeldern, so hörte ich in irgendeiner Flughafen-Lounge raunen, trifft man nicht nur die schönsten Frauen, nein, es kommt auch zu einzigartigen Mentalitätsmischungen. Die Polen mit ihrem absurden Humor und ihrer natürlichen Warmherzigkeit sind ein gutes Beispiel dafür.
Und damit das Wort »Spannungsfeld« nicht so abstrakt bleibt, empfehle ich jedem, am Berliner Hauptbahnhof in den nächsten Eurocity nach Warschau zu steigen. Jeden Tag fahren von dort aus vier Züge gen Osten, die Fahrt dauert sechs Stunden. Vom Speisewagen aus lassen sich die polnischen Spannungsfelder im Breitwandformat bewundern. Vielleicht sitze ich ja auch gerade da und murmle vor mich hin: »Poczta Polska, poczta polska, poczta polska« (heute immerhin schon mit korrekter Aussprache: Potschta polska, potschta polska …). Wer mir dann dieses Buch vor die Nase hält, bekommt von mir einen Krupnik spendiert, einen süßen Kräuterschnaps. Versprochen und na zdrowie!
Wer hätte gedacht, dass der kleine Briefmarkensammler eines Tages direkt neben einem Briefkasten der Poczta Polska telefonieren wird?
Italien
Nie hätte ich gedacht, dass es mich eines Tages nach Polen verschlagen würde. Was weiß ein Wuppertaler schon von Polen? Kaffeefahrten nach Holland – kein Problem. Aber Polen? Das liegt ja noch hinter Berlin!
Es wurde denn auch ein sehr verschlungener Weg zu meinem ersten Kontakt mit leibhaftigen Polen. Er fand – in Italien statt.
Nach dem Zivildienst zog ich nach Berlin um. Das war nicht besonders originell. Man schrieb das Jahr 1990, alle Zwanzigjährigen strömten in die Noch-nicht-Hauptstadt. Ich begann, an der Freien Universität Philosophie und Theologie zu studieren. Sehr bald meldete ich mich für einen Italienischkurs an. Berlin erreicht zu haben schien mir für einen Wuppertaler schon eine akzeptable Leistung – aber nun musste es doch irgendwie weitergehen, in noch exotischere Gefilde. Das konnte nur Italien sein, das schönste Land der Welt.
Ein Jahr lang lernte ich also eifrig Italienisch. Meine Lehrerin, die kleine Elisabetta aus Genua, die einen melancholischen Berliner Philosophen geheiratet hatte, war hocherfreut über meinen Enthusiasmus.
»Stefano, du bist so offen. Man merkt gleich, dass du aus der Provinz kommst. So einer wie du gehört nach Italien. Da wirst du dich wohlfühlen!«
Ich glaubte ihr und fuhr nach Florenz. Dort stellte ich aber zu meinem Kummer fest, dass die Italiener zwar tatsächlich sehr offen und nett sind – für meinereiner allerdings ein bisschen zu sehr. Deutlich bekam ich das bei einem Konzert im berühmten Florentiner Duomo zu spüren. Ein ergreifendes Requiem wurde gespielt, ich lauschte versunken der Musik. Neben mir saß ein wohlerzogener junger Philosophiestudent, mit dem ich vor dem Konzert ein paar Worte gewechselt hatte. Als der letzte Ton sanft verklungen war und ich melancholisch dem Ende alles menschlichen Daseins nachsann, erhob sich um mich herum ein Orkan. Die Leute schrien wie in der Fankurve eines Fußballstadions »Bravi, bravi! Da capo!«. Alle im Gotteshaus versammelten Italiener gerieten außer Rand und Band. Aber das Schlimmste war: Sogar meinen Kollegen von der philosophischen Fakultät riss es vom Holzstuhl hoch.
»Da capo!«, heulte er frenetisch, als hätte Epikur nicht die Ataraxia, den Gleichmut, als höchstes Ideal gepriesen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ein extrovertierter Deutscher aus der Provinz nicht einmal an das Temperament eines italienischen Philosophiestudenten heranreicht. Nein, ich hatte keine Zukunft in diesem Land. Schon am nächsten Tag wollte ich durch die Alpen zurück nach Deutschland trampen.
Zunächst aber musste ich zum Campingplatz am Stadtrand von Florenz zurück. Um in dieser dunklen Stunde meines Lebens irgendwie Gesellschaft zu haben – ich hatte immerhin ein ganzes Jahr mit der falschen Sprache verplempert –, setzte ich mich zu einer Deutschen und ihrem amerikanischen Freund ans Lagerfeuer. Das Mädchen hieß Sabine und kam aus Hamburg. Während ihr Lover mich mit Hemingway und »Wem die Stunde schlägt« nervte, beobachtete sie mich angestrengt.
»Ist was?«, fragte ich sie nach einer Weile.
»Du erinnerst mich ganz stark an jemanden, den ich kenne.«
Plötzlich, als wir gerade Cornedbeef aus der Dose pulten, tippte Sabine sich an die Stirn. »Ich weiß! Du erinnerst mich an den Ex-Freund meiner Schwester. Boah, war das ein Arsch!«
Ich ließ die Dose sinken, wünschte den beiden noch einen schönen Abend und beschloss, mich in mein Zelt zurückzuziehen. Auf dem Weg dorthin kam ich an einer Gruppe junger Leute vorbei, die ebenfalls an einem prasselnden Lagerfeuer saßen. Einige grillten Würstchen, andere sangen, jemand spielte dazu Gitarre. Die Szenerie wirkte weder deutsch noch italienisch. Einem spontanen Impuls folgend, setzte ich mich dazu, einzig hoffend, dass mich an diesem Abend niemand mehr ansprechen würde. Eine Weile lang ging alles gut. Von der Sprache verstand ich kein einziges Wort; hatte nicht einmal Ahnung, ob es sich um eine skandinavische oder eher slawische handelte. Nur ein einziges Wort kam mir bekannt vor, das sich oft wiederholte: »tak«. Während ich noch rätselte, was es bedeuten könnte, bemerkte mich eines der Mädchen, eine sehr attraktive Blondine.
»Do you want a sausage?«
Ich war verwirrt. Ein Würstchen – einem wildfremden Menschen angeboten? Sabine hätte so etwas nie im Leben gemacht.
»Yes …«
Sie gab mir eine frisch gegrillte Wurst, daraufhin nahm ich meinen restlichen Mut zusammen und fragte sie, woher die Gruppe käme.
»From Cracow, Poland.«
Sie seien Kunstgeschichtsstudenten.
»I see! Poland!« Ich brachte erstmals an diesem Abend ein Lächeln zustande. »Can you say me, what means ›tak‹?«
Noch bevor meine neue Bekannte antworten konnte, wurde sie von einem bebrillten Kunstgeschichtsstudenten um die Taille gefasst. »It means ›yes‹.« Er streckte mir die Hand hin. »Hi! I am Grzegorz. Can you say: ›W Szczebrzeszynie chrząszcz brzmi w trzcinie‹?«
»Pardon? We Schebsche … Can you repeat it?«
Wenn der Kerl sich über mich lustig machen wollte, hatte er sein Ziel erreicht. Das Mädchen kicherte und schaute mich erwartungsvoll an.
Heute weiß ich: Der junge Mann hatte keineswegs die Absicht, mich zum Affen zu machen. Er traktierte mich lediglich mit dem bekanntesten polnischen Zungenbrecher, den jeder Ausländer spätestens nach zweiminütiger Bekanntschaft mit einem Polen nachsprechen muss. Er lautet übersetzt: »In Szczebrzeszyn (einer kleinen Stadt in Südostpolen) zirpt ein Käfer im Schilf.«
In jener Nacht wusste ich das aber leider noch nicht. Halb verwirrt, halb verärgert stammelte ich herum und lenkte damit natürlich die Aufmerksamkeit der übrigen Studenten auf mich, die sogar ihr Singen einstellten. Einen Moment lang empfand ich es als genauso grauenvoll wie bei Sabine und ihrem Ami. Doch dann blickte ich in die Gesichter um mich herum und merkte: Ich hatte mich geirrt. Diese Polen lachten mich nicht aus – sie freuten sich einfach nur, dass jemand ihre höllenmäßig schwierige Sprache radebrechte. Als ich im siebzehnten Anlauf endlich eine einigermaßen akzeptable Version hinkriegte, wurde ich mit donnerndem Applaus und einem Kuss von der Blondine belohnt. Ich meine sogar, mich an ein »wonderful« zu erinnern.
Leider habe ich diese Studenten nie wiedergesehen, auch nicht, als ich Jahre später für einige Zeit in Krakau gewohnt habe. Schade. Ich würde mich bei ihnen gerne für meine erste Lektion in polnischer Gastfreundschaft bedanken – und bei dieser Gelegenheit auch den Szczebrzeszyn-Zungenbrecher fehlerfrei runterrattern. Ich habe ihn nämlich auswendig gelernt, nicht nur die ersten zwei Verse, die jeder Pole kann, sondern das gesamte Gedicht von Jan Brzechwa, alle fünfzehn Strophen! Wehe dem Polen, der mich heute unschuldig fragt: »Sprich mal bitte nach: W Szczebrzeszynie chrząszcz brzmi w trzcinie …« Den fege ich ins Schilf, bis er nur noch zirpen kann.
Die beliebtesten polnischen Zungenbrecher
1.W Szczebrzeszynie chrząszcz brzmi w trzcinie – In Szczebrzeszyn (Stadt in Südostpolen) zirpt ein Käfer im Schilf
2.Stół z powyłamywanymi nogami – Ein Tisch mit gebrochenen Beinen
3.Król Karol kupił królowej Karolinie korale koloru koralowego – König Karol kaufte der Königin Karolina ein korallenfarbenes Halsband
4.Szedł Sasza suchą szosa – Sascha ging eine trockene Chaussee entlang
Mensa
Nach dem Fehlschlag mit Florenz hegte ich die Befürchtung, meine Tage in Berlin beschließen zu müssen. Was sollte denn noch kommen für jemanden, der mit Italien fertig war? Welches Land kam da noch in Frage?
Erst ein volles Jahr später, im Oktober 1992, ergab sich die Antwort auf diese Frage. Noch morgens, als ich zur Freien Universität radelte, hatte ich keine Ahnung, welche Lebensweichenstellung dieser Tag bringen würde. Ich besuchte irgendein philosophisches Seminar und ging anschließend in die Mensa zum Mittagessen. Das war ein wichtiger Ort. Hier wurde mir nicht nur schmackhaftes Essen in großen Portionen serviert, sondern auch eine meiner schlimmsten Unarten antrainiert: mein Schnellessertum.
»Steffen, auf der Flucht?«, so werde ich heute noch von irritierten Tischnachbarn gefragt, die gerade genüsslich die zweite Reisgabel zu Munde führen, während ich bereits den komplett geleerten Teller zur Seite schiebe und mich auf den Nachtisch stürze. Schuld an allem ist die Uni-Mensa, genauer: die Farbgestaltung der Mensa. Um die täglichen Massen von mehreren tausend Studenten innerhalb von nur drei Stunden durchzuschleusen, hatte sich der Innenarchitekt einen perfiden Trick ausgedacht. Der riesige Speisesaal war in den Farben Orange-Blau gestrichen. Das sind Komplementärfarben, die sich für das menschliche Auge unangenehm beißen. Der Effekt war der, dass alle Mensaesser im riesigen Saal unterbewusst aus dieser Farbenhölle fliehen wollten. Keiner hatte Lust, stundenlang sitzenzubleiben und nachrückenden Essern den Platz zu blockieren. FU-Absolventen erkennt man deshalb bis heute daran, dass sie schnell essen und magenkrank sind. Hätte ich dieser Mensa nicht die großartigste Wendung meines Lebens zu verdanken, würde ich sie erbarmungslos vor den Europäischen Gerichtshof zerren.
Nun also zu dieser Wendung. Wie üblich hetzte ich nach nicht einmal acht Minuten reiner Esszeit aus dem Speisesaal hinaus. Um meinen gestressten Magen zu relaxen, betrachtete ich in der Eingangshalle die Anzeigen am Schwarzen Brett. WG-Zimmer, Mitfahrangebote, ein Hamster, der zum Tausch gegen einen Kanarienvogel angeboten wurde. Außerdem die Ferienreklame, Tauchkurse in Malaysia, Selbsterfahrungskurse für Männer auf Kuba, Anflug gratis … das Übliche.
Und da geschah es. Ich sah ihn, den Zettel meines Lebens, einen unspektakulären Computerausdruck.
»Zweiwöchiger Polnischkurs in Krakau, 600 DM«.
Krakau? Das klang irgendwie magisch. Mittelalter, Faust, hochgewölbte gotische Zimmer. Wie weit war das eigentlich von Berlin entfernt? Ich wusste es nicht. Eher hätte ich gewusst, wie lange man nach Malaysia fliegt. Und dann der günstige Preis: nur 600 Mark für zwei Wochen! Vielleicht genügten ja zwei Wochen, um die Sprache zu lernen? Dann wäre dieser Kurs ein echtes Schnäppchen. Ich kannte ja immerhin schon den berühmtesten Zungenbrecher sowie das Wörtchen »tak«.
Ich stand nicht lange vor dem Zettel, dann wusste ich: Das probierst du aus. Hinfahren und zwei Wochen lang unverbindlich reinschnuppern, ehe man viel Zeit und Geld investiert. Also um Himmels Willen nicht noch einmal den Fehler machen wie mit Italien: erst den Sprachkurs, dann hinfahren. Mit Polen war alles umgekehrt: Die landläufigen Vorurteile über das Land waren mies, also würde diesmal alles gut werden.
Ich riss den Zettel ab und fuhr nach Hause, um sofort unter der angegebenen Telefonnummer anzurufen. Eine muntere Polin namens Beata meldete sich. Zu meiner Erleichterung erklärte sie mir, dass ich der Erste sei, der sich anmelden wollte. Es war Oktober, und der Kurs sollte erst im März stattfinden. Ich war angenommen! Die nächste Aufgabe war, Familie und Freunden meinen Plan mitzuteilen. Das erwies sich als der schwierigste Teil meines Vorhabens.
»Ratet mal, wohin ich fahre: nach Krakau!«
»Was willst du denn in Asien?«
»Mach doch lieber was aus deinem Leben.«
Gerade solche Reaktionen bestärkten mich aber nur in meinem Entschluss. Sie riefen Trotz hervor – eine, wie ich heute weiß, überaus polnische Eigenschaft, die mich zum Leben in diesem Land prädestinierte.
Adamowi Mickiewiczowi
Ein halbes Jahr musste noch vergehen, ehe ich erfuhr, wie lange die Zugfahrt nach Krakau dauerte. Um es vorwegzunehmen: neun Stunden. Im März 1993 bestieg ich in Berlin-Lichtenberg den Zug. Schon die polnischen Waggons gefielen mir. Sie stammten aus einer Zeit, als meine Eltern sich noch nicht kannten, und waren herrlich altmodisch. In den Abteilen gab es sogar noch Vorhänge, mit denen man sich gegen indiskrete Blicke schützen konnte. Über der Tür fand ich meine beiden nächsten polnischen Wörter: »Hamulec bezpieczeństwa«. Ein junger polnischer Mitreisender erklärte mir, was da stand: Notbremse, wörtlich »Bremse der Sicherheit«. Auch half er mir geduldig dabei, die beiden Wörter korrekt auszusprechen. Endlich, nach hundert Versuchen, hatte ich es raus. Es musste etwa so klingen: »Hamuletz betzpiätschenstwa«. Das Gute an diesem Aussprachetraining war: Die Reise verging wie im Flug, wir passierten Cottbus, Breslau, Kattowitz – und schon fuhren wir im Krakauer Hauptbahnhof ein.
Misstrauen im Gesicht: Meine erste Fahrt nach Polen 1993 (zwanzig Jahre später nachgestellt)
Bei dieser Gelegenheit muss ich übrigens zerknirscht ein Geständnis ablegen: Die gesamte Reise über, neun Stunden lang, habe ich mein Portemonnaie umklammert und meinen polnischen Mitreisenden misstrauisch beobachtet. Als ich ein einziges Mal gezwungen war, zur Toilette zu huschen, zählte ich anschließend unauffällig meine Sachen nach, ob auch nichts fehlte. Gleich hinterherschieben darf ich aber auch, dass ich weder auf dieser Reise noch in den darauffolgenden Jahrzehnten auch nur ein einziges Mal bestohlen worden bin. Sehr oft ist es hingegen passiert, dass ein Schaffner, Kellner oder Student atemlos hinter mir herlief mit den Worten: »Hallo, ist das nicht Ihr Portemonnaie? Sie haben es auf dem Tisch liegen lassen!«
Krakau: Ulica Floriańska mit Blick zur Marienkirche. Hier hing 1993 die Ankündigung des feministischen Beethoven-Festivals
Ich trat vor den Bahnhof und sah mich um. An der Straße entlang zog sich eine atemberaubende, wenn auch verfallene Kulisse repräsentativer Gründerzeit-Häuser. Die sonst so gerühmten polnischen Restaurateure waren im eigenen Land ganz offensichtlich noch nicht zum Zug gekommen.
Um zu meiner Sprachschule zu gelangen, musste ich die gesamte Altstadt durchqueren. Am Florianstor, wo ein Maler die Stadtmauer mit seinen Bildern vollgehängt hatte, fiel mir plötzlich ein quer über die Straße gespanntes Banner auf. Darauf standen einige Worte, die ich auf Anhieb zu verstehen glaubte: »Festiwal muzyczny, IX symfonia Ludwiga van Beethovena«.
Ganz offensichtlich handelte es sich um Reklame für ein feministisches Musikfestival. Eine clevere Komponistin hatte sich das Pseudonym »Ludwiga van Beethovena« zugelegt, um allen Chauvinisten zu demonstrieren, dass auch Frauen eine neunte Symphonie komponieren können. Originelle Idee! Hängt einfach ein »a« an den Namen, so wie die Italienerinnen ja immer ein »a« am Ende des Namens haben (Gina Lollobrigida) – und fertig ist die Frau. So frech und emanzipiert hatte ich mir das angeblich prüde, konservative Polen nicht vorgestellt!
Keine fünfzig Meter weiter traten die Häuser zurück und gaben einen riesigen Marktplatz frei. Schon aus der Ferne sah ich in der Mitte des Platzes, von hundert Tauben belagert, ein hohes Denkmal aufragen. Ein überlebensgroßer Romantiker aus Bronze starrte in weite Ferne. Für mich stand sofort fest: Beethoven. Gleichzeitig verstand ich jetzt, im Kontext dieses Denkmals, die subtile Ironie der Feministin Ludwiga van Beethovena noch besser.
Ich war gerührt. Nach so viel historischem Ärger mit Deutschland stellten die Polen mitten in ihrer schönsten Stadt ein Denkmal für einen Deutschen auf. Das nennt man wahrhaft europäische Gesinnung! Wo in Deutschland gibt es, bitteschön, ein Denkmal für Chopin?
Meine Europa-Euphorie erlitt allerdings sofort einen Dämpfer. Als ich näher herantrat, sah ich eine Inschrift auf dem Sockel des Denkmals:
Adamowi Mickiewiczowi Naród
Also doch nicht Beethoven. Wer zum Teufel war denn dieser Adamowi Mickiewiczowi Naród gewesen? Ich sprach einen jungen Amerikaner an, der unter dem Denkmal saß und einen Reiseführer mit dem Titel Let’s go Eastern Europe studierte. Auf meine Frage: »Who the hell …«, blätterte er eifrig in seinem Buch.
»Wait a minute … Adam Michnik, no … wait … Adam Mickiewicz, Polish national poet, 1797 – 1855 … no, wait … No, I can’t find him. There’s definitely no guy named Adamowi Mickiewiczowi Naród. Sorry!«
Wir wunderten uns kurz über die Namensähnlichkeit zwischen dem Nationaldichter und dem Mann hier auf dem Denkmal – vielleicht Cousins? – kamen aber schnell überein, dass es sich offensichtlich um irgendeinen verdienten Krakauer Bürgermeister handelte, mit dem Doppelnamen »Mickiewiczowi-Naród«. War er etwa verheiratet gewesen mit einer Frau Naród?
Erst zwei Tage später erfuhr ich von meiner Lehrerin Beata, was hier tatsächlich gespielt wurde. Der Amerikaner und ich waren einer abgefeimten Eigenart der polnischen Sprache aufgesessen. Es gibt nämlich sieben Fälle, und auch Eigennamen werden siebenfach durchdekliniert. Der Mann auf dem Sockel war tatsächlich der Nationaldichter Adam Mickiewicz gewesen – allerdings im Dativ: »Dem Adam Mickiewicz«. Und »Naród« war nicht etwa seine Gemahlin gewesen, sondern hieß »die Nation«.
Nationaldichter Adam Mickiewicz auf seinem Sockel mit irreführender Inschrift
Auch bezüglich des feministischen Musikfestivals hatte ich mich geirrt. Angekündigt wurde ganz normal die 9. Symphonie des Bonner Mannes, allerdings im Genitiv: »9. Symphonie DES Ludwig van Beethoven«.
Diese grammatikalischen Enthüllungen ernüchterten mich für einen Moment – um mich dann nur noch stärker zu berauschen. Auf dem Krakauer Markt verliebte ich mich unsterblich in die polnische Sprache, in der alles, aber auch ALLES erbarmungslos durchdekliniert wird. Im Genitiv wird an alle männlichen Namen ein »a« drangehängt. Im Dativ ist es statt des »a« ein »owi«. Verrückt! Mein Lieblingsfall ist bis heute der Dativ geblieben. Welche unglaublichen Metamorphosen meines eigenen, gerade mal viersilbigen Namens eröffnen sich hier. »Ich gebe SteffenOWI MöllerOWI die Hand« – acht Silben, eine glatte Verdoppelung! Die erste Postkarte aus Krakau adressierte ich denn auch an »Sigrunowi Möllerowi« – und das war ein Fehler, wie mir Wochen später klar wurde: Die Endung »-owi« darf nämlich nur an Männernamen gehängt werden. Die Karte kam zum Glück trotzdem bei meiner Mutter an.
Aberglaube
In Polen bin ich abergläubisch geworden. Eigentlich hatte ich mich immer für einen aufgeklärten Menschen gehalten, doch dem polnischen Aberglauben kann man einfach nicht widerstehen. Ehe man sich’s versieht – schwupp! – ist man im Sack. Es gibt nämlich eine raue Menge abergläubischer Alltagsbräuche, im Unterschied zu dem kläglichen Häuflein, das in Deutschland übriggeblieben ist (Mir fallen da nur zwei Sachen ein: Man darf niemals VOR dem Geburtstag gratulieren, und man muss sich beim Anstoßen in die Augen gucken, weil sonst sieben Jahre schlechter Sex drohen. Interessanterweise ist beides in Polen unbekannt).
Wenn ich zum Beispiel erzähle, dass ich während meiner Zeit in Polen kein einziges Mal bestohlen wurde, klopfe ich dabei unbedingt auf ein Stück unbehandeltes Holz, um das Unheil nicht herbeizuschreien. Wünscht mir jemand vor einem Auftritt im Kabarett viel Glück, sage ich nicht »danke«, damit der Glückwunsch nicht gefährdet wird.
Bei Dreharbeiten am Set meiner Fernsehserie »M jak Miłość« musste ich mir das Pfeifen abgewöhnen. Es hätte nämlich, wie ich von den unterschiedlichsten Seiten belehrt wurde, unweigerlich dazu geführt, dass unsere Folgen bei der Ausstrahlung ebenfalls ausgepfiffen worden wären.
Fiel mir bei einer Probe das Drehbuch runter, musste ich, bevor ich es aufhob, erst einmal leicht mit dem Schuhabsatz auf das Titelblatt treten.
Einem bereits ergrauten Schauspielerkollegen sprang bei Dreharbeiten ein Knopf von seiner Uniform ab. In der nächsten Pause setzte er sich in eine Ecke und begann, den Knopf selbst wieder anzunähen. Beim Nähen hielt er ein Stück Faden zwischen den Zähnen. Als ich ihn verwundert darauf ansprach, murmelte er: »Damit mir mein Talent nicht durch den Mund entflieht!«
Apropos Entfliehen. Bei einem traumatischen Erlebnis in der Garderobe wurde ich von einer namhaften polnischen Schauspielerin fast angerempelt, weil ich ihre Handtasche vom Stuhl auf den Boden stellen wollte. Sie schrie: Nun könne ja das Geld »heraus- und davonlaufen«. Entsetzt stellte ich die Tasche auf den Stuhl zurück. Seither weiß ich: Polinnen schlagen vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie sehen, dass deutsche Frauen ungerührt ihre Handtaschen auf dem Boden abstellen. Welch bodenloser Leichtsinn! Es droht sofortige Armut.
Falls ich für ein Hochzeitspaar Blumen kaufe, achte ich darauf, dass es auch ja eine ungerade Anzahl ist. Übrigens würde ich auch niemals in einem Monat heiraten, der im (polnischen) Monatsnamen nicht den Buchstaben »r« enthält. Die Scheidung wäre vorprogrammiert.
In Kneipen setze ich mich niemals mehr an die Tischecke, getreu dem alten polnischen Sprichwort: »Wer an der Ecke sitzt, darf bald Gott loben gehen«, was bedeutet, dass er als Mönch im Kloster landet.
Eines Tages kam meine Mutter aus Deutschland zu Besuch. Als sie mich an der Tür umarmen wollte, sprang ich nach hinten zurück und rief entsetzt: »Mama! Nicht über der Schwelle umarmen oder die Hand geben!« Dort sind nämlich seit alters die Gebeine der Ahnen vergraben – und man darf ihre Ruhe nicht stören.
Bevor ich aus dem Haus gehe, setze ich mich für einen Augenblick hin, um noch einmal in Ruhe zu überdenken, ob ich etwas vergessen habe.
Als ich auf dem Flughafen im Getümmel eine alte Bekannte übersah, zupfte sie mich am Ärmel. »Hallo Steffen! Du kennst mich wohl nicht mehr?«
»Ach, Agnieszka, entschuldige bitte, ich habe dich ganz einfach nicht bemerkt!«
»Na gut«, meinte sie versöhnlich. »Ich glaube dir. Dann werde ich ja jetzt reich!« Denn wer von alten Freunden aus Versehen nicht erkannt wird, kann mit baldigem Reichtum rechnen.
Woher kommt diese Flut an Aberglauben in einem katholischen Land, das im 18. Jahrhundert zu den aufgeklärtesten Staaten Europas gehörte? Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Der englische Dichter William Blake etwa sieht den Aberglauben keineswegs als Beweis für heidnische Überbleibsel, sondern als geradezu untrennbar mit der Religion verbunden: »Es hat nie einen abergläubischen Menschen gegeben, der nicht gleichzeitig auch religiös gewesen wäre«. Das würde bedeuten, dass Katholizismus und Aberglauben Hand in Hand gehen.
Ein alter polnischer Gentleman vertrat mir gegenüber eine ganz andere Theorie. Seiner Meinung nach war der Aberglaube in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg noch nicht so sehr verbreitet. Erst die Ausrottung der polnischen Intelligenz durch Hitler und Stalin sowie die Massenlandflucht nach dem Zweiten Weltkrieg hätten zu einem bäuerlichen Wandel von Sitten und Bräuchen auch in den Städten geführt. Diese Theorie trifft sicherlich auf einen der kuriosesten polnischen Bräuche zu: Am Ostermontag, der »Lany Poniedzialek« (»Gegossener Montag«) oder auch »Śmigus Dyngus« (vermutlich vom deutschen Wort »Dünnguss«!) genannt wird, ziehen die Kinder mit Wasserpistolen und vollen Eimern durch die Stadt und bespritzen alle jungen Mädchen. Der ursprünglich ländliche Brauch erfreut sich heute immer größerer Beliebtheit auch in der Stadt und hat dazu geführt, dass viele Frauen an diesem Tag gar nicht mehr das Haus verlassen.
Wie auch immer es nun genau steht mit den Widersprüchen von Religiosität, Aberglaube und Aufklärung: Man sollte die Sache nicht dramatisieren. Besonders tief ist der Aberglaube in Polen nämlich auch wieder nicht verwurzelt. Man betrachtet die Dinge zum Glück, wie überall, auch hier mit einer gehörigen Portion Ironie. Abergläubische Tabus scheinen mir eher in Fleisch und Blut übergegangene Gewohnheiten zu sein, wie das Essen mit Messer und Gabel oder das Zähneputzen vor dem Schlafengehen. Sehr viel ernsthafter habe ich Aberglauben in Russland erlebt. Die Putzfrau in einem Omsker Studentenheim verbot mir streng, im Treppenhaus zu pfeifen. Diesmal ging es nicht um eine harmlose Filmpremiere; die Sache war viel dramatischer. Wer pfeift, wird nicht nur selber arm, sondern bewirkt auch die bittere Armut aller übrigen Hausbewohner. Und nun pfeif mal unbeschwert mit dieser Verantwortung!
Liste des polnischen Hochzeits-Aberglaubens
–Die Braut sollte ein Tränchen verdrücken – das bringt Glück.
–Wenn bei den Festvorbereitungen Gläser und Teller kaputt gehen, bringt das ebenfalls Glück.
–Geheiratet wird am besten in Monaten, die den Buchstaben »r« enthalten (»Czerwiec« – Juni, »Sierpień« – August, »Wrzesień« – September, »Pażdziernik« – Oktober, »Grudzień« – Dezember, »Marzec« – März).
–Gute Hochzeitstermine sind Weihnachten und Ostern, schlechte Termine in der Fastenzeit vor Ostern und der erste April. Am ersten April besteht nämlich die Gefahr, dass das Paar seine Ehe nicht ernsthaft führen wird.
–Die Braut sollte etwas Neues tragen (bringt Reichtum), etwas Altes (dann fehlt es nie an Hilfe durch Verwandte und Freunde), etwas Weißes (Reinheit der Gefühle), etwas Himmelblaues (garantiert Kinder und Treue des Partners) und etwas Geliehenes (damit die Familie des Bräutigams wohlwollend ist).
–Der Bräutigam sollte der Braut beim Anziehen der Schuhe helfen und ihr ein Geldstück in den Schuh legen.
–Die Hochzeit sollte in der Kirche stattfinden, in der die Braut getauft wurde.
–Wenn das Paar zur Hochzeit geht, sollte das Paar sich nach Tauben und Elstern umsehen – das bringt Glück. Unbedingt vermieden werden sollte aber der Anblick von Raben und Krähen, weil sie schwarz und groß sind.
–Die Kirchenschwelle sollte mit dem rechten Fuß überschritten werden. Ein Straucheln bringt Unglück.
–Wenn sich die Braut umschaut, um zu sehen, ob ihr Schleier gut liegt, ist dies ein schlechtes Omen.
–Wenn während der Trauzeremonie der Ring herunterfällt, sollte er um Himmels willen nicht von Braut oder Bräutigam, sondern vom Priester oder einem Ministranten aufgehoben werden.
–Nach vollzogener Trauung sollte das Paar vor dem Altar eine kleine Drehung machen – aber Achtung: derjenige, der den anderen dreht, wird in der Familie die Entscheidungen treffen.
–Beim Verlassen der Kirche werden Geldstücke über das Paar geworfen, die im Anschluss restlos aufgesammelt werden müssen. Derjenige Partner, der schneller und mehr Geld sammelt, wird in der Familie die Kasse verwalten.
–Beim Gratulieren vor der Kirche sollte es ein Mann oder ein Fremder sein, der der Braut als erster gratuliert – das garantiert Glück.
–Bei der Heimkehr wird das junge Paar von den Eltern mit Brot und Salz empfangen.
–Nach dem ersten Hochzeitstoast muss das Paar seine Champagnergläser hinter sich werfen, so dass die Gläser zerbrechen.
–Das Hochzeitspaar muss den ersten Tanz absolvieren.
Meine verunglückte erste TV-Hochzeit mit der skeptischen Jola, die im nächsten Moment wegrennt
Aggression
In Deutschland sind es nach meiner Erfahrung vor allem Störungen der öffentlichen Ordnung, die aus harmlosen Bürgern Hyänen machen. An erster Stelle ist das Fahrradfahren zu nennen. Auf der Berliner Friedrichstraße hatte ich einmal das Vergnügen, innerhalb einer einzigen Minute von drei älteren Herrschaften angemotzt zu werden, weil ich mit dem Fahrrad den Bürgersteig entlangrollte. Doch nicht nur ältere Mitbürger arbeiten im Nebenjob als Hilfspolizisten. In Hamburg war ich Zeuge, wie eine junge Mutter mit Kinderwagen sich einen Mann vorknöpfte, der ebenfalls mit dem Fahrrad an ihr vorbeirauschen wollte. Andere Passanten solidarisierten sich mit ihr, die Situation eskalierte sekundenschnell, es kam zu Rempeleien.
Erstaunliche Aggressionen habe ich auch in einem Berliner Bus erlebt. Eine junge Mutter mit Kinderwagen verschlief ihre Haltestelle und wachte erst auf, als sich die Bustüren schon fast wieder geschlossen hatten. Sie drängte ihren Kinderwagen hinaus, so dass der Busfahrer gezwungen war, die Tür noch einmal aufzumachen. Eine ältere Passagierin platzte schier vor Wut. »Können Sie nicht vorher nachdenken?« Als die Mutter ihren Kinderwagen endlich draußen hatte und der Bus anfuhr, hämmerte die Passagierin noch einmal von innen gegen das Fenster, bis sich die junge Mutter irritiert umdrehte.
»Wohl plemplem?«, schrie die ältere Dame durch die Glasscheibe und tippte sich mit dem Zeigefinger heftig gegen die Stirn.
In Polen gibt es diese Art von Aggression viel seltener – und schon gar nicht auf der Straße. Einer der Gründe dafür dürfte sein, dass den Leuten das deutsche Oberlehrertum völlig abgeht. Außerdem herrscht größere Toleranz, die bisweilen an resignative Gleichgültigkeit grenzt: »Wozu soll ich mich aufregen, wenn in diesem Land sowieso jeder macht, was er will?« Man schreitet nicht ein, wenn das abstrakte Gemeinwohl auf dem Spiel steht, sondern wehrt sich allenfalls, wenn die eigene Sicherheit bedroht ist. Die Rauchschwaden brennender Mülleimer an den Straßenbahnhaltestellen müssen schon kilometerweit in den Himmel steigen, ehe mal jemand einen Eimer Wasser heranschleppt.
Wer also nicht gerade provokativ mit dem Baseballschläger durch Warschau läuft, braucht auch keine Angst vor aufgebrachten Zivilpolizisten zu haben. Auch sonst würde ich behaupten, dass es weniger physische Gewalt gibt, nicht einmal im verrufenen Warschauer Stadtteil Praga-Nord. Die Beklemmungen, die ich in einer Berliner S-Bahn beim Einsteigen von kahlrasierten Heinis mit ihren Kampfhunden erlebe, bleiben mir in Polen erspart.
Eine Ausnahme ist allerdings das Schlangestehen. Jahrelang habe ich auf meiner Post an der Kreuzung von Ulica Solidarności und Aleja Jana Pawła erlebt, wie brave Bürger zu Furien mutierten, wenn jemand wagte, sich vorzudrängeln oder außer der Reihe eine Auskunft am Schalter einzuholen. Die Einführung des Nummernautomaten war eine wahre Erlösung. Auch auf Flughäfen oder vor Museen sah ich perplex, wie harmlose Polen fast ausflippten, wenn jemand sich vor Abfertigungsschaltern oder Kassen vordrängeln wollte. Sind es die traumatischen Erinnerungen an kommunistische Warteschlangen, die eine so ungeheure Wut aufgestaut haben? Gut möglich, doch da auch die junge Generation so grässlich ausrastet, würde ich noch einen weiteren Schuldigen dafür verantwortlich machen wollen: die stets schwelende Angst vor dem Betrogenwerden. So wie wir Deutschen den Störer der öffentlichen Ordnung brandmarken, ist in Polen das Schlitzohr der Staatsfeind, der »Cwaniak«. Man kann ihm nichts Konkretes vorwerfen; sein Vergehen ist zu gering, als dass die Polizei einschreiten würde. Im Autobahnstau klemmt er sich hinter den Rettungswagen; beim Sonderangebot im Elektroladen erboxt er sich das letzte Handy; seine aus Versehen nicht abgerissene Museumskarte verkauft er beim Hinauskommen an einen Wartenden in der Schlange. Der Cwaniak verkörpert für viele Polen die schlechteste Seite ihrer Nation, das ewige Tricksen und »Kombinieren«. Kein Wunder, dass mir noch nie jemand an einer polnischen Supermarktkasse von sich aus angeboten hätte, mich vorzulassen, selbst wenn sein eigener Einkaufswagen rappelvoll war und ich nur einen Liter Milch hatte. Längst habe ich mir auch abgewöhnt, um solche Gefälligkeiten zu bitten. Hier geht bei den sonst so gutmütigen Leuten das Visier herunter. Um Himmels willen niemandem den Vortritt gönnen – er könnte ihn sich schamlos zunutze machen.
Doch das Misstrauen bleibt passiv, im Unterschied zur latenten deutschen Aggressivität. Selbst wenn jemand in der Straßenbahn das ungeschriebene Gesetz der Höflichkeit gegenüber Älteren verletzt (das mir stärker erscheint als in Deutschland) und seinen Platz beharrlich NICHT räumt, obwohl neben ihm eine Oma mit zwei Tragetaschen steht, muss er nicht mit einem Verweis der Mitpassagiere rechnen. Ein »wohl plemplem« habe ich jedenfalls noch nie gehört.
Alte Reisebusse und junge Polinnen
Viel ist geschrieben worden über den »unerreichten Reiz« der polnischen Frauen – Heinrich Heine nannte sie gar die »Weichselaphroditen«. Auch ich möchte ihnen huldigen. Ich tue es, indem ich von alten polnischen Reisebussen erzähle.