Autor

Die Autorinnen
Angela Neumann, geboren 1953 in Gießen, studierte in Frankfurt am Main Germanistik. Sie arbeitete viele Jahre in der Universität. Nach dem frühen Tod ihres Mannes zog sie mit ihren beiden Töchtern in Frankfurts literarischsten Stadtteil, nach Bergen-Enkheim. Dort fing sie an, Geschichten zu schreiben. Das half ihr, die weniger schönen Erlebnisse ihres Lebens zu verarbeiten. In der »Schreibwerkstatt« in Bergen-Enkheim traf sie ihre Autorenkollegin Monika Rielau und verfasste gemeinsam mit ihr ihren Debütroman.
Monika Rielau, geboren 1945 in Dereisen, wuchs mit fünf Geschwistern in einem glücklichen Elternhaus in Darmstadt auf. Sie studierte an der Universität Heidelberg Englisch, Spanisch und Volkswirtschaft. Nach einem kurzen Intermezzo bei einem großen deutschen Chemiekonzern ging sie nach Barcelona zu einer bekannten Pharmafirma. Hier arbeitete sie viele Jahre und verbrachte die interessanteste und glücklichste Zeit ihres Lebens. Mit ihrem Mann zog sie später nach Frankfurt. Seit 2009 ist sie Mitglied in der »Schreibwerkstatt« in Bergen-Enkheim. Hier traf sie auf eine Gleichgesinnte, Angela Neumann, mit der sie gemeinsam ihren Debütroman verfasste.

Das Buch

Im beschaulichen »Kleinen Wirtshaus« im Frankfurter Bezirk Sachsenhausen ist gerade wieder Ruhe eingekehrt, da werden Wirt Uli und sein Lebensgefährte Siggi erneut in einen Fall des mürrischen Kommissar Khalil Saleh verwickelt. Denn ein Stammgast des Wirtshauses wurde nach dem Sturz von einem Baugerüst schwer verletzt aufgefunden. Siggi war der letzte, der ihn unversehrt gesehen hat. Für Kommissar Saleh steht fest, dass Siggi das Opfer vom Gerüst gestoßen haben muss. Doch Uli glaubt an die Unschuld seines Partners. Auf eigene Faust versuchen Uli und Siggi, Licht in das Dunkel der Ermittlungen zu bringen …

Von Monika Rielau und Angela Neumann sind bei Midnight erschienen:
Mord am Main (Fall 1)
Mord am Main - Tod eines Schriftstellers (Fall 2)

Monika Rielau, Angela Neumann

Mord am Main - Tod eines Schriftstellers

Ein Hessen-Krimi

Midnight

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
September 2017 (1)
 
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
 
ISBN 978-3-95819-129-7
 
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Kapitel 1

Sven öffnete das Fenster im ersten Stock und kletterte auf das Gerüst, das seit einigen Tagen das Haus des Stadtschreibers in Bergen-Enkheim umgab. Woher kam das verdächtige Geräusch? Er blickte sich in der Dunkelheit um, hörte in die Nacht hinein. Einen Augenblick meinte er, das unterdrückte Atmen einer Person zu vernehmen, schob es aber dann auf seinen alkoholisierten Zustand. Da war nichts!

Der kommende Stoß traf ihn völlig unvorbereitet. Er fühlte, wie etwas Schweres mit Wucht auf seinen Rücken krachte. Seine Hände, die das Gerüst umklammerten, wurden weggerissen. Er verlor das Gleichgewicht. Noch bevor er mit einem überraschten Schrei nach unten fiel, drehte er sich um. Über ihm auf dem Gerüst hielt sich ein Mann, dessen Kopf und Gesicht fast gänzlich von einer Kapuze bedeckt waren, mit beiden Händen an einer Stange fest, während sein Körper in der Luft hin- und herschwang. Mit verzerrtem Gesicht raunte er Sven zu: »Du sollst nicht wildern in meinem Revier!«

Man sagt, dass sich kurz vor dem Tod das ganze Leben eines Menschen noch einmal im Zeitraffer vor seinem inneren Auge abspielt. Während Sven in die Tiefe stürzte, rasten die Bilder seines bisherigen Daseins vorbei. Tammy, sein geliebter, schon lang gestorbener Golden Retriever, sandte ihm ein letztes »Wuff« mit auf den Weg. Die Eltern am Kaffeetisch lächelten ihm freundlich zu, und sein Klassenlehrer im Kreise der Schulfreunde hob winkend die Hand. Viele Menschen kreuzten seinen Weg, einige sahen ihn erstaunt an. Seine erste große Liebe, ein Studienfreund, warf ihm einen fragenden Blick zu. Dann schwebte er über golden wogende Felder und blühende Wiesen, über schneebedeckte Berge und das weite blaue Meer hinauf in den Himmel. Ein helles, warmes Licht und eine betörende Musik begleiteten ihn auf seiner Reise in die Ewigkeit. Er war unsäglich glücklich. Immer höher trug ihn ein unwiderstehlicher Sog aufwärts in die unendlichen lichtblauen Weiten des Universums … Aber Halt! Was sollte das? Er wehrte sich, er wollte noch nicht sterben. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Er musste unbedingt sein Buch beenden und veröffentlichen. Er wusste, dass es ein gutes Buch werden würde. Nein, er wollte leben!

Gnädigerweise ließen das einschießende Adrenalin und die sofortige Bewusstlosigkeit beim Aufprall auf den mit Steinen gepflasterten Boden den Schmerzrezeptoren keine Chance, ihre Botschaften weiterzuleiten. Svens noch vorhandene Reflexe konnten sich nicht entscheiden, ob er leben oder sterben sollte und ließen ihn in ein tiefes Koma fallen.

In diesem Moment läutete die Klingel an der Tür des Stadtschreiberhauses. Rasch sprang der Täter vom Gerüst, warf noch einen Blick auf das Opfer, dessen Kopf wie träumend auf seinem ausgestreckten rechten Arm lag, und verschwand in der Dunkelheit der nahegelegenen Gassen.

Siggi hörte den Schrei und den Aufprall im Hof sowie das zeitgleiche Klingeln an der Haustür. Verwirrt eilte er zunächst zur Tür. Zu seinem größten Erstaunen stand sein Freund Uli davor.

»Was machst du denn hier?« Siggi fühlte sich ausspioniert.

»Das sollte ich eher dich fragen! Ich suche dich schon den ganzen Abend. Du hättest mir doch im Lokal helfen sollen«, schrie ihn Uli wütend an.

Siggi hatte jetzt keine Zeit, sich mit Ulis Anschuldigungen auseinanderzusetzen. Er packte ihn am Arm.

»Komm schnell, da muss was passiert sein!«

Siggi lief zum offenen Gartentor. Uli folgte ihm auf dem Fuße. Das Bild, das sich ihnen im Hof bot, ließ sie wie angewurzelt stehenbleiben.

Mit geschlossenen Augen, ausgebreiteten Armen und verdrehten Beinen lag ihr Freund Sven auf dem Pflaster. Unter dem dunkelblonden Haar sickerte das Blut unablässig in sein weißes T-Shirt und bahnte sich seinen Weg zwischen den Steinen.

Ein gemeinsam geschrienes »Nein« entrang sich beider Kehlen. Uli ging in die Knie und neigte sich über Sven, während Siggi reglos stehenblieb. »Rühr ihn nicht an, sonst machst du es noch schlimmer.«

Wie betäubt erhob sich Uli. »Wir müssen sofort den Rettungsdienst anrufen.«

Langsam, wie in Trance, versuchte Uli die 112 zu wählen. Ungeduldig entriss ihm Siggi das Handy und informierte die Leitstelle, dass man im Hinterhof des Stadtschreiberhauses eine schwerverletzte Person aufgefunden habe.

Es dauerte keine zehn Minuten bis der Rettungswagen eintraf. Der Notarzt und sein Assistent sprangen aus dem Auto und rannten zu dem Verletzten. Noch während er ihn untersuchte, fragte der Arzt, was man von dem Mann und möglichen Gründen für seine Verletzungen wisse.

Siggi erklärte, so gut es seine Nerven zuließen, was er gesehen und gehört hatte.

»Dann müssen wir sofort die Polizei benachrichtigen. Es könnte sich um ein Verbrechen handeln.« Der Notarzt rief die Polizei an und setzte seine Untersuchung des bewusstlosen Opfers fort.

Keine fünf Minuten später traf ein Kommissar von der Bergen-Enkheimer Polizeistation beim Tatort ein. Die beiden Freunde redeten aufgeregt auf ihn ein und schilderten, was passiert war. Der Beamte bückte sich, um den schwerverletzten Sven zu betrachten. »Da muss die Kripo ran. Ich ruf das Präsidium an«.

Uli und Siggi blickten bestürzt. Hoffentlich kam nicht der von ihnen so gar nicht geschätzte Hauptkommissar Khalil Saleh, der ihnen schon im Frühjahr das Leben zur Hölle gemacht hatte.

Der Notarzt drängte zur Eile: »Der Patient muss sofort in die Unfallklinik, ich kann nicht länger warten.« Zusammen mit seinem Assistenten legte er Sven vorsichtig auf eine Trage, als wieder ein Martinshorn ertönte und kurz darauf ein Streifenwagen vorfuhr. Fast zeitgleich traf der Pizzadienst ein.

»Sie bleiben auch hier, bis Sie vernommen wurden«, herrschte der Polizist den verdutzten Pizzaboten an.

Weitere Sirenen durchschnitten die abendliche Stille. Plötzlich erstarb die allgemeine Hektik. Mit gebieterischen Schritten betrat Kommissar Khalil Saleh den Tatort.

Seine Augen wurden schmal, als er den Wirt erblickte. »Sie schon wieder, Herr Reinhold«, sagte Khalil Saleh. »Sind Sie in diesen Fall verwickelt?« Auf das mit einiger Verzögerung kommende Nicken von Uli, warf er einen scharfen Blick zu Siggi. »Dann wird das sicher auch Sie betreffen, nehme ich mal an. Ich kann es nicht glauben. Sobald ich mir einen Überblick verschafft habe, begleiten Sie beide mich augenblicklich ins Präsidium.«

»Ich kann nicht länger warten. Wir müssen den Verletzten dringend in die Unfallklinik in der Friedberger Landstraße bringen, sonst ist er tot, bevor wir ankommen.« Langsam verlor der Notarzt die Geduld.

»Lassen Sie mich bitte nur einen kurzen Blick auf den Geschädigten werfen«. Saleh wollte das Opfer noch am Tatort sehen. Rasch und mit geübten Griffen legte er die kritischen Stellen frei. Er schnupperte intensiv am Mund des Verunglückten und meinte: »Hoher Alkoholpegel.« Dann wandte er sich an den Notarzt. »Das brauche ich Ihnen ja nicht sagen, dass der Blutalkoholwert gemessen werden muss.«

Die inzwischen angekommene Spurensicherung machte ebenfalls erste Fotos und untersuchte den Bewusstlosen.

»Sie können ihn abtransportieren, ich komme später in die Klinik«, informierte Saleh den Arzt.

»Sie brauchen sich nicht zu beeilen, Herr Kommissar. Das Opfer wird für längere Zeit nicht ansprechbar sein, das kann ich jetzt schon sagen. Rufen Sie morgen früh an, dann wird man Ihnen sagen können, ob der Patient vernommen werden kann oder nicht.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Notaufnahme sagen könnten, dass sie weitere Fotos von den offensichtlichen Verletzungen machen sollen. Das könnte unsere Untersuchungen vereinfachen.«

Der Arzt murmelte etwas Unverständliches, sprang dann in den Wagen und verschwand mit lautem Sirenengeheul in den engen Gassen von Bergen.

Die Spurensicherung hatte inzwischen einen Sichtschutz vor das schmiedeeiserne Hoftor gespannt und die ersten erkennungsdienstlichen Ermittlungen durchgeführt.

Uli und Siggi sahen sich an. Sie hatten bereits im Frühjahr eine ähnliche Situation erlebt.

»Hat uns das Schicksal nicht schon genug gestraft in diesem Jahr«?, fragte Uli mit brüchiger Stimme. »Was hast du mit Sven gemacht? Hast du ihn vor Eifersucht vom Gerüst gestoßen?«

Siggi war noch immer nicht in der Lage, die Situation richtig zu verstehen. Er hielt sich am Gartenzaun fest und schaute starr in die Luft. Eben war es noch ein aufregendes Spiel für ihn gewesen. Er und Sven waren gerade dabei, sich näher kennenzulernen. Was war geschehen, als sich Sven vom Fenster auf das Gerüst gehangelt hatte, und was war der Grund für seinen Sturz in den Hof? War er aufgrund des Weins unvorsichtig gewesen und ausgerutscht? Und welche Bedeutung hatte das vorausgegangene Geräusch? Hatte etwa Uli seine Finger im Spiel gehabt? Er schaute seinen Freund an. Der aber war sichtlich so am Boden zerstört, dass Siggi sich nicht vorstellen konnte, dass er Sven vom Gerüst gestoßen hatte. Außerdem hatte Uli gerade in dem Augenblick geklingelt, als Sven fiel. Das wäre zeitlich gar nicht möglich gewesen. Noch bevor er seine sich überschlagenden Gedanken ordnen konnte, platzten die Worte von Hauptkommissar Khalil Saleh in seine wirren Überlegungen.

» Ich hatte sehr gehofft, dass mir weitere Begegnungen mit Ihnen in Zukunft erspart blieben.« Salehs Sarkasmus war unüberhörbar. »Aber so wie es aussieht, legen Sie es darauf an, von mir betreut zu werden, nicht wahr?« Dabei schaute er beide abschätzig an. Er hatte nicht vergessen, dass er sich bei der Klärung des letzten Falls mit den beiden nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte.

Uli fasste sich als Erster. »Glauben Sie mir, auch wir hätten gerne auf ein erneutes Zusammentreffen mit Ihnen verzichtet. Aber seien sie versichert, dass zumindest ich in diesem Fall überhaupt keine Rolle spiele. Ich kam erst ins Haus, als Sven schon wie tot am Boden lag.«

»So, so, Sie kannten das Opfer offenbar so gut, dass Sie sich duzten. In welchem Verhältnis standen Sie denn zu ihm?« Schmallippig kam die Frage vom Kommissar.

»Herr Heumüller war ein flüchtiger Bekannter von mir, weiter nichts. Ich habe keinerlei intime Beziehung zu ihm.«

»Das heißt also, dass dieser Herr auch schwul ist, oder besser gesagt war, denn wer weiß, ob er mit den schweren Verletzungen die Nacht überlebt«, schlussfolgerte der Kommissar.

Saleh war bei seinen Ermittlungen also wieder im homosexuellen Milieu gelandet. Er schüttelte sich leicht. Nur nicht anmerken lassen, dass er diesem Milieu keine große Sympathie entgegenbrachte. Er dachte dabei an die Strafpredigt, die ihm die ehemalige Polizeipräsidentin Annalene Waldau einmal gehalten hatte, als sich ein Verdächtiger beschwert hatte, er hätte sich wegen seiner geschlechtlichen Orientierung von Saleh abschätzig behandelt gefühlt. Heute kämpfte die Polizeipräsidentin um ihre Wiedereinsetzung, nachdem man sie wegen eines auch in seinen Augen leichten Vergehens auf ein Abstellgleis geschoben hatte. Ihre Neider, die ihr den einflussreichen Posten nicht gönnten, mussten damals wohl in der Mehrzahl gewesen sein. Und auch er hatte dazu beigetragen, dass sie ihren Job verlor, wenngleich er das nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Anweisung seiner Vorgesetzten hatte durchziehen müssen. Dabei hatte sie ihm leidgetan. Er hatte sich aber zusammengerissen und seine Sympathie für sie nicht gezeigt.

Trotz der fortgeschrittenen Zeit ließ es sich Saleh nicht nehmen, die beiden Hauptverdächtigen mit aufs Polizeipräsidium zu nehmen und eine erste Befragung durchzuführen. Zuerst knöpfte er sich Uli vor.

»Schildern Sie alles, was Sie von dem Vorfall wissen!«

»Zu dem Vorfall kann ich Ihnen gar nichts sagen, weil ich erst ankam, als Sven, also Herr Heumüller, schon vom Gerüst gestürzt war«. Uli bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen

»Was wollten Sie eigentlich zu dieser Zeit in Bergen? Ist doch ein ganzes Stück von Ihrem Lokal in Sachsenhausen entfernt?«

Uli zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete. Einerseits wollte er nicht als eifersüchtiger Trottel dastehen, der seinem Liebhaber nachspioniert, andererseits wollte er nicht lügen, denn er war ein schlechter Lügner. Schlimmer noch, selbst wenn er einmal log, konnte es durchaus passieren, dass er sich seine selbstgestrickten Geschichten nicht merken konnte. Und daher hatte er sich schon mehrfach mit zusammengeschusterten Ungereimtheiten krachend blamiert. Auch angesichts der Tatsache, dass Siggi gleich nach ihm vernommen werden würde und der Kommissar dann gnadenlos seine Aussagen mit denen von Siggi vergliche, zog er es vor, bei der nackten Wahrheit zu bleiben.

»Ich wollte sehen, was mein Bekannter Sven so treibt. Dass Herr Ranke dort war, wusste ich nicht.«

»Und was glauben Sie, wollte ihr Lebenspartner bei Herrn Heumüller? Händchen halten und Tee trinken? Hatten Sie Herrn Heumüller mitgeteilt, dass Sie ihn besuchen wollten?«

Uli wollte sich auf keinen Fall provozieren lassen. Natürlich war er nach Bergen-Enkheim gefahren, weil er geahnt hatte, dass Siggi bei Sven war. Siggi aber hatte sein Mobiltelefon ausgeschaltet gehabt, weil, wie Uli mutmaßte, er unlautere Absichten gehabt hatte und nicht von Uli angerufen werden wollte. An diesem ganzen Elend war also wieder einmal Siggi schuld. Sein Groll auf Siggi wuchs.

»Nein, ich hatte Herrn Heumüller nicht gesagt, dass ich vorbeikommen wollte. Ich hatte mein Lokal schon geschlossen, weil die letzten Gäste relativ früh gegangen waren, und ich dachte, ich könnte das ausnutzen, um Herrn Heumüller noch einen kurzen Besuch abzustatten.«

»Schon etwas merkwürdig! Normalerweise kündigt man seinen Besuch doch an. Ich will Ihnen mal sagen, wie die Situation wirklich war: Sie sind in das Stadtschreiberhaus gefahren, weil Sie ahnten, dass Ihr Freund Ranke Herrn Heumüller dort getroffen hat und die beiden hinter Ihrem Rücken ein sexuelles Abenteuer hatten. Stimmt`s? Soweit ich es verstanden habe, gehört Herr Heumüller der gleichen Fraktion an wie Sie, oder?«

Da war er wieder. Dieser herablassende, ehrabschneidende Ton, den der Kommissar für die Homosexuellen reserviert hatte und den Uli so hasste.

Uli fühlte sich in die Enge getrieben. Es war spät, er war erschöpft und von dem tragischen Unglück mit Sven schwer mitgenommen. Sein Gehirn signalisierte ihm, dass es zu müde war, um sich irgendwelche Ausreden auszudenken.

»Ja, es stimmt, ich wollte wissen, ob mein Freund Siggi bei Herrn Heumüller ist.«

»Warum nicht gleich so? Und nun erzählen Sie mal, wie Sie nach Bergen-Enkheim gekommen sind und was Sie dort im Haus des Stadtschreibers vorgefunden haben.«

Uli blickte erst hilfesuchend an die Decke, ob ihm von oben eventuell eine gütige Macht beistehen würde. Dann fing er sich und blickte Saleh gerade in die Augen. »Ich bin mit meinem Auto zum Parkplatz an der Schelmenburg in Bergen gefahren, habe dort geparkt, bin dann in das Lokal gegangen, wo ich vor ein paar Tagen mit Herrn Heumüller zu Abend gegessen hatte. Ich wollte sehen, ob er zufällig dort war. Sie können den Wirt befragen, der wird Ihnen bestätigen, dass ich da war. Dann bin ich zu Fuß zu seinem Haus gegangen. Als ich dort klingelte, öffnete Herr Ranke zu meiner Überraschung die Haustür und sagte mir, dass er gerade einen Schrei und ein Geräusch gehört habe, als wäre etwas auf den Boden des Hofes gefallen. Wir sind dann beide sofort hingelaufen, und da sahen wir Herrn Heumüller in einer Blutlache auf dem Boden liegen.«

Uli wischte sich über das Gesicht. Ihm kam diese ganze Situation so unwirklich vor. Seine Stirn zog sich nach oben, seine Augen wurden groß, das Gesicht verharrte reglos. Er hatte das Gefühl, aus sich heraus zu treten und die Szene wie von Ferne zu erleben.

»Dann ist es ja klar, Ihr Freund Siggi hat Herrn Heumüller aus dem Fenster gestoßen.«

»Nein, nein!« Uli erwachte aus seiner kurzen Absence. »Siggi wollte ihn sicher nicht ermorden. Nein, das glaube ich nicht. Er sagte mir, dass Sven vor seinem Sturz ein Geräusch von draußen gehört hätte und deshalb auf das Gerüst geklettert sei. Und im selben Augenblick, als Siggi einen Schrei und den Aufprall im Hof hörte, hätte ich an der Tür geklingelt. Er hat mir aufgemacht und dann rannten wir beide zusammen in den Hof. Sven lag auf dem Boden und das Blut lief nur so aus ihm heraus. Es war schrecklich«, Uli war leichenblass, und ein Zittern ließ seinen ganzen Körper erbeben. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Na, das werden wir morgen früh überprüfen. Sie können jetzt gehen. Sie dürfen aber die Stadt nicht verlassen und müssen sich jederzeit zu weiteren Befragungen bereithalten. Auf Wiedersehen, Herr Reinhold.«

Uli erhob sich benommen. Auf dem Weg nach draußen sah er, wie Siggi von einem Polizisten zum Kommissar geführt wurde. Uli warf ihm nur einen müden Gruß zu. »Bis später«.

Siggi ging es nicht gut. Der Wein, den er bei Sven auf nüchternen Magen getrunken hatte, machte ihm zu schaffen. Hoffentlich würde er sich nicht übergeben müssen. Er schluckte mehrfach, um die ätzende Säure zurückzudrängen, die ihm die Speiseröhre hochkroch. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Schmerzen hatte. Ob er nicht doch einmal eine Magenspiegelung machen sollte? Sein Vater war schließlich an Leberkrebs gestorben, ausgehend von einem nicht erkannten Magenkarzinom.

»Einen Kaffee, Herr Ranke«? Saleh zeigte sich zunächst von seiner netten Seite. Auch ihm ging es nicht gut. Da hatte er noch im Frühjahr mit diesen beiden Typen den Mordfall mit dem Bestatter aus Sachsenhausen an der Backe gehabt und jetzt war dieses Duo Infernal schon wieder im Fokus seiner Ermittlungen. Was hatte er getan, dass nun ausgerechnet diese beiden schwulen Typen wieder als Tatverdächtige vor ihm standen? Genervt blickte er auf Siggi.

»Könnte ich statt des Kaffees vielleicht ein kaltes Wasser, möglichst ohne Sprudel, haben?« Siggi hatte auf einmal einen mächtigen Durst.

»Wir sind hier kein Gemischtwarenladen! Es gibt nur Wasser mit Sprudel.« Saleh bellte die Worte harsch heraus.

Siggi zuckte zurück. Sowas Unfreundliches! Dann würde er lieber den Kaffee mit Milch und Zuckernehmen sagte er dem Kommissar.

»Der Kaffeeautomat ist kaputt. Es gibt nur schwarzen Kaffee«, erwiderte Saleh.

»Dann halt in Gottes Namen das Wasser mit Sprudel, aber bitte kalt!« Siggi war beleidigt, dass seine kleinen Wünsche so gar kein Gehör fanden.

»Herr Ranke, lenken Sie nicht dauernd ab. Woher kannten Sie Herrn Heumüller, und aus welchem Grund waren Sie heute bei ihm?«

Siggi hatte die Zeit während Uli vernommen wurde dazu genutzt, sich eine für ihn vorteilhafte Version des Geschehens auszudenken. Vor allen Dingen wollte er dieses Mal nicht wieder als derjenige dastehen, der seinen Lebenspartner betrog. Es war keiner bei dem Treffen dabei gewesen, und Sven konnte wegen des Komas derzeit keinen Beitrag zur Aufklärung des Falles leisten.

»Herrn Heumüller hatte ich vor einigen Wochen zusammen mit meinem Lebensgefährten in dessen Lokal in Sachsenhausen kennengelernt, und wir beide fanden ihn sehr sympathisch.«

»Heißt das, dass Herr Heumüller auch schwul ist?«

Siggi fand diese Frage überflüssig, aber wenn es dem Kommissar so wichtig war, dann in Gottesnamen. »Ja, Herr Heumüller ist homosexuell.«

»Gab es einen Grund für Ihr heutiges Treffen?«

»Ich wollte einmal sehen, wie so ein Stadtschreiber wohnt und mich mit Herrn Heumüller über seine Bücher unterhalten.«

»Sie waren also mit Herrn Heumüller verabredet?«, fragte Saleh.

Siggi zögerte. Wenn sie sein Handy untersuchten, käme heraus, dass er nicht mit Sven telefoniert hatte.

»Nein, ich bin aufs Geratewohl zu ihm gefahren. Ich wusste nicht, ob er zu Hause war.«

»Um wieviel Uhr trafen Sie ihn zu Hause an, und was haben Sie dort gemacht?«

»Ich war so um neun Uhr abends bei ihm. Wir haben uns über alles Mögliche unterhalten, einen Wein getrunken und später eine Pizza bestellt.« Siggi versuchte, seine Stimme so unbefangen wie möglich klingen zu lassen. »Bis wir plötzlich ein Geräusch hörten, das anscheinend von dem Gerüst kam. Herr Heumüller fand das verdächtig und kletterte aus dem Fenster des Wohnzimmers. Das Nächste was ich hörte, waren ein kurzer Schrei und ein Schlag. Gerade in diesem Moment klingelte es. Ich rannte zur Haustür, und dort stand mein Freund, Herr Reinhold. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Zusammen liefen wir in den Hof. Dort fanden wir Herrn Heumüller reglos in einer Blutlache vor. Der Kopf sah schrecklich aus. Wir waren völlig entsetzt. Wegen der schweren Verletzungen wagten wir nicht, ihn anzurühren und haben sofort die 112 gerufen. Wir mochten ihn doch beide sehr.« Siggis Stimme bebte.

»Wollen Sie mich für blöd verkaufen? Sie und Ihr Freund Herr Reinhold treffen sich rein zufällig bei Herrn Heumüller und dann fällt dieser unvermutet aus dem Fenster? Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen.« Saleh machte sich schnaubend Luft. »Wie ich vorhin von Herrn Reinhold gehört habe, war er auch nicht mit Herrn Heumüller verabredet. Was also trieb Sie beide heute ausgerechnet zu ihm? Ich kann es Ihnen sagen! Sie, Herr Ranke, wollten mal wieder ein falsches Spiel hinter dem Rücken ihres Lebenspartners treiben, nicht wahr? Aber dem schwante, was Sie vorhatten, und nachdem Sie schlauerweise Ihr Handy ausgeschaltet hatten, hatte er noch mehr Grund, Ihnen zu misstrauen. Er beschloss, Sie in flagranti zu ertappen. Dann gab es Streit, und in dessen Verlauf haben Sie Herrn Heumüller aus dem Fenster gestoßen.«

Siggi sprang vom Stuhl hoch. »Wie kommen Sie dazu, mir eine solche Ungeheuerlichkeit zu unterstellen? Wir haben beide Herrn Heumüller verehrt, Sie, Sie, Sie Wortverdreher. Sie ticken wohl nicht richtig«, schrie er mit überschnappender Stimme und schlug die Faust auf den Tisch.

Saleh, der Siggis Unbeherrschtheit aus früheren Zeiten zur Genüge kannte, brüllte ihm entgegen: »Setzen Sie sich und mäßigen Sie Ihren Ton, sonst zeige ich Sie wegen Nichtachtung der Staatsgewalt an.«

Siggi sank in seinen Stuhl zurück. Er wollte nicht wieder ausrasten. Aber er musste dem Kommissar doch sagen, dass er mit dem Sturz von Sven nichts zu tun hatte.

Saleh hatte genug für diese Nacht. Morgen würde er sich von der Spurensicherung einen genauen Abgleich der Fingerabdrücke geben lassen. Dann würde man ja sehen, was von den Lügengeschichten dieser beiden Kerle übrigblieb.

»Für heute sind wir fertig. Sie müssen sich aber in den kommenden Tagen zu unserer Verfügung halten. Und jetzt gehen Sie mir endlich aus den Augen.«

»Nichts lieber als das«, murmelte Siggi und machte sich auf den Weg. Jetzt musste er auch noch mitten in der Nacht ein Taxi nehmen, um sein Auto in Bergen-Enkheim abzuholen. Wäre er doch niemals auf die Idee gekommen, Sven wegen seiner Schwäche für Uli die Leviten zu lesen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, und warum fühlte er sich dann selbst von Sven so angezogen, dass er leichtsinnigerweise bereit gewesen war, seinen Freund und Lebensgefährten Uli trotz seiner Treueschwüre mit Sven zu betrügen? Und hatte nicht auch Sven eine gewisse Bereitschaft für ein Abenteuer mit ihm gezeigt? Gottseidank war es nicht so weit gekommen, sonst hätte man seine DNA-Spuren bei Sven nachweisen können.

Es war schon spät in der Nacht, als Siggi im Kleinen Wirtshaus die Treppen zur gemeinsamen Wohnung im ersten Stock hinaufging.

Uli saß auf der Couch und blickte Siggi mit leerem Gesicht entgegen. Wortlos ließ sich Siggi neben ihm nieder. Nach einer Weile raffte sich Uli auf und goss sich und Siggi einen Whisky ein. »Wir müssen zusammenhalten, Siggi. Wir dürfen uns nicht gegenseitig fertigmachen. Ich hab dem Sven nichts getan.«

»Das weiß ich doch, aber ich war es auch nicht«, erwiderte Siggi und blickte dem Freund fest in die Augen. Eine Pause entstand.

»Kannst du dich noch an das erste Mal erinnern, als Sven zu uns kam?« Uli dachte bedrückt an das erste Treffen mit dem jetzt mit dem Tode ringenden Freund. »Ich weiß noch ganz genau, wie ich ihn das erste Mal gesehen habe.«

»Ja, ich weiß es auch«, unterbrach ihn Siggi. »Und er war uns beiden auf den ersten Blick sympathisch. Dir anscheinend noch mehr als mir, denn du konntest ja kaum die Augen von ihm lassen.«

»Ach Siggi, lass das doch jetzt. Er war einfach ein toller Kumpel und hat mich ein bisschen in seine Welt der Bücher eingeführt. Es hat mir gefallen, weil es etwas Neues für mich war.«

Beide seufzten tief, tranken einen Schluck Whisky und dachten voller Wehmut an den Abend, als sich Sven das erste Mal in Ulis Kneipe verirrt hatte. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, denn beide wollten nicht ganz mit der Wahrheit über ihre jeweils separaten Treffen mit Sven herausrücken, weil sie zu Recht fürchteten, dass dies ihrem Zusammenleben schaden würde.

»Ich weiß noch, wie ich Sven das erste Mal am Tresen stehen sah. Du warst nicht da, und der Laden war noch leer.«

Uli und Siggi versanken, jeder für sich, in ihren Erinnerungen.

Kapitel 2

Nur zwei Gäste hatten an dem Abend des Kennenlernens an der Theke gesessen. Ein seltsam stummer Gast, der Uli den Rücken zugekehrt, still sein Pils getrunken hatte und anscheinend keinen Kontakt wünschte und ein junger Mann, eben dieser Sven, der Uli in ein interessantes Gespräch über die Möglichkeiten verwickelt hatte, wie man sich am schnellsten einen Rausch antrinkt. Er hätte das für sein neues Buch mit dem Titel »Vollrausch«, das demnächst veröffentlicht würde, ausprobiert und wäre zu dem Schluss gekommen, dass Bier und Wodka in entsprechenden Mengen die richtige Mischung war, sich binnen kürzester Zeit die Kante zu geben. Daraufhin hatte Uli gemeint, dass es mit Tequila noch schneller ginge. Man solle aber auf jeden Fall bei einer Sorte Hochprozentigem bleiben, damit einen die Kopfschmerzen am nächsten Morgen nicht in den Wahnsinn trieben. Uli wusste noch, dass er sich gewundert hatte, warum sein Gesprächspartner ausgerechnet über Alkoholexzesse schreiben wolle.

»Ich wollte verstehen, warum und auf welche Art sich mein bester Freund um den Verstand gesoffen und Frau und Kinder mit ins Elend gerissen hat. Was ist das Tolle an einem Rausch? Mir jedenfalls hat sich dieser Zustand des geistigen Wegtretens nicht erschlossen. Ich habe dieses Suchtpotential bei mir nicht entdeckt, obwohl ich auch mal gerne einen trinke. Jetzt hat mein Freund es wenigstens geschafft, zeitweise von seiner jahrelangen Alkoholabhängigkeit loszukommen. Er geht allerdings in einer Suchtklinik ein und aus. Bis heute ist ihm der endgültige Absprung in ein alkoholfreies Leben, oder wenigstens kontrolliertes Trinken, nicht gelungen. Ich wundere mich, dass seine Frau ihn nicht schon längst vor die Tür gesetzt hat.«

Uli hatte sich jedes seiner Worte gut gemerkt. Noch mehr als die Worte des Erzählers hatten ihn aber die vollen Lippen seines Gegenübers hingerissen und dessen lange schwarzen Wimpern, die ein Paar äußerst wacher graublauer Augen überdeckten. Was hatte der Mann nur an sich, dass er an sich halten musste, ihn nicht wie ein verliebtes Kalb anzuhimmeln? Es war ihm geradezu peinlich. Er senkte den Blick und begann unnötigerweise den Tresen mit einem Lappen zu wienern.

»Wie kommen Sie eigentlich nach Frankfurt? Sie haben doch einen rheinischen Zungenschlag.« Uli war sich fast sicher, dass der Gast aus der Kölner Gegend kam.« Auf das literarische Schaffen seines Gastes ging er nicht ein.

»Ich stamme aus Köln, besser gesagt aus Köln-Rodenkirchen, und bin der aktuelle Stadtschreiber von Bergen. Stand in allen Frankfurter Zeitungen.«

Bei diesen Worten bewegte er seine schönen schmalen Hände, die offensichtlich noch keine schweren Handarbeiten erfahren hatten, wie ein Schauspieler und untermalte seine Sätze mit einer gewissen Grazie, oder war es nicht sogar eine gewisse Affektiertheit?

Uli war sich plötzlich sicher, dass dieser Mann, genauso wie er und Siggi, nicht zur heterosexuellen Gattung gehörte. Er hütete sich aber, seine Vermutung in Worte zu fassen. Das sollte derjenige selbst entscheiden, ob er es publik machte oder nicht.

Stadtschreiber von Bergen? Uli kannte den Vorort von Frankfurt, zumindest dem Namen nach. Wahrscheinlich war er auch schon einmal dort gewesen. Aber Sachsenhausen hatte die besseren Kneipen und Restaurants, so meinte er jedenfalls, und es gab keinen Grund, die dortige Szene zu erkunden. Als alteingesessener Sachsenhäuser hatte er nur vage einmal von der Existenz dieses Stadtschreibers gehört. Sein Interesse an der Literatur erschöpfte sich im Lesen knallharter Thriller, die ihm den notwendigen Nervenkitzel bei seiner meist spätabendlichen Bettlektüre verschafften. Aber diesen Mann, diesen Stadtschreiber, fand er faszinierend.

Das hatte auch sein Freund Siggi gleich bemerkt, der gerade durch die Tür des Lokals trat und sofort sah, wie sehr Uli an den Lippen des jungen Mannes hing.

»Na, wen haben wir denn da?«, mischte sich Siggi ungeniert und unaufgefordert in das Gespräch, obwohl er sich durch eine Erkältung ziemlich angeschlagen fühlte.

Uli ärgerte sich über die Unterbrechung, und gleichzeitig kam er sich ertappt vor. Gerade jetzt, wo er sich so eindringlich mit dem attraktiven jungen Mann unterhielt, wollte er nicht, dass ihm Siggi in die Quere kam.

Aber die neuen Gäste, die bereits ungeduldig darauf warteten, dass sie bedient wurden, verlangten seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er musste sich förmlich losreißen und bedachte Siggi mit einem misstrauischen Blick.

Unter den Neuankömmlingen befand sich auch Florian Wilson, der junge Polizist, der damals viel für Uli getan hatte. Damals, als er unter Mordverdacht stand und Florian, aus dem zuständigen Revier Sachsenhausen, von dem ermittelnden Hauptkommissar zur Aufklärung im Mordfall Alexander Wienhold hinzugezogen wurde. Uli mochte Florian, aber heute war er nicht zu einem Plausch mit ihm bereit. Er übersah ihn geradezu.

Siggi nutzte Ulis Geschäftigkeit und unterhielt sich jetzt seinerseits sehr intensiv mit dem Stadtschreiber von Bergen. Doch immer, wenn Uli eine freie Minute hatte, lehnte er sich über die Theke und mischte sich in das Gespräch ein.

»Ich kenne bisher nur wenige Leute in Frankfurt. Sie könnten mich doch beide einmal in Bergen besuchen und ich zeige Ihnen das originelle Stadtschreiberhaus. Leider wird es derzeit von außen renoviert und ist eingerüstet. Aber innen ist es sehr gemütlich eingerichtet. Danach könnten wir in das urige Lokal neben dem Heimatmuseum gehen. Der Wirt ist ein netter Mann. Man kann dort noch relativ preiswert essen und trinken.« Offensichtlich war dem Stadtschreiber sehr daran gelegen gewesen, Uli und Siggi nach Bergen zu locken.

Uli hatte sofort seine Chancen wahrgenommen. »Morgen ist Samstag und mein freier Tag. Ich könnte Sie dort treffen. Siggi, dir wird wohl leider nichts anderes übrigbleiben, als deine Erkältung auszukurieren. Du willst doch sicherlich den Mann nicht anstecken, oder? Schade für dich. Am besten legst du dich früh ins Bett und schwitzt schön alles aus. Einen Abend kann ich dich doch mal alleine lassen.« Uli bemühte sich, seine Schadenfreude nicht allzu offensichtlich zu zeigen.

Siggi hatte resigniert genickt. »Ja, du hast völlig recht. Meine arme Nase muss sich erst einmal wieder erholen. Vom vielen Naseputzen ist sie ganz wund. Ich werde mir eine Salbe auftragen.«

Sein enttäuschter Blick traf den jungen Mann und notierte auch das leichte, triumphierende Lächeln auf Ulis Gesicht.

»Wir wissen noch gar nicht, wie Sie heißen?« Uli wollte sich wenigstens nicht blamieren, wenn er den Schriftsteller in dem Lokal in Bergen traf und ihn nicht beim Namen nennen konnte.

»Mein Name ist Sven Heumüller. Wir können uns, wenn es euch recht ist, auch duzen.«

Uli und Siggi war das sehr recht gewesen.

»Zahlen!« Der wortkarge Gast am Ende des Tresens meldete sich zu Wort, legte das Geld abgezählt auf seinen Bierdeckel und verließ das Lokal. Uli nahm das Geld und blickte dem schmalen, sportlichen Mann erstaunt nach. Er hatte ihn vollkommen übersehen, so sehr hatte er sich auf Sven konzentriert gehabt.

Nachdem die letzten Gäste das Lokal verlassen hatten, half Siggi schweigend beim Aufräumen, während Uli sich freute, dass ein prominenter Schriftsteller den Weg in sein Lokal gefunden hatte. Als sie endlich zu Bett gingen, streckte Siggi seine Hand nach Uli aus, aber dieser rollte sich zur Seite und murmelte, dass er sich nicht anstecken lassen wolle.

Siggi konnte lange nicht einschlafen. Immer wieder musste er daran denken, wie Uli diesen Sven Heumüller angesehen hatte.

Am meisten ärgerte sich Siggi jedoch darüber, dass er nicht zusammen mit Uli den Schriftsteller in seinem Haus in Bergen besuchen durfte. Sein Ärger schlug in quälende Eifersucht um. Was hatte dieser Mann außer schönen Händen, was er nicht hatte? Uli konnte doch nicht auf Dauer an dessen intellektuellen Ausführungen interessiert sein. Oder doch? War er, Siggi, ihm vielleicht zu ungebildet?

Die Frage, wie sich Uli damals gefühlt haben mochte, als er ihn wegen der heißen Affäre mit seinem heimlichen Liebhaber Sascha ziemlich vernachlässigt hatte, diese Frage hatte er sich nicht gestellt.

In dieser Nacht, als ihm alle Felle wegzuschwimmen drohten, fiel ihm wieder ein, dass er Saschas Vater, der nach dem Tod seines Sohnes in der Psychiatrie gelandet war, versprochen hatte, sich um ihn zu kümmern. In der Dunkelheit der Nacht beschloss Siggi, sein Versprechen wahr zu machen und Jean-Paul Wienhold demnächst zu besuchen.

Schließlich gestand sich Siggi ein, dass er den Schriftsteller auch anziehend fand. Mit diesem Gedanken fiel er endlich in einen unruhigen Schlaf.

Nach einem gemeinsamen Frühstück, das recht einsilbig verlief, weil Siggi festgestellt hatte, dass sich Uli, offensichtlich in Vorbereitung auf seinen Besuch in Bergen, sehr lange geduscht und sorgfältig angezogen hatte, machte er sich lustlos auf den Weg zur nächsten Apotheke.

Als Uli am späten Nachmittag am Haus des Stadtschreibers mit dem schönen Straßennamen »An der Oberpforte« klingelte, öffnete Sven so schnell die Tür, dass Uli glaubte, er hätte hinter dem Fenster gestanden und auf ihn gewartet.

Sven zeigte ihm das Haus, in dem vor ihm schon viele und sehr renommierte Schriftsteller gewohnt hatten. Darunter auch Herta Müller, die 1995 Stadtschreiberin von Bergen war und der 2009 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Von allen Stadtschreibern fand er sie aus dem einen Grund am besten, weil sie die präziseste Darstellung des menschlichen Leids gefunden hätte, die den Leser im Innersten erschüttert, ohne dabei sentimental zu werden. Und dann bewundere er den Dresdner Dichter Thomas Rosenlöcher für seine heiteren, lakonischen Betrachtungen des Lebens.

Aber auch alle anderen ehemaligen Stadtschreiber wären überaus lesenswert. Im Übrigen sei die Auszeichnung mit zwanzigtausend Euro dotiert und mit dem Wohnrecht im Stadtschreiberhaus verbunden. Das Außergewöhnliche an diesem Preis wäre, dass er dem Schriftsteller keinerlei Verpflichtungen auferlege. Natürlich hätte aber auch der Schriftsteller selbst ein ureigenes Interesse daran, hin und wieder eine Lesung seiner Werke abzuhalten.

Uli, den Literatur nur mäßig interessierte, fühlte sich durch die mit Leidenschaft vorgetragenen Worte von Sven hineingezogen in die Welt der schönen Künste und bedauerte, dass er so wenig darüber wusste. Wobei er sich darüber im Klaren war, dass es nur der faszinierenden Persönlichkeit von Sven zuzuschreiben war, dass er überhaupt solche Gedanken hatte. Es kam ihm wie eine willkommene Bereicherung seines bisherigen Lebens vor. Uli spürte eine magische Anziehungskraft, die von Sven ausging. Wie sollte er das Siggi erklären? Er wollte auf keinen Fall, dass ihre Beziehung durch seine Leichtfertigkeit gefährdet wurde. Dafür hatten sie in den letzten Monaten zu viel mitgemacht, und diese Erfahrung hatte sie endlich richtig zusammengeschweißt. Außerdem hatte ihm Siggi das Leben gerettet. Denn wenn Siggi damals nicht sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hätte, wer weiß, wie der Mordanschlag auf ihn ausgegangen wäre. Er wäre mausetot und könnte sich die Radieschen von unten betrachten.

Sie saßen an einem kleinen Tisch in der urigen Kneipe neben dem Heimatmuseum in Bergen und unterhielten sich angeregt. Sven hatte von den tollen Rumpsteaks des Lokals geschwärmt. Daraufhin hatten sich beide eins bestellt. Uli war überrascht, wie schmackhaft und auf den Punkt gegart das Fleisch war. Wie sie vom Wirt hörten, war es seine Frau, die die Rumpsteaks zubereitete. Er musste sich eingestehen, dass die Rumpsteaks seiner Köchin Alina nicht besser waren. Auch die dazu gereichten Pommes und der frische knackige Salat trafen seinen Geschmack. Er musste öfter mal auswärts essen, nahm er sich vor. Was ihn allerdings dabei störte, war, dass immer er die Zeche zahlen musste. Bei Siggis mäßigem Talent als Immobilienmakler war ständig Ebbe in dessen Portemonnaie. Uli wusste auch nicht, wofür Siggi sein Geld ausgab. Selbst jetzt, da Siggi bei ihm wohnte und keine Miete zahlte und sich auch selten an den Kosten für Lebensmittel beteiligte, wunderte er sich, warum sein Freund immer mit leeren Taschen dastand. Manchmal konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihn Siggi ausnutzte. Uli hing einen Augenblick seinen unguten Gedanken nach. Jetzt aber wollte er nicht daran denken. Jetzt wollte er sich weiter mit Sven unterhalten. Es war ihm, als hätte er einen Gleichgesinnten gefunden, mit dem er seine innersten Gedanken austauschen konnte. Keiner von beiden hatte das Wort homosexuell ausgesprochen, aber es lag in der Luft. Sie mussten nur danach greifen.

Versonnen schweifte sein Blick zur Theke. Einen Augenblick verweilte er auf dem abgewandten Gesicht eines Gastes, der ihm irgendwie bekannt vorkam und der gerade einen großen Schluck aus seinem Glas nahm. In diesem Moment legte Sven seine Hand leicht auf Ulis Arm. Diese Berührung elektrisierte Uli so sehr, dass sich seine Überlegungen zu dem Mann augenblicklich verflüchtigten. Seit Stunden saß er mit Sven in der kleinen Vorstadtkneipe und fand kein Ende. Es waren nur noch wenige Gäste da, und Uli spürte, dass er jetzt gehen musste. Siggi wunderte sich sicher schon, wo er bliebe.

»Zeit zu gehen. Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Hat mir gut gefallen. Können wir gerne wiederholen. Komm doch die nächsten Tage mal wieder nach Sachsenhausen.« Uli mochte keine hochtrabenden Worte. Aber es war ihm anzusehen, dass er durch die Unterhaltung mit Sven in eine nahezu euphorische Stimmung gekommen war.

Nachdem er sein Auto in Sachsenhausen abgestellt hatte, öffnete er vorsichtig die Haustür und versuchte, sich so geräuschlos wie möglich zu bewegen. Er wollte jetzt keine Vorhaltungen von Siggi hören, wo er sich so lange herumgetrieben hätte. Seine Vorsicht war unnötig. Durch die geschlossene Schlafzimmertür drang lautes Schnarchen. Ein durchdringender Geruch nach Rum waberte durch die Wohnung. Wahrscheinlich hatte sich Siggi eine oder mehrere Tassen mit heißem Grog gemacht, um gegen seine Erkältung anzukämpfen, und lag jetzt benebelt darnieder. Das traf sich gut. Da musste er sein spätes Heimkommen nicht rechtfertigen. Zufrieden legte sich Uli neben Siggi ins Bett. Als dessen Schnarchen allerdings die Lautstärke eines startenden Flugzeugs erreichte, boxte er ihn derb in die Rippen. Mit einem unwilligen Grunzen wälzte sich Siggi schwerfällig auf die Seite.

Den folgenden Sonntag ging es Siggi schon viel besser. Er fühlte sich fit und nahm sich vor, dem schönen Sven auch einen Besuch abzustatten. Allein natürlich.

Am Montag stand er früh auf und ließ Uli schlafen. Dann verdrückte er sich leise, frühstückte beim Bäcker Eifler und schloss dann gut gestärkt sein Büro auf.

Die Luft war muffig. Siggi öffnete die Ladentür, ließ sie offenstehen und betrachtet von außen die Immobilien-Angebote, die er in seinem Schaufenster platziert hatte. Einige Objekte hatte er mit dem Aufkleber »Reserviert« versehen. Neben den realen Angeboten befanden sich allerdings auch einige Fotos und Beschreibungen von Häusern, die er gar nicht zum Verkauf angeboten bekommen hatte. Die Beschreibungen hatte er erstellt, um ein größeres Angebot vorweisen zu können. Bei diesen Lückenfüllern setzte Siggi so hohe Preise an, dass er nicht Gefahr lief, darauf angesprochen zu werden. Gestern wie heute war er doch sehr froh über dieses Büro in bester Lage der Schweizer Straße. Es gab ihm das Gefühl, zur Sachsenhäuser Szene dazuzugehören und wichtig zu sein. Wenngleich er sich manchmal fragte, was es eigentlich bedeutete, wichtig zu sein. Ein Anflug von Dankbarkeit und Demut überkam ihn auch bei dem Vorsatz, den er gefasst hatte. Diese Idylle sollte ihm erhalten bleiben. Er und Uli. Er und sein Maklerbüro. Er und Ulis Wirtshaus. Es lief doch gut.

Endlich widmete er sich seiner Post. Allerdings nahm er kaum wahr, was er gelesen hatte. Zu sehr quälte ihn die Angelegenheit Sven Heumüller. Warum wollte Uli dessen langweilige Texte lesen? Die Antwort lag doch klar auf der Hand, darüber war sich Siggi sicher. Er fragte sich, was dieser Schreiberling von einem Sachsenhäuser Kneipenwirt wollte, wenn nicht Sex? Das Wirtshaus war doch eine andere Welt.

Um vierzehn Uhr legte Siggi die Papiere beiseite. Kurz sah er an sich hinunter und beschloss, dass er so gehen konnte. Wie immer steckten seine Beine in mittelgrauen Stoffhosen, deren Stoff sich anschmiegsam und dünn anfühlte.

Zuerst würde er noch den Mittagsimbiss bei seinem Asia-Snack einnehmen. Siggi zog es normalerweise vor, in dem Imbiss einzukehren, wenn die allgemeine Mittagspausenhektik abgeklungen war und er sicher sein konnte, keine mittägliche Laufkundschaft in seinem Büro zu verpassen, die aber sowieso kaum kam. Wenn in dem Grill etwas Ruhe eingekehrt war, blieb er gerne für eine Stunde oder länger dort, schwatzte mit dem Inhaber oder den Gästen und gönnte sich eine Unterbrechung in seinem faden Berufsalltag.

Nach dem Imbiss genehmigte er sich noch eine Siesta in seinem Büro. Er verriegelte die Tür hinter sich und hängte das Schild »Geschlossen« auf. Kurze Zeit später war er fest eingeschlafen.

Die Dämmerung hatte sich bereits breitgemacht, als er wieder aufwachte. Verwundert stellte er fest, dass er mehrere Stunden fest geschlafen hatte. Nachdem er seine Zähne geputzt und sein Aftershave erneuerte hatte, machte er sich auf den Weg nach Bergen-Enkheim. Sein Navigationsgerät fand ohne Mühe die Oberpforte, die Gasse, in der das Stadtschreiberhaus lag. Während der Fahrt ergriffen ihn eine kalte Wut und eine seltsame Ruhe.

Siggi holte tief Luft. Lange hatte er auf die Blechschilder mit den Namen vergangener Stadtschreiber gestarrt und dem Klopfen seines Herzens gelauscht. Endlich hatte er den Mut zu klingeln. Erst nach dem zweiten Mal öffnete sich im ersten Stock ein Fenster und ein verwuschelter Haarschopf beugte sich nach unten.

»Was ist denn?«, fragte der Autor lustlos und leicht genervt. Doch dann schien er ihn als den Freund des Wirtes zu erkennen, während Siggi noch nach einer geeigneten Antwort suchte.

»Ich will mit dir reden.« Das war alles, was Siggi schließlich einfiel.

»Ich komme runter und mach auf. Viel Zeit hab ich aber nicht.« Siggi hatte diese Worte immer noch im Ohr.

»Viel Zeit hab ich aber nicht.« Genauso war es gekommen.

Sven Heumüller hatte Siggi ein Glas Wein vorgesetzt, weil er keinen Kaffee mehr im Haus hatte, wie er sagte. Sich selbst hatte er auch eines eingeschenkt. Wie es Siggi schien, war es wohl nicht sein erstes Glas an diesem Tag. Er betonte aber sogleich, dass er sehr beschäftigt sei, da er sich in einer hektischen Schreibphase befände.

»Man muss die Worte kommen lassen, wenn sie strömen wollen.«

Siggi hörte sich geduldig die Beschreibung des Schaffensprozesses an und ließ den Inhalt des begonnenen Werkes an sich abprallen. Endlich kam auch er zu Wort.

»So geht es nicht weiter.« Der Wein hatte Siggis Zunge gelockert. »Du kannst mir meinen Freund nicht wegnehmen. Lass die Finger von Uli. Lass ihn in Ruhe, ist das klar?«, forderte Siggi lautstark.

»Ach, sei doch nicht so spießig.« Sven fuhr sich durch die Haare. Irritiert durch diese Bewegung befühlte Siggi seine kahle Stelle am Hinterkopf. Sven schien die Geste nicht zu bemerken, obwohl er seine Augen nicht von Siggi lassen konnte. Dieser Blick hatte sich Siggi deutlich eingeprägt.

»Du, ich hab den ganzen Tag kaum etwas gegessen, ich hab Hunger, du auch? Wollen wir uns 'ne Pizza kommen lassen?«

Während Sven telefonierte, versuchte Siggi die behagliche Ausstattung des Stadtschreiberhauses zu inspizieren. Er wollte sehen, ob es irgendwelche Spuren von Uli gab. Seine Blicke waren aber an der schmalen Taille des Schriftstellers hängengeblieben, nachdem sie schon vorher dessen volle Lippen wahrgenommen hatten. Sven schenkte nach. Siggi hatte mitgehört, dass sein Gastgeber noch eine weitere Flasche Wein bei dem Pizzaservice geordert hatte. Schweigend hatten sie getrunken und ihre Blicke ineinander versenkt, bis sie ein lautes Krachen zusammenfahren ließ.

»Was war das?«, hatte Siggi erschreckt gefragt.

»Keine Panik, ich werde nachsehen.«