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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 

»Jeder Mensch... hegt das natürliche Bedürfnis,
sich eine Lebensanschauung zu verschaffen,
eine Vorstellung von Ziel und Sinn des Lebens.«
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SØREN KIERKEGAARD, Entweder – Oder

Vorwort
Es ist Donnerstag. Pfarrer Ted Harris hat eben Tee aufgesetzt, als ich komme, um ihn im Schulhaus am Adolf-Fredriks-Friedhof mitten in der Stockholmer Innenstadt zu besuchen. Wir sprechen über das Leben und wie erstaunlich es doch ist, dass so viele von uns sich verloren fühlen, wo doch der Alltag für die meisten so gut organisiert, sicher und reichhaltig ist.
Da beginnt er, von Søren Kierkegaard zu erzählen, dem dänischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, der es als lebensnotwendig betrachtete, im Leben einen Sinn zu finden.
»Er meinte, dass alle Menschen eine Lebensanschauung benötigen«, erzählt Ted, »etwas, das uns morgens aufstehen lässt, das dem Dasein eine Perspektive und dem Menschen Kraft zum Leben verleiht. Ohne so etwas verlieren wir den Boden unter den Füßen und werden innerlich leer.«
»Hat er das geschrieben?«, frage ich, die ich Søren Aabye Kierkegaard bisher noch nicht viel Zeit gewidmet habe.
»Ja, und außerdem glaubte er, der Sinn des Lebens sei individuell, niemand anders außer einem selbst kann ihn formulieren.«
»Ganz alleine suchen? Aber was ist mit den etablierten Ideen, den Religionen, den Philosophien«, rufe ich Ted hinterher, der in die Küche gegangen ist, um Tee und Brote mit Tomaten, Käse und extra viel schwarzem Pfeffer zu holen. »Kann ich mich nicht auf die stützen?«
»Søren meint nein«, sagt Ted und deckt auf. »Es ist dein Leben und dein Lebenssinn, und deshalb kannst nur du eine Antwort haben. Darauf ist Kierkegaard schon früh gekommen, und dann hat er sich der Frage gewidmet, wie das denn ablaufen könnte. Wie kann man lernen, sich selbst zu verstehen, und wie kann man einen eigenen Lebenssinn formulieren? Im Laufe der Zeit wurden seine Überlegungen zu einem Weg mit drei Stadien und neun Schritten.«
»Wirklich? Ein nordischer geistiger Weg?«, frage ich erstaunt.
»Nein, nicht geistig«, erwidert der Pfarrer Ted, »nur eine Methode, nach Sinn zu suchen. Søren Kierkegaard wollte auf keinen Fall ein Prophet sein und nannte sich nicht einmal Theologe oder Philosoph. Er wollte keine Antworten bieten, hatte keine Beschreibung dessen, was wahr sein sollte, keine Analyse des Ganzen. Die neun Schritte erwuchsen aus seinem eigenen Leben, aus seinem eigenen Ringen mit den existenziellen Fragen.«
»Und worauf zielen sie ab?«
»Zu lernen, innerlich zu leben«, sagt Ted, und diese Worte setzen sich bei mir fest. Innerlichkeit, es ist lange her, dass jemand davon gesprochen hat.
»Was meinte er?«
»Innerlich zu sein«, erklärt Ted, »bedeutet, dass man dem Leben und sich selbst den höchsten Ernst entgegenbringt. Dass man sowohl die äußere wie auch die innere Wirklichkeit gründlich betrachtet und in jedem Moment zu verstehen versucht, wie alles zusammenhängt. Vergiss alles Müssen, all das, wovon andere behaupten, es sei die Wahrheit, und denke stattdessen darüber nach, was du selbst fühlst und meinst: Wer bist du, jenseits aller Vorstellungen? Was willst du aus dir selbst machen? Und was ist deine Ansicht über den Ursprung des Lebens – über das Ganze, über die Existenz selbst, das, was Søren manchmal das Nichts nennt?«
Es ist später Nachmittag geworden, und die Dunkelheit schleicht bereits um die große, weiße Kirche vor dem Fenster des Schulhauses. Ted räumt die Tassen und Teller weg und stellt alles in die Geschirrspülmaschine in der schmalen Küche.
Als er zurückkommt, frage ich, ob wir nicht ein Buch über die Methode von Søren schreiben sollten. Natürlich gibt es Regalmeter über ihn selbst und noch mehr Bücher, die versuchen, seine Gedanken zu interpretieren, aber ich würde gern über den Weg lesen – ein Buch über die Suche nach dem Sinn des Lebens und die Kunst, innerlich zu sein, geschrieben für jemanden wie mich, der in Philosophie nicht so bewandert ist. Und wenn es das Buch noch nicht gibt, dann könnten wir es doch schreiben.
»Wenn du schreibst«, sagt Ted. »Ich erzähle, und du schreibst.«
Und so haben wir es gemacht. Dieses Buch über die drei Stadien und neun Schritte des Søren Kierkegaard ist aus vielen langen Gesprächen dort im Schulhaus auf dem Friedhof entstanden. Ted hat die nicht immer ganz glasklaren Gedanken des alten Philosophen erzählt, auf Notizblöcke gezeichnet, erklärt, herausgefordert und neu interpretiert.
Ich habe geschrieben und mit Hilfe meines eigenen Lebens und dem anderer Menschen versucht, die Gedanken des Philosophen und des Pfarrers konkret und für uns, die wir heute leben, nutzbar zu machen. Und so entstand das Buch.
Nehmen wir nun also den bald zweihundert Jahre alten Philosophen an der Hand und beschreiten wir mit ihm zusammen seinen inneren Weg. Er hat schon seinen seltsamen Hut aufgesetzt, seinen unmodernen Mantel angezogen und seine Stiefel und die engen Hosen angezogen.
»Vergiss den Stock nicht, Søren, vergiss nicht, einen deiner vielen geliebten Stöcke mitzunehmen.«
 
Ann Lagerström

»… es gilt, eine Wahrheit zu finden,
die für mich Wahrheit ist,
die Idee zu finden,
für die ich leben und sterben will.«
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AUS DEM TAGEBUCH VON SØREN KIERKEGAARD

Es beginnt mit einer Frage
Es kann an einem gewöhnlichen Tag anfangen, wie eine etwas unangenehme Ahnung. Irgendwas stimmt nicht, irgendetwas im Leben reibt sich und lässt dir keine Ruhe. Der erste Impuls ist, es schnell wegzuwischen, vor allem in unserer Zeit, wo es so vieles gibt, mit dem man sich zerstreuen kann. Aber wie man sich auch verhält, es wird doch nicht besser. Diese Ahnung kehrt wieder, und man verspürt eine diffuse Unruhe und Unzufriedenheit. Es nagt und nagt, und eines Tages, oder vielleicht spät nachts, fasst man sich ein Herz und hört, dass die Ahnung eine Frage ist, ein Satz mit sechs Wörtern:
»Was ist der Sinn des Lebens?«
Und du denkst:
Ja, was ist eigentlich der Sinn des Lebens?
Die Frage ist nicht sonderlich originell, sie ist schon jahrhundertelang, jahrtausendelang gestellt worden, seit der Urzeit, als das Wesen, das man Mensch nennt, die Fähigkeit ausbildete, sich den morgigen Tag vorzustellen. Ist das hier alles?, fragte es sich. Gibt es nicht mehr?
 
Zu Søren Aabye Kierkegaard, dem großen dänischen Philosophen, kam die Frage über den Sinn des Lebens früh. Das erste Mal, als er sie sich stellte, war er erst 22 Jahre alt. Wir können ihn im Jungenzimmer in der protzigen Wohnung am Nytorv 2 in Kopenhagen sehen. Wir schreiben das Jahr 1835, und er ist gerade dabei seinen Koffer zu packen.
Søren hatte alles, was ein junger Mann in jener Zeit begehren konnte. Sein Vater Michael Pedersen hatte sich ein Vermögen erarbeitet und hegte hochfliegende Pläne für seine vielen Kinder. Søren sollte jetzt die Universität besuchen und Theologie studieren, vielleicht würde er Pfarrer werden. Aber das mit dem Studieren war nicht so einfach – er feiert ziemlich viel, besucht nur widerstrebend die Vorlesungen und kann nicht recht verstehen, was er mit dem Wissen anfangen soll: »Was nutzt es mir, die Bedeutung des Christentums erklären zu können, viele unterschiedliche Phänomene erklären zu können, wenn sie doch für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung haben?«, schreibt er in sein grün marmoriertes Tagebuch.
Es berührt ihn nicht, genau wie es heute viele Jugendliche gibt, die schon im Alter von zwanzig Jahren finden, dass vieles sinnlos ist. Warum lebe ich, fragt sich Kierkegaard, was ist der Sinn? »Ich stehe vor einem großen Fragezeichen.«
Jetzt hat er beschlossen, aufs Land in den Fischerort Gilleleje zu fahren, um in der Natur sich selbst zu finden, oder, wie er es in einem Brief an seinen eingeheirateten Verwandten Peter Wilhelm Lund ausdrückt, um »meinen Blick auf mein eigenes Inneres zu richten«.
Das sieht aus wie ein gewöhnlicher Urlaub, ist aber eines von diesen Alltagsgeschehnissen, die den Gang der Geschichte beeinflussen. Isaac Newton wird von einem Apfelbaum inspiriert und bekommt so die Idee zur Gravitation, und Søren Kierkegaard fährt nach Gilleleje und formuliert die Grundlagen des Existenzialismus.
Wenn der Sinn des Lebens nun einmal nicht im gesellschaftlichen Leben in Kopenhagen und nicht in der Theologie zu finden ist, so findet man ihn vielleicht in der Natur, denkt sich Søren und zieht die Wanderschuhe an. Doch nachdem er mehrere Wochen lang auf dem Lande herumkutschiert ist, gibt er auf – auch das Meer, die Wälder und geschichtsträchtige Orte berühren ihn nicht, und am 1. August 1835 holt er das grün Marmorierte heraus und schreibt die Worte nieder, die in die Philosophiegeschichte eingehen sollen: »… es gilt, eine Wahrheit zu finden, die für mich Wahrheit ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.«
Nur ein paar unschuldige Worte, die niedergekritzelten Gedanken eines jungen Mannes, aber dieser Satz ist ein intellektueller Sprung, der die ganze westliche Welt beeinflussen wird.
Ich, Søren Kierkegaard, konstatiert er, brauche den Sinn des Lebens nicht außerhalb meiner selbst zu suchen. Ich muss keinen Autoritäten folgen und an keine Lehre glauben. Ich kann selbst bestimmen, was richtig und was falsch ist. Die Wahrheit über mein Leben kann nirgendwo anders gefunden werden als in meinem eigenen Inneren.
Er packt, er fährt nach Hause. Jetzt weiß er es. Die Wochen in Gilleleje haben ihm eine Idee geschenkt, für die »zu leben und zu sterben« er sich vorstellen kann. Er hat entdeckt, dass der Sinn seines Lebens darin liegt, zu verstehen zu versuchen, wie ein Mensch den Sinn seines Lebens finden kann. Søren sieht es als seine Lebensaufgabe an, zu untersuchen, wie er selbst und andere funktionieren. Was bedeutet es, Mensch zu sein? Welche Funktion hat der Sinn des Lebens? Und was müssen wir tun, um ihn zu finden?
Er reist noch eigensinniger denn je nach Kopenhagen zurück und beginnt sogleich mit seiner großen privaten Forschungsarbeit. Das wird er zwanzig Jahre lang verfolgen, jeden Tag, jede Stunde, fanatisch, fast manisch.
Genauso wie die Suchenden unserer Zeit fängt er an, überall nachzuforschen – er studiert, er denkt nach, er phantasiert, er tastet sich vor, versucht und fragt sich durch. Er sucht nach Wissen in der Universitätsbibliothek von Kopenhagen – Philosophie, Biologie, Kultur, Religion, Medizin – alles in einem einzigen kreativen Durcheinander. Er liest ein Kapitel hier, ein wenig dort, unterstreicht, notiert, kommentiert und diskutiert wild und hemmungslos mit allen, die in seine Nähe kommen – Freunde und Bekannte, Lehrer und Pfarrer, Menschen, die ihm auf der Straße begegnen. Und dann experimentiert er mit seinem eigenen Leben, mit sich selbst und seinen Beziehungen, 130 Jahre vor der 68er-Revolution, 140 Jahre vor den Patchwork-Beziehungen der 70er Jahre, 150 Jahre vor den Privatreligionen der 80er Jahre und fast 160 Jahre vor der digitalen Revolution.
Was für ein moderner Mensch warst du doch, Søren, und wie du das Internet geliebt hättest, und was für einen Blog du mit deinen freien Gedanken und deinem geschickten Umgang mit Wörtern und Sätzen gehabt hättest.
Es entstehen über 7000 Seiten Tagebuchaufzeichnungen, Unmengen von Artikeln und an die vierzig Bücher in unterschiedlichen Stilrichtungen, zu verschiedenen Themen und unter phantasievollen Pseudonymen: Victor Eremita, Viviglius Haufniensis, Constantin Constantinus, Johannes de Silentio, Johannes Climacus und Anti-Climacus. Alle im Grund mit demselben Thema: Das Recht des Menschen, er selbst zu sein, und sein Bedürfnis, seine eigene Wahrheit zu finden, seinen eigenen Sinn des Daseins.
004
Viele meinen, sie könnten leben, ohne zu wissen, wohin sie unterwegs sind. Sie glauben, es würde genügen, zu arbeiten und zu sein, ohne darüber nachzudenken. Am Morgen steht man auf, frühstückt, geht zur Arbeit, kauft ein, isst zu Abend, sieht fern, geht schlafen, steht am Morgen auf, frühstückt, fährt in Urlaub, renoviert das Haus, sieht einen Film, trifft Freunde, geht schlafen, steht morgens auf – und das genügt.
Søren war anderer Meinung. Er hatte zwar keine Meinung zum Alltag der Menschen, denn sein eigener war auch nicht sonderlich aufregend. Wenn man Arbeit durch Studieren ersetzt, Film durch Theater, Renovieren durch Einrichten, Urlaub durch Spaziergänge, dann hat man eine gute Vorstellung von Sørens eigenem Leben. Nein, er war überzeugt davon, dass es nicht genügt, sich im Äußeren einzurichten. Ganz egal, welches Leben man hat. Ob es nun ruhig oder abenteuerlich ist, zufriedenstellend oder beschwerlich, wird man sich doch eines Tages fragen: Warum? Warum lebe ich? Was ist der Sinn?
Das ist natürlich, glaubt Søren, es ist unausweichlich. Genau wie der Körper aus eigener Kraft wächst und sich entwickelt, will auch unser Inneres wachsen und immer mehr von der Wirklichkeit erfassen. Die Suche nach dem Sinn ist in unsere Natur hineingelegt.
Ein Mensch, so denkt Søren Kierkegaard ganz im Sinne des griechischen Philosophen Platon, ist kein Stuhl. Ein Stuhl braucht nichts, um zufrieden zu sein. Jemand denkt ihn sich aus, jemand tischlert ihn zusammen, und dann steht er da und ist Stuhl. Man kann ihn verschieben, auf den Kopf stellen, wegwerfen – das alles ist unerheblich. Ein Stuhl reflektiert nicht über seine Situation, er will nichts, er entwickelt sich nicht, er ist und bleibt das Möbelstück, das der Tischler anfertigte. Genauso verhält es sich mit Bäumen, Häusern und zu einem gewissen Teil mit Tieren.
Ein Mensch hingegen ist nicht konstant wie der Stuhl, er ist ein Prozess. Er registriert, agiert und verändert sich mit dem Leben, das er lebt. Der Mensch ist im Werden – heute ist er so, in einiger Zeit kann er ein anderer sein, und er wird nicht umhin kommen, sich über diesen anderen zu verwundern, über sich selbst als Möglichkeit. Es ist diese Spannung zwischen Jetzt und Dann, zwischen dem Ich von heute und dem Ich von morgen, diese dem Menschen innewohnende Verwunderung über sich selbst und die Welt, die – so glaubt Søren -, die Suche nach dem Sinn des Lebens in Gang setzt.
 
Er beobachtet sich selbst, er sieht sich unter Freunden und Bekannten in Kopenhagen um und notiert in seinen vielen Tagebüchern ein Sammelsurium von Gedanken, Gefühlen, Theorien, Beobachtungen, Erzählungen und Allegorien. Mit der Zeit meint er zu verstehen, wie es funktioniert, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, welche Entscheidungen getroffen werden müssen, welche Taten ein Mensch ausführen muss, um sich in seiner eigenen Entwicklung weiterzubringen. Er entdeckt drei Stadien. Das sinnliche Stadium, das innerliche und das geistige Stadium. In jedem Stadium meint er drei Stufen zu sehen, von denen jede weiterführt.
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Da der Prozess, so Søren, zum Menschen dazugehört, kann er ganz aus sich heraus entstehen: Die Begegnung des Kindes mit der Welt weckt Erstaunen, das wiederum weckt Fragen, die das Kind dazu bringen, zu untersuchen, zu entdecken und zu handeln, und das führt zu Erfahrungen, die wieder mehr Fragen entstehen lassen, die den Menschen Schritt für Schritt voran und nach innen treiben, auf seinen eigenen Lebenssinn zu.
Doch er entdeckt auch Fallen, Bremsklötze, die den Prozess schon früh zum Halt bringen können. Die Erziehung ist ein solcher Bremsklotz, stellte Kierkegaard fest und dachte dabei an seinen strengen, reservierten Vater. Konventionen sind ein anderer, meinte er, und erhob sich schon früh gegen Moralvorstellungen und Umgangsregeln. Anpassung ist ein dritter Bremsklotz, stellte er fest, und warnte vor unserer ewigen Sehnsucht, dazuzugehören. Alle drei lenken ab und zerstören die feinsinnigen inneren Suchwerkzeuge – Offenheit und Neugier. Und wenn wir die verlieren, dann ergeht es uns schlecht, meinte Søren, denn dann verlieren wir die Hellhörigkeit, unser Vermögen, auf uns selbst zu hören, und damit unsere Möglichkeit, uns zu entwickeln. Wir erstarren und kleben fest, bleiben stehen und treten auf der Stelle und entfremden uns immer mehr von uns selbst und unserem eigenen Leben.
 
Søren meinte, dass er eine wichtige Entdeckung gemacht habe, einen Weg, der den Menschen befreien könnte, und er nannte ihn seinen »Schatz«. Lass das Selbstverständliche, die Konventionen und die alten Vorstellungen los, ermahnte er seine Mitmenschen, begreife, dass du frei bist. Entdecke dich selbst, begib dich auf ein lebenslanges Abenteuer, auf die Jagd nach der Wahrheit deiner eigenen Existenz.
Er hatte nicht viele Zuhörer. Die meisten verstanden ihn nicht. Stattdessen stellten sie ihn in Frage, verleumdeten und mobbten ihn geradezu bis zu seinem Tod 1855 im Alter von 42 Jahren. Sollte der Mensch etwa imstande sein, den Sinn ganz allein zu finden, ohne Eltern, Lehrer und Pfarrer, sollte ein einzelner Mensch gar die Wahrheit finden können? Unmöglich.
Doch Søren gab nicht auf, er war überzeugt davon, recht zu haben, und er war sich sicher, dass es einen Weg für den Menschen gab, er selbst zu sein, einer, »ein einfacher« zu sein.
Seit Søren seine Bücher geschrieben hat, sind fast 200 Jahre vergangen. Vieles hat sich verändert.
Glaubst du, wir sind bereit, dich jetzt anzuhören, Søren? Sind wir Menschen des 21. Jahrhunderts selbstständig genug, um auf deine Methode neugierig zu sein? Oder werden uns deine Gedankengänge auch provozieren und verärgern? Was meinst du? Sollen wir es versuchen? Sollen wir ganz von vorn anfangen, mit dem, was für dich das erste Stadium im Leben eines Menschen war, die Sinnlichkeit und die Begegnung des Menschen mit der Welt?

»Mein Hauptgedanke war,
dass man in unserer Zeit … vergessen hat,
was es bedeutet, zu existieren.«
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ABSCHLIESSENDE UNWISSENSCHAFTLICHE
NACHSCHRIFT ZU DEN PHILOSOPHISCHEN BROCKEN
(1846)

Sinnlichkeit
Das erste Stadium
»Hier haben wir also eine Lebensanschauung,
die lehrt: genieße das Leben …«
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Entweder – Oder

SCHRITT 1
Der Welt begegnen
Krankenhaus Danderyd am 10. Mai 1985 um 01.56 Uhr: Ein Mädchen wird geboren und vorsichtig auf den Bauch seiner Mutter gelegt. Es quengelt ein wenig, macht erst ein Auge auf, dann das andere, versucht, den Kopf zu drehen, sieht sich um, entdeckt etwas, bewegt sich ein wenig ungelenk darauf zu, findet es und saugt.
Beim menschlichen Suchen nach Sinn steht die Sinnlichkeit an erster Stelle – natürlich. Ein Mensch kann ohne seinen Körper nicht existieren. Ein Körper hat Bedürfnisse, er kann ohne die materielle Wirklichkeit nicht überleben. Wenn ein Kind geboren wird, dann ist es nicht die äußerste Wahrheit, die es sucht, sondern die am nächsten liegende und greifbare. Brust ist gleichbedeutend mit Milch ist gleichbedeutend mit Leben. Mama und Papa sind gleichbedeutend mit Geborgenheit. Rassel, Kuscheltier, Löffel, Spielsachen sind gleichbedeutend mit Wissen.
Schau dir nur die Babys an, wenn sie sich langsam aus ihrer Verpuppung lösen und der Welt begegnen. Wie jeder Forschungsreisende nehmen sie wahr und versuchen zu unterscheiden und zu begreifen. Was kann das sein, was da viele Male am Tag an mir vorübersaust, fragen sie sich wortlos. Und welche Einsicht, welche Herausforderung und welche Zufriedenheit liegt darin, wenn das Kind eines Tages begreift, dass das eine Hand ist – seine eigene Hand. Und dann der nächste Schritt: Ich habe eine Hand, wozu benutzt man die?
Und eines Tages dann greift die Hand zufällig etwas, oder vielleicht hat auch der Papa etwas in die Hand gelegt, und dann folgt die Einsicht: Man kann mit der Hand festhalten. Und kurze Zeit darauf die phantastische Entdeckung: Man kann das, was man festhält, loslassen. Und dann ist das der Sinn des Lebens, zu greifen und loszulassen, wieder und wieder und wieder.
Was ist eine Reise nach Laos, auf die Fidschi-Inseln oder nach Kasachstan verglichen mit der ersten Zeit des Kindes außerhalb der Gebärmutter? Zum ersten Mal eine Baumwolldecke an der neugeborenen Haut, ganz neue Gerüche und all die Geräusche: zuerst ein einziges Durcheinander, dann die Stimme der Mutter von der des Vaters unterscheiden, die Geschwister, Vögel, das Radio, Automotoren. Ständig einzigartige Sensationen, die das neue kleine Ich des Kindes aus seiner eigenen inneren Welt ziehen. Das nach innen Gewandte wird zur Faszination über alles, was dort draußen existiert, alles, was es außerhalb seiner selbst gibt. Das Mamababy und die Ichwelt werden zu Mama und Kind, Ich und Welt.
 
Das Suchen eines Menschen, so meint Søren, muss dort beginnen, wo er steht, in dem, was er jetzt gerade, in diesem Augenblick braucht. Auch wenn Søren also auf der Jagd nach dem allertiefsten Lebenssinn ist, so verneint er doch nicht die anderen Wege, einen Menschen zufrieden zu stellen. Was ein Mensch braucht, das braucht er, konstatiert er. Was er genießt, das genießt er. Wo er ist, da ist er.
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Die Materie, der Körper, die Dinge, so denkt er, sind ebenso wichtige Teile der Welt wie die Wissenschaft, die Politik und die Religion. Die Materie – von mater – ist der Grund, unsere Mutter, der Staub, aus dem wir geschaffen sind, die Wirklichkeit, deren Teil wir mit jeder Zelle und jedem Molekül sind. Das können wir nicht leugnen, davon können wir nicht absehen. Ohne Materie kein Mensch, ohne Materie kein Gehirn, mit dem man denken könnte, ohne Materie kein Körper, keine Gefühle, keine Existenz. Wir sollten uns darüber freuen, meint Søren.
- Und ich weiß, dass du das getan hast, Søren. Du warst nicht einer von diesen vergeistigten Philosophen, die meinen, dass die Askese sie glaubwürdiger macht. »Hört mich an, ich habe sechs Jahre lang nichts gegessen und monatelang nicht geschlafen.«
Nein, wenn er den Vormittag damit zugebracht hatte, über das Wesen Gottes nachzudenken, nahm er gern ein leckeres Mittagessen zu sich. Warum nicht Gans, »leicht gesalzen, wie ein gewöhnliches Gänsesteak serviert, oder eine Gänsebrust mit Spinat oder Brechbohnen, Taube und Lachs«, und dazu natürlich Bier und Wein und Kaffee, das alles von Madame Andersen an die Tür gebracht. Nach dem Mittagessen unternahm er einen Spaziergang, genoss Menschen und Natur, und auf dem Heimweg ging er vielleicht noch hin und bestellte sich eine schöne Gardinenstange, die er eigentlich nicht brauchte.
 
In Sørens Universum sind das Materielle, das Mentale und das Geistige nicht voneinander getrennt. Es sind Kreise in Kreisen, Teile derselben Ganzheit, die einander umfassen.
Im Innern der erste Kreis, die Materie, der sinnliche Teil der Wirklichkeit. Weiter außen ein etwas größerer Kreis, der den ersten einschließt und beinhaltet, hier liegen die mentalen Qualitäten des Menschen, Bewusstsein, Analysefähigkeit, Wille, Handlungskraft und Kreativität, die Søren Kierkegaard in dem Begriff »Innerlichkeit« zusammenfasste. Und dann weiter außen, die beiden anderen Kreise umfassend und beinhaltend, der große Kreis, dessen äußere Grenze niemand von uns begreifen kann, der ewige oder geistige Aspekt des Totalen – das, was Søren die »Unendlichkeit« oder »Ganzheit« nannte.
Das Sinnliche, das Innerliche und das Geistige. Drei Stadien in der Entwicklung eines Menschen, drei Dimensionen derselben Wirklichkeit. Verschiedene Aspekte des Lebens und doch dasselbe.
- Aber was ist das Beste, wonach sollte ein Mensch streben?
- Woher soll ich das wissen?, fragt Søren und macht auf einem seiner täglichen Spaziergänge durch Kopenhagen kehrt.
- Warte doch kurz, die drei Stadien betrachtest du aber doch als eine Hierarchie, oder? Der Mensch beginnt als sinnliches Wesen, macht dann einen Sprung hinauf zum innerlichen und möglicherweise weiter zum geistigen, denn das ist doch wohl das Höchste, das ein Mensch erreichen kann. Søren schüttelt den Kopf.
- Hast du hier nicht eben erst geschrieben, die Menschen des 21. Jahrhunderts seien nicht mehr so autoritätsgläubig? Und jetzt willst du, dass ich bestimmen soll, dass ich über dein Leben urteilen soll? Du willst, dass ich einer von diesen Heilsversprechern werde, die verschiedene Techniken im Angebot haben: Wenn du es nur so oder so machst, wird alles gut werden. Tut mir leid, wenn du den Sinn des Lebens finden willst, dann musst du es schon selbst tun, ausgehend von deinen eigenen Voraussetzungen, Gefühlen und Bedürfnissen. Was ich meine, ist dabei uninteressant. Was das Richtige ist, existiert nur in Relation zu dir selbst. Das Stadium, mit dem du zufrieden bist, ist immer das richtige.