2., durchgesehene Auflage 2013. Copyright © 1979 by Taisen Deshimaru. Titel der Originalausgabe: «The Voice of the Valley», erschienen bei The Bobbs-Merrill Comp., Inc., Indianapolis / New York. Deutsche Rechte © 1982 by Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg. Übertragung aus dem Englischen von Annette Doffin-Rozkosny, Vladimir Rozkosny und Werner Kristkeitz. © Umschlagabbildung und Illustration: Linolschnitte von Saskia Vandrey.

Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen, Verwertung bleiben vorbehalten.

ISBN eBook: 978-3-921508-90-1

ISBN gebundenes Buch: 978-3-921508-18-3

www.kristkeitz.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Ich verneige mich in Sanpai

vor den Drei Schätzen:

Bud­dha, Dharma und Sangha.

Ich verneige mich in Sanpai

vor meinem Meister Taisen Deshimaru:

dem Bo­dhi­dhar­ma der Gegenwart.

P. C.

Vorwort

Taisen Deshimaru war Schüler von Kōdō Sawaki. Kōdō Sawaki war der wichtigste Sōtō-Zenmeister der Überlieferung seit Dōgen [→ 1], und er konzentrierte den Edelstein seiner Lehre auf nur einen Schüler, Taisen Deshimaru, mit dem er viele Jahre zusammen war und den er liebte.

Unmittelbar vor seinem Tod gab Meister Kōdō Sawaki Deshimaru die Mönchsordination und somit die Überlieferung, die von Bud­dha zu Bud­dha, von Vorfahre zu Vorfahre weitergegeben wird.

Kōdō Sawaki starb jedoch plötzlich, und so bestätigte ich, Yamada, offiziell und stellvertretend für den großen Meister in meiner Funktion als Vorsteher des Tempels Eiheiji [→ 2], dass Taisen Deshimaru das Shihō erhalten hatte.

Ich betrachte es als eine große Ehre, das Shihō Taisen Deshimarus bestätigt zu haben. Bis zum heutigen Tag gab ich, Yamada, es noch an keinen anderen, und ich bin darüber sehr glücklich, da Taisen Deshimaru ein wahrhaft großer Meister ist.

Als ich 1976 mein Amt als Vorsteher des Eiheiji niederlegte, hätte der Regel nach Taisen Deshimaru nach Japan zurückkehren und meine Nachfolge antreten müssen. Aber wie Bo­dhi­dhar­ma im sechsten Jahrhundert verbreitet Deshimaru heute die wahre und authentische Essenz des Bud­dhismus im Westen, und so braucht er nicht zurückzukommen.

Deshimarus Gesicht gleicht dem Bo­dhi­dhar­mas, und seine Lehre nicht minder. Deshimarus Lehre ist exakt die von Bo­dhi­dhar­ma.

Dieses Buch folgt der Essenz des überlieferten Zen – des überlieferten Zen, das durch Bo­dhi­dhar­ma und Deshimaru weitergegeben wird. Ich, Yamada, glaube daran. Es ist wie die Stimme des Tales. Es ist wie der Fluss. Es erzeugt ein unendliches Echo.

Meine Mission in Amerika dauerte fünf Jahre. Ich war als Kaikyōsōkan [→ 3] in San Francisco. Ich bedaure, dass ich nicht viel Einfluss hatte und dass meine Mission, wahres Zen in Amerika zu verbreiten, nicht besonders erfolgreich war. Taisen Deshimaru dagegen, der seit zehn Jahren Kaikyōsōkan in Europa ist, hatte Erfolg. Er verbreitet das wahre Zen Bo­dhi­dhar­mas und Dōgens im Westen.

Durch dieses Buch kann der Deutsch sprechende Leser zum wahren Verständnis der reinen Lehre Bo­dhi­dhar­mas kommen. Ich, Yamada, glaube zumindest daran.

Mit diesem Tag erlebe ich große Freude, da der Mission meines Lebens Erfolg beschieden ist.

Yamada Reirin, Zenji,

em. Vorsteher des Tempels Eiheiji,

em. Präsident der Japanischen Bud­dhistischen Union

Einführung

Vergangene Meister der Überlieferung

Bo­dhi­dhar­ma, der Sohn eines indischen Königs, reiste von Südindien nach Nordchina, um die wahre Lehre Bud­dhas zu verbreiten, die er mit sich führte. Irgendwann zu Beginn des sechsten Jahrhunderts kam Bo­dhi­dhar­ma in der chinesischen Hauptstadt an und traf den Kaiser Yang.

«Ich bin ein großer Kaiser», sagte der Herrscher zu dem Mönch während ihrer kurzen, aber historisch bedeutsamen Begegnung. «Ich habe Tempel und Stūpas erbaut und viele tausend Mönche ernährt und unterstützt. Mein Verdienst dem Bud­dha gegenüber ist sicherlich groß. Was meint Ihr?»

Bo­dhi­dhar­ma antwortete bloß: «Mukudoku – kein Verdienst.»

Der Bud­dhismus befand sich zu dieser Zeit in den Händen von Aristokraten, Gelehrten und Intellektuellen, in einem Stadium der Dekadenz, und so ging Bo­dhi­dhar­ma, um Klarheit zu schaffen, in die Berge und saß neun Jahre lang vor einer Felswand.

Ein Mann namens Eka, der von dem in einer Höhle sitzenden Vorfahren gehört hatte, ging ihn besuchen. An der Höhle angekommen, schaute er hinein und sah, dass der Meister gerade in tiefer Konzentration saß. So wartete er draußen. Es war kalt und es schneite. Als es dunkel wurde, versuchte er, die Aufmerksamkeit des Meisters auf sich zu lenken. Dieser saß da wie ein Holzblock und ignorierte ihn. Nachdem so einige Tage vergangen waren, rief Eka – der Schnee reichte ihm inzwischen bis zur Hüfte – in die Höhle: «Bitte, mein Geist ist nicht friedlich. Beruhigt ihn für mich.» Dies sagte er stotternd, denn er weinte.

Aber er erhielt keine Antwort, und so zog der Mann sein Schwert und hieb sich die linke Hand ab.

Jetzt sah Bo­dhi­dhar­ma Eka an und sagte: «Bring mir deinen Geist, und ich werde ihm Frieden geben!»

«Ich mag ihn suchen, wie ich will», antwortete Eka, der vor Schmerzen in seinem Arm wie von Sinnen war, «aber ich kann ihn nicht finden.»

«Siehst du? So habe ich ihn beruhigt.» Eka trat aus dem blutgetränkten Schnee und warf sich in Sanpai [→ 4] vor dem Meister nieder.

Eka blieb neun Jahre bei seinem Meister und praktizierte nur Shikantaza – konzentriertes Sitzen in der Zazenhaltung. Als Eka schließlich die Essenz der Lehre des Meisters empfangen hatte – nämlich dass es den Begriff «Mangel» nirgendwo im ganzen Universum gibt – und dies in der Tiefe seines Geistes und seines Körpers erfasst hatte, übertrug ihm Bo­dhi­dhar­ma die Nachfolge.

Bo­dhi­dhar­ma, der erste Vorfahre des Zen und der achtundzwanzigste in der Linie seit Bud­dha Śākyamuni, wurde im Alter von 150 Jahren vergiftet – das heißt, man bot ihm Gift an, das er im Stil von Sokrates annahm.

Eka, nun der zweite Vorfahre des Zen, ging in die Stadt, wo er im Schlachthof wohnte und manchmal als Metzger arbeitete. Und dort begann er auch, den Dharma [→ 5] zu verbreiten – hauptsächlich durch Zazen. Er saß, wie sein Meister es ihn gelehrt hatte, in der exakten Haltung des Bud­dha Śākyamuni.

Ein Mann namens Sōsan, von Lepra geplagt und dem Tod nah, suchte den zweiten Vorfahren auf.

Nachdem er Ekas Schüler geworden war, saß auch er in der perfekten Haltung – neun Jahre lang. Er wurde von der Lepra geheilt, und nachdem er die Essenz der Lehre seines Meisters empfangen hatte – nämlich dass es den Begriff «Überfluss» nirgendwo im ganzen Universum gibt –, erhielt Sōsan die Übertragung.

Der Bud­dhismus wurde damals in China streng verfolgt, und als Eka im Jahr 593 im Alter von 107 Jahren starb – als Opfer eines Mordanschlags, den der örtliche Polizeichef angestiftet hatte –, sah sich Sōsan gezwungen, Zuflucht in den Bergen zu suchen. Und da er mit Sicherheit hingerichtet worden wäre, wenn man ihn gefangen genommen hätte, musste Sōsan ständig umherziehen. Und so verbreitete er, jetzt der dritte Vorfahre, von den Bergen Nordchinas aus die Lehre und schrieb das Shinjinmei, «Gedichtsammlung vom Glaubensgeist», den ersten Zentext überhaupt, der die Essenz des Bud­dhismus darstellt. Er lehrte, wie Bo­dhi­dhar­ma, nur eines: Shikantaza.

Sōsan starb 606 unter einem Baum in der Nähe seines Verstecks, in der aufrechten Kinhinhaltung [→ 6].

Das Shihō – die Übertragung – ging weiter von Meister zu Schüler, nun an Dōshin, dann an Kōnin und schließlich an Enō. Enō, in China als Huineng bekannt, war der sechste Vorfahre und einer der größten Meister in der Geschichte des Zenbud­dhismus. Obwohl in den Sūtras nicht sehr bewandert – er war Analphabet –, wurde Enō dennoch der Hauptinitiator in der Verbreitung des Zen in China.

Enō hatte keinen Vater und half seiner Mutter beim Verkauf von Brennholz. Eines Tages, als er auf der Straße Holz verkaufte, hörte er zufällig einen Mönch das Diamantsūtra rezitieren. Als er die Worte «Wenn der Geist an nichts haftet, erscheint der Wahre Geist» hörte, war er erleuchtet. Er reiste in die Berge Nordchinas und begegnete dort auf dem Berg Hōbei dem fünften Vorfahren, Meister Kōnin. Wegen seiner Armut und seiner niederen Herkunft wurde Enō in die Küche zum Reisstampfen geschickt.

Acht Monate nach Enōs Ankunft am Berg Hōbei bat Kōnin seine Schüler, ihre durch Zazen erreichte Einsicht in einem kurzen Gedicht zum Ausdruck zu bringen. Jinshū, der älteste und brillanteste sowie gebildetste unter den vielen Schülern des Meisters, verfasste folgendes Gedicht:

Unser Körper ist der Bodhibaum,
Unser Geist wie ein glänzender Spiegel.
Immerfort polieren wir den Spiegel blank
Und lassen keinen Staub sich darauf legen.

Dieses Gedicht, allgemein von den Schülern als ein Meisterstück der Einsicht betrachtet, heftete man an eine Wand in der Nähe des Dōjō [→ 7]. Nachdem sich Enō das Gedicht hatte vorlesen lassen, verfasste er sein eigenes. Da er nicht schreiben konnte, diktierte er einem der anderen den folgenden Vers:

Es gibt keinen Bodhibaum
Und keinen Rahmen für den glänzenden Spiegel.
Da alles leer ist –
Wohin könnte der Staub sich legen?

Als der Meister die beiden Gedichte sah, rief er Enō in sein Zimmer. Enō kam um die verabredete Zeit, um Mitternacht, und der Meister gab ihm sein Kesa – das Mönchsgewand –, und die Essschale und übertrug ihm die Nachfolge. Er riet Enō, sofort zu fliehen, da ihn sonst die Mönche, neidisch und aufgebracht darüber, dass solch ein armer und ungebildeter Küchenlaie – Enō war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Mönch – die Weitergabe an ihrer Stelle erhalten hatte, gewiss getötet hätten. So flüchtete Enō noch in derselben Nacht.

Am darauf folgenden Morgen, als die Neuigkeit bekannt wurde – Meister Kōnin war nirgends zu finden, da er sich ebenfalls verstecken musste –, nahm eine Gruppe von Mönchen unter einem wilden Anführer die Verfolgung Enōs auf. Als Enō einige Tage später den wütenden Anführer auf sich zukommen sah, legte er schnell das heilige Gewand und die Essschale auf einen Felsen und sprang in einen Busch. Es folgte ein kurzer Dialog; Enō, noch in sicherer Entfernung, sagte: «Das Gewand und die Schale sind Glaubenssymbole. Wie könnte man sie also durch Gewalt erlangen? Aber wie auch immer, wenn du sie haben willst, nimm sie. Hier liegen sie.»

Der Anführer griff nach Gewand und Schale. Aber aus irgendeinem Grund war er unfähig, sie von dem Stein hochzuheben. Wie vom Donner gerührt wandte er sich Enō zu, und durch den Schock demütig geworden, sagte er: «Wahrhaft, ich bin um des Dharmas willen gekommen, nicht wegen des Gewands und der Schale. Bitte lehrt es mich jetzt.»

«Denke weder gut noch böse», antwortete Enō, «und was ist dann dein wahres Selbst?»

Plötzlich zur Wahrheit erwacht, warf sich der Anführer zu Enōs Füßen in Sanpai nieder, mit der Stirn den Boden berührend.

Nach diesem Zwischenfall zog sich Enō zurück und lebte die folgenden fünfzehn Jahre unter Fischern. Seine Abgeschiedenheit endete, als er eines Tages in der Stadt von einem Mönch als der lang gesuchte sechste Vorfahre erkannt wurde. Nachdem er die Mönchsweihe empfangen hatte, ließ sich Enō auf dem Berg Sōkei in Südchina nieder. Von diesem Berg aus lehrte er Kū – die Leerheit, Dasein ohne Numen, das Allumfassende – durch die Zazenpraxis.

Der sechste Vorfahre tat seinen letzten Atemzug auf dem Berg Sōkei, in der perfekten Zazenhaltung – im Lotossitz.

Enōs berühmteste Schüler – Seigen, Nangaku und Yōka-Daishi – bekamen alle von ihrem Meister Shihō. Nangaku war ein Vorbote des später entstehenden Rinzai-Zen und Seigen der Vorbote des Sōtō.

Von Seigen ging das Shihō an Meister Sekitō. Sekitō ist der Autor des Sandōkai und Yōka-Daishi der Autor des Shōdōka.

Der große Meister Tōzan lernte viele Jahre bei zwei Rinzai-Meistern, Nansen und Issen. Mit deren Lehre jedoch unzufrieden, wurde Tōzan Schüler des Sōtō-Meisters Ungan. Von diesem erhielt er das Siegel der Übertragung.

Tōzan schrieb das Hōkyō Zanmai. Das Hōkyō Zanmai, das Sandōkai, das Shōdōka und das Shinjinmei sind die ältesten Zentexte, und als schriftliche Verkörperung der Essenz des Zen sind sie die Grundlage aller wahren Zenschriften.

Tōzan starb im Jahr 869. Nachdem er sich den Kopf rasiert hatte, bat er einen der Mönche, die große Glocke zu schlagen, und verschied beim letzten Schlag.

Als kein Zweifel mehr bestand, dass der Meister tot war, machten die Schüler in ihrem Elend und Kummer vor Trauer um den Meister solch einen Lärm, dass Tōzan sogar im Tod bewusst wurde, wie unvorbereitet seine Schüler waren, und er wieder zum Leben erwachte.

«Dumme Burschen», sagte er, öffnete seine Augen und sah die erstaunten Schüler an. «Wisst ihr denn nicht, dass ihr niemals irgendetwas begreifen werdet, solange ihr an Geist und Körper haftet?»

Die Schüler waren sprachlos. Der Meister stand auf und sagte: «Ihr macht solchen Lärm, dass ich nicht einmal in Ruhe sterben kann!»

Die Schüler beschlossen daraufhin, dass sie so lange fasten würden, bis der Meister erneut gestorben wäre.

Aber nach sieben Tagen Fasten war Tōzan lebendiger denn je, und seine vertrautesten Schüler fragten den Meister, wann er wohl wieder zu sterben gedenke: «Wir haben alle großen Hunger!» – «Gut», lachte Tōzan, «wenn das so ist, werde ich morgen sterben.»

Am darauf folgenden Tag, nachdem er ein Bad genommen hatte, setzte sich Tōzan mit all seinen Schülern zum Zazen und starb. Er starb diesmal während des Kusen, der mündlichen Unterweisung.

Sōzan, ein enger Schüler von Tōzan (das und das in ihren Namen wurde später zu «Sōtō» zusammengesetzt), ist vor allem durch die Entwicklung der «Fünf-Stufen-Lehre» bekannt. Diese «Fünf Stufen» bilden das philosophische Gerüst des Sandōkai und des Hōkyō Zanmai. Nachdem er von seinem Meister Shihō erhalten hatte, erweiterte Sōzan die «Fünf Stufen», bis sie zu philosophisch und zusammenhanglos waren, um noch von großem Nutzen zu sein. Das Ergebnis war, im Gegensatz zu häufigen Behauptungen, dass Sōzans Nachfolgelinie einige Generationen nach seinem Tod zu einem plötzlichen Ende kam.

Es war Ungo Dōyō, ein anderer enger Schüler Tōzans, und nicht Sōzan, der die direkte Linie der Nachfolge von Bo­dhi­dhar­ma über Dōgen bis Taisen Deshimaru weiterführte.

Dennoch ist Sōzan eine wichtige Gestalt in der Sōtō-Zenschule. Er starb 901 unter einem Baum, mit den Händen in der Gas­shō-Haltung [→ 8].

Durch diesen Bruch in der Nachfolge erfuhr die von Bud­dha und Bo­dhi­dhar­ma weitergegebene Lehre eine Periode harter Prüfungen; während dieser Zeit stritten sich die Philosophen und die Praktiker und setzten dabei die exakte Lehre Bo­dhi­dhar­mas aufs Spiel. Die Lehre wurde jedoch durch das Erscheinen Fuyō Dōkais bewahrt, der sich anschickte, ein weiterer großer Meister der Überlieferung zu werden. Fuyō Dōkai lehrte den wahren Dharma – Shikantaza –, und als der chinesische Kaiser versuchte, Dōkai zu Kompromissen zu bewegen, lehnte dieser kategorisch ab. Der Kaiser, durch des Meisters unbeugsame Haltung verärgert, schickte Dōkai in die Verbannung. Trotzdem lehrte Dōkai, wie viele andere vor ihm, von seinem Versteck in den Bergen aus weiter. Dōgen, der Vater des japanischen Sōtō-Zen, sah in Fuyō Dōkai «das Rückgrat, die Knochen und das Mark der von Bud­dha Śākyamuni überlieferten Lehre.»

Meister Wanshi [→ 9], Autor des berühmten Zazenshin, gab dem Sōtō-Zen seinen ersten philosophischen Text, der von der Praxis des Zazen handelt. Und Meister Nyojō, der nach ihm kam, verknüpfte die authentische Philosophie Wanshis mit Fuyō Dōkais steter strenger Praxis und gab dies weiter an Dōgen. Dieser nahm den Samen der Übertragung, den er auf dem chinesischen Festland bekam, auf und verpflanzte ihn nach Japan.

Die wahre Lehre Bud­dha Śākyamunis begann in Japan mit Dōgen. Und obwohl Dōgen nichts daran lag, die Lehre innerhalb der Grenzen einer bestimmten Richtung oder Schule weiterzugeben – er mochte nicht einmal den Namen Sōtō – war er trotzdem der Gründer des Sōtō-Zen in Japan. Er war auch der Gründer des Sōtō-Zentempels Eiheiji, der heute das Zentrum der Sōtō-Schule ist.

Dōgen lehrte, dass man die Essenz der Bud­dhalehre nur durch die Zazenpraxis und nicht durch irgendwelche Texte erfassen kann. Dennoch schrieb er in zwanzig Jahren 120 Abhandlungen über die Essenz der Bud­dhalehre. Am bekanntesten ist wohl sein Hauptwerk unter dem Titel Shōbōgenzō («Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges»). Die Texte, die er schrieb, werden von prominenten Philosophen wie Heidegger und Jaspers als außerordentlich tiefgründig angesehen. Dōgen nimmt tatsächlich im philosophischen und intellektuellen Denken des Ostens eine zentrale Stellung ein. Und was den Bud­dhismus selbst betrifft, hat Dōgens Gedankengut (wie es in der Überlieferung des Dharmas und in seinen Büchern zum Ausdruck kommt) einen enormen und schier unübersehbaren Einfluss. Alle Zweige des Bud­dhismus, im Osten wie im Westen, wurden von Dōgens Einfluss geprägt.

Geboren in einer aristokratischen Familie, die enge Bindungen an den kaiserlichen Hof Japans hatte, studierte Dōgen zuerst auf dem Berg Hi’ei den Tendai-Bud­dhismus. Von der Tendai-Lehre unbefriedigt, reiste er zu Eisai, dem Gründer des Rinzai-Zen in Japan, um bei ihm zu lernen. Von der japanischen Rinzai-Lehre ebenfalls unbefriedigt, reiste Dōgen im Jahr 1223 nach China. Dort setzte er seine Studien des Rinzai-Zen bei verschiedenen Meistern fort. Da er aber das Gefühl hatte, dass die Lehre Bud­dhas und Bo­dhi­dhar­mas gänzlich verwässert und sogar teilweise verloren gegangen war, gab Dōgen seine Suche nach dem wahren Dharma schließlich auf und bereitete seine Rückreise vor.

Die Zenlehre befand sich in China und Japan zu dieser Zeit erneut in einem Zustand der Dekadenz und Verwirrung. Es gab damals fünf verschiedene Zenschulen: Sōtō, Unmon, Hōnen, Ōbaku und Rinzai, die alle zu den verschiedenen und sich oft widersprechenden Lehren beitrugen. Die Ōbaku-Schule pflegte zum Beispiel während des Zazen die Nenbutsu-Rezitation, die Rinzai-Schule (ein Ableger des Ōbaku) übte sich in Stock- und Faustschlägen sowie lauten Schreien, und während des Zazen selbst benutzte sie, wie auch noch heute, das systematische Studium der Kōan sowie die Kenshō-Methode, um durch das Betrachten des eigenen wahren Wesens Bud­dha zu werden.

Kurz bevor nun sein Schiff die Segel setzte, begegnete Dōgen dem Sōtō-Meister Tendō Nyojō. Nyojō war einer der wirklichen Meister der Überlieferung, und Dōgen blieb drei Jahre an seiner Seite. Im Jahr 1227, kurz vor seinem Tod, gab Meister Nyojō Dōgen das Shihō.

Dōgen kehrte noch im selben Jahr nach Japan zurück und brachte die reine und unverfälschte Lehre Bud­dhas und Bo­dhi­dhar­mas mit. Er brachte nur eines zurück: Shikantaza. Sitzen in Konzentration. Ohne Rezitation. Ohne Kenshō. Ohne Kōan. Ohne irgendetwas. Nur Sitzen. Mu­sho­to­ku. [→ 10]

Dōgen trat in der Nacht des 28. August 1253 ins Parinirvāna ein, während er den Mond betrachtete.

Die Linie der Überlieferung ging weiter, über bekannte japanische Meister wie Keizan, durch den die Sōtō-Schule die größte und einflussreichste aller bud­dhistischen Schulen Japans wurde (und es bis auf den heutigen Tag geblieben ist), dann Daichi und Menzan bis hin zu Kōdō Sawaki.

Wie Meister Menzan, der für seine tiefen und detaillierten Kommentare zu Dōgens Shōbōgenzō und den 299 von Meister Daichi im 14. Jahrhundert verfassten Gedichten bekannt ist, ist auch Kōdō Sawaki für sein tiefes Verständnis des Shōbōgenzō berühmt. Er war selbstverständlich auch in Menzans umfangreichen Kommentaren gut bewandert.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Meistern weigerte sich Kōdō Sawaki, die Klöster zu verwalten, die ihm zu seinen Lebzeiten angeboten wurden, und er ließ sich niemals in einem Tempel oder Dōjō nieder. Sogar nachdem er von seinem eigenen Meister Shihō empfangen hatte, blieb Kōdō Sawaki bis zum Schluss Unsui (wörtl. «Wolke und Wasser») – Wandermönch.

Kōdō Sawaki verlor noch als Kind beide Eltern und wurde zu einem strengen und brutalen Onkel in Pflege gegeben. Seine Jugend verbrachte er als Putzjunge in einem Bordell und als Aufseher an den Spieltischen. (Sein Onkel war Spieler und beauftragte den Jungen damit, unter seinen Kumpanen Falschspieler und Betrüger herauszufinden.)

Als der japanisch-chinesische Krieg begann, wurde der Junge sofort an die Front geschickt. Sein Onkel war der Meinung, dass der damals Vierzehnjährige mit seinem Tod seinem Vaterland Respekt erweisen solle und riet ihm, wenn er klug sei, besser nicht lebendig zurückzukommen.

Aber er bewährte sich als ein höchst fähiger Soldat, indem er sich in gefährliche Situationen wagte, um das Leben seiner Mitkämpfer zu retten, und so bekam er viele Ehrungen und wurde für seine hervorragenden Taten an der Front ausgezeichnet. Eines Tages jedoch wurde er nach einem Schuss in den Mund für tot erklärt und in eine Totengrube geworfen. Schwer verwundet und unfähig, sich zu bewegen (er wurde von dreißig Leichen, die über ihm lagen, fast erdrückt), lag er mehrere Tage unter faulenden Körpern. Als die Leichname eingeäschert werden sollten, wurde er entdeckt und gerettet und kehrte dann als Kriegsversehrter nach Japan zurück.

Gerade sechzehn Jahre alt, ohne Familie und Freunde, ohne Essen und Geld, nichts besitzend als Hemd und Hose, die an seinem Körper hingen, ging er zu Fuß zum Tempel Eiheiji. Es war eine lange und beschwerliche Reise; es dauerte vier Tage und vier Nächte, um dorthin zu gelangen. Die Mönche, die Kōdō Sawaki für einen Bettler hielten (seine Kleidung bestand nur noch aus Lumpen) und dachten, er sei geistesgestört (die Verletzung beeinträchtigte seine Sprache und machte es ihm schwer, sich mitzuteilen), weigerten sich, ihm Gehör zu schenken. Ohne sich dadurch entmutigen zu lassen, beharrte der Junge auf seiner Bitte, in den Tempel aufgenommen zu werden. Der Tempelvorsteher, durch die Beharrlichkeit des jungen Mannes gerührt, gewährte ihm schließlich Einlass. Dankbar dafür, dass man ihn aufgenommen hatte, behielt Kōdō Sawaki seinen Hunger für sich (er hatte schon seit Tagen nichts gegessen) und blieb weitere zwei Tage ohne Essen und Schlaf. Trotz des Mangels an Nahrung – er war schon am Verhungern – war er von solcher Freude erfüllt, dass er die Augen nicht schließen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte.

Kōdō Sawaki wurde, wie der sechste Vorfahre im siebten Jahrhundert auch, zum Reisstampfen in die Küche geschickt und blieb einige Jahre im Eiheiji, bevor er auf Wanderschaft ging. In der Folgezeit traf er den Sōtō-Meister Kōhō-Rōshi, dessen Nachfolger er schließlich wurde.

Nachdem er von seinem Meister Shihō empfangen hatte, lebte Kōdō Sawaki in einer abgelegenen Einsiedelei. Er schlief kaum, um keine Zeit zu verlieren. Seine Tage verbrachte der Meister mit der Shikantaza-Praxis und die Nächte mit dem Studium des Shōbōgenzō. Als Nahrung dienten ihm Reis und Bohnen – ungekocht, um Zeit zu sparen.

Nachdem er auf diese Weise viele Jahre verbracht und es wie immer abgelehnt hatte, sich in einem Tempel oder einem Kloster niederzulassen, nahm Kōdō Sawaki wieder das Leben eines Wandermönchs auf. Von wenigen nahestehenden Schülern begleitet, unter ihnen Taisen Deshimaru, brachte der Meister die Lehre in abgelegene Gegenden Japans, in Städte wie in Fischerdörfer, in Universitäten wie in Gefängnisse.

1965, auf seinem Sterbebett, gab er Taisen Deshimaru das Kesa und das Shihō.

Heute stehen am Eingang der bud­dhistischen Universität von Komazawa zwei Statuen, eine Kōdō Sawaki darstellend, die andere Taisen Deshimaru.

Meister Taisen Deshimaru

1914 in der Präfektur Saga (Kyūshū) in einer alten Samurai-Familie geboren, wurde Deshimaru von seinem Großvater, der vor der Meiji-Restauration ein Samurai-Meister war, und von seiner Mutter, einer hingebungsvollen Anhängerin der bud­dhistischen Shinshū-Richtung, erzogen. Obwohl er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kōdō Sawaki eine glückliche Kindheit hatte, litt er doch schon in frühem Alter unter dieser vergänglichen Welt von Geburt und Tod. Nenbutsu, wie es seine Mutter praktizierte, füllte ihn nicht aus. Ebenso wenig sein anschließendes langes Studium der Bibel unter der Anleitung eines protestantischen Geistlichen. Deshimarus Kontakte zu Theologen und Priestern ließen ihn unbefriedigt, denn das Christentum, das zunächst seine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, schien sich ihm doch auf lange Sicht hoffnungslos in abstrakten poetischen Vorstellungen zu verlieren. Im Christentum vermisste er die Praxis, während er im Bildungssystem seiner Zeit (er studierte an der Universität von Yokohama) das Spirituelle vermisste. Auf seiner Suche nach einem Weg, der seinem Geist Frieden geben würde, ließ er vom Christentum ab und wandte sich wieder seiner eigenen Religion zu, dem Bud­dhadharma. So kam er in Berührung mit der Rinzai-Lehre. Da aber auch diese ihn nicht befriedigen konnte und seine Arbeit als Geschäftsmann ihn andererseits nicht ausfüllte, begab er sich auf ausgedehnte Reisen, die ihn schließlich zu dem Sōtō-Meister Kōdō Sawaki führten.

Als er zum ersten Mal die Einsiedelei des Meisters betrat, fand er Kōdō Sawaki in aufrechter Haltung auf einem Kissen sitzend, mit dem Rücken zur Tür. Als er seinen ersten Schock überwunden hatte – der Meister saß in der perfekten Haltung Bud­dhas, und allein das verschlug Deshimaru für einen Moment die Sprache –, redete er ihn an. Kōdō Sawaki gab keine Antwort und ließ Deshimaru unbeholfen an der Türschwelle stehen. Dieser wiederholte seine Worte und bekam wieder keine Antwort (wie Eka, als er sich zum ersten Mal an Bo­dhi­dhar­ma wandte). Aber anders als Bo­dhi­dhar­ma, der Eka zwei Tage lang ohne Antwort hatte stehen lassen, sagte Kōdō Sawaki schließlich: «Ich habe deinen Besuch mit Ungeduld erwartet.» Der Meister sprach dies, ohne sich umzudrehen, ohne die geringste Bewegung, ohne auch nur seine Augen vom Boden zu heben.

Von jener großen Freude erfüllt, die den erfasst, dessen Suche zu Ende ist und der einen wahren Meister gefunden hat, machte Deshimaru Gas­shō und wurde im selben Augenblick Kōdō Sawakis Schüler.

Er folgte seinem Meister Schritt für Schritt und gab sich mit Körper und Geist der Shikantaza-Praxis hin. Nach dem Angriff Japans auf Pearl Harbour jedoch zwangen die Umstände den Schüler und seinen Meister, sich zu trennen.

«Wir werden sicherlich den Krieg verlieren», sagte Kōdō Sawaki bei ihrem Abschied. «Unsere Heimat wird zerstört werden, unser Volk vernichtet … Dies könnte das letzte Mal sein, dass wir uns sehen. Wie auch immer, liebe alle Menschen ungeachtet ihrer Rasse oder Überzeugung.»

Deshimaru sollte auf eine gefährliche Mission in feindliche Gewässer geschickt werden. Der Meister wusste das, und so nahm er sein altes Rakusu (ein symbolisches Kesa, das man um den Hals auf der Brust trägt) und gab es seinem Schüler, zusammen mit seinem Notizheft, welches das Shōdōka enthielt. «Habe Glauben an die Dinge, die ich dir gegeben habe, und achte sie», sagte der Meister, «dann wirst du gutes Karma haben.»

Deshimaru sollte den Betrieb einer von den Japanern besetzten Kupfermine in Indonesien leiten. Er fuhr mit einem Konvoi von Frachtern und Kriegsschiffen los. Sobald sie jedoch außerhalb der von den Japanern kontrollierten Gewässer waren, starteten die U-Boote der US-Marine verheerende Angriffe und versenkten ein Schiff nach dem anderen. Deshimarus Frachter führte eine Dynamitladung mit sich, und jedes Mal, wenn ein Torpedo den Bug oder das Heck streifte, warfen sich die Besatzungsmitglieder, außer sich vor Angst, blindlings über Bord. Das Schiff befand sich jedoch in den Händen eines fähigen Kapitäns, und so saß Deshimaru auf dem Vorderdeck unter der Kommandobrücke im perfekten Lotossitz. Er saß, ruhig und gerade, auf einer Kiste Dynamit. Vierzig Tage später erreichte Deshimarus unbewaffneter Frachter den Mekong und ging vor Anker.

Von einem einundfünfzig Schiffe zählenden Konvoi erreichte nur seines das Ziel. Der Frachter trug übrigens den Namen «Das Höchste Gesetz Bud­dhas».

Auf der Insel Bangka in der Nähe der Küste Sumatras lehrte Deshimaru die chinesischen, indonesischen und europäischen Bewohner die Zazenpraxis. Jedoch betrübt und entsetzt von dem Benehmen seiner Landsleute (die japanischen Besatzungstruppen folterten und töteten wahllos viele der Einwohner), ergriff Deshimaru aktiv Partei für die Sache der Bewohner von Bangka. Als Widerstandskämpfer gegen die Kaiserliche Japanische Armee verhaftet, wurde Deshimaru ins Gefängnis geworfen. Trotz der Malaria, der unerträglichen Hitze, der Fliegen, des Drecks, des Mangels an Nahrung und Wasser und seiner bevorstehenden Hinrichtung saß er in seiner Zelle vor der Wand, mit dem Rakusu seines Meisters um den Hals.

Erst kurz vor der Massenexekution kam von den höchsten Militärs Japans ein Gnadenerlass und Deshimaru wurde, zusammen mit vielen anderen, die auf die Hinrichtung warteten, auf freien Fuß gesetzt. Das japanische Militärtribunal, das nach dem Krieg einberufen wurde, ordnete die Hinrichtung aller für die Bangka-Affäre Verantwortlichen an.

Nachdem er sich wieder von seiner lebensbedrohenden Malaria erholt hatte, schiffte sich Deshimaru wieder ein, diesmal zur Insel Billiton, wo er eine von den Holländern erbeutete Kupfermine leiten sollte. Kaum hatte das Schiff den Hafen verlassen, stürzten sich amerikanische Kampfflugzeuge darauf; ihre Kanonen erzielten Volltreffer, und Deshimaru, der in Shikantaza auf der Brücke saß, wurde aus dem sinkenden Schiff ins Meer geschleudert. Ganz allein, ohne Schwimmweste, eigentlich mit nichts außer dem alten Rakusu und dem Notizheft, trieb er einen Tag und eine Nacht lang dahin. Schließlich entdeckte ihn ein japanisches Patrouillenboot und brachte ihn in Sicherheit. Obwohl seine Kleider zerrissen und halb vernichtet waren, war das Rakusu unbeschädigt. Und die Notizen des Meisters, mit Tinte geschrieben, waren frisch und klar wie gerade erst geschrieben.

Als der Krieg schließlich zu Ende war, kam Deshimaru in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde in ein Lager in Singapur gesteckt. Nach vielen Monaten schwerer Prüfungen (einziger Luxus der Gefangenen waren Cornedbeef-Rationen) wurde er mit den anderen zwanzigtausend japanischen Kriegsgefangenen des Lagers in seine Heimat zurückgeschickt.

Er ging zu seinem Meister und blieb bis zu dessen Tod vierzehn Jahre später an seiner Seite. Kurz bevor Kōdō Sawaki krank wurde, erhielt Deshimaru die Mönchsweihe, und als der Meister auf dem Sterbebett lag, übertrug er ihm Shihō, die Nachfolge. Als Beweis dafür gab er seinem Schüler das Kesa. So ging die Überlieferung und das Kesa von Bud­dha zu Bud­dha und von Vorfahre zu Vorfahre im Jahr 1965 schließlich von Meister Kōdō Sawaki auf Meister Taisen Deshimaru über.

«In Indien war die Bud­dhalehre zu Bo­dhi­dhar­mas Zeit in einem Zustand der Dekadenz», sagte der sterbende Kōdō Sawaki. «Deshalb beauftragte Bo­dhi­dhar­mas Meister seinen Schüler, die Lehre nach Osten zu bringen. Genauso ist jetzt der Bud­dhismus in Japan tot. Nimm also du, mein Erbe des Dharmas, der allein die wahre Lehre Bud­dhas kennt, diese mit in den Westen, damit die Bud­dhalehre dort wieder aufblühen kann. Alle, die Zazen praktizieren, sind meine Schüler.»

Nachdem er Kōdō Sawakis Schädel vor dem Dōjō vergraben hatte, saß Deshimaru neunundvierzig Tage lang unbeweglich in der perfekten Haltung Bud­dhas. Dann verließ er seine Heimat, um in den Westen zu gehen.

Von Bud­dha bis Bo­dhi­dhar­ma vergingen 700 Jahre, von Bo­dhi­dhar­ma bis Dōgen ebenfalls 700 Jahre, und von Dōgen bis Deshimaru weitere 700 Jahre.

Das Sommerlager in Val d’Isère

Das Sommerlager in Val d’Isère 1977 dauerte vom 25. Juli bis zum 31. August. Es war in vier Einheiten von jeweils acht Tagen aufgeteilt. Die einzelnen Abschnitte wurden von jeweils etwa 250 Personen besucht; so nahmen insgesamt etwa 1000 Menschen teil. Die Teilnehmer kamen aus Europa, Afrika, Japan und den USA. Einige der engsten Schüler Meister Deshimarus blieben die ganzen 38 Tage. Solche Sommertreffs gibt es seit 1972 regelmäßig.

Obgleich die Woche sanft beginnt, mit weniger Zazen und eher entspannenden Aktivitäten, bestehen die letzten drei Tage aus dem, was man ein Sesshin nennt [→ 11], einer Zeit der konzentrierten und intensiven Zazenpraxis. Der Tagesablauf sieht etwa folgendermaßen aus: Wecken um 6.00 Uhr, von 6.30 bis 8.15 Uhr Zazen, dann Frühstück und Samu [→ 12], 10 bis 12 Uhr Zazen, Mittagessen, Mittagsruhe, Samu, 16 bis 18 Uhr Zazen. Während des Sesshin findet gegen Ende des Nachmittagzazen ein Mondō statt – eine Fragestunde zwischen Meister und Schüler. Nach dem Abendessen wieder Zazen von 20.30 bis 21.30 Uhr. Während ungefähr drei Viertel der Zeiten, die der Zazenpraxis gewidmet sind, gibt der Meister Kusen [→ 13].

Zazen, Atmung und Kinhin

ZAZEN • Die Haltung beim Zazen ist wie folgt: Man setzt sich auf die Mitte des Zafu [→ 14], das Gesäß wird nach hinten gedrückt, die Beine werden im Lotos oder Halblotos gekreuzt, die Knie fest auf den Boden gedrückt, sodass man absolut stabil sitzt. Das Becken ist auf natürliche und entspannte Weise nach vorn geneigt, die Wirbelsäule aufrecht und gestreckt. Auch der Nacken ist gerade und gestreckt, der Kopf aufrecht, die Nase befindet sich auf einer vertikalen Linie über dem Nabel, die Ohren über den Schultern. Das Kinn wird zurückgezogen, der Mund ist geschlossen, die Zunge berührt den Gaumen, die Augen sind halb geschlossen, der Blick ruht etwa einen Meter vor dem Körper auf dem Boden, ohne jedoch einen bestimmten Punkt zu fixieren. Die Schultern fallen entspannt nach unten, und die Hände, mit den Handflächen nach oben unterhalb des Nabels an den Bauch gelegt, ruhen auf den Füßen. Die linke Hand liegt in der rechten, die Daumen berühren einander leicht und bilden zusammen mit den Fingern etwa die Form eines Eies. Die Hände liegen somit direkt vor dem Kikaitanden, dem Zentrum, das sich etwa eine Handbreit unter dem Nabel befindet. In dieser Haltung, der wahren Haltung des Bud­dha Śākyamuni, ist man in Harmonie mit dem Universum.

ATMUNG • Die Ausatmung ist tief und lang, die Einatmung kurz. Man konzentriert sich zwar auf die Ausatmung, dennoch geschieht beides, Ausatmung wie Einatmung, unbewusst und natürlich. Die Eingeweide (das hara) werden beim Ausatmen nach unten gedrückt und massieren dadurch die inneren Organe und den Körper insgesamt. Die Atmung soll kontrolliert sein, was aber nicht heißt, dass man die Atmung kontrollieren soll. Denn Atmung geschieht nicht durch das Bewusstsein, sie wird vielmehr unbewusst vom Körper ausgeführt. «Man kann sagen, dass unser Atmen beim Zazen eine Handlung der Natur, eine Handlung des Kosmos ist», sagt der Meister. «Die Basis dieses Atmens ist sein Rhythmus. Es ist der Rhythmus der fundamentalen kosmischen Kraft.»