Buch
In Boston dringt ein Unbekannter nachts in die Wohnungen von allein stehenden Frauen ein, unterzieht sie einem gynäkologischen Eingriff und tötet sie. Die einzige Spur führt Detective Thomas Moore und Inspector Jane Rizzoli zu der jungen Chirurgin Catherine Cordell, die drei Jahre zuvor nach ähnlichem Muster überfallen wurde, den Täter aber in Notwehr erschoss. Und bald wird klar, dass Catherine erneut zur Zielscheibe eines psychopathischen Mörders geworden ist …
Autorin
So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller Die Chirurgin, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Seither sind Tess Gerritsens Thriller um das Bostoner Ermittlerduo Rizzoli & Isles von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maine.
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Von Tess Gerritsen bereits erschienen
Gute Nacht, Peggy Sue · Kalte Herzen · Roter Engel · Trügerische Ruhe · In der Schwebe · Leichenraub · Totenlied
Die Rizzoli-&-Isles-Thriller
Die Chirurgin · Der Meister · Todsünde · Schwesternmord · Scheintot · Blutmale · Grabkammer · Totengrund · Grabesstille · Abendruh · Der Schneeleopard · Blutzeuge
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Tess Gerritsen
Die Chirurgin
Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller
Deutsch von Andreas Jäger
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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Surgeon« bei Ballantine Books, an imprint of The Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York.
Copyright der Originalausgabe © 2001 by Tess Gerritsen
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2002 by Limes Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published by Arrangement with Tess Gerritsen Inc.
Dieses Werk wurde im Auftrag von Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotive: Francesca Perticarini/Arcangel Images;
plainpicture/Christoph Eberle
WR · Herstellung: wag
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-89480-789-4
V008
www.blanvalet.de
Prolog
Heute werden sie ihre Leiche finden.
Ich weiß, wie es sich abspielen wird. Ich sehe sie ganz lebhaft vor mir, die Folge von Ereignissen, die zu der Entdeckung führen wird. Gegen neun Uhr werden diese hochnäsigen Damen vom Reisebüro Kendall and Lord an ihren Schreibtischen sitzen, mit ihren elegant manikürten Fingern auf Computertastaturen tippen und eine Mittelmeerkreuzfahrt für Mrs. Smith buchen oder einen Skiurlaub in Klosters für Mr. Jones. Und für Mr. und Mrs. Brown dieses Jahr mal etwas Neues, etwas Exotisches, vielleicht Chiang Mai oder Madagaskar. Nur nichts allzu Ungemütliches – o nein, Abenteuer müssen schließlich vor allem komfortabel sein. Das ist das Motto von Kendall and Lord: »Komfort-Abenteuer«. Das Geschäft geht gut, und das Telefon klingelt oft.
Es wird nicht lange dauern, bis die Damen merken, dass Diana nicht an ihrem Platz ist.
Eine von ihnen wird in Dianas Wohnung in der Back Bay anrufen, aber das Telefon wird läuten, ohne dass sich jemand meldet. Vielleicht ist Diana unter der Dusche und kann es nicht hören. Oder sie ist einfach ein bisschen spät dran und gerade auf dem Weg zur Arbeit. Ein Dutzend vollkommen harmlose Erklärungen werden der Anruferin durch den Kopf gehen. Aber je später es wird und je mehr Anrufe unbeantwortet bleiben, desto stärker werden sich ihr andere, beunruhigendere Möglichkeiten aufdrängen.
Ich gehe davon aus, dass der Mann von der Hausverwaltung Dianas Kollegin in die Wohnung lassen wird. Ich sehe ihn vor mir, wie er nervös mit seinen Schlüsseln klimpert und fragt: »Sie ist also Ihre Freundin, ja? Und Sie sind sicher, dass sie nichts dagegen hat? Ich werde ihr nämlich sagen müssen, dass ich Sie reingelassen habe.«
Die beiden betreten die Wohnung, und Dianas Kollegin ruft: »Diana? Bist du zu Hause?« Sie gehen den Flur entlang, vorbei an den elegant gerahmten Reisepostern; der Verwalter immer einen Schritt hinter ihr. Er passt auf, dass sie nichts klaut.
Dann wirft er einen Blick ins Schlafzimmer. Er sieht Diana Sterling, und jetzt verschwendet er keinen Gedanken mehr an etwas so Belangloses wie Diebstahl. Er will nur so schnell wie möglich aus der Wohnung raus, bevor es ihm hochkommt.
Ich wäre gerne da, wenn die Polizei eintrifft, aber ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass sie jedes Auto, das im Schritttempo vorbeifährt, genau unter die Lupe nehmen werden, jedes Gesicht, das sie aus der Schar von Schaulustigen auf der Straße anstarrt. Sie wissen, wie sehr es mich danach drängt, zum Tatort zurückzukehren. Selbst jetzt, da ich im Starbuck’s sitze und zusehe, wie es draußen allmählich heller wird, spüre ich, wie mich dieses Zimmer zurückruft. Aber ich bin wie Odysseus, sicher an den Mast meines Schiffs gefesselt, während ich mich nach dem Gesang der Sirenen verzehre. Ich werde nicht zulassen, dass mein Schiff an den Felsen zerschellt. Diesen Fehler werde ich nicht machen.
Stattdessen sitze ich hier und trinke meinen Kaffee, während draußen die Stadt Boston zum Leben erwacht. Ich rühre drei Teelöffel Zucker in meine Tasse; ich trinke meinen Kaffee nun mal gerne süß. Ich will, dass alles genau so ist – einfach vollkommen.
In der Ferne heult eine Sirene; sie ruft mich. Ich fühle mich wie Odysseus, der sich gegen seine Fesseln sträubt. Doch sie lassen sich nicht zerreißen.
Heute werden sie ihre Leiche finden.
Und sie werden wissen, dass wir wieder da sind.
1
EIN JAHR SPÄTER
Detective Thomas Moore hasste den Geruch von Latex. Während er sich die Handschuhe überstreifte und dabei ein Wölkchen von Talkumpuder aufwirbelte, verspürte er den gewohnten Anflug von Übelkeit angesichts dessen, was ihm bevorstand. Dieser Gummigeruch war mit den unerfreulichsten Aspekten seines Jobs verknüpft, und wie ein Pawlowscher Hund, der aufs Stichwort Speichel absondert, hatte er gelernt, den Geruch mit Blut und Körperflüssigkeiten in Verbindung zu bringen. Ein olfaktorisches Alarmsignal.
Und so war er bereits gewappnet, als er vor der Tür des Autopsiesaales stand. Er war direkt aus der prallen Hitze hereingekommen, und schon fühlte sich der Schweiß auf seiner Haut kühl an. Es war der zwölfte Juli, ein schwülwarmer, dunstiger Freitagnachmittag. In ganz Boston arbeiteten die Klimaanlagen auf Hochtouren, und die Nerven der Menschen lagen blank. Auf der Tobin Bridge würde sich schon ein Stau gebildet haben, weil alles sich nach Norden in die kühlen Wälder von Maine flüchtete. Aber Moore würde nicht zu den Flüchtenden gehören. Er war aus dem Urlaub zurückgerufen worden, um sich einem entsetzlichen Anblick zu stellen, den er sich gerne erspart hätte.
Er trug bereits die OP-Kleidung, die er sich vom Wäschewagen des Leichenschauhauses genommen hatte. Jetzt setzte er sich noch eine Papierhaube auf, die verirrte Haare auffangen sollte, und zog Überschuhe aus Papier an, denn er hatte gesehen, was manchmal von den Tischen auf den Boden tropfte und klatschte. Blut, Gewebefetzen. Er war alles andere als ein Sauberkeitsfanatiker, aber er legte keinen Wert darauf, irgendwelche Souvenirs aus dem Autopsiesaal an seinen Schuhen nach Hause zu tragen. Vor der Tür hielt er noch ein paar Sekunden inne und holte tief Luft. Dann betrat er den Raum, bereit, die Tortur über sich ergehen zu lassen.
Die verhüllte Leiche lag auf dem Seziertisch – der Figur nach zu urteilen eine Frau. Moore vermied es, das Opfer allzu eingehend zu betrachten, und konzentrierte sich stattdessen auf die lebenden Menschen im Saal. Dr. Ashford Tierney, der amtliche Leichenbeschauer, und ein Mitarbeiter des Leichenschauhauses waren damit beschäftigt, die Instrumente auf einem Tablettwagen zu arrangieren. Auf der anderen Seite des Tisches stand Jane Rizzoli, die wie er bei der Bostoner Mordkommission arbeitete. Rizzoli war dreiunddreißig Jahre alt, eine kleine Frau mit scharf geschnittenen Zügen. Ihre widerspenstigen Locken waren von der Papierkappe verdeckt, und ohne den mildernden Effekt ihrer schwarzen Haare schien ihr Gesicht nur aus harten Kanten zu bestehen. Der Blick ihrer dunklen Augen war forschend und intensiv. Sie war vor sechs Monaten vom Rauschgift- und Sittendezernat in die Mordkommission versetzt worden. Dort war sie die einzige Frau, und trotz der Kürze der Zeit hatte es bereits Probleme zwischen ihr und einem anderen Detective gegeben, Vorwürfe wegen sexueller Belästigung, die durch Gegenvorwürfe wegen unausgesetzter Gehässigkeit gekontert wurden. Moore war sich nicht sicher, ob er Rizzoli mochte oder sie ihn. Bisher hatte sich ihr Umgang miteinander strikt auf die dienstliche Ebene beschränkt, und er hatte den Eindruck, dass ihr das ganz recht war.
Neben Rizzoli stand ihr Partner Barry Frost, ein Polizist mit einem unerschütterlich heiteren Gemüt, dessen nichts sagendes, bartloses Gesicht ihn wesentlich jünger wirken ließ als seine dreißig Jahre. Frost arbeitete nun schon seit zwei Monaten mit Rizzoli zusammen, ohne dass es irgendwelche Beschwerden gegeben hätte; er war der einzige Mann im ganzen Dezernat, der ihre üblen Launen mit Gelassenheit ertragen konnte.
Als Moore auf den Tisch zutrat, sagte Rizzoli: »Wir haben uns schon gefragt, wann Sie auftauchen würden.«
»Ich war schon auf dem Maine Turnpike nach Norden unterwegs, als Sie mich angepiepst haben.«
»Wir warten hier schon seit fünf.«
»Und ich wollte gerade mit der inneren Besichtigung beginnen«, warf Dr. Tierney ein. »Ich würde daher sagen, dass Detective Moore gerade rechtzeitig eingetroffen ist.« Ein Mann sprang für den anderen in die Bresche. Dr. Tierney schlug die Tür des Metallschranks mit einem Knall zu, der im Saal widerhallte. Es kam nicht oft vor, dass er seinen Unmut so offen erkennen ließ. Er stammte aus Georgia; ein vornehmer Südstaaten-Gentleman, der davon überzeugt war, dass Damen sich wie Damen zu benehmen hatten. Es bereitete ihm kein Vergnügen, mit der kratzbürstigen Jane Rizzoli zusammenzuarbeiten.
Der Assistent rollte den Tablettwagen mit den Instrumenten an den Tisch heran. Für einen Moment trafen sich seine und Moores Blicke; er schien sagen zu wollen: Was für eine Schreckschraube!
»Tut mir Leid wegen Ihrer Angeltour«, sagte Tierney zu Moore. »Sieht so aus, als wäre Ihr Urlaub gestrichen.«
»Sind Sie sicher, dass es wieder unser Freund ist?«
Anstelle einer Antwort schlug Tierney das Tuch zurück, mit dem die Leiche zugedeckt war. »Ihr Name ist Elena Ortiz.«
Moore war auf den Anblick gefasst gewesen, doch als er jetzt das Opfer zum ersten Mal erblickte, traf es ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Die schwarzen Haare der Frau waren mit Blut verklebt und standen wie Stacheln von ihrem Kopf ab; das Gesicht hatte die Farbe blau geäderten Marmors. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, wie mitten in einem Wort erstarrt. Das Blut war bereits vom Körper abgewaschen worden, und ihre Wunden klafften als violette Risse in der grauen Leinwand der Haut. Es gab zwei sichtbare Wunden. Die eine war ein tiefer Einschnitt im Hals, der die linke Halsschlagader durchtrennt und den Knorpel des Kehlkopfs freigelegt hatte. Der Gnadenstoß. Der zweite Schnitt war im Unterbauchbereich. Diese Verletzung war ihr nicht mit der Absicht zugefügt worden, sie zu töten. Sie hatte einem ganz anderen Zweck gedient.
Moore schluckte krampfhaft. »Jetzt verstehe ich, weshalb Sie mich aus dem Urlaub zurückgeholt haben.«
»Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall«, sagte Rizzoli.
Er hörte den warnenden Unterton aus ihrer Bemerkung heraus: Sie verteidigte ihr Territorium. Er begriff, was die Ursache war – die Spötteleien und skeptischen Kommentare, denen weibliche Kriminalbeamte unentwegt ausgesetzt waren, konnten sie mit der Zeit sehr dünnhäutig werden lassen. In Wirklichkeit hatte er gar nicht die Absicht, mit ihr in Konkurrenz zu treten. Sie würden gemeinsam an diesem Fall arbeiten müssen, und es war noch viel zu früh für irgendwelche Positionskämpfe.
Er achtete sorgfältig darauf, nicht zu respektlos zu klingen. »Würden Sie mich bitte über die Umstände der Tat ins Bild setzen?«
Rizzoli nickte knapp. »Das Opfer wurde heute Morgen um neun Uhr in ihrer Wohnung in der Worcester Street gefunden. Das ist im South End. Sie fängt gewöhnlich gegen sechs Uhr morgens mit der Arbeit an, in einem Blumenladen ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Er heißt ›Celebration Florists‹. Es ist ein Familienbetrieb, gehört ihren Eltern. Als sie nicht auftauchte, begannen sie sich Sorgen zu machen. Ihr Bruder ging nach ihr sehen und fand sie im Schlafzimmer. Dr. Tierney schätzt, dass der Tod zwischen Mitternacht und vier Uhr früh eingetreten ist. Nach Aussage der Eltern hatte sie zur Zeit keinen festen Freund, und in ihrem Wohnblock kann sich niemand erinnern, je Herrenbesuch bei ihr gesehen zu haben. Sie ist bloß ein braves, fleißiges katholisches Mädchen.«
Moore betrachtete die Handgelenke des Opfers. »Sie war gefesselt.«
»Ja. Klebeband an Hand- und Fußgelenken. Sie wurde nackt aufgefunden. Sie trug nur einige Schmuckstücke.«
»Welche?«
»Eine Halskette. Einen Ring. Ohrstecker. Die Schmuckschatulle in ihrem Schlafzimmer war unberührt. Raub war nicht das Motiv.«
Moores Blick fiel auf den Bluterguss, der sich als horizontaler Streifen über den Hüftbereich des Opfers zog. »Sie war auch am Rumpf gefesselt.«
»Klebeband über Hüften und Oberschenkel. Und über den Mund.«
Moore atmete tief aus. »Mein Gott.« Er starrte Elena Ortiz an, und plötzlich blitzte das verstörende Bild einer anderen jungen Frau vor seinem inneren Auge auf. Eine andere Leiche – eine Blondine mit fleischig-roten Schnittwunden an Hals und Unterleib.
»Diana Sterling«, murmelte er.
»Ich habe Sterlings Autopsiebericht schon raussuchen lassen«, sagte Tierney. »Falls Sie noch mal einen Blick darauf werfen wollen.«
Aber das war nicht nötig. Der Fall Sterling, bei dem Moore die Ermittlungen geleitet hatte, war ihm noch immer sehr präsent.
Vor einem Jahr war Diana Sterling, eine Angestellte des Reisebüros Kendall and Lord, nackt und mit Klebeband an ihr Bett gefesselt aufgefunden worden. Man hatte ihr die Kehle und den Unterleib aufgeschlitzt. Der Mord war nie aufgeklärt worden.
Dr. Tierney richtete die Untersuchungsleuchte auf Elena Ortiz’ Abdomen. Das Blut hatte man zuvor bereits abgespült, und die Wundränder waren blassrosa.
»Irgendwelche verwertbaren Spuren?«
»Wir haben ein paar Fasern sichergestellt. Und am Rand der Schnittwunde klebte ein Haar.«
Moore sah auf, plötzlich interessiert. »Vom Opfer?«
»Viel kürzer. Und hellbraun.«
Elena Ortiz hatte schwarzes Haar.
Rizzoli sagte: »Wir haben bereits Haarproben von allen Personen angefordert, die mit der Leiche in Berührung gekommen sind.«
Tierney lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Wunde. »Was wir hier sehen, ist ein Transversalschnitt. Die Chirurgen sprechen von einer Maylard-Inzision. Die Bauchdecke wurde Schicht für Schicht durchschnitten. Zuerst die Haut, dann die Oberflächenfaszie, dann der Muskel und schließlich das Bauchfell.«
»Wie bei Sterling«, sagte Moore.
»Ja. Wie bei Sterling. Aber es gibt Unterschiede.«
»Welche Unterschiede?«
»Bei Diana Sterling wies der Einschnitt einige Zacken auf, die auf ein Zögern oder Unsicherheit hindeuteten. Davon ist hier nichts zu erkennen. Sehen Sie, wie sauber die Haut hier durchschnitten worden ist? Es gibt keinerlei Zacken. Er wusste genau, was er zu tun hatte.« Tierney sah Moore direkt in die Augen. »Unser unbekannter Täter hat dazugelernt. Er hat seine Technik verbessert.«
»Falls es sich um denselben unbekannten Täter handelt«, bemerkte Rizzoli.
»Es gibt noch weitere Übereinstimmungen. Sehen Sie die rechtwinklige Form des Wundrands an diesem Ende? Das ist ein Hinweis darauf, dass er von rechts nach links geschnitten hat. Wie bei Sterling. Die Klinge, mit der ihr diese Wunde beigebracht wurde, ist einschneidig und glatt. Wie die bei Sterling verwendete.«
»Ein Skalpell?«
»Die Details passen auf ein Skalpell. Der saubere Schnitt verrät mir, dass die Klinge sich in der Wunde nicht gedreht hat. Das Opfer war entweder bewusstlos oder so fest angebunden, dass es sich nicht rühren oder Widerstand leisten konnte. Es war ihr nicht möglich, die Klinge von ihrer geraden Schnittlinie abzubringen.«
Barry Frost sah aus, als wolle er sich jeden Moment übergeben. »O Mann, sagen Sie mir bitte, dass sie schon tot war, als er das getan hat.«
»Ich fürchte, dass dies keine postmortale Verletzung ist.« Nur Tierneys grüne Augen waren über seiner OP-Maske zu sehen, und sie blickten zornig.
»Gab es prämortale Blutungen?«, fragte Moore.
»In der Beckenhöhle hatte sich Blut angesammelt. Das bedeutet, dass ihr Herz noch gearbeitet hat. Sie war noch am Leben, als diese… Operation durchgeführt wurde.«
Moore betrachtete die Handgelenke mit den ringförmigen Blutergüssen. Ähnliche Male fanden sich um beide Fußgelenke herum, und ein Streifen von Petechien – punktförmigen Hautblutungen – zog sich über ihre Hüften. Elena Ortiz hatte sich gegen ihre Fesseln gesträubt.
»Es gibt noch weitere Anzeichen dafür, dass sie am Leben war, während ihr der Schnitt beigebracht wurde«, sagte Tierney. »Legen Sie Ihre Hand in die Wunde, Thomas. Ich glaube, Sie wissen schon, was Sie da finden werden.«
Widerstrebend steckte Moore seine behandschuhte Hand in die Wunde. Das Fleisch fühlte sich kalt an; es war mehrere Stunden im Kühlraum aufbewahrt worden. Es erinnerte ihn an das Gefühl, wenn man in einen Truthahn hineingreift und nach dem Beutel mit den Innereien tastet. Er schob die Hand bis zum Handgelenk hinein und befühlte mit den Fingern die Ränder der Wunde. Dieses Wühlen im intimsten Teil der weiblichen Anatomie war eine Verletzung der Schamgrenze. Er vermied es, Elena Ortiz ins Gesicht zu sehen. Nur so konnte er ihre sterblichen Überreste mit dem notwendigen Abstand betrachten, nur so konnte er sich auf die kalten technischen Details dessen konzentrieren, was ihrem Körper angetan worden war.
»Der Uterus fehlt.« Moore sah Tierney an.
Der Gerichtsmediziner nickte. »Er ist entfernt worden.«
Moore zog seine Hand aus der Leiche heraus und starrte auf die Wunde, die wie ein offener Mund klaffte. Jetzt steckte Rizzoli die Hand hinein und mühte sich, mit ihren kurzen Fingern die Höhlung zu erforschen.
»Sonst ist nichts entfernt worden?«, fragte sie.
»Nur die Gebärmutter«, sagte Tierney. »Er hat die Blase und den Darm nicht angerührt.«
»Was ist das für ein Ding, das ich hier tasten kann? Dieser harte kleine Knoten auf der linken Seite?«, fragte sie.
»Das ist Nahtmaterial. Er hat es benutzt, um die Blutgefäße abzubinden.«
Rizzoli hob verblüfft die Augen. »Das ist also ein chirurgischer Knoten?«
»Einfaches Katgut, Stärke zwo-null?«, tippte Moore und sah Tierney fragend an.
Tierney nickte. »Das gleiche Nahtmaterial, das wir bei Diana Sterling gefunden haben.«
»Katgut, Stärke zwo-null?«, fragte Frost mit schwacher Stimme. Er hatte sich vom Seziertisch zurückgezogen und stand jetzt in einer Ecke, bereit, sich nötigenfalls auf das Waschbecken zu stürzen. »Ist das so was wie ein Markenname?«
»Kein Markenname«, erwiderte Tierney. »Katgut ist ein chirurgischer Faden, der aus Rinder- oder Schafsdarm gewonnen wird.«
»Und warum nennt man es dann Katgut?«, fragte Rizzoli.
»Das geht auf das Mittelalter zurück, als man für Musikinstrumente Saiten aus Darm, also gut, benutzte. Die Musiker bezeichneten ihre Instrumente als kit, und die Saiten nannte man daher kitgut. Daraus wurde im Lauf der Zeit catgut oder Katgut. In der Chirurgie verwendet man dieses Material zum Zusammennähen tiefer Schichten von Bindegewebe. Der Körper löst den Faden nach einer gewissen Zeit auf und absorbiert das Material.«
»Und wo würde er sich dieses Katgut besorgen?« Rizzoli sah Moore an. »Haben Sie im Fall Sterling eine Quelle ermittelt?«
»Es ist nahezu unmöglich, eine bestimmte Quelle zu identifizieren«, antwortete Moore. »Katgut wird von einem Dutzend verschiedener Firmen hergestellt, von denen die meisten in Asien angesiedelt sind, zum Beispiel in Indien. Es wird immer noch in diversen ausländischen Krankenhäusern verwendet.«
»Nur in ausländischen?«
»Es gibt heute bessere Alternativen«, erklärte Tierney. »Katgut hat weder die Reißfestigkeit noch die Haltbarkeit synthetischer Nahtmaterialien. Ich bezweifle, dass es derzeit noch von vielen amerikanischen Chirurgen benutzt wird.«
»Warum sollte unser unbekannter Täter so etwas denn überhaupt benutzen?«
»Um freie Sicht zu haben. Um die Blutung lange genug unter Kontrolle zu halten, sodass er sehen kann, was er tut. Unser Unbekannter ist ein sehr ordentlicher Mann.«
Rizzoli zog ihre Hand aus der Wunde. An der Innenfläche ihres Handschuhs war ein kleiner Blutstropfen hängen geblieben; er sah aus wie eine leuchtend rote Perle. »Wie geschickt ist er? Haben wir es mit einem Arzt zu tun? Oder mit einem Metzger?«
»Er hat eindeutig anatomische Vorkenntnisse«, sagte Tierney. »Ich habe keinen Zweifel, dass er so etwas schon einmal gemacht hat.«
Moore trat einen Schritt vom Tisch zurück. Ihn schauderte bei dem Gedanken an das, was Elena Ortiz durchgemacht haben musste, doch es gelang ihm nicht, die Bilder zu verdrängen. Was der Täter zurückgelassen hatte, lag direkt vor ihm und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere.
Das Klappern der Instrumente auf dem Tablettwagen schreckte ihn auf und ließ ihn herumfahren. Der Assistent hatte den Wagen zu Dr. Tierney gerollt, der nun den Y-Schnitt ansetzen würde. Jetzt beugte der Assistent sich vor und spähte in die Bauchwunde.
»Was passiert eigentlich damit?«, fragte er. »Wenn er den Uterus rausgerissen hat, was stellt er dann damit an?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Tierney. »Die Organe hat man nie gefunden.«
2
Moore stand auf einem Gehsteig in dem Viertel von South End, wo Elena Ortiz gewohnt hatte. Früher einmal war dies eine Straße voller abgetakelter Pensionen gewesen, ein schäbiges Vorstadtviertel, durch die Eisenbahnschienen von der attraktiveren Nordhälfte Bostons abgeschnitten. Aber eine wachsende Großstadt ist ein gefräßiges Ungetüm, ständig auf der Suche nach neuem Bauland, und Bahnschienen sind kein Hindernis für die begierigen Blicke von Bauunternehmern. Eine neue Generation von Bostonern hatte das South End entdeckt, und die alten Pensionen wurden nach und nach in Apartments umgewandelt.
Elena Ortiz hatte in einem solchen Haus gewohnt. Die Aussicht von ihrer Wohnung im ersten Stock war zwar keineswegs berauschend – durch die Fenster erblickte man einen Waschsalon auf der anderen Straßenseite –, doch das Haus bot einen Luxus, den man in Boston sonst nur selten geboten bekam: Anwohnerparkplätze, die in der angrenzenden Seitenstraße auf engstem Raum eingerichtet worden waren.
Moore bog jetzt in diese Seitenstraße ein und ließ den Blick über die Fenster der Wohnungen schweifen. Er fragte sich, wer in diesem Moment wohl auf ihn herabblickte. Nichts rührte sich hinter den Scheiben. Die Mieter, deren Wohnungen auf diese Gasse hinausgingen, waren alle bereits vernommen worden; keiner hatte irgendwelche brauchbaren Hinweise geliefert.
Er blieb unter Elena Ortiz’ Badezimmerfenster stehen und starrte die Feuerleiter an, die zu dem Fenster hochführte. Die Leiter war hochgezogen und in dieser Position verriegelt. In der Nacht, als Elena Ortiz ermordet worden war, hatte der Wagen eines Anwohners direkt unter der Feuerleiter geparkt. Später hatte man Abdrücke von Schuhen der Größe 42 auf dem Dach des Autos gefunden. Der unbekannte Täter hatte es benutzt, um die Feuerleiter zu erreichen.
Er sah, dass das Badezimmerfenster geschlossen war. In der Mordnacht war es nicht verriegelt gewesen.
Er trat wieder aus der Seitenstraße heraus, bog um die Ecke und betrat das Gebäude durch den Vordereingang.
Schlaffe Luftschlangen von gelbem Absperrband umflatterten Elena Ortiz’ Wohnungstür. Er schloss auf, und das Fingerabdruck-Pulver blieb wie Ruß an seinen Händen kleben. Das lose Band glitt über seine Schulter, als er in die Wohnung trat.
Das Wohnzimmer sah noch so aus, wie er es von seinem Rundgang mit Rizzoli am Vortag in Erinnerung hatte. Es war ein unerfreulicher Termin gewesen; er hatte gespürt, wie ihre Rivalität unter der Oberfläche brodelte. Im Fall Ortiz hatte Rizzoli von Anfang an die Leitung gehabt, aber sie war so unsicher, dass sie sich bedroht fühlte, sobald irgendjemand ihre Autorität in Frage stellte, insbesondere wenn dieser Jemand ein älterer männlicher Kollege war. Obwohl sie nun zum selben Team gehörten, einem Team, das sich inzwischen auf fünf Beamte vergrößert hatte, kam sich Moore wie ein Eindringling in ihrem Revier vor, dabei hatte er peinlich darauf geachtet, seine Anregungen so diplomatisch wie möglich zu formulieren. Er hatte keine Lust, sich auf einen Kampf der Egos einzulassen, und dennoch war es zum Kampf gekommen. Gestern hatte er sich bemüht, seine Aufmerksamkeit auf den Tatort zu richten, doch ihr unterschwelliger Groll hatte die Seifenblase seiner Konzentration immer wieder zum Platzen gebracht.
Erst jetzt, da er allein war, konnte er seine ganze Aufmerksamkeit der Wohnung widmen, in der Elena Ortiz gestorben war. Im Wohnzimmer erblickte er eine Ansammlung nicht zueinander passender Möbel, die um einen Beistelltisch aus Korbgeflecht arrangiert waren. In der Ecke ein PC, am Boden ein beigefarbener Teppich mit einem Muster aus Ranken und rosafarbenen Blüten. Laut Rizzoli war seit dem Mord nichts bewegt oder verändert worden. Das Tageslicht, das durch die Fenster fiel, schwand zusehends, doch er schaltete kein Licht ein. Lange stand er da, ohne auch nur den Kopf zu bewegen, und wartete, bis vollkommene Stille sich auf den Raum herabgesenkt hatte. Er hatte vorher noch keine Gelegenheit gehabt, den Tatort allein aufzusuchen; es war also das erste Mal, dass er ohne die Ablenkung durch die Stimmen und Gesichter der Lebenden in diesem Zimmer stand. Er malte sich aus, wie die Luftmoleküle, die sein Eintreten durcheinander gewirbelt hatte, sich allmählich beruhigten und langsamer dahintrieben. Er wollte, dass das Zimmer zu ihm sprach.
Er spürte nichts. Kein Gefühl der Gegenwart des Bösen, kein Nachbeben der Schrecken, die sich hier abgespielt hatten.
Der Täter war nicht durch die Tür hereingekommen. Und er war auch nicht in seinem neu eroberten Königreich des Todes umherspaziert. Er hatte all seine Zeit, all seine Aufmerksamkeit auf das Schlafzimmer verwandt.
Moore ging langsam an der winzigen Küche vorbei und weiter den Flur entlang. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. An der ersten Tür blieb er stehen und warf einen Blick ins Badezimmer. Er schaltete das Licht ein.
Es ist warm in dieser Donnerstagnacht. Es ist so warm, dass die Leute in der ganzen Stadt die Fenster offen lassen, um nur ja jede verirrte Brise, jeden kühlen Lufthauch einzufangen. Du kauerst auf der Feuerleiter; du schwitzt in deinen dunklen Kleidern und starrst in dieses Badezimmer. Es ist kein Laut zu hören; die Frau liegt im Bett und schläft. Wegen ihres Jobs im Blumenladen muss sie früh aufstehen, und zu dieser Stunde erreicht ihr Schlafzyklus seine tiefste Phase, in der kaum irgendetwas sie aufwecken kann.
Sie hört nicht das Kratzen des Spachtels, mit dem du das Fliegengitter aushebelst.
Moore betrachtete die Tapete, die mit winzigen Rosenknospen verziert war. Ein feminines Muster; ein Mann würde so etwas nie aussuchen. Dies war in jeder Beziehung das Badezimmer einer Frau, von dem Shampoo mit Erdbeerduft über die Schachtel Tampons unter dem Waschbecken bis hin zu dem mit Kosmetika vollgestopften Medizinschränkchen. Sie war eins von diesen Mädchen, die auf aquamarinfarbenen Lidschatten stehen.
Du steigst durch das Fenster ein, wobei Fasern von deinem marineblauen Hemd am Rahmen hängen bleiben. Polyester. Deine Sportschuhe, Größe 42, hinterlassen Abdrücke auf dem weißen Linoleumfußboden. Es finden sich Spuren von Sand, vermischt mit Gipskristallen. Eine typische Mischung, wie man sie sich auf den Straßen von Boston einfängt.
Vielleicht hältst du kurz inne und lauschst in der Dunkelheit. Atmest die süße, fremde Atmosphäre der Weiblichkeit ein. Oder vielleicht verschwendest du auch keine Zeit und wendest dich gleich deinem Ziel zu.
Dem Schlafzimmer.
Die Luft schien schlechter, stickiger zu werden, während er den Fußspuren des Eindringlings folgte. Es war mehr als nur ein eingebildetes Gefühl der Bedrohung; es war der Geruch.
Er erreichte die Schlafzimmertür. Inzwischen waren seine Nackenhaare starr aufgerichtet. Er wusste bereits, welcher Anblick ihn in dem Zimmer erwartete; er glaubte darauf vorbereitet zu sein. Doch als er das Licht einschaltete, überwältigte ihn das Entsetzen von neuem, wie an dem Tag, als er dieses Zimmer zum ersten Mal gesehen hatte.
Das Blut war jetzt über zwei Tage alt. Der Reinigungstrupp war noch nicht da gewesen. Aber selbst mit ihren chemischen Reinigern, ihren Dampfstrahlern und ihren Eimern voller weißer Farbe würden sie das, was hier geschehen war, niemals völlig auslöschen können, denn die Luft selbst war für immer durchtränkt von diesem Grauen.
Du trittst durch die Tür in dieses Zimmer. Die Vorhänge sind dünn, bloß ungefütterte Baumwollbahnen, und das Licht der Straßenlaternen dringt durch den Stoff und fällt auf das Bett. Auf die schlafende Frau. Gewiss wirst du noch einen Augenblick verweilen und sie eingehend betrachten. Die Vorfreude auf die Aufgabe genießen, die vor dir liegt. Denn für dich ist es ein Vergnügen, nicht wahr? Deine Erregung wächst und wächst. Das prickelnde Gefühl strömt wie eine Droge durch deine Adern, erweckt jeden einzelnen Nerv zum Leben, bis selbst deine Fingerspitzen vor ungeduldiger Erwartung pulsieren.
Elena Ortiz war keine Zeit zum Schreien geblieben. Und wenn sie doch geschrien hatte, dann hatte sie niemand gehört. Weder die Familie nebenan noch das Paar in der Wohnung unter ihr.
Der Eindringling hatte sein Werkzeug mitgebracht. Klebeband. Einen in Chloroform getränkten Lappen. Eine Sammlung chirurgischer Instrumente. Er war bestens vorbereitet.
Die Tortur dürfte sich weit über eine Stunde hingezogen haben. Elena Ortiz war zumindest einen Teil dieser Zeit bei Bewusstsein. Sie hatte Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken, was darauf hindeutete, dass sie sich gewehrt hatte. In ihrer Panik, in ihrer Todesangst hatte sie ihre Blase entleert, und der Urin hatte die Matratze getränkt und sich mit ihrem Blut vermischt. Es war eine komplizierte Operation, und er hatte sich Zeit genommen, um alles richtig zu machen und sich nur das zu nehmen, was er wollte, weiter nichts.
Er hatte sie nicht vergewaltigt; vielleicht war er dazu nicht in der Lage.
Als er mit seiner furchtbaren Exzision fertig war, lebte sie immer noch. Die Wunde in ihrem Becken blutete weiter, das Herz pumpte. Wie lange? Dr. Tierneys Schätzung zufolge wenigstens eine halbe Stunde. Dreißig Minuten, die Elena Ortiz wie eine Ewigkeit vorgekommen sein mussten.
Was hast du während dieser Zeit gemacht? Deine Instrumente verstaut? Deine Trophäe eingepackt? Oder hast du nur dagestanden und den Anblick genossen?
Der letzte Akt vollzog sich schnell und mit kühler Effizienz. Elena Ortiz’ Peiniger hatte sich genommen, was er wollte, und nun war es an der Zeit, das Unternehmen zum Abschluss zu bringen. Er war ans Kopfende des Betts getreten. Mit der linken Hand hatte er in ihre Haare gegriffen und ihren Kopf ruckartig nach hinten gezogen; so heftig, dass er über zwei Dutzend Haare ausgerissen hatte. Man hatte sie später auf dem Kopfkissen und dem Fußboden verstreut gefunden. Die Blutflecken kündeten von der letzten Untat. Nachdem er dafür gesorgt hatte, dass sie den Kopf nicht mehr bewegen konnte und ihr Hals ungeschützt dalag, hatte er einen einzigen tiefen Schnitt vollführt, der vom linken Ansatz des Unterkiefers nach rechts quer durch die Kehle führte. Er hatte die linke Halsschlagader und die Luftröhre durchtrennt. An der Wand links vom Bett waren dichte Haufen kleiner, kreisförmiger Tropfen zu sehen, die nach unten flossen – charakteristisch für Blut, das aus Arterien spritzte, wie auch für die Ausatmung von Blut durch die Luftröhre. Kopfkissen und Betttücher waren von dem herabgeflossenen Blut durchtränkt. Mehrere verstreute Spritzer, die von der Ausholbewegung des Täters mit der Klinge des Skalpells stammten, hatten das Fensterbrett benetzt.
Elena Ortiz hatte noch lange genug gelebt, um ihr eigenes Blut aus ihrem Hals spritzen und wie eine rote Maschinengewehrsalve an die Wand klatschen zu sehen. Sie hatte lange genug gelebt, um durch ihre durchtrennte Luftröhre Blut einzuatmen, es in ihren Lungen gurgeln zu hören und es krampfartig in Schwallen hellroten Schleims auszuhusten.
Sie hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass sie sterben würde.
Und als es vollbracht war, als ihr Todeskampf vorüber war, da hast du uns eine Visitenkarte hinterlassen. Du hast das Nachthemd des Opfers sorgfältig zusammengefaltet und auf der Kommode liegen lassen. Warum? Ist das irgendeine perverse Geste des Respekts gegenüber der Frau, die du gerade abgeschlachtet hast? Oder ist es deine Art, uns zu verhöhnen? Deine Art, uns mitzuteilen, dass du alles im Griff hast?
Moore kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf einen Sessel sinken. Es war heiß und stickig in der Wohnung, und dennoch zitterte er. Er wusste nicht, ob der kalte Schauder physische oder psychische Gründe hatte. Die Oberschenkel und die Schultern taten ihm weh, also hatte er sich vielleicht bloß einen Virus eingefangen. Eine Sommergrippe – die schlimmste von allen. Er dachte an all die Orte, wo er in diesem Moment lieber gewesen wäre. Er hätte mit seinem Boot auf einem See in Maine treiben können und seine Angelschnur durch die Luft pfeifen lassen. Oder am Ufer stehen und zusehen, wie der Nebel heranwallte. Egal wo – nur nicht an diesem Ort des Todes.
Das Zirpen seines Piepsers schreckte ihn auf. Er schaltete ihn ab und merkte, dass sein Herz heftig klopfte. Er wartete, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte, bevor er nach seinem Handy griff und die Nummer eintippte.
»Rizzoli«, antwortete sie nach dem ersten Klingeln; eine Begrüßung von der Direktheit einer Pistolenkugel.
»Sie haben mich angepiepst.«
»Sie haben mir nicht erzählt, dass Sie einen Treffer im VICAP hatten«, sagte sie.
»Was für einen Treffer?«
»Bezüglich Diana Sterling. Ich sehe mir gerade ihre Akte an.«
VICAP, das Programm zur Ergreifung von Gewaltverbrechern, war eine nationale Datenbank, in der Informationen über Fälle von Mord, Totschlag und schwerer Körperverletzung aus dem ganzen Land zusammengetragen wurden. Viele Mörder gingen immer wieder nach demselben Muster vor, und mit Hilfe dieser Daten war es den Ermittlern möglich, Verbrechen, die von einem bestimmten Täter begangen wurden, miteinander in Verbindung zu bringen. Rein routinemäßig hatten Moore und sein damaliger Partner Rusty Spivack eine Suche auf VICAP gestartet.
»Wir haben keinerlei Übereinstimmungen in New England bekommen«, sagte Moore. »Wir haben sämtliche Tötungsdelikte durchlaufen lassen, bei denen Verstümmelung, nächtlicher Einbruch und Fesselung mit Klebeband im Spiel waren. Nichts, was auf Sterlings Profil gepasst hätte.«
»Und was ist mit der Mordserie in Georgia? Vor drei Jahren, mit vier Opfern. Eins in Atlanta, drei in Savannah. Alle waren in VICAP gespeichert.«
»Ich habe diese Fälle überprüft. Der Täter ist nicht unser Unbekannter.«
»Hören Sie sich das an, Moore. Dora Ciccone, zweiundzwanzig, Studentin an der Emory University. Opfer wurde zunächst mit Rohypnol bewusstlos gemacht und dann mit einer Nylonschnur ans Bett gefesselt…«
»Unser Bursche hier benutzt Chloroform und Klebeband.«
»Er hat ihr den Bauch aufgeschlitzt. Ihr die Gebärmutter herausgeschnitten. Und ihr dann den Gnadenstoß versetzt – mit einem einzigen Schnitt durch die Kehle. Und schließlich – hören Sie gut zu – hat er ihr Nachthemd zusammengefaltet und auf einem Stuhl neben dem Bett zurückgelassen. Ich sage Ihnen, das passt einfach alles zu gut.«
»Die Fälle in Georgia sind abgeschlossen«, sagte Moore. »Schon seit zwei Jahren. Dieser Täter lebt nicht mehr.«
»Und wenn die Kripo von Savannah die Sache nun verbockt hat? Wenn der Kerl gar nicht ihr Mörder war?«
»Sie hatten DNS als Beweis. Fasern, Haare. Und es gab auch noch eine Zeugin. Ein Opfer, das überlebt hatte.«
»Ach ja. Die Überlebende. Das Opfer Nummer fünf.« Rizzolis Stimme hatte einen seltsam spöttischen Unterton.
»Sie hat die Identität des Täters bestätigt«, sagte Moore.
»Und sie hat ihn praktischerweise auch gleich erschossen.«
»Na und – wollen Sie vielleicht seinen Geist verhaften?«
»Haben Sie sich jemals mit diesem überlebenden Opfer unterhalten?«, fragte Rizzoli.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Was hätte das für einen Sinn?«
»Sie hätten dabei immerhin einiges Interessantes herausfinden können. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie kurz nach dem Überfall von Savannah weggegangen ist. Und raten Sie mal, wo sie heute lebt?«
Durch das Rauschen des Handys hindurch konnte er das Geräusch seines eigenen Pulses hören. »In Boston?«, fragte er leise.
»Und Sie werden es nicht für möglich halten, womit sie ihren Lebensunterhalt verdient.«