Robert Hanke
Jalta 2.0
Ein Weg zur emanzipierten Nachbarschaft zwischen der EU und deren östlichen Nachbarn
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Einleitung
1.1. Allegorischer Anfang einer Reise
1.2. Der verstörende Buchtitel
1.3. Das fehlerhafte Titelbild
1.4. Die Methodik des Buches
1.5. Der Zweck dieses Buches
2. Gelebte Nachbarschaft
2.1. Nachbarn und Verwandte kann man sich nicht aussuchen
2.2. Schlimmer geht es immer – besser auch
2.3. Wahrnehmungsebenen
2.4. Die Vertrauensleiter
2.4.1. Ein Beispiel für divergierende Vertrauensebenen
2.4.2. Vertrauensebenen mit Russland
2.4.3. Vertrauensebenen mit der Türkei
3. Historische Betrachtung
3.1. Unselige Verträge zu Lasten Dritter an Beispiel Polens
3.2. Zeitweilige Befriedung durch Teilung
3.2.1. Das Sykes-Picot-Abkommen 1915-2015
3.2.2. Vietnam 1945-1976
3.2.3. Deutschland 1949-1990
3.2.4. Korea (seit 1948)
3.2.5. Der Vertrag von Dayton (seit 1995)
3.3. Historische und ganz individuelle Lehren
4. Konstruktive EU-Außenpolitik
4.1. Das hohe Ross einer werte-gebundenen Außenpolitik
4.1.1. Das Schließen von uns auf andere
4.1.2. Die überschätzte Zivilgesellschaft
4.1.3. Humanismus – etwas spezifisch westliches?
4.1.4. Kodifizierung im politischen Raum
4.1.5. Rückschritt durch erzwungenen „Fortschritt“
4.1.6. Die Überdehnung einer Wertegemeinschaft
4.2. Maßvolle, interessengeleitete Außenpolitik
4.2.1. Das Herausarbeiten gemeinsamer Prioritäten
4.2.1.1. Der Wunsch, sicher und unbehelligt zu leben
4.2.1.2. Herstellung und Erhaltung der Kooperationsfähigkeit
4.2.1.3. Friedenserhaltung
4.2.1.4. Krisenbewältigung im Nahen Osten und im Kaukasus
4.2.2. Gemeinsame Ziele als Kooperationsgrundlage
4.2.3. Komplementäre Ziele als Geschäftsgrundlage
4.2.4. Ausklammern, was niemanden weiter bringt
4.2.5. Von der Nuklearen Teilhabe zur Atomaren Vetomacht
5. Fehlwahrnehmungen und ihre Konsequenzen
5.1. Fehlwahrnehmungen auf westlicher Seite
5.1.1. Demokratie und Marktwirtschaft sind untrennbar
5.1.2. Obrigkeitsstaatliches Denken im Volk ist komplett überwunden
5.1.3. Gorbatschow und Jelzin waren Volkshelden der Liberalisierung
5.1.4. Ein gesellschaftlicher Rückstand von 74 Jahren ist über Nacht aufholbar
5.1.5. Der Maidan bildete das gesamte ukrainische Volk ab
5.1.6. Die Türkei wird irgendwann reif zum EU-Beitritt
5.1.7. Eine islamische Emanzipation/Reformation ist zeitnah möglich
5.1.8. Im Mittleren Osten gibt es dauerhaft zuverlässige Verbündete
5.2. Fehlwahrnehmungen auf russischer Seite
5.2.1. Wirtschaftliche Ausplünderung durch den Westen unter Jelzin
5.2.2. Die Amerikaner vor Sankt Petersburg
5.2.3. Die Amerikaner vor Kursk
5.2.4. Einkreisung durch die Amerikaner
5.2.5. Der Westen wird von den Banken regiert
5.3. Fehlwahrnehmungen auf türkischer Seite
5.3.1. Überschätzung der positiven Auswirkungen eines EU-Beitritts
5.3.2. Der Westen ist gottlos
5.4. Der Politische Giftschrank
5.4.1. Kurdistan
5.4.2. Handel mit Saudi-Arabien
5.4.3. Saudi-Arabien als gefährlichster künftiger Gegner
6. Russland und die Türkei
6.1. Historische Betrachtung
6.1.1. Ehemalige Feudalreiche
6.1.2. Kemalismus und Bolschewismus
6.1.3. Die chaotischen 1990er Jahre
6.1.4. Vergebliche Versuche, westlichen Standards gerecht zu werden
6.2. Gemeinsamkeiten heute
6.2.1. Gemeinsamkeiten im Inneren
6.2.1.1. Unfertige Demokratien
6.2.1.2. Erfolgreiche Autokraten
6.2.1.3. Schrumpfende Zivilgesellschaft
6.2.1.4. Politische und wirtschaftliche Oligarchisierung
6.2.2. Gemeinsamkeiten im Äußeren
6.2.2.1. Die jeweilige instabile Südgrenze
6.2.2.2. Der Dualismus Sunniten-Schiiten jenseits dieser Südgrenzen
6.2.2.3. Kaukasus-Emirat und Daesch (Islamischer Staat)
6.3. Überlappungen und Interessenkonflikte zwischen beiden
6.3.1. NATO
6.3.2. Zypern
6.3.3. Verbleibendes Syrien
6.3.4. Türkischer Rat und SOZ
6.3.5. Verbleibender Kaukasus
7. Geografische Abgrenzung
7.1. Der Nordpol
7.2. Russisch-Norwegische Gewässergrenze
7.3. Die Europäische Landmasse
7.3.1. Russisch-Norwegische Landgrenze
7.3.2. Russisch-Finnische Landgrenze
7.3.3. Der Finnische Meerbusen
7.3.4. Abtretung von Ida-Viru an Russland
7.3.5. Russisch-Estnische Gewässergrenze
7.3.6. Russisch-Estnische Landgrenze
7.3.7. Russisch-Lettische Landgrenze
7.3.8. Abtretung der Kreise Daugavpils, Kraslavas, Dagdas, Luzdas, Zilupes an Belarus
7.3.9. Weißrussisch-Litauische Grenze
7.3.10. Weißrussisch-Polnische Grenze
7.3.11. Weißrussisch-Ukrainische Grenze
7.3.12. Die Teilung der Ukraine
7.3.13. Der Grenzverlauf der Teilung im einzelnen
7.4. Die südlichen Gewässergrenzen
7.4.1. Der Dnister
7.4.2. Das Schwarze Meer
7.4.3. Bosporus, Marmarameer und Dardanellen
7.4.4. Die Ägäis
7.4.5. Die Gasfelder im östlichen Mittelmeer
7.4.6. Der Suezkanal
7.4.7. Das Rote Meer
7.4.8. Bab al-Mandab
7.4.9. Golf von Aden
7.4.10. Sokotra
7.4.11. Seegrenze 52° Ost zum Äquator
8. Die Delegationen
9. Kooperationsknoten
9.1. Beschreibung der Notwendigkeit
9.1.1. Kaliningrad
9.1.2. Budschak+Gagausien+Taraclia
9.1.3. Zypern
9.1.4. Zebirget
9.1.5. Perim
9.1.6. Sokotra
9.2. Clearingstellen in den fünf Sonderwirtschaftszonen
9.2.1. Zollfreier Warenverkehr
9.2.2. Visumfreier Personenverkehr
9.2.3. Binnenmigration/Übersiedlung
9.2.4. Energie- und Telekommunikationsknoten
9.2.5. Gemeinsame Luft- und Seeüberwachung
9.2.6. Nachrichtendienstliche Kooperation
9.2.7. Bildung und Forschung
9.3. Prioritäre Clearingzonen
9.4. Warum nicht auch der Gazastreifen?
10. Sachthemen
10.1. Immaterielle Kooperationsfelder
10.1.1. Forschung
10.1.2. Kultur
10.1.3. Pädagogik
10.1.4. Frequenzneuordnung
10.1.4.1. DRM30 in Russland
10.1.4.2. DRM30 in der Europäischen Union
10.2. Projekte einer Landverbindung EU-China
10.2.1. Einheitliche Güterbahn
10.2.2. Magnetschwebebahn
10.2.3. Autobahn
10.2.4. Telekommunikationsachse
10.2.5. Stromtrassen
10.2.6. Pipelines
10.3. Stärkung des Handels
10.3.1. Handel zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und dem Mittleren Osten
10.3.2. Handel zwischen der Türkei und dem Kaukasus
10.4. Energie
10.4.1. Erdgas
10.4.1.1. Künftiger europäischer Zentraleinkauf über eine EU-Einkaufsagentur
10.4.1.2. Aufteilung des Gasleitungsnetzes der Ukraine
10.4.1.3. Gemeinsame neue Gasleitungsprojekte unter Einbeziehung von Kaliningrad und Budschak
10.4.2. Flüssiggas
10.4.3. Erdöl
10.4.4. Steinkohle
10.4.5. Braunkohle
10.4.6. Atomenergie
10.4.7. Windkraft
10.4.8. Solarenergie
10.5. Rüstung
10.5.1. Marktaufteilung
10.5.1.1. Antonow
10.5.1.2. Ukroboronprom
10.5.2. Rüstungsbegrenzungsabkommen
10.5.3. Atomwaffen
10.5.4. Proliferation an Drittstaaten
10.6. Finanzen
10.6.1. Aufteilung der Staatsschulden der Ukraine
10.6.2. Aufteilung der Staatsschulden Moldawiens
10.6.3. Das Beispiel Zypern: Schnell und dreckig
10.6.4. Das Beispiel Griechenland: Quälend und unendlich
10.6.5. Aufbau einer Eurasischen Zentralbank
10.6.6. Im Spannungsfeld zwischen AIIB, IWF und Weltbank
10.7. Technologietransfer
10.8. Klimaschutzabkommen
11. Involvierte internationale Organisationen
11.1. Eurasische Wirtschaftsunion
11.2. Europäische Union
11.3. Die OVKS/CSTO
11.4. Die NATO
11.5. Europarat
11.6. Internationale Hilfsorganisationen
11.7. UN-Sicherheitsrat
11.8. Von G-7 und G-20 zu G-3 und G-10
11.9. OECD
12. Künftige Krisenbewältigung
12.1. Die künftige politische Verantwortung Russlands in Vorderasien
12.1.1. Moderation des Dualismus Israel-Palästina
12.1.2. Bekämpfung des Daesch (Islamischer Staat)
12.1.3. Bekämpfung des islamistischen Terrors
12.1.4. Befriedung und Wiederaufbau Syriens
12.1.5. Flüchtlingsströme/Binnenflüchtlinge
12.2. Auf westlicher Seite
12.2.1. Libyen
12.2.2. Eritrea
12.2.3. Somalia
12.2.4. Al-Shabaab
12.2.5. Mali
12.2.6. Boko Haram
12.2.7. Fluchtroute Mittelmeer
13. Die Auswirkungen eines solchen Abkommens
13.1 Die künftige politische Verantwortung Russlands
13.1.1. Befriedung und Wiederaufbau der Ostukraine
13.1.2. Die künftige Rolle der USA in Vorderasien
13.2. Die Transformation der EU
13.2.1. Der innere Zusammenhalt der EU
13.2.2. Zuwachs von Legitimität durch eine gemeinsam bewältigte Aufgabe
13.2.3. Die sicherheitspolitische Einbindung Großbritanniens
13.2.4. Die Reduzierung der Anzahl von Flüchtlingen durch Beseitigung von Fluchtursachen
13.2.5. Die Stärkung Rumäniens als östlichen Pfeiler der EU
13.2.6. Vorbild des Umzuges Bonn-Berlin für den Umzug Brüssel-Bratislava
13.2.7. Ein Marshallplan 2.0 hilft den Helfenden aus der Euro-Krise
13.3. Die Dauer und Haltbarkeit einer politischen Friedensordnung
13.3.1. Die Friedensperiode 1871-1914
13.3.2. Die Friedensperiode 1945-1989
13.3.3. Nach Unterzeichnung verbleiben uns 44 Jahre, um alle Aufgaben zu erledigen
13.3.4. Vorbild für andere Weltregionen
14. Epilog
14.1. Über den Autor: Robert Hanke
14.2. Über den Autor: Thorsten Bosbach
14.3. Danksagungen des Herausgebers
Impressum neobooks
Robert Hanke (Hrsg.) & Thorsten Bosbach
Jalta 2.0
Ялта 2.0
Ein Weg zur emanzipierten Nachbarschaft
zwischen der EU und deren östlichen Nachbarn
Impressum
Texte: © Copyright by R. Hanke und T. Bosbach
Umschlag: © Copyright by Robert Hanke
Verlag: Robert Hanke
In den Biegen 9
60437 Frankfurt am Main
robih@gmx.de
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Die Europäische Union steht bekanntermaßen vor großen inneren und äußeren Herausforderungen. Diese sind zum Teil, siehe Islamismus, Schuldenkrise, Terrorgefahr und Zuwanderung, miteinander verknüpft. Hinzu kommen komplizierte Beziehungen zu zwei großen Nachbarn, zu Russland und zur Türkei. Die Neuordnung dieser Beziehungen sind das Leitthema dieses Buches.
Außenpolitisch haben gegenseitige Fehlwahrnehmungen, blinde Flecken in der Wahrnehmung des anderen, überhöhte Erwartungen sowie von EU-Seite das Primat einer werte-geleiteten anstatt einer maßvollen interessengeleiteten Außenpolitik zu dieser Situation beigetragen. Eine Politik klarer Abgrenzung und des gegenseitigen „In-Ruhe-Lassens“ kann künftig zur Beruhigung und Befriedung der Situation beitragen.
Der äußeren Form nach erfolgt diese Neuordnung auf dem Wege eines Grundsatzabkommens, welches die Erfahrungen des Abkommens von Jalta und seiner Folgen nutzbringend berücksichtigt. Dies inkludiert politische Spielräume punktueller Zusammenarbeit, bei der keine der beiden Seiten sich zu etwas gedrängt fühlen muss. Ein solches Abkommen hätte gerade für die EU stabilisierende und legitimierende Wirkung nach innen.
Meine Damen und Herren, liebe Mitlesenden, wir begrüßen Sie recht herzlich an Bord dieses Buches und hoffen, dass Sie mit uns eine angenehme und aufschlussreiche Reise haben werden. Sie befinden sich derzeit auf der zweiten Textseite und bewegen sich auf der Zeitachse vorwärts. Wir bedauern aufrichtig die beiden Einstiegshürden die Ihnen bis hier hin das Einschiffen erschwert haben, können die Begründung dafür aber in Kürze nachliefern.
Die Reise wird ungefähr 14 Kapitel lang werden, die genaue Seitenzahl kann anhand der jeweiligen Windgeschwindigkeit beim Schreiben noch um etwa 10-15% variieren, genauso die Zeitdauer anhand der jeweiligen Unterströmungsgeschwindigkeit beim Lesen. Unterwegs werden wir Sehenswürdigkeiten passieren, die Ihnen hinlänglich vertraut sind, nicht jedoch die Perspektive, aus der Sie sie nun zu sehen bekommen.
Am Ende dieser Reise werden sie genau dort ankommen, wo sie eingestiegen sind, aber die Welt um sie herum wird komplett anders aussehen. Falls Sie das beunruhigend finden, können wir Ihnen sagen, dass das Aussehen dieser Welt nach Ihrem Ausstieg von Ihrem Erkenntnisgewinn während dieser Reise mitgestaltet worden ist, Sie es also selber in der Hand haben, ob Ihnen diese Welt nach dem Ausstieg gefallen wird oder nicht. Die Haftungsverzichtserklärungen finden Sie im Kleingedruckten Ihrer Bordkarte.
Berücksichtigen sie bitte auch, ob diese Welt dann auch Ihren Kindern gefallen wird. Überhaupt haben wir hier an Bord große Probleme mit vorwitzigen Kindern, die sich selbst und andere in große Gefahr bringen. Zwei Beispiele dazu werden gleich folgen, eines teuer, eines schmerzhaft. Halten Sie Ihre Kinder also bitte im Blick und verhindern Sie im Vorfeld unbedachte Handlungen. Vielen Dank dafür.
Bereits direkt nach dem Start dürfen wir Sie auf die ersten vier Sehenswürdigkeiten aufmerksam machen. Zu Ihrer Linken sehen Sie eine Windhose, die einen 450 Millionen Bruttoregistertonnen schweren Ozeandampfer aus dem Meer gehoben hat und ihn in mehreren hundert Metern Höhe immer schneller um sich selber drehen lässt, bis die ersten Passagiere, aufgrund der Fliehkräfte über Bord geschleudert werden. Die 28 Mann starke Besatzung auf der Brücke der MS Europa tut alles, um ein Auseinanderbrechen des Rumpfs, in dem Sie bereits die ersten Haarrisse erkennen können, zu vermeiden. Und da, ja ist es denn zu fassen, verliert einer der Brückenoffiziere den Halt und wird mitsamt Schirm, Charme und Melone elegant und formvollendet über Bord aufs offene Meer geschleudert. Dabei bleibt er mit seinem Kilt an der Reling hängen und verliert ihn. Die anderen bergen das Schottenröckchen und bringen es auf die Brücke. Wenigstens der Kilt darf an Bord bleiben. Ob es der verbleibenden Mannschaft gelungen ist, den Dampfer auf Kurs zu halten, können Sie überprüfen, wenn sie die Reise mit diesem Buch in der kommenden Saison erneut buchen.
Wir möchten Sie bitten, angeschnallt zu bleiben, bis wir diese Windhose passiert haben. Bitte lassen Sie solange auch die Fenster geschlossen und strecken Sie nicht die Hände raus. Vor drei Jahren hat der kleine Kyprios genau das gemacht. Er versuchte, seine Hand in die Windhose zu stecken und verlor dabei innerhalb einer Sekunde seine leckere, 17 Milliarden Euro teure, Eistüte.
Direkt dahinter, aber bereits in etlichen Seemeilen Entfernung – aber was ist das? Ist das denn zu glauben, die USS Great-again fährt tatsächlich davon? Ja, so ist das, weil der neue Kapitän, eine Landratte mit wilder Frisur und noch wilderer Ausdrucksweise, so kleinmütig ist, dass ihm nichts besseres einfällt, als auf möglichst großen Abstand zur Windhose zu gehen. Bald ist sie nur noch ein kleiner Punkt am Horizont, nur den Kapitän hört man immer noch genau so laut fluchen.
Zur Ihrer Rechten sehen sie den pechschwarzen, blitzblank polierten und bis an die Zähne bewaffneten Panzerkreuzer Putjomkin. Es ist nicht oft möglich, ein so modernes Stück Militärtechnik aus so geringer Entfernung zu betrachten. Sie dürfen so viele Fotos machen, wie Sie wollen, aber bitte, kein Blitzlicht! Das Schiff hat extrem empfindliche Sensoren und einen besonnenen, aber sehr nervösen Kapitän, und wir wollen doch nicht versehentlich einen Torpedo auslösen, oder? Vor zwei Jahren ist das dem kleinen Arsenij passiert, er hat seinen Schulkameraden, den kleinen Wiktor, von Bord geschubst, damit sogar zwei Torpedos ausgelöst und seitdem läuft die kleine Arsenija hinten ohne Donbass und vorne ohne Krimmelchen herum.
Direkt dahinter, und in ihrem Zustand überhaupt nicht mit der Putjomkin vergleichbar, dümpelt die kleine TCG Anadolu, ein zum Zerstörer umgerüsteter Fischkutter, der in der letzten Saison noch ein rostiger Seelenverkäufer war, nun aber mit einer nagelneuen Goldlackierung, die etwa 6 Milliarden Euro, gekostet haben soll, funkelt und glänzt. Wenn allerdings an den technischen Komponenten nichts gemacht worden ist, dann kann es sein, dass dieses lackierte Wrack bereits in der kommenden Saison sang und klanglos abgesoffen ist.
Meine Damen und Herren, liebe Mitlesenden, wir haben die Windhose nun passiert, Sie dürfen die Gurte nun lösen, die Fenster öffnen und einen kleinen Snack zu sich nehmen, sowie sich im gesamten Buch frei bewegen. Im weiteren Verlauf der Reise, so ungefähr in Kapitel 9.2.1., werden Sie noch die Gelegenheit haben, zollfreie Waren zu erwerben. In den Auslagen führen wir zwar noch Waren aus Saudi-Arabien mit, aber wir müssen Ihnen dringend davon abraten, diese zu kaufen. Sie werden wirklich keine Freude daran haben. Wir bedanken uns für Ihre Aufmerksamkeit sowie für das Vertrauen, was Sie in uns gesetzt haben und wünschen Ihnen eine angenehme und aufschlussreiche Weiterreise.
Wer von den älteren Lesern während dem Kalten Krieg in einem geteilten Europa aufwuchs, für den assoziiert der Buchtitel nichts gutes. Die Konferenz von Jalta Anfang 1945 schuf die Grundlagen für eine 44jährige Teilung des Kontinents, in deren einen Hälfte die zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Fortentwicklung für die Dauer mehr als einer Generation komplett eingefroren wurde, von der Abschaffung bürgerlicher Freiheiten ganz zu schweigen.
Der damalige Konferenzschauplatz liegt darüber hinaus derzeit in einem Gebiet (der Halbinsel Krim), welches heute ein völkerrechtswidrig besetztes Gebiet ist, dessen zukünftiger Status einer abschließenden Klärung bedarf. Insgesamt steht der Begriff für den Beginn einer Periode der gegenseitigen Beschuldigungen, eines ständig drohenden Atomkriegs, weltweiter gegenseitiger Obstruktion, Stellvertreterkriegen in der Dritten Welt, geteilten Ländern (Deutschland, Korea, Vietnam), Wettrüsten zu Lasten der Entwicklungshilfe, sowie ausgeprägten Feindbildern auf beiden Seiten.
Doch diese Zeit hatte nicht nur ihr Schlechtes. Der Wettlauf ins All kann in dem Sinne als durchaus produktiv betrachtet werden, dass er auf beiden Seiten die größten wissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Tugenden und Fortschritte hervor brachte, die in der damaligen Zeit möglich gewesen sind. Viele Errungenschaften aus diesem Bereich haben auch sehr schnell ihren Weg in die Zivile Nutzung gefunden. Gleiches kann in eingeschränktem Maße auch für die Waffentechnik gesagt werde, deren ziviler Sekundärnutzen zum Beispiel in Atomkraftwerken und Strahltriebwerken für Passagierflugzeugen bestand.
Darüber hinaus waren diese 44 Jahre, bei aller Unsicherheit, letztlich eine Periode des Friedens und der Stabilität, in der es zumindest in Westeuropa und den USA keine zerreißenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche gab. Der Ost-West-Dualismus zwang die Länder Westeuropas, die einzeln zu schwach gewesen wären, um nach dem Verlust der meisten Kolonien noch eine relevante Rolle zu spielen, zu einer immer engeren und immer weiter gehenden Kooperation, deren Ergebnis die Europäische Union ist, wie wir sie heute kennen.
Über allem steht die Erkenntnis, dass, bei weniger zementierten Verhältnissen, ein Atomkrieg, dessen Ausbruch nicht hätte verhindert werden können, alles, aber auch wirklich alles hinweggefegt hätte, worüber es sich noch zu schreiben gelohnt hätte. Wir müssen also feststellen, dass die Konferenz von Jalta die hässliche Großmutter der Europäischen Union ist. Und wie das bei Enkeln so oft der Fall ist, werden sie meist genau in dem Moment erwachsen, in dem die Großeltern sterben.
Was bedeutet das für die Zukunft? Ein neues Abkommen zwischen der Europäischen Union und ihren östlichen Nachbarn, namentlich Russland und der Türkei, wird ebenfalls wieder die Großmutter weiterer Veränderungen innerhalb der Europäischen Union werden. Ein solches Abkommen bietet die Chancen, nicht nur Fehlentwicklungen im Verhältnis zu Russland und der Türkei zu korrigieren, sondern auch Fehlentwicklungen innerhalb der Europäischen Union und möglicherweise auch im Verhältnis zu den USA, insbesondere nach der Wahl von Donald Trump im Jahre 2016.
Wir leben im postideologischen Zeitalter. Im Gegensatz zur damaligen Sowjetunion ist eine Verständigung mit Russland heute insofern einfacher, als dass Moskau heute nicht mehr versucht, eine ganz bestimmte Gesellschaftsform und Ideologie weltweit zu etablieren, sondern jetzt eher darauf bedacht ist,
1. International als gleichberechtigte Großmacht wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden.
2. In der eigenen „Sicherheitszone“ nicht von anderen Mächten bedrängt zu werden.
Diese machtbewusste, aber undogmatische, pragmatische Herangehensweise, gepaart mit einer nüchternen Kosten-Nutzen-Abwägung eröffnet Spielräume für Vereinbarungen, die es mit einem hoch dogmatischen Gegenspieler in der Hochphase des kalten Krieges mangels der nötigen Flexibilität nicht geben konnte. Im Gegensatz dazu kann man beobachten, wie die Türkei unter Erdogan seit seinem Wechsel ins Präsidentenamt immer ideologisierter und dogmatischer wird. Hier werden die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei eher immer schwieriger als immer leichter werden.
Jalta – dort, wo alles begann, wird es auch wieder enden und von neuem beginnen. Mit einem Zuwachs an Erfahrung, mit einem Zuwachs an Rationalität und mit erheblich mehr politischem Gestaltungsspielraum als damals nach einem verheerenden Weltkrieg.
Wer sich das Titelbild dieses Buches nur flüchtig anguckt, dem wird es vertraut vorkommen. Europa, Afrika, Russland, der Nahe Osten. Wer jedoch genauer hingesehen hat, der wird, teilweise erst nach mehrfacher Überprüfung und unter Zuhilfenahme eines Atlas, insgesamt zehn Abweichungen entdecken. Es folgt eine Auflistung der Abweichungen, zusammen mit den Gliederungspunkten, in denen diese Abweichungen jeweils begründet und erklärt sind:
7.3.12. Warum ist die Ukraine geteilt und zweifarbig?
7.4.1. Wo ist Moldawien geblieben?
7.4.3. Warum ist die Türkei zweifarbig?
7.4.3. Soll das da etwa ein Staat namens Kurdistan sein?
7.4.5. Warum ist Ägypten zweifarbig?
9.1.2. Der kleine Knubbel südlich von Ex-Moldawien, ist das noch Ukraine oder kann das weg?
9.1.3. Warum ist Zypern zweifarbig?
11. Wo ist der Kosovo geblieben?
13.2.1. Wo ist Belgien geblieben?
13.2.6. Warum liegt der Sitz der Europäischen Union plötzlich in Bratislava?
Eine gemeinsame Antwort auf die Frage nach diesen Abweichungen kann jedoch bereits vorab gegeben werden. Die Konferenz von Jalta 1945 hat die Landkarte Europas tiefgreifend und nachhaltig verändert. Zudem bewirkte sie, und das geht aus Landkarten selten hervor, die Vertreibung und Umsiedlung von fast 20 Millionen Menschen, wohlgemerkt, nach dem Zweiten Weltkrieg. Die damit verbundenen menschlichen Schicksale und Traumata prägen das Denken und Fühlen auch nachfolgender Generationen in weiten Teilen dieses Kontinents auch heute noch. Die hier diskutierten Grenzveränderungen haben den Zweck, weiteren Traumata vorzubeugen.
Wer das Buch zu Ende gelesen hat und sich dann das Titelbild erneut anschaut, dem wird auffallen, dass sämtliche in 13.2.1. skizzierten Veränderungen, namentlich Neugründungen sezessionistischer Staaten auf dem Gebiet der Europäischen Union grafisch ignoriert wurden. Die Gründe dafür sind:
a) Die politische Innenwirkung auf den jeweiligen Rest der Europäischen Union ist gering
b) Die politische Außenwirkung außerhalb der Europäischen Union ist ebenfalls gering
c) Aufgrund der proportionalen Repräsentanz in den meisten Gremien der EU wird sich das Machtgefüge innerhalb der EU durch jede einzelne Abspaltung nur marginal verändern.
d) Die in 13.2.1. diskutierte Transformation in ein Europa der 80 Regionen würde alle diese Abspaltungen in ein modifiziertes Gesamtkonzept einbinden, welches mit der jetzigen Landkarte im Titelbild überhaupt nichts mehr zu tun hätte
e) Das Titelbild ist auch so schon verwirrend genug
f) Noch mehr Änderungen zum Status Quo hätten die beabsichtigte grafische Unterstützung der Kernthesen dieses Buches in ihr Gegenteil verkehrt
g) Dem Autor war es nachvollziehbarer weise irgendwann nicht mehr möglich, die Landkarte nach der Fertigstellung jedes weiteren Kapitels zum wiederholten Male neu zu zeichnen (Dieser Punkt wurde hinzugefügt, nachdem bereits 10 von 14 Kapiteln fertiggestellt waren)
Wer die Gliederung dieses Buches gelesen hat, erwartet einen riesigen dicken Wälzer und ist möglicherweise darüber enttäuscht, dass das Buch in seinen Abmessungen doch einigermaßen moderat ausgefallen ist. Die Gliederung dieses Buches ist bewusst bis ins feinste aufgefächert, um den Kerngedankengang bereits beim ausschließlichen Lesen der Gliederung begreiflich zu machen. Den gleichen Zweck verfolgt im übrigen auch die Landkarte auf dem Titelbild.
Diese Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern es ist ein politisches Buch. Da es eine mögliche Zukunft beschreibt, entzieht es sich in diesem Punkt empirischer Nachprüfbarkeit. Aus diesen beiden Gründen wird es hier auch keine Wüste von Zitaten und keine Quellenliste geben. Darüber hinaus soll das Buch als Denkanstoß dienen und nicht einen dogmatisch zu befolgenden Fahrplan vorgeben.
Im Umkehrschluss davon auszugehen, dass im Vorfeld überhaupt keine Fakten recherchiert worden sind, ist allerdings genau so irreführend. Wer bis hier her gelesen hat, wird bereits bemerkt haben, dass hier etliche Begriffe bei ihrer ersten Nennung kursiv gesetzt worden sind. Die kursiv gesetzten Begriffe (in ihrer Nominativ-Flexion) sind alle in der deutschsprachigen Wikipedia abrufbar. Insbesondere bei geografischen, historischen und politischen Fakten ist es oft hilfreich, sich die Kenntnis derselben immer wieder mal ein wenig aufzufrischen.
Im übrigen hat dieses Buch auch den Mut, subjektiv zu postulieren, Dinge als wünschenswert in den Raum zu stellen, ohne vorher die Mehrheitsfähigkeit dieser Wünsche demoskopisch zu erfassen. Politik, und das wird in den Zeiten der Alternativlosigkeit gerne vergessen, ist eine Sache des Willens, nicht der Fakten. Ein kurzes Beispiel dazu:
Der Himmel ist blau. Ist dieses Blau alternativlos? Nein. Nachts ist er schwarz, abends und morgens ist er rot und an Regentagen ist er grau. Können wir die Farbe des Himmels selber ändern? Nein. Können wir uns der Farbe des Himmels entziehen? Ja, indem wir ein Gebäude betreten oder unter eine Bettdecke schlüpfen. Ein Zelt oder ein Wohnwagen sind auch nette Alternativen.
Wir müssen uns mit nichts abfinden, wenn wir den Mut haben, über Alternativen nachzudenken, wie wir verschiedene Probleme so miteinander verknüpfen, dass sie gemeinsam eine Lösung ergeben. Dieses Buch soll jeden einzelnen dazu ermutigen, Lösungen zu entwickeln, auch wenn sie im ersten Schritt einer Überprüfung durch den TÜV oder eines wissenschaftlichen Gremiums nicht stand halten würden.
Im übrigen erleben wir auch in der Politik immer wieder das Phänomen, dass sie sich im Dunkeln tastend fortbewegt, ohne das Ende überhaupt zu kennen. Wenn von Politikern, insbesondere, wenn sie aus den Naturwissenschaft kommen, behauptet wird, dass sie „Dinge vom Ende her denken“ und so ihre politischen Lösungswege entwickeln, so muss festgestellt werden, dass der politische Raum an sich in keiner Weise ein deterministisches System darstellt.
Auch, und das an die Neoliberalen, der Homo oeconomicus wäre in diesem Zusammenhang ein unvollständiges Modell und im Vergleich zur Realität zu deterministisch. Politik und Wirtschaft sind keine Naturwissenschaften, sondern Geisteswissenschaften, weil ihre Versuchsanordnungen mit Menschen bestückt sind. Menschen sind keine Laborratten und schätzen es überhaupt nicht, wenn sich im Vorfeld jemand anders darüber Gedanken macht, was gut für sie sein könnte, ohne sie selbst je gefragt zu haben. Sie rauchen, sie fahren zu schnell, sie lassen sich scheiden, sie sind nicht perfekt.
Auch dieses Buch wird keine perfekte, sondern lediglich eine anwendbare Lösung anbieten. Dies, zumal Politik grundsätzlich nicht unter Laborbedingungen stattfindet. Bereits während des Schreibens dieses Buches traten politische Entwicklungen ein, die es immer wieder erforderlich machten, bereits fertiggestellte Kapitel in Teilen zu überarbeiten oder gar komplett neu zu strukturieren.
Dieses Buch erweckt den Anschein, neutral zu sein, weil es sowohl europäische, als auch russische und türkische Sichtweisen zum jeweils gleichen Problemfeld diskutiert und einander gegenüber stellt.
Der Schein trügt!
Dieses Buch ist ein Weckruf für die politische Klasse in der Europäischen Union und ein flammendes Plädoyer für einen geeinten Europäischen Patriotismus. Das hier beschriebene Vorhaben wird die Europäische Union tiefgreifend verändern, was in 13.2 noch genauer diskutiert wird.
Oft ist es leider so, dass erst eine Bedrohung von außen eine wirklich Kooperation in einer Gemeinschaft vormaliger Rivalen bewirkt. Was muss noch alles passieren, ehe die europäischen Völker merken, dass die Wirtschaftsmigration an ihrer Südflanke, die ungelösten geopolitischen Probleme an ihrer Ostflanke sowie die ungelösten Schuldenprobleme, die nicht erfolgte Einbindung von Zugewanderten sowie im Gefolge dessen das Erstarken von Rechtsparteien Ausmaße annehmen, die in ihrer Summe für den Fortbestand eines gemeinsamen Europas existenzbedrohend sind?
Nachbarn gibt es, seit es Menschen gibt. Als Menschen noch nicht sesshaft waren, begegneten sich die Nomadenstämme relativ selten, einige Male pro Jahr. Entscheidend dafür, ob eine solche Begegnung der Anlass für ein Gemetzel oder ein Fest wurde, war die Frage, ob diese Stämme zuvor bereits Schwiegertöchter ausgetauscht hatten, welche oft auch vermittelnde Funktionen einnahmen.
Mit dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht wurden die Menschen sesshaft. Die Sippen hatten ihre Parzellen, auf denen sie Feldfrüchte anbauten, ihr Vieh (die ersten Formen von Besitz und Eigentum) weideten und auch wohnten und schliefen. Fortan hatten sie auch dauerhaft die immer gleichen Parzellen-Nachbarn. Die häufigsten Konfliktursachen waren entlaufenes oder zugelaufenes Vieh, der Zugang zu frischem Wasser und beim Umpflügen verschobene Grenzsteine.
Bereits hier kristallisierte sich heraus, dass man diese nachbarschaftlichen Konflikte entweder konfrontativ oder kollaborativ lösen konnte. Durch Heirat konnten Parzellen zusammengelegt, durch Erbteilung konnten sie zerlegt werden. Nicht selten kam es vor, das blutige Erbstreitigkeiten mit der kompletten Auslöschung einer von mehreren Abkömmlingen sowie seiner Familie endeten. Geschah dies wechselseitig, entspann sich ein oft viele Generationen dauernder Gewaltkreislauf der Blutrache. Eine übergeordnete Gerichtsbarkeit, die solchen Auswüchsen Einhalt gebieten konnte, entstand erst mit dem Aufkommen der ersten Hochkulturen, die noch erheblich erweiterte Formen der Zusammenarbeit erforderten.
Ein gängiges Mittel, streitende Nachbarn dauerhaft auseinander zu bringen, war das Mittel der Verbannung. Im Gegensatz zur modernen Justiz wurden Delinquenten also nicht eingesperrt, sondern ausgesperrt. Auch in der Sowjetunion gab es im 20. Jahrhundert noch Verbannungen nach Sibirien. Nach 1990 sind weltweit keine weiteren Verbannungen bekannt geworden. Im Zeitalter von Internet und Smartphones sind sie auch weitgehend sinnlos geworden.
Der Gedanke der Zugehörigkeit zu einer Familie setzt sich mit steigendem Abstraktionsgrad fort über die Sippe, den Stamm, das Dorf, die Kommune, die Landsmannschaft, das Volk, die Nation bis hin zu einer transnationalen Wertegemeinschaft, je nachdem was oder wen man gerade als den oder die „anderen“ wahrnimmt oder benennt.
Die Europäische Union hat mit Russland und der Türkei zwei Nachbarn, die bisweilen ziemlich anstrengend und nervig sind, aber (und das werden die Gliederungspunkte 2.4.2. und 2.4.3. zeigen) in den Augen beider sind wir Europäer nicht minder anstrengend und nervig.
Insbesondere Russland hätte man nicht nur als Nachbarn sondern (aufgrund des gemeinsamen christlichen Glaubens, der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Kaukasischen Rasse) gleichsam als Verwandte zu betrachten. Auch Verwandte können anstrengend und nervig sein, aber man kann sie sich zumindest auf Abstand halten – nicht aber, wenn sie gleichzeitig Nachbarn sind.
Russland und die Türkei werden nicht von der Landkarte verschwinden, nur weil sich das manche im Westen heimlich wünschen. Sie werden dort sein, wo sie jetzt sind – dauerhaft. Anstatt diesen Zustand zu beklagen, sollten wir uns, heute und jeden Tag erneut, die Frage stellen: Wie können wir einander dauerhaft nützlich sein? Wer die Frage in dieser Form stellt und sich dann die Aufgaben näher betrachtet, die sowohl im Europa als auch im Nahen Osten ungelöst herum liegen, wird, wie in 4.2. sowie in 9. und 10. beschrieben wird, zu ganz erstaunlichen Antworten gelangen.
Wenn nicht gerade Völkerwanderung ist (die letzte ist auch schon wieder fast 1500 Jahre her), dann hat ein Volk über Jahrhunderte hinweg die gleichen Nachbarvölker. Im Laufe dieser Zeit lernt man seine Nachbarn ziemlich genau kennen, in gutem wie in schlechtem Sinne. Das kollektive Gedächtnis eines Volkes neigt dazu, einmal gemachte Erfahrungen im Verlaufe mehrerer Generationen zu überhöhen, bis die sich daraus entwickelten Stereotypen und Vorurteile nichts mehr mit den ursprünglich gemachten Erfahrungen gemeinsam haben.
Negative Stereotypen erschweren eine Kooperation von Nachbarn, die in vielen Dingen dauerhaft aufeinander angewiesen sind, ganz erheblich. Sie haben, konsequent zu Ende gedacht, alleine zwischen Deutschland und Frankreich, seit 1618 zu mehr als einem Dutzend Kriegen geführt. Die von Adenauer und De Gaulle betriebene Aussöhnungspolitik in Form des Élysée-Vertrags kann daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Mit Russland in gleicher Weise eine gemeinsame Schnittmenge zu finden, wäre die umfangreichere, aber letztlich die leichtere Aufgabe, weil die kühle interessengeleitete politische Analyse, die auch über den Tag hinaus denkt, schon immer ein wesentlicher Bestandteil im politischen Inventar in Russland gewesen ist.
Die Türkei hingegen in gleicher Weise in solche politischen Lösungswege einzubinden, wird der Europäischen Union, ohne dass Russland in gleicher Weise Überzeugungsarbeit in der Türkei leistet, nicht gelingen. Die Türkei wird zu erkennen haben, dass, wenn sie auch in Zukunft versucht, ihre Nachbarn (die EU gegen Russland und Saudi-Arabien gegen den Iran, und alles nur, um die Kurden klein zu halten) fortwährend gegeneinander auszuspielen, sich ihr eigenes Pulverfass schafft, welches, wenn die Lunte einmal brennt, auch von der Völkergemeinschaft nicht wieder gelöscht werden kann.
Man kann den Nachbarn, je nach der jeweiligen historischen bzw. aktuellen Bedingtheit von seiner Grundeinstellung her entweder positiv oder negativ wahrnehmen. Die Aufgabe, eine unvoreingenommene und positive Grundeinstellung zum Nachbarn zu entwickeln und beizubehalten, liegt bei jedem selbst.
Um, bei allen Differenzen, trotzdem zu konstruktiven Ergebnissen zu kommen, ist es bisweilen notwendig, den Kontext der eigenen Sozialisierung zu verlassen und sich für einen Moment die Brille der Gegenseite aufzusetzen. Sie ist nicht weniger subjektiv als die eigene. Aber alleine dadurch, dass man, nachdem man durch beide Brillen geschaut hat, hat man plötzlich sehr interessante Vergleichsmöglichkeiten. Im Gefolge dessen kann auch leichter über Lösungen nachgedacht werden, die, ganz im Sinne der Dialektik, eine Synthese beider Sichtweisen, im besten Falle sogar eine Synergie, abbilden.
Eine positive Wahrnehmung wird vom Grad des gegenseitigen Vertrauens bestimmt, welches optimalerweise im Laufe der Zeit wächst. Um aber diesen Prozess wachsenden gegenseitigen Vertrauens zu etablieren, ist es notwendig, überkommene Ressentiments in Frage zu stellen und einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Dass ein solcher Vertrauensvorschuss tatsächlich auch festgefahrene politische Prozesse wieder in Gang bringen kann, hat Barrack Obama, und das wird sein Vermächtnis sein, im Falle von Kuba und dem Iran (siehe auch en:JCPOA) praxisnah veranschaulicht.
Eine Vertrauensleiter durchläuft von schlecht nach gut folgende acht Stufen:
Stufe 1: Der Feind
Stufe 2: Das Ärgernis
Stufe 3: Der Rivale
Stufe 4: Der Wettbewerber
Stufe 5: Der Geschäftspartner
Stufe 6: Der Kooperationspartner
Stufe 7: Der Verbündete
Stufe 8: Der Freund
Für die vorgenannten Stufen gibt es durchaus Stadien der Überlappung; sie lassen sich also oft nicht haargenau voneinander trennen. Insbesondere kann es in unterschiedlichen Politikfeldern zu einer Divergenz des erreichen Maßes gegenseitigen Vertrauens kommen.
Dies ist ein zweiseitiger Prozess, der sowohl beinhaltet, wie die östlichen Nachbarn die Europäische Union wahrnehmen, als auch, wie die Europäische Union die östlichen Nachbarn wahrnimmt.
Ein gutes Beispiel für eine solche Divergenz ist Marokko. Global betrachtet, kann man Marokko als Kooperationspartner (Stufe 6) betrachten. Dazu bei trägt auch, dass Marokko innerhalb der islamischen Welt sich mit besonderen Maßnahmen zur Stärkung der Stellung der Frauen in der Gesellschaft hervorgetan hat.
1. Seit 2006 bildet Marokko weibliche Imame aus und stärkt damit den weiblichen Anteil an der Deutungshoheit von Koran, Sunna und Haddithen, was in einem frauenfreundlicheren Islam münden soll.
2. Seit 2009 gibt es im marokkanischen Wahlrecht eine Frauenquote, die in vielen Kommunen erstmals eine aktive weibliche Teilhabe an Politik ermöglichte.
Beide Reformen wurden von der Europäischen Union begrüßt und unterstützt.
In gleicher Weise ist, weltpolitisch betrachtet, Marokko auch ein Ärgernis (Stufe 2). Der Stein des Anstoßes ist die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara seit 1975, die auch der Grund dafür ist, dass Marokko nicht der Afrikanischen Union beitreten darf und somit auch die üblichen institutionellen und zwischenstaatlichen Wege der Zusammenarbeit teilweise versperrt sind und mühsam durch bilaterale Vereinbarungen abgebildet werden müssen.
Derzeit sieht die Europäische Union, insbesondere in der Ukraine und an weiteren Grenzabschnitten, Russland als Rivalen (Stufe 3). Eine Lösung dieses einen Konflikts (Ukraine) könnte mit wenig Aufwand einen sofortigen spürbaren Fortschritt bis hin zu Stufe 6 (Kooperationspartner) bringen.
Für Russland hingegen stellt die Europäische Union eher ein Ärgernis (Stufe 2) dar, weil sie mit ihrer Politik der offenen Tür und ihren politischen Maßnahmen der sogenannten Östlichen Partnerschaft keine Begrenzung ihrer nachfrage-geleiteten Ausdehnung nach Osten hat erkennen lassen. Dass dies keine böse Absicht, sondern lediglich eine durch eine Fehlwahrnehmung der wechselseitigen Interessen hervorgerufene Fahrlässigkeit war, entschuldigt das Verhalten aus russischer Sicht nicht.
Auch hier könnte die einvernehmliche Beilegung des Ukraine-Konflikts eine sofortige Verbesserung der Wahrnehmung um 3 Stufen bewirken. Für Russland wären wir dann wieder ein respektabler Geschäftspartner, mehr aber auch nicht, weil alles, was darüber hinaus gehen würde, dem russischen Verständnis von Empathie widersprechen würde.
Die Türkei hingegen wird in der Europäischen trotz ihrer Position als NATO-Verbündeter (Stufe 7) hauptsächlich als Ärgernis (Stufe 2) wahrgenommen, was nicht zuletzt in der (auch im direkten Vergleich mit Wladimir Putin) wenig vernunftgeleiteten, ja geradezu erratischen Politik von Recep Tayyip Erdoğan seit seines Betretens der politischen Bühne, begründet liegt.
Umgekehrt ist es nicht viel besser. Die Europäer, trotz ihrer Position als NATO-Verbündeter (Stufe 7) werden von der Türkei „lediglich“ als Kooperationspartner (Stufe 6) wahrgenommen, was nicht zuletzt in der ebenfalls inkonsequenten, bisweilen gleichsam erratischen Gestaltung der Beitrittsverhandlungen seitens der Europäischen Union begründet liegt.
Vielleicht wäre es, der politischen Ehrlichkeit zuliebe, besser, zuzugeben, dass ein solcher Beitrittsprozess nicht dazu führen wird, dass gesellschaftliche und in der jeweiligen Mentalität verankerte Inkompatibilitäten dauerhaft aus der Welt geschaffen werden. Dies gilt auch für die Inkompatibilität der Sicherheitsinteressen im Nahen Osten.
Politisch ehrlich und konsequent wäre es also, die NATO-Mitgliedschaft der Türkei zu beenden und den EU-Beitrittsprozess nicht weiterzuführen, mithin die gegenseitige Wahrnehmung und den Grad der Zusammenarbeit für die Zukunft dauerhaft und konsolidiert auf Stufe 5 (Geschäftspartner) festzuschreiben. Für mehr fehlt auf absehbare Zeit die gemeinsame politische Substanz. Die Türkei wird sich neue Partner suchen müssen.
Wenn ein Land geteilt wird, so spiegelt es in den selteneren Fällen die Eigeninteressen einer Bevölkerung dieses Landes wieder. In den meisten Fällen dient sie der zeitweiligen Befriedigung der Sicherheitsinteressen benachbarter ausländischer Mächte. Die in Abschnitt 3.2 beschriebenen Teilungen spiegeln mitsamt ihrer großen Ausnahme in 3.2.5. genau diese Verhältnismäßigkeit genau wieder.
Weitere Teilungen, die (mehr oder weniger) aufgrund des Willens der Bevölkerung zustande gekommen sind, waren:
- Die Teilung Indiens 1947
- Die Abspaltung von Ostpakistan 1971
- Die Teilung der Tschechoslowakei 1992
- der Zerfall der Sowjetunion 1990/1991
- der Zerfall von Jugoslawien 1991-1995
Für weitere Teilungen, die der zeitweiligen Befriedigung der Sicherheitsinteressen benachbarter ausländischer Mächte dienten, lassen sich im Verlaufe der Geschichte Hunderte von Beispiele finden. Dutzende davon haben ihre fatalen Folgen in Afrika hinterlassen, wo Stammesgebiete zerteilt und einander fremde Stämme in einen gemeinsamen Staat hinein gezwungen wurden. Die Grenzverläufe in Afrika tragen noch heute dazu bei, dass Staaten instabil sind, dass eine städtische Oberschicht sich auf Kosten der Stämme bereichert und dass dieser Kontinent seit 1960 wirtschaftlich nicht vom Fleck kommt.
Grenzveränderungen, Teilungen von Ländern, Annexionen und somit Zwangsvereinigungen hat es zahlreich auch in der Vergangenheit gegeben. In den allermeisten Fällen hatte dies zur Folge, dass in den betroffenen Region jeder einzelne sein bisher gelebtes und als selbstverständlich empfundenes Leben komplett umstellen musste. Wie das im äußersten sogar zu innerfamiliärem Hass führen kann, konnte man beispielhaft in den 1990er Jahren in Bosnien-Herzegowina, wo es viele multiethnische Familien gab und gibt, beobachten.
Ein besonders markantes Beispiel in Europa für ein Land, welches in den letzten 250 Jahren immer wieder zerteilt, neu zusammengestückelt und wieder zerteilt wurde ist Polen. Das 1386 durch die Union von Krewo entstandene Großreich Polen-Litauen, welches in seiner größten Ausdehnung 1618 das Gebiet des heutigen Weißrussland und den größten Teil des heutigen Gebietes der Ukraine umfasste und fast bis zum Schwarzen Meer reichte, konnte nur so groß werden, weil Brandenburg-Preußen und Österreich-Ungarn im Dreißigjährigen Krieg gebunden waren und das Zarentum Russland an den Wirren der Smuta litt.
In dem Moment jedoch, wo diese drei benachbarten ausländischen Mächte erstarkten, war abzusehen, dass es mit Polen bergab gehen würde. In den Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 wurde Polen schrittweise auf die drei Nachbarreiche aufgeteilt. Dabei bleibe es allerdings nicht. Die Vierte Teilung Polens (und je nach Lesart die fünfte und sechste) ließen das Gebiet und die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommen. Als solche wurden gezählt:
- Das russische Protektorat Kongresspolen 1815-1916
- Der Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt 1939
- Die Westverschiebung Polens 1945
Dass vor diesem historischen Hintergrund die Polen weder den Deutschen noch den Russen über den Weg trauen, sollte daher nur allzu gut nachvollziehbar sein. Das macht den Weg der Deutsch-Polnischen Aussöhnung so schwierig.
Die Deutsch-Französische Aussöhnung war demgegenüber deshalb leichter, weil es im kollektiven Gedächtnis beider Völker sowohl Napoleon Bonaparte als auch Adolf Hitler gab und Frankreich nie auf fremde Staaten aufgeteilt wurde. Ein weiterer Stolperstein für die Deutsch-Polnische Auflösung war lange Zeit die Tatsache, dass die Westverschiebung Polens zu Lasten der Deutschen Ostgebiete ging, wofür die Polen allerdings am allerwenigsten konnten.
Was lehrt uns das für künftige Aufteilungen? Wie uns das Beispiel der Teilung der Tschechoslowakei 1992 zeigt, ist es gesellschaftlich dysfunktional und schädlich, zwei Bevölkerungsgruppen mit derart unterschiedlichen Mentalitäten in einem Staat zusammengefasst zu lassen. Eine einvernehmliche Trennung, wie in Abschnitt 7.3.12. skizziert, kann auch in der Zukunft eine sinnvolle Option darstellen, bedarf aber, da die Situation bereits eskaliert ist, analog zum Vertrag von Dayton 1995, der kooperativen Mithilfe ausländischer Mächte, die diesen Vorgang auch in der Zukunft verantwortungsvoll begleiten können und wollen.
Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Teilungen vom Grünen Tisch gab es seit 1991, insbesondere in Osteuropa, Abspaltungen (insbesondere vom vormaligen Jugoslawien und der vormaligen Sowjetunion) die erstritten wurden und von denen somit davon ausgegangen werden kann, dass sie den Willen des sich abspaltenden Volkes widerspiegeln. Diese Art der Teilungen ist seit den frühen 1990er Jahren als Regelfall an die Stelle früherer feudaler Teilungen getreten.
Eine dritte Art und Weise von Grenzziehungen und Teilungen ist eine, wie weder ausschließlich aus feudalem Eigeninteresse noch aus dem Volkswillen heraus zustande kommt, sondern alleine aus der Motivation, einen noch schlimmeren Konflikt zu vermeiden oder zumindest aufzuschieben. Die politische Beständigkeit derart zustande gekommener Teilungen hängt wesentlich davon ab, ob der einmal erreichte Zustand von allen Beteiligten als gegeben akzeptiert wird oder ob es Kräfte gibt, die wider besseres Wissen mutwillig immer wieder versuchen, Veränderungen zu eigenen Gunsten zu erzwingen.
Eines der langlebigsten Teilungsabkommen der modernen Geschichte, stellt das Sykes-Picot-Abkommen von 1915 dar, welches erst 2015 durch den Vormarsch des Daesch (Islamischer Staat) grundlegend in Frage gestellt wurde. Grundsätzlich handelt es sich um eine Grenzziehung mit Israel, Jordanien und dem Irak auf der Südseite und dem Libanon, Syrien und der Türkei auf der Nordseite dieser Linie.