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Robert Sheckley

 

 

 

DAS GETEILTE ICH

 

Erzählung

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Der Autor

Das geteilte Ich

 

Das Buch

Alastair Crompton entwickelte als Kind eine Schizophrenie, die durch einen operativen Eingriff geheilt wird: Man spaltet seine Persönlichkeit auf. Zwei dieser Teile werden in künstliche Körper übertragen und auf Mars und Venus geschickt, die dritte bleibt in Cromptons Körper auf der Erde. Dieser Teil ist der pflichtbewusste, saubere, ausdauernde und beharrliche, und genau diese Eigenschaften machen aus Alastair Crompton einen farblosen Büroangestellten. Er ist fest entschlossen, sich das zurückzuholen, was ihm genommen wurde, und ist bereit, jedes Risiko einzugehen …

 

Die Erzählung »Das geteilte Ich« erscheint als exklusives E-Book Only im Heyne Verlag und ist zusammen mit weiteren Stories von Robert Sheckley auch in dem Sammelband »Der widerspenstige Planet« enthalten.

 

 

 

Der Autor

Robert Sheckley, 1928 in New York geboren, studierte Englisch und Philosophie an der New York University. Bereits während des Studiums begann er erste Kurzgeschichten zu veröffentlichen, und in kürzester Zeit machte er sich einen Namen als einer der intelligentesten und humorvollsten Science-Fiction-Autoren. Parallel zu seiner Schreibtätigkeit arbeitete er als Literaturredakteur und hatte Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten. Sheckley starb im Dezember 2005.

 

Eine Übersicht aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Werke von Robert Sheckley finden Sie am Ende dieses E-Books.

 

Weitere Informationen zum Autor: www.diezukunft.de

 

 

 

 

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www.diezukunft.de

Diese Erzählung ist dem Band Robert Sheckley: »Der widerspenstige Planet« entnommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der Originalausgabe: THE HUMOURS

Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr

Copyright © 1953-1974 by Robert Sheckley

Erstdruck in GALAXY, Dezember 1958

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Stardust, München

Satz: Winfried Brand

 

ISBN 978-3-641-16916-9

Alistair Crompton war das Musterbeispiel eines ganz bestimmten Typus – und das störte ihn gewaltig. Doch so gerne er es auch geändert hätte, wusste er doch, dass er nichts dagegen tun konnte. Ob es ihm gefiel oder nicht, er war eine festgefügte Einheit aus so offenkundig konventionellen Neigungen und Ängsten, dass sie sich vor niemandem verbergen ließen. Schlimmer: Sein Aussehen und Verhalten unterstrichen noch mit peinlicher Genauigkeit seinen Charakter.

Crompton war mittelgroß, unangenehm mager, schmallippig und scharfnasig. Er zeigte Ansätze zu einer Glatze, trug Brillen mit dicken Gläsern, blickte aus leicht glasig wirkenden Augen und hatte einen schütteren Bartwuchs. Er sah aus wie ein einfacher Büroangestellter. Er war ein einfacher Büroangestellter.

Auf einen Blick erkannte ihn jedermann als kleinlich, pedantisch, vorsichtig, nervös, puritanisch, nachtragend, fleißig und voll von Komplexen. Charles Dickens, der große englische Dichter, hätte ihn, mit der gewaltigen Überschätzung seiner eigenen Wichtigkeit ausgestattet, auf einen hohen Hocker gesetzt und mit kratzender Feder verstaubte Hauptbücher einer uralten Firma füllen lassen. Ein Arzt des dreizehnten Jahrhunderts hätte ihn als Verkörperung eines der vier Temperamente gesehen, deren Wesen in den Urelementen Erde, Luft, Feuer und Wasser zu finden ist. Bei Crompton handelte es sich um das melancholische Temperament des Wassers, hervorgerufen durch zu viel trockene, schwarze Galle, die ihn mürrisch und grüblerisch gemacht hatte.

Überdies war Crompton ein Triumph für Lombroso, den Phrenologen, und für Kretschmer, den Begründer der Konstitutionslehre, war Crompton ein warnendes Beispiel, eine traurige Gestalt.

Das Schlimme war jedoch, dass Crompton seinen armseligen, verbogenen Charakter nur allzu genau kannte, sich seiner Mittelmäßigkeit bewusst war und gerechten Zorn darüber empfand, aber nichts dagegen tun konnte, als die Ärzte zu hassen, die ihn, wenn auch in bester Absicht, zu dem gemacht hatten, was er war.

Neidisch beobachtete Crompton die Menschen um sich herum, mit all ihren wunderbaren Widersprüchlichkeiten, komplizierte Wesen, die aus der von der Gesellschaft aufgezwungenen Schablone herausragten. Er entdeckte leichte Mädchen, die nicht gutherzig waren, Feldwebel, denen Brutalität widerstrebte, reiche Männer, die kein Geld für wohltätige Zwecke spendeten, Iren, die nur ungern rauften, Griechen, die noch nie ein Schiff gesehen hatten, Franzosen, denen der Sinn für Logik fehlte. Die meisten Menschen schienen ein erfülltes, aufregendes Leben zu führen, wurden heute von unbezähmbaren Leidenschaften überwältigt, fielen morgen in seltsame Untätigkeit, sagten das eine, taten das andere, empörten sich gegen ihre Umwelt, sprengten ihre Fesseln, stürzten Psychologen und Soziologen in Verwirrung, brachten Psychoanalytiker zur Verzweiflung.

All diese Herrlichkeiten waren Crompton jedoch versagt. Um eines gesunden Verstandes willen hatten ihm die Ärzte alles genommen, was an ihm vielschichtig und kompliziert war.

Crompton traf mit der einem Fluch nicht unähnlichen Regelmäßigkeit eines Roboters jeden Wochentag Punkt neun Uhr an seinem Arbeitsplatz ein. Um fünf Uhr nachmittags legte er die Akten säuberlich auf einen Stapel und kehrte in sein möbliertes Zimmer zurück. Dort verzehrte er appetitlos seine Reformnahrung, legte drei Patiencen und verfügte sich anschließend in sein schmales Bett. Jeden Samstagabend sah sich Crompton einen Film an, umgeben und belästigt von fröhlichen, zu allem Unfug fähigen jungen Leuten. Die Sonntage und der Urlaub waren dem Studium der Geometrie Euklids gewidmet, denn Crompton glaubte an die Vorteile des Heimstudiums. Und einmal im Monat schlich sich Crompton zu einem Zeitungskiosk und erstand ein Magazin unanständigen Inhalts. In der Zurückgezogenheit seines Zimmers verschlang er es, um dann in einer Orgie von Selbsthass das abscheuliche Produkt zu zerfetzen.

Crompton wusste natürlich, dass man ihn in seinem eigenen Interesse zu einem Stereotyp gemacht hatte. Er versuchte, mit dieser Tatsache zu leben. Eine Zeit lang suchte er die Gesellschaft anderer farbloser, bleistiftdünner Charaktere. Aber diese anderen waren selbstzufrieden, spießig und eingebildet. Sie hatten ihre Eigenschaften schon bei der Geburt mitbekommen, im Gegensatz zu Crompton, der im Alter von elf Jahren von den Ärzten verändert worden war. Bald musste er jedoch entdecken, dass sich seinesgleichen nicht ertragen ließ, ebenso wenig, wie andere ihn zu ertragen vermochten.

Er bemühte sich angestrengt, die engen Grenzen seines Charakters zu überwinden. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, zum Mars oder zur Venus auszuwandern, aber irgendwie wurde nie etwas daraus. Er wandte sich an das New Yorker Herzensbüro und man arrangierte dort für ihn ein Stelldichein. Crompton machte sich mit einer Nelke im Knopfloch auf den Weg zu seiner unbekannten Angebeteten; sie erwartete ihn vor dem Jupitertheater. Zweihundert Meter vor dem Ziel überkam ihn ein großes Zittern und zwang ihn, umzukehren und sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. In dieser Nacht löste er sechs Kreuzworträtsel und legte neun Patiencen, um seine Nerven zu beruhigen, aber selbst diese Abweichung vom Gewohnten brachte keinen dauerhaften Erfolg.

Was er auch unternahm, Crompton musste wohl oder übel im überaus eng begrenzten Rahmen seines Charakters handeln. Sein Zorn auf sich selbst und die wohlmeinenden Ärzte wuchs und mit ihm der Drang, über sich hinauszuwachsen.

Es gab nur einen Weg für ihn, die erstaunliche Vielfalt von Möglichkeiten, die Widersprüche, die Leidenschaften, das Menschsein, das andere Leute in sich vereinten, zu erringen. Crompton hielt sich also weiter an seine Arbeit und fasste sich in Geduld. Endlich vollendete er das fünfunddreißigste Lebensjahr. Dies war das Mindestalter für eine »Reintegration der Persönlichkeit«, streng nach Gesetz und Vorschrift.

Am Tag nach seinem Geburtstag kündigte Crompton seine Stellung, hob die in siebzehn Jahren gewissenhaft angelegten Ersparnisse ab und suchte seinen Arzt auf, entschlossen, sich zurückzuholen, was man ihm genommen hatte. Dr. Berrenger führte Crompton in sein Sprechzimmer, geleitete ihn zu einem bequemen Sessel und sagte: »Na, mein Sohn, wir haben uns lange nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?«

»Miserabel«, erwiderte Crompton.

»Was macht Ihnen denn zu schaffen?«

»Mein Charakter«, sagte Crompton.

»Aha«, rief der alte Arzt und warf einen scharfen Blick auf Cromptons Bürogesicht. »Kommt Ihnen ein bisschen beschränkt vor, wie?«

»›Beschränkt‹ ist wohl nicht das richtige Wort«, entgegnete Crompton steif. »Ich bin eine Maschine, ein Roboter, ein Nichts ...«

»Na, na!«, sagte Dr. Berrenger. »So schlimm wird es doch wohl nicht sein. Die Anpassung braucht Zeit ...«

»Ich hänge mir zum Hals heraus«, beschwerte sich Crompton. »Ich verlange meine Reintegrierung.«

Der Arzt sah ihn zweifelnd an.

»Und ich habe meinen fünfunddreißigsten Geburtstag hinter mir«, erklärte Crompton. »Ich kann meinen Anspruch auf Reintegration gesetzlich geltend machen.«

»Das stimmt«, gab Dr. Berrenger zu. »Aber als Ihr Arzt und Freund möchte ich Ihnen nachdrücklich davon abraten, Alistair.«

»Warum?«

Der alte Arzt seufzte. »Es wäre gefährlich für Sie, ungeheuer gefährlich. Vielleicht sogar verhängnisvoll.«

»Aber ich habe doch eine Chance, nicht wahr?«

»Sie ist verschwindend klein.«

»Dann bestehe ich darauf.«

Der Arzt seufzte noch einmal, trat an einen Schrank und entnahm ihm eine dicke Akte. »Also gut«, sagte er, »sprechen wir Ihren Fall noch einmal genau durch.«

 

Alistair Crompton, Sohn der Eheleute Lyle und Beth Crompton aus Amundsenville, Marie-Byrd-Land, Antarktis. Der Vater war Werkmeister im Plutoniumbergwerk Scott, die Mutter halbtags am Fließband der kleinen Transistorfabrik beschäftigt. Beide waren körperlich und geistig gesund.

Während der ersten neun Lebensjahre wirkte Alistair in jeder Beziehung normal, wenn man von einer gewissen Unausgeglichenheit absah; Kinder sind jedoch häufig launisch. Im Übrigen war Alistair wissbegierig, unternehmungslustig, liebevoll und fröhlich und überdurchschnittlich intelligent. In seinem zehnten Lebensjahr nahm seine Unausgeglichenheit jedoch merklich zu. An manchen Tagen saß das Kind stundenlang auf seinem Stuhl und starrte ins Leere. Gelegentlich reagierte es nicht einmal auf Zuruf. Man erkannte diese »Anfälle« nicht als Symptome, sondern sah sie als Tagträume eines fantasiebegabten Kindes.

Alistairs Abwesenheitsanfälle nahmen an Zahl und Stärke zu. Er neigte vermehrt zu Wutausbrüchen, die der Hausarzt mit Beruhigungspillen zu bekämpfen suchte. Eines Tages, als Alistair zehn Jahre und sieben Monate alt war, schlug er ohne jeden Grund auf ein kleines Mädchen ein. Als es zu schreien begann, versuchte er es zu erdrosseln. Da dieses Vorhaben seine Kräfte überstieg, packte er ein schweres Buch und begann, auf den Schädel des Kindes einzuschlagen. Ein Erwachsener konnte den um sich schlagenden, schreienden Alistair gerade noch wegzerren. Das Mädchen erlitt eine Gehirnverletzung und musste ein Dreivierteljahr im Krankenhaus liegen.

Als man Alistair zur Rede stellte, erklärte er, es nicht getan zu haben. Jemand anderer müsse dafür verantwortlich sein. Er würde niemals jemandem wehtun, schwor er, schon gar nicht dem kleinen Mädchen, das er sehr gern habe. Mit tiefergehenden Fragen erreichte man nur, dass er in eine Erstarrung verfiel, die fünf Tage dauerte.

Selbst zu diesem Zeitpunkt wäre Alistair noch zu retten gewesen, wenn jemand die Frühsymptome der Virusschizophrenie erkannt hätte. Sofortige Behandlung konnte der Krankheit auch bei Kindern Einhalt gebieten.

In den gemäßigten Zonen der Erde war die Virusschizophrenie seit Jahrhunderten immer wieder aufgetreten; von Zeit zu Zeit hatte sie sich sogar als Epidemie ausgebreitet, wie die Veitstänze des Mittelalters belegen.

Die Medizin hatte noch immer keinen Impfstoff gegen dieses Virus entwickelt und deshalb bestand die allgemein anerkannte Therapie in sofortiger Spaltung, solange die schizoiden Charaktere noch formbar waren; die dominierende Persönlichkeit einer Person musste erkannt und bewahrt werden, während die anderen Persönlichkeiten mit Hilfe eines Mikkletonprojektors in die unbelebte Substanz eines Durierkörpers integrierte wurden.

Die Durierkörper waren gewachsene Zuchtandroiden mit einer geschätzten Betriebszeit von etwa vierzig Jahren. Sie waren selbstverständlich auf Dauer nicht lebensfähig. Der Gesetzgeber gestattete jedoch eine Persönlichkeits-Reintegrierung im Alter von fünfunddreißig Jahren. Die in den Durierkörpern weiterlebenden Charaktere konnten auf Wunsch der dominierenden Persönlichkeit in den Originalkörper und -verstand zurückgeholt werden, wobei für die Reintegration und die völlige Verschmelzung der Persönlichkeiten miteinander ausgezeichnete Resultate nachgewiesen werden konnten ...