Bourbon Sins
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Marion Herbert und Katrin Kremmler
Nach dem Tod ihres Vaters stehen die Geschwister Lane, Edward und Ginny vor den Scherben ihrer Existenz. Als sich der Verdacht erhärtet, dass das Familienoberhaupt keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde, gerät jedes seiner Kinder unter Verdacht. Einen Grund, den Patriarchen zu töten, hatten alle: Ginny, die vom Vater in eine unglückliche Beziehung gezwungen wurde, während ihr Herz einem anderen gehört. Lane, dessen intrigante Noch-Ehefrau ein Kind von seinem Vater erwartet, und vor allem Edward, den er um alles betrogen hat, was die Zukunft für ihn bereithielt. Während jeder versucht, seine Unschuld zu beweisen, liegt das Schicksal der Bourbon-Dynastie in Lanes Händen, der alles riskieren muss, um das Familienerbe zu retten – nicht ahnend, dass längst jemand anders die Fäden zieht …
In Liebe für
LeElla Janine Scott
xxx
Der »Engelsanteil« ist ein Begriff aus der Kunst der Bourbonherstellung. Der frisch gebrannte Bourbon wird in angekohlte Eichenfässer gefüllt, um bis zu zwölf Jahre zu reifen, manchmal sogar länger. Da die Fässer in nicht isolierten Gebäuden gelagert werden, sorgen die natürlichen Temperaturschwankungen während der vier Jahreszeiten in Kentucky dafür, dass das Holz sich bei Hitze und Kälte ausdehnt oder zusammenzieht und so mit dem Bourbon interagiert und ihm mehr Geschmack verleiht. In dieser Umgebung und unter Einwirkung von Zeit findet die finale Alchemie statt, durch die das unverkennbare, bekannteste und beliebteste Produkt des Staats entsteht. Dabei kommt es auch zu einer beträchtlichen Verdunstung und Absorption. Dieser Verlust, der jährlich etwa zwei Prozent des Originalvolumens betragen kann und unter anderem je nach Luftfeuchtigkeit, Temperaturschwankungen und Dauer der Reifung variiert, wird Engelsanteil genannt.
Obwohl dieser Schwund einen völlig einleuchtenden Grund hat, sozusagen eine logische Erklärung, gefällt mir die romantische Vorstellung, dass es in den Lagerhäusern dieser altehrwürdigen Destillerien in Kentucky Engel gibt, die auch gern ein Schlückchen trinken, wenn sie über die Erde flattern. Vielleicht einen Mint Julep während des Derbys, wenn es warm ist, und einen puren Bourbon in den kalten Wintermonaten. Vielleicht nutzen sie ihn auch für Pecan Pie oder Pralinen.
Die Einsatzmöglichkeiten für einen guten Bourbon sind, wie ich immer wieder feststelle, endlos.
Ich glaube, der Begriff kann auch den Einfluss der Witterung beschreiben, die uns alle im Lauf der Zeit verändert. Durch die Hitze oder Kälte unserer Erfahrungen und Lebenswege, die unsere Gefühle, Gedanken und Erinnerungen enger oder weiter machen, sind wir, wie edler Bourbon, am Ende ein anderes Produkt – und dafür müssen wir ein Opfer bringen. Wir bestehen aus denselben Kernelementen, aus denen wir zu Beginn zusammengesetzt wurden, aber wir sind später nie wieder dieselben. Wir verändern uns unablässig. Wenn wir Glück haben und klug sind und zur richtigen Zeit befreit werden, verbessern wir uns. Wenn wir zu lange lagern, sind wir für immer ruiniert.
Timing, genau wie Schicksal, ist alles.
Virginia Elizabeth Bradford Baldwine, genannt »Little V. E.«: Witwe von William Baldwine, Mutter von Edward, Max, Lane und Gin Baldwine und direkte Nachkommin von Elijah Bradford, dem Begründer von Bradford Bourbon. Lebt völlig zurückgezogen und nur mithilfe ihrer Medikamente. Für ihre Tablettenabhängigkeit gibt es zahlreiche Gründe, von denen einige das Grundgerüst der Familie bedrohen.
William Wyatt Baldwine: Verstorbener Ehemann von Little V. E. und Vater ihrer Kinder Edward, Max, Lane und Gin Baldwine. Außerdem Vater eines ungeborenen Kindes von Chantal, der zukünftigen Exfrau seines Sohnes Lane. Zu Lebzeiten Chef der Bradford Bourbon Company. Ein Mann niederer Moral, hoher Ziele und geringer Skrupel, dessen Leiche kürzlich am Ohio-Wasserfall gefunden wurde.
Edward Westfork Bradford Baldwine: Ältester Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Rechtmäßiger Erbe der Bradford Bourbon Company. Nur noch ein Schatten seiner selbst infolge einer tragischen Entführung und Folterung, die sein eigener Vater veranlasst hatte. Hat seiner Familie den Rücken gekehrt und sich auf das Red-&-Black-Gestüt zurückgezogen.
Maxwell Prentiss Baldwine: Zweitältester Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Schwarzes Schaf der Familie. Seit Jahren fort von Easterly, dem historischen Anwesen der Bradfords in Charlemont, Kentucky. Sexy, schockierend und rebellisch. Seine Rückkehr bedeutet Probleme für eine Reihe von Leuten inner- und außerhalb der Familie.
Jonathan Tulane Baldwine, genannt »Lane«: Jüngster Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Ehemaliger Playboy und großartiger Pokerspieler. Steckt mitten in der Scheidung von seiner ersten Frau. Da das Vermögen der Familie in Gefahr ist und immer gravierendere Veruntreuungen in der Bradford Bourbon Company ans Licht kommen, ist er gezwungen, die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen. Muss sich nun mehr denn je auf seine große Liebe Lizzie King verlassen.
Virginia Elizabeth Baldwine, zukünftige Pford, genannt »Gin«: Jüngster Spross und einzige Tochter von Little V. E. und William Baldwine. Eine widerspenstige, aufmerksamkeitssüchtige Rebellin, die sich nie besonders um den Ruf ihrer Familie geschert hat, vor allem, als sie in ihren College-Jahren ein uneheliches Kind bekam und kaum ihren Abschluss schaffte. Steht kurz davor, Richard Pford zu heiraten, den Erben einer Spirituosen-Vertriebsgesellschaft und eines immensen Vermögens.
Amelia Franklin Baldwine: Tochter von Gin und Gins großer Liebe Samuel T. Lodge. Besucht die Hotchkiss School und steht ihrer Mutter in nichts nach.
Lizzie King: Gartenbauexpertin, die schon fast zehn Jahre auf Easterly arbeitet und dafür sorgt, dass die Gärten ihrer landesweiten Berühmtheit für seltene Pflanzen und Blumen gerecht werden. Liebt Lane Baldwine und würde für ihre Beziehung alles tun. Ist jedoch weniger begeistert von den Dramen der Familie.
Samuel Theodore Lodge III.: Anwalt, sexy Südstaaten-Gentleman und stets stilvoll gekleideter, privilegierter Bad Boy mit Stammbaum. Der einzige Mann, der je wirklich an Gin herankommen konnte. Hat keine Ahnung, dass Amelia seine Tochter ist.
Sutton Endicott Smythe: Frisch eingesetzte Chefin der Sutton Distillery Corporation, der größten Konkurrenz der Bradford Bourbon Company auf dem Markt. Seit Jahren in Edward verliebt. Hat es beruflich weit gebracht, aber ihr Privatleben auf Eis gelegt – hauptsächlich, weil niemand mit Edward vergleichbar ist.
Shelby Landis: Tochter einer Legende des Galopprennsports. Von ihrem Vater Jeb hat Edward sein Wissen über Pferde. Nun kümmert sich die fleißige, starke Frau um Edward – auch gegen seinen Willen.
Miss Aurora Toms: Seit Jahrzehnten Chefköchin von Easterly. Serviert mit starker Hand und warmem Herzen Soul Food ebenso wie Haute Cuisine. Leidet an Krebs im Endstadium. Mütterliche Kraft in Lanes, Edwards, Max’ und Gins Leben und der wahre moralische Kompass für die Kinder.
Edwin »Mack« MacAllan: Master Distiller der Bradford Bourbon Company. Züchtet neuen Hefestamm, kämpft gegen die Zeit und begrenzte Ressourcen, um die Destillierapparate weiterlaufen zu lassen. Hatte lange keine Liebesbeziehung mit einer Frau, vielleicht nie. Verheiratet mit seinem Job.
Chantal Blair Stowe Baldwine: Lanes zukünftige Exfrau. Schwanger mit William Baldwines unehelichem Kind. Die Schönheitskönigin mit dem Tiefgang einer Untertasse droht, die Vaterschaft ihres ungeborenen Babys öffentlich zu machen, um im Scheidungsprozess mehr Geld von Lane zu erpressen.
Rosalinda Freeland: Frühere Rechnungsprüferin auf dem Bradford Family Estate. Beging mit einer Dosis Schierling Selbstmord in ihrem Büro in der Villa. Mutter des achtzehnjährigen Randolph Damion Freeland.
CHARLEMONT COURIER JOURNALTODESANZEIGENWILLIAM W. BALDWINE Vor zwei Tagen ist Mr William Wyatt Baldwine ins Reich seines Herrn und Erlösers eingegangen. Der weltbekannte Geschäftsmann, Wohltäter und engagierte Bürger war sechsunddreißig Jahre lang Chef der Bradford Bourbon Company. Als solcher läutete er für den Bourbon eine neue Erfolgsära ein und verhalf dem Unternehmen zu einem Jahreseinkommen von über einer Milliarde Dollar. Der liebevolle Familienvater hinterlässt seine ihm treu ergebene Ehefrau Virginia Elizabeth Bradford Baldwine, seine geliebten Kinder Edward Westfork Bradford Baldwine, Maxwell Prentiss Baldwine, Jonathan Tulane Baldwine und Virginia Elizabeth Baldwine sowie seine geliebte Enkelin Amelia Franklin Baldwine. Totenwache und Trauerfeier auf Einladung der Familie. Anstelle von Blumen sind Spenden in Mr Baldwines Namen an die University of Charlemont erbeten. |
Big-Five-Brücke
Charlemont, Kentucky
Jonathan Tulane Baldwine lehnte sich über das Geländer der neuen Brücke, die Charlemont in Kentucky mit seinem nächsten Nachbarn New Jefferson in Indiana verband. Fünfzehn Meter unter ihm in den schlammigen Fluten des Ohio spiegelten sich die bunten Lichter, die die fünf Brückenbögen schmückten. Als Lane sich auf die Spitzen seiner Slipper stellte, hatte er fast das Gefühl zu fallen.
Er stellte sich vor, wie sein Vater von genau diesem Rand in den Tod gesprungen war.
William Baldwines Leiche war vor genau zwei Tagen unterhalb des Ohio-Wasserfalls gefunden worden. Nach all seinen geschäftlichen Leistungen, nach all seinen hochfliegenden Zielen zu Lebzeiten hatte dieser Mann sein irdisches Dasein selbst verstümmelt und entstellt an einem armseligen Bootsliegeplatz beendet. Direkt neben einem alten Fischfangschiff. Das einen Wiederverkaufswert von zweihundert Dollar hatte. Dreihundert, höchstens.
Welch eine Schande.
Wie hatte es sich wohl angefühlt zu fallen? William musste eine scharfe Brise im Gesicht gespürt haben, als ihn die Schwerkraft erfasst und zum Wasser hinuntergezogen hatte. Seine Kleider mussten wie Fahnen geflattert und ihm gegen den Oberkörper und die Beine geklatscht sein. Die Augen mussten ihm getränt haben vom Wind – oder vielleicht sogar vor Gefühlen?
Nein, ganz sicher Ersteres.
Der Aufprall hatte bestimmt wehgetan. Und was dann? Ein schockiertes Einatmen, bei dem er das schmutzige Flusswasser eingesogen hatte? Ein würgendes Gefühl des Erstickens? Oder hatte er durch einen Knock-out gnädigerweise nichts mehr wahrgenommen? Oder … vielleicht hatte durch den Adrenalinüberschuss beim Absturz auch alles mit einem Herzinfarkt geendet, mit einem stechenden Schmerz in der Mitte der Brust, der in den linken Arm ausstrahlte und so einen lebensrettenden Schwimmzug verhinderte. War er noch bei Bewusstsein gewesen, als er gegen den Kohlekahn stieß und die Schiffsschraube ihn erfasste? Als er den Wasserfall hinunterstürzte, war er höchstwahrscheinlich schon tot.
Lane wünschte, er wüsste sicher, dass der Mann gelitten hatte.
Zu wissen, dass er Schmerzen gehabt hatte, fürchterliche, qualvolle Schmerzen, und auch Angst, eine durchdringende, überwältigende Angst, wäre eine mächtige Erleichterung gewesen, eine Besänftigung des Gefühlsstrudels, in den das Ertrinken seines Vaters ihn hineinzog, obwohl er auf trockenem Boden stand.
»Über achtundsechzig Millionen Dollar hast du gestohlen«, sprach Lane in den gefühllosen Wind, den gleichgültigen Abgrund, den gelangweilten Strom unter ihm. »Und das Unternehmen hat sogar noch mehr Schulden. Was zur Hölle hast du mit dem Geld gemacht? Wo ist es hingekommen?«
Natürlich bekam er keine Antwort. Und das wäre auch nicht anders gewesen, wenn der Mann noch gelebt und Lane ihn persönlich zur Rede gestellt hätte.
»Und meine Frau«, donnerte er. »Du hast meine Frau gevögelt. Unter dem Dach, das du mit meiner Mutter geteilt hast – und du hast Chantal geschwängert.«
Wobei Lanes Ehe mit Chantal, einer geborenen Blair Stowe, nichts weiter gewesen war als eine Heiratsurkunde, die er gegen seinen Willen unterschrieben hatte. Aber wenigstens stand er zu diesem Fehler und kümmerte sich darum, ihn auszumerzen.
»Kein Wunder, dass Mutter tablettenabhängig ist. Kein Wunder, dass sie sich versteckt. Sie muss von den anderen Frauen gewusst haben, muss gewusst haben, wer und was du warst, du Bastard.«
Als Lane die Augen schloss, sah er eine Leiche vor sich – aber nicht die aufgedunsenen, verdreckten Überreste seines Vaters auf dem Seziertisch, die er im Leichenschauhaus identifiziert hatte. Nein, er sah eine Frau, die aufrecht in ihrem Büro in der Familienvilla saß. Ihr professionelles, schlichtes Kostüm war perfekt zurechtgerückt, ihr zu einem Bob geschnittenes Haar nur leicht zerzaust, und an den Füßen trug sie grasbefleckte Turnschuhe statt ihrer üblichen Ballerinas.
Ihr Gesicht war eine entsetzliche Grimasse gewesen. Das irre Grinsen des Jokers.
Von der Dosis Schierling, die sie genommen hatte.
Zwei Tage bevor sein Vater gesprungen war, hatte Lane ihre Leiche gefunden.
»Du bist schuld, dass Rosalinda tot ist, du Dreckskerl. Sie hat dreißig Jahre lang in unserem Haus für dich gearbeitet, und du hättest sie genauso gut selbst umbringen können.«
Ihr war es zu verdanken, dass Lane von dem fehlenden Geld erfahren hatte. Die frühere Rechnungsprüferin der Haushaltskonten der Familie hatte eine Art Abschiedsbrief hinterlassen, einen USB-Stick mit Excel-Tabellen, die die alarmierenden Abbuchungen und Überweisungen an WWB Holdings enthielten.
William Wyatt Baldwine Holdings.
Es gab gut achtundsechzig Millionen Gründe, warum sie sich vergiftet hatte. Die alle darauf zurückzuführen waren, dass Lanes Vater sie zu Rechtsverstößen gezwungen hatte, bis ihr Anstandsgefühl sie zerstörte.
»Und ich weiß, was du Edward angetan hast. Ich weiß, dass du auch daran schuld warst. Du hast deinem eigenen Sohn in Südamerika eine Falle gestellt. Sie haben ihn deinetwegen gekidnappt, und du hast dich geweigert, das Lösegeld zu zahlen, damit sie ihn töten. Ein Konkurrent weniger, während du als der trauernde Vater dastehen kannst. Oder hast du es getan, weil auch er den Verdacht hatte, dass du stiehlst?«
Edward hatte überlebt, aber Lanes älterer Bruder war jetzt nur noch ein Wrack, nicht mehr der Unternehmenserbe, der Thronfolger, der Kronprinz.
William Baldwine hatte so viele Verbrechen begangen.
Und das waren nur die Dinge, von denen Lane wusste. Was hatte er wohl sonst noch getan?
Was sollte Lane nun tun? Was konnte er tun?
Er hatte das Gefühl, am Steuer eines großen Schiffs zu stehen, das auf eine felsige Küste zufuhr – kurz bevor das Ruder abbrach.
Er stemmte sich kraftvoll hoch und schwang die Beine über das robuste Stahlgeländer, bis seine Slipper auf dem fünfzehn Zentimeter breiten äußeren Brückenrand aufkamen. Sein Herz hämmerte, seine Hände und Füße wurden taub, sein Mund trocknete aus, sodass er kaum noch schlucken konnte, während er sich hinter den Hüften festhielt und sich noch weiter über den Abgrund beugte.
Wie hatte es sich angefühlt?
Er könnte springen – oder einfach einen Schritt nach vorne gehen … und fallen, fallen, fallen, bis er sicher wusste, was sein Vater durchgemacht hatte. Würde er am selben Bootsliegeplatz ankommen? Würde sein Körper auch in der Schiffsschraube eines Kohlekahns landen und im schmutzigen Wasser des Ohio zerstückelt werden?
In Gedanken hörte er ganz deutlich seine Momma in ihrem tiefen Südstaatenakzent sagen: Gott bürdet uns nicht mehr auf, als wir tragen können.
Miss Auroras Glaube hatte ihr zweifellos über mehr Schicksalsschläge hinweggeholfen, als die meisten Normalsterblichen verkraften konnten. Sie war in den Fünfzigern als Afroamerikanerin in den Südstaaten aufgewachsen und hatte Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten erlebt, die er sich gar nicht vorstellen konnte. Und doch hatte Miss Aurora das alles nicht nur ertragen, sondern auch mit Auszeichnung die Kochschule abgeschlossen und die Gourmetküche auf Easterly geführt wie ein französischer Sternekoch oder sogar besser – und gleichzeitig war sie für ihn und seine Geschwister eine Mutter gewesen wie niemand sonst, die Seele von Easterly, die moralische Instanz für so viele.
Der Leuchtturm, der für ihn das einzige Licht am Horizont gewesen war, bis er Lizzie kennengelernt hatte.
Lane wünschte sich, er könnte glauben wie seine Momma. Und Miss Aurora vertraute sogar auf ihn, vertraute darauf, dass er alles zum Guten wenden, die Familie retten und der Mann werden würde, den sie in ihm sah.
Der Mann, der sein Vater niemals gewesen war, trotz all seines äußerlichen Reichtums und Erfolges.
Springen, er könnte einfach springen. Und es wäre vorbei.
Waren das die Gedanken seines Vaters gewesen? War William, nachdem die Lügen und Veruntreuungen aufgeflogen waren, nachdem Rosalindas Tod das Ende der Heimlichkeiten angekündigt hatte, hierhergekommen, weil nur er das wahre Ausmaß seiner Taten und die Tiefe seiner Schuld kannte? Hatte er begriffen, dass das Spiel aus war, dass seine Zeit abgelaufen war und dass er, selbst bei all seinem finanziellen Geschick, das von ihm verursachte Problem nicht lösen konnte?
Oder hatte er beschlossen, seinen eigenen Tod vorzutäuschen – und war dabei versehentlich umgekommen?
Lag vielleicht alles, was abgezweigt worden war, irgendwo da draußen auf einem Schwarzgeldkonto oder in einem Tresorraum in der Schweiz – unter seinem oder einem anderen Namen?
So viele Fragen. Und die fehlenden Antworten, zusammen mit dem Druck, das alles wieder in Ordnung bringen zu müssen, konnten einen in den Wahnsinn treiben.
Lane konzentrierte sich wieder auf das Wasser. Aus dieser Höhe konnte er es kaum sehen. Eigentlich sah er nichts als Schwärze und ein schwaches Schimmern.
Es hatte in der Tat etwas Verlockendes, einen feigen Abgang zu machen, stellte er fest. Etwas zog ihn wie die Schwerkraft zu einem Ende hin, das er unter Kontrolle hatte: Ein einziger harter Aufprall, und alles wäre aus und vorbei, die Todesfälle, der Betrug, die Schulden. Er wäre frei von alldem, müsste sich keine Sorgen mehr machen über die eiternde Infektion, die sich ausbreiten und sich bald nicht mehr vor der Öffentlichkeit verstecken lassen würde.
Hatte sein Vater schlaflose Nächte gehabt? Reuegefühle? Hatte William wohl, als er hier stand, gezweifelt, ob er ein paar Augenblicke lang fallen und mit dem schrecklichen Unheil abschließen sollte, das er angerichtet hatte? Hatte der Mann auch nur ein einziges Mal an die Folgen seiner Taten gedacht, während er ein zweihundert Jahre altes Vermögen nicht innerhalb einer Generation, sondern in nur ein, zwei Jahren vernichtete?
Der Wind pfiff Lane in den Ohren wie ein Lockruf.
Edward, sein ältester, früher einmal perfekter Bruder, würde nicht alles wieder in Ordnung bringen. Gin, seine einzige Schwester, war unfähig, an irgendwas anderes als an sich selbst zu denken. Maxwell, sein anderer Bruder, hatte nun schon seit drei Jahren nichts mehr von sich hören lassen.
Seine Mutter war bettlägerig und betäubt von ihren Medikamenten.
Also lag alles in den Händen eines Pokerspielers und ehemaligen Womanizers ohne finanztechnische, betriebswirtschaftliche oder sonstige nötige Erfahrungen.
Letztendlich hatte er nichts als die Liebe einer wunderbaren Frau.
Aber in dieser grausamen Realität würde nicht einmal das ihm helfen.
Toyota-Trucks sollten keine hundertzwanzig Stundenkilometer fahren. Erst recht nicht, wenn sie zehn Jahre alt waren.
Aber wenigstens war die Fahrerin hellwach, obwohl es vier Uhr morgens war.
Lizzie King umklammerte das Lenkrad mit eisernem Griff und hatte das Gaspedal ganz durchgetreten, während sie auf eine Steigung im Highway zufuhr.
Sie war in ihrem Farmhaus allein im Bett aufgewacht. Lange Zeit wäre das nichts Besonderes gewesen, aber das hatte sich geändert, seit Lane in ihr Leben zurückgekehrt war. Der reiche Playboy und die Gärtnerin des Anwesens hatten endlich zueinandergefunden, und die Liebe verband das ungleiche Paar enger und fester als die Moleküle eines Diamanten.
Und sie würde bei ihm bleiben, egal was die Zukunft bringen sollte.
Schließlich war es so viel leichter, einen unglaublichen Reichtum aufzugeben, wenn man ihn nie gekannt, nie erstrebt hatte – und erst recht, wenn man die traurige, öde Wüste hinter seinem glitzernden Vorhang von Glamour und Luxus gesehen hatte.
Gott, auf Lane lastete wirklich ein unheimlicher Druck.
Also war sie aus dem Bett aufgestanden. War die knarrenden Stufen hinuntergelaufen. Und hatte das ganze Erdgeschoss ihres kleinen Hauses abgesucht.
Dann hatte Lizzie hinausgeschaut und festgestellt, dass sein Auto nicht da war. Sein Porsche, den er immer neben dem Ahornbaum vor der Veranda parkte, war nirgends zu sehen. Und mit der Überlegung, warum er wohl weggefahren war, ohne etwas zu sagen, hatte sie angefangen, sich Sorgen zu machen.
Erst wenige Nächte zuvor hatte sein Vater sich umgebracht, erst zwei Tage zuvor war William Baldwines Leiche am Ohio-Wasserfall gefunden worden. Und seither hatte Lane immer einen abwesenden Gesichtsausdruck gehabt, hatten sich seine Gedanken ständig um das fehlende Geld gedreht, um seine Scheidung von der habgierigen Chantal, die unbezahlten Haushaltsrechnungen, die unsichere Zukunft der Bradford Bourbon Company, den erschreckenden Gesundheitszustand seines Bruders Edward, Miss Auroras Krankheit.
Aber er hatte über all das kein Wort verloren. Seine Schlaflosigkeit war das einzige Anzeichen der Belastung gewesen, und genau das machte ihr Angst. Lane gab sich immer Mühe, in ihrer Gegenwart ruhig zu bleiben, fragte sie nach ihrer Arbeit in den Gärten von Easterly, massierte ihr die schmerzende Schulter, kochte ihr ein Abendessen – wobei er nicht sehr talentiert war, aber wen kümmerte das schon. Nachdem die beiden sich ausgesprochen und sich wieder ganz auf die Beziehung eingelassen hatten, war er sozusagen bei ihr eingezogen – und obwohl sie es genoss, ihn bei sich zu haben, hatte sie doch die ganze Zeit auf eine Explosion gewartet.
Es wäre fast leichter gewesen, wenn er vor Wut ausgerastet wäre.
Und nun fürchtete sie, dass es passiert war – und irgendein sechster Sinn ließ sie erschaudern, während sie überlegte, wohin er gefahren sein könnte. Easterly, das Bradford Family Estate, war der erste Ort, der ihr einfiel. Oder vielleicht die alte Brennerei, wo der Bourbon seiner Familie immer noch hergestellt und gelagert wurde? Oder sogar Miss Auroras baptistische Kirche?
Ja, Lizzie hatte versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Und als es auf dem Nachttisch an seiner Seite des Betts klingelte, hatte sie nicht länger gewartet. Anziehen. Schlüssel. Raus zum Auto.
Niemand sonst war auf der I-64 unterwegs, als Lizzie auf die Brücke zufuhr, um den Fluss zu überqueren, und sie trat weiter aufs Gas, auch als sie die Hügelspitze erreichte und zum Flussufer, das noch zu Indiana gehörte, hinunterrollte. Ihre alte Kiste wurde dabei nicht nur immer schneller, sondern verfiel auch in ein Todesröcheln, sodass das Lenkrad und der Sitz bebten, aber der verdammte Toyota durfte jetzt nicht den Geist aufgeben, denn sie brauchte ihn.
»Lane … wo bist du?«
Gott, wie oft hatte sie ihn gefragt, wie es ihm gehe, und er hatte »gut« geantwortet. Wie oft hatte er die Gelegenheit verstreichen lassen, mit ihr zu reden. Wie oft hatte sie ihn beobachtet, ohne dass er es merkte, hatte nach Zeichen für Anspannung oder Druck gesucht. Und doch hatte er kaum Gefühle gezeigt nach jenem gemeinsamen Moment im Garten, jenem unvergesslichen Moment, der nur ihnen beiden gehörte, als sie ihn unter den blühenden Obstbäumen gefunden und ihm gesagt hatte, sie habe ihn missverstanden, habe ihn falsch eingeschätzt und sei bereit, ihm das Einzige zu schenken, was sie hatte: die Besitzurkunde ihres Farmhauses – damit er es verkaufen konnte, um die Anwälte zu bezahlen, wenn er darum kämpfte, seine Familie zu retten.
Lane hatte sie in die Arme geschlossen und ihr gesagt, dass er sie liebe – und ihr Geschenk abgelehnt. Er wollte alles allein wieder in Ordnung bringen, er würde irgendwie das gestohlene Geld wiederfinden, die gigantische Schuld zurückzahlen, das Unternehmen sanieren und das Vermögen seiner Familie zurückgewinnen.
Und sie hatte ihm geglaubt.
Sie glaubte ihm immer noch.
Aber seither? Seither war er so warm und verschlossen gewesen wie ein Heizofen, körperlich anwesend und gleichzeitig völlig unbeteiligt.
Lizzie machte ihm nicht die geringsten Vorwürfe.
Trotzdem war es auf eine seltsame Art beängstigend.
In der Ferne, jenseits des Flusses, strahlte und glitzerte das Geschäftsviertel von Charlemont, die schöne Lüge eines irdischen Sternenhimmels, und die Brücke zwischen den beiden Ufern war zur Feier des Derbys noch in Frühlingsgrün und Hellrosa beleuchtet, fast wie ein Regenbogen in jenes gelobte Land. Zum Glück gab es keinen Verkehr, sodass Lizzie auf der anderen Seite direkt vom Highway auf die River Road abbiegen und nach Norden zum Hügel von Easterly fahren könnte, um zu sehen, ob Lanes Wagen vor der Villa parkte.
Was sie dann tun würde, wusste sie noch nicht.
Die neu gebaute Brücke hatte je drei Spuren in beide Richtungen und in der Mitte aus Sicherheitsgründen eine breite hohe Betonmauer. Parallel dazu strahlten Reihen von weißen Lichtern, und alles glänzte nicht nur von der Beleuchtung, sondern auch, weil das Wetter der Brücke noch nicht zugesetzt hatte. Der Bau war erst im März abgeschlossen geworden, und die ersten Autos hatten sie Anfang April überquert, sodass es nun weniger Stau während der Stoßzeiten gab …
Vor ihr, eigentlich auf der »Kriechspur«, parkte ein Fahrzeug, das ihr Gehirn erkannte, noch bevor sie die Augen bewusst darauf richtete.
Lanes Porsche.
Lizzie trat noch heftiger auf die Bremse als zuvor aufs Gas, und ihr Wagen begann den Übergang von »volle Kraft voraus« zu absolutem Stillstand so anmutig wie ein Sofa, das aus einem Fenster im ersten Stock fällt: Alles vibrierte und zitterte, als würde er gleich auseinanderbrechen, schlimmer noch, die Geschwindigkeit änderte sich kaum, als hätte sich der Toyota beim Beschleunigen zu sehr angestrengt, um den Schwung nun kampflos aufzugeben.
Da war eine Gestalt am Rand der Brücke. Ganz am äußersten Rand. An der Kante über dem tödlichen Abgrund.
»Lane«, schrie Lizzie. »Lane!«
Ihr Wagen drehte sich, vollführte eine solche Pirouette, dass sie sich den Hals verrenken musste, um Lane im Blick zu behalten. Dann sprang sie hinaus, noch bevor der Toyota ganz zum Stehen kam, und ließ den Schalthebel auf Neutral, den Motor laufen und die Tür offen.
»Lane. Nein. Lane!«
Lizzie rannte über die Fahrbahn und stieg über Absperrgitter, die ihr mangelhaft erschienen, zu schwach in Anbetracht der Entfernung bis hinunter zum Fluss.
Lane drehte ruckartig den Kopf – und verlor mit einer Hand den Halt am Geländer hinter ihm.
Während seine andere Hand abrutschte, drückte sein Gesicht Schrecken aus, ein kurzes Aufblitzen von Überraschung, die sofort blankem Entsetzen wich – als er einfach ins Nichts hinunterstürzte.
Lizzie konnte den Mund gar nicht weit genug aufreißen, um zu schreien.
Poker.
Als Lane plötzlich nichts mehr zwischen seinen Füßen und dem Ohio hatte, als sein Körper in den freien Fall stürzte, als ein heftiger Adrenalinschub – zu spät – durch seine Adern schoss, musste er an ein Pokerspiel denken, das er vor sieben Jahren im Bellagio in Las Vegas gespielt hatte.
Gut, dass er den Sturz wie in Zeitlupe erlebte.
Sie hatten zu zehnt um den High-Stakes-Tisch gesessen, und das Startkapital hatte fünfundzwanzigtausend betragen. Zwei waren Raucher gewesen, acht Bourbon-Trinker, drei hatten Sonnenbrillen getragen, einer einen Bart, zwei Baseballmützen und ein sogenannter Prediger einen merkwürdig geschnittenen weißen Seidenanzug, den Elvis in den Achtzigern hätte anziehen können – wenn der King noch mehr Erdnussbutter-Bananen-Sandwiches gegessen und lang genug gelebt hätte, um die Entstehung des Punk mitzubekommen.
Noch wichtiger, wie sich nun herausstellte, war jedoch die Anwesenheit eines ehemaligen Navy-Offiziers gewesen. Er hatte zwei Plätze von Lane entfernt gesessen, und nachdem immer mehr Leute ausgestiegen waren, spielten die beiden schließlich nur noch gegeneinander. Der frühere Soldat hatte ein echtes Pokerface, was vermutlich daran lag, dass er sich seinen Lebensunterhalt in weit bedrohlicheren Situationen verdient hatte, als auf einem gepolsterten Hocker an einem grünen Filztisch zu sitzen. Außerdem hatte er sonderbare hellgrüne Augen und ein täuschend bescheidenes Auftreten gehabt.
Und es war merkwürdig, dass dieser Typ, den Lane schließlich mit zwei Königen gegen ein Ass besiegt hatte, die letzte Person war, an die er dachte.
Na ja, die vorletzte.
Lizzie. Oh Gott, er hatte nicht damit gerechnet, dass Lizzie ihn hier draußen finden würde, und die Überraschung hatte ihn einen fatalen Fehler machen lassen.
Oh Gott, Lizzie …
Zurück zum Pokerspieler. Der Typ hatte von seinen Erfahrungen auf einem Flugzeugträger draußen auf dem Ozean erzählt. Wie man ihnen beigebracht hatte, aus neun, zwölf, fünfzehn Metern Höhe ins Wasser zu springen. Wie man, wenn man das überleben wollte, seinen Körper in eine bestimmte Position bringen musste, bevor man auf der Oberfläche aufkam.
Das Entscheidende war der Widerstandsbeiwert. Der sollte so nah wie möglich an der Null liegen.
Mit den Füßen zuerst aufzutreffen war ein Vorteil, die Knöchel zu kreuzen eine Notwendigkeit – wobei Letzteres besonders wichtig war, damit die Beine nicht auseinandergerissen werden konnten wie das Gabelbein eines Truthahns an Thanksgiving. Außerdem sollte man einen Arm vor den Oberkörper legen und mit der Hand den Ellbogen gegenüber festhalten. Der andere Arm sollte in der Mitte der Brust nach oben gehen und die Handfläche Mund und Nase bedecken. Der Kopf musste mit dem oberen Ende der Wirbelsäule eine Linie bilden, sonst riskierte man eine Gehirnerschütterung oder ein Schleudertrauma.
Man tauchte ein wie ein Messer.
Ansonsten hatte Wasser, wenn man mit hoher Geschwindigkeit darauf aufkam, mehr mit Zement gemeinsam als mit einer Flüssigkeit.
Man musste so starr sein wie möglich.
Wie ein Klippenspringer.
Und hoffen, dass die inneren Organe in einem Tempo abgebremst wurden, das irgendwie mit ihrer Verankerung im Skelett kompatibel war. Denn sonst, hatte der Navy-Typ gesagt, würden sich die Eingeweide im Brustkorb verteilen wie ein Käse-Omelett, das man in die Pfanne goss.
Lane spannte seinen Körper an, nutzte jeden Muskel, um sich in dünnen starken Stahl zu verwandeln wie eine Messerklinge. Der Wind, Gott, der Wind rauschte in seinen Ohren wie das Grollen eines Tornados. Da war kein Flattern, zumindest bemerkte er keins. Der Sturz fühlte sich eigentlich eher an wie eine Sandstrahlerbehandlung, als würden Wellen winziger Teilchen über ihn hinwegbrausen.
Und die Zeit stand still.
Er hatte den Eindruck, endlos in dem Nimmerland zwischen seinem letzten festen Halt und dem nassen Grab zu schweben, das ihn erwartete – genau wie auch schon seinen Vater.
»Ich liebe dich!«
Zumindest hatte er das sagen wollen. Was aus seinem Mund kam, bevor er aufprallte? Keine Ahnung.
Er spürte den Aufschlag in den Hüften, in den Hüften und Knien, als seine Beine in den Oberkörper gerammt wurden. Und dann war da nur noch Kälte. Der Schmerz durchzuckte sein Inneres, und alles wurde kalt, kalt, kalt.
Der Fluss verschluckte seine Brust und seinen Kopf wie ein Leichensack, dessen Reißverschluss zugezogen wird. Die schwarze Hülle schloss sich, sperrte frische Luft, Licht und Geräusche aus.
Dumpf. Düster. Erstickt.
Schwimmen, dachte er. Schwimmen.
Die Arme gehorchten ihm nicht, aber als er langsamer wurde, trat er mit den Beinen um sich, und dann, ja, dann drückte er mit den Händen das nun weiche Wasser weg. Er öffnete die Augen, vielleicht hatte er sie auch gar nicht geschlossen gehabt – aber er fühlte plötzlich ein Stechen, ein Brennen an den Pupillen.
Nicht atmen. Obwohl er am liebsten seinem Instinkt gefolgt wäre und nach dem Schock tief ausgeatmet hätte, bewahrte er sich den kostbaren Sauerstoff.
Treten. Wegdrücken.
Er kämpfte.
Um sein Leben.
Damit er zu der Frau zurückkehren konnte, die er beim ersten Mal schon nicht hatte verlassen wollen – und die er auch diesmal nicht verlassen wollte.
Damit er beweisen konnte, dass er anders war als sein Vater.
Und damit er den bevorstehenden Bankrott abwenden konnte, der seine Familie in den Ruin zu treiben drohte.
Als Lane von der Brücke fiel, war Lizzies erster Gedanke, ihm zu folgen. Sie wollte sich schon über das Geländer schwingen und selbst in den Fluss springen.
Doch sie hielt inne, denn auf diese Weise konnte sie ihm nicht helfen. Verdammt, womöglich würde sie sogar auf ihm landen, wenn er gerade hochkam, um nach Luft zu schnappen. Vorausgesetzt, er kam hoch. Oh Gott …
In die Tasche greifen. Handy. Handy, sie brauchte ihr …
Sie hörte das Quietschen der Reifen direkt neben ihr kaum. Und sie sah denjenigen, der da angehalten hatte, nur an, weil ihr das Handy aus der Hand rutschte und in seine Richtung flog.
»Ist er gesprungen?« schrie der Mann. »Ist er gesprungen?«
»Gefallen …« Sie fing das Handy gerade noch auf, bevor es auf dem Asphalt landete. »Er ist gefallen!«
»Mein Bruder ist Polizist …«
»Neun-eins-eins.«
Sie wählten beide gleichzeitig, und Lizzie drehte sich weg, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte übers Geländer. Sie konnte dort unten nichts sehen wegen all der Lichter um sie herum und der Tränen, die sie wegblinzelte. Ihr Herz raste und setzte immer wieder aus, und sie nahm vage wahr, dass ihre Hände und Füße allmählich taub wurden. Heiß, ihr Körper war heiß wie an einem Hochsommertag, und der Schweiß rann ihr in Strömen über die Haut.
Es klingelte dreimal. Was, wenn niemand ranging …?
Als sie sich wieder umdrehte, stand der Mann vor ihr, der von seinem Auto herbeigeeilt war – und sie hatte das seltsame Gefühl, dass sie sich noch ihr Leben lang an diesen Augenblick erinnern würde. Er vielleicht auch.
»Hallo!« rief sie. »Ich bin auf der Brücke, der Big-Five-Brücke. Jemand ist …«
»Hallo!« sagte der Mann. »Ja, wir haben einen Springer …«
»Er ist nicht gesprungen! Er ist gefallen – was? Wen interessiert denn mein Name? Schicken Sie jemanden – nicht zur Brücke. Weiter nach unten – am Fluss entlang …«
»… der sich gerade von der neuen Brücke gestürzt hat. Ich weiß, dass du im Dienst bist – du bist unter der Brücke? Kannst du jemanden …«
»… um ihn rauszuholen. Nein, ich weiß nicht, ob er überlebt hat!« Dann hielt Lizzie sogar trotz ihrer Panik inne und wiederholte die Frage, die man ihr gestellt hatte. »Wer es war?«
Auch noch in diesem Schreckensmoment zögerte sie, den Namen preiszugeben. Alles, was die Bradfords betraf, kam in die Schlagzeilen, nicht nur in Charlemont, sondern landesweit, und diesen Sprung – Sturz, verdammt noch mal – würde Lane bestimmt nicht in den Nachrichten haben wollen. Vorausgesetzt, er überlebte …
Egal. Es ging hier um Leben und Tod.
»Sein Name ist Lane Bradford – er ist mein Freund. Ich bin hergekommen, weil …«
Sie redete wirr drauflos und drehte sich zurück zum Abgrund. Und dann beugte sie sich wieder übers Geländer und hoffte, sie würde seinen Kopf auf der Wasseroberfläche entdecken. Gott, sie sah überhaupt nichts!
Nachdem Lizzie ihren Namen, ihre Nummer und alles angegeben hatte, was sie wusste, legte sie auf. Inzwischen hatte der Mann seinen Anruf ebenfalls beendet und redete auf sie ein, sagte ihr, dass sein Bruder oder sein Cousin oder auch der Weihnachtsmann kommen würde. Lizzie hörte nicht zu. Ihr einziger Gedanke war, dass sie zu Lane musste, sie musste …
Sie blickte zu ihrer Klapperkiste.
Und dann zu Lanes 911-Turbo-Cabrio.
Einen Sekundenbruchteil später saß sie am Steuer des Porsches. Zum Glück hatte Lane den Schlüssel stecken lassen, und der Motor sprang an, sobald sie die Kupplung trat und die Pferdchen herumriss. Gas zu geben war etwas völlig anderes als bei ihrem alten Toyota. Sie drehte den Sportwagen mit schlitternden Reifen um die eigene Achse und brauste davon – in die falsche Richtung.
Na und? Sollten die Cops sie doch festnehmen. Wenigstens würden sie ihr dann hinunter ans Wasser folgen.
Ein entgegenkommendes Scheinwerferpaar zwang sie, mit dem Porsche nach rechts auszuweichen, und die Hupe des anderen Fahrzeugs dröhnte in ihrem Kopf wie ein Schrei, der sie möglicherweise aus der Bahn geworfen hätte, wenn sie nicht so hundertprozentig darauf konzentriert gewesen wäre, zu Lane zu gelangen.
Lizzie nahm die Ausfahrt mit knapp hundertdreißig Stundenkilometern, und wie durch ein Wunder fuhr gerade niemand herauf auf den Highway. Unten wendete sie noch einmal ordnungswidrig, sodass sie nun in die richtige Richtung unterwegs war, brach aber weitere Verkehrsregeln, indem sie über den Bordstein fuhr und einen Grünstreifen überquerte, bevor sie eine zweispurige Straße erreichte, die hinunter zum Fluss führte.
Lizzie beschleunigte den Porsche auf fast hundertsechzig Stundenkilometer.
Und machte dann eine Vollbremsung.
Am Ufer, in einem viktorianischen Haus mit Geschichte, befand sich eine der beliebtesten Eisdielen der Region – und dort konnte man sich nicht nur erfrischen, sondern auch Fahrräder ausleihen – und Boote.
Sie parkte den 911 nicht richtig, sondern ließ ihn einfach schief auf dem Rasen am Straßenrand stehen, sodass die eingeschalteten Scheinwerfer aufs Wasser gerichtet waren. Dann sprang sie über einen Zaun und rannte über eine flache Liegewiese zu den Schwimmdocks. Dort fand sie einige Motorboote, in denen natürlich keine Schlüssel steckten, und einen schäbigen, wackeligen Kahn mit Außenbordmotor und Seilzugstarter.
Der glücklicherweise nicht an den Pfosten angekettet war.
Lizzie sprang hinein und startete den Motor mit zwei kräftigen Rucks. Dann löste sie die Leinen und fuhr auf den Fluss hinaus, wobei der Blechkahn gegen die Wellen klatschte und ihr die Gischt ins Gesicht spritzte. In dem schwachen Licht konnte sie nur wenig erkennen – und ihre größte Sorge war, Lane zu überfahren.
Sie war erst etwa hundert Meter weit auf den Fluss gefahren – der ihr groß wie ein Ozean erschien –, als sie etwas Wunderbares am Horizont erblickte.
Ein Wunder.
Es war ein Wunder.