Cover

Inhaltsverzeichnis

Widmung
PROLOG
TEIL 1 - DAS HANDBUCH DES TOTENGRÄBERS
ANKUNFT IN DER HIMMELSTRASSE
ALS SAUMENSCH AUFZUWACHSEN
DIE FRAU MIT DER EISENFAUST
DER KUSS - (Eine Kindheitsentscheidung)
DIE JESSE-OWENS-SACHE
DIE RÜCKSEITE VON SANDPAPIER
DER GERUCH VON FREUNDSCHAFT
BOX-CHAMPION AUF DEM SCHULHOF
TEIL 2 - DAS SCHULTERZUCKEN
EIN MÄDCHEN, ERSCHAFFEN AUS DUNKELHEIT
GLÜCK GEGEN ZIGARETTEN
DIE STADTLÄUFERIN
TOTE BRIEFE
HITLERS GEBURTSTAG 1940
100 PROZENT REINER DEUTSCHER SCHWEISS
DIE TÜR ZUM DIEBSTAHL
BUCH DES FEUERS
TEIL 3 - MEIN KAMPF
DER HEIMWEG
DIE BIBLIOTHEK DES BÜRGERMEISTERS
DER KÄMPFER BETRITT DEN RING
DIE EIGENSCHAFTEN DES SOMMERS
DIE ARISCHE LADENBESITZERIN
DER KÄMPFER : ZWEITE RUNDE
SCHWINDLER
DER KÄMPFER: LETZTE RUNDE
TEIL 4 - DER ÜBERSTEHMANN
DER AKKORDEONSPIELER - (Das geheime Leben des Hans Hubermann)
EIN GUTES MÄDCHEN
EIN KURZER LEBENSLAUF EINES JÜDISCHEN FAUSTKÄMPFERS
ROSAS ZORN
DIE MAHNUNG
DER SCHLÄFER
DER AUSTAUSCH VON ALBTRÄUMEN
DAS BUCH AUS DEM KELLER
TEIL 5 - DER PFEIFER
DAS TREIBENDE BUCH - (Teil 1)
DIE SPIELER - (Ein Würfel mit sieben Seiten)
RUDIS JUGEND
DIE VERLIERER
SKIZZEN
DER PFEIFER UND DIE SCHUHE
DREI DUMMHEITEN VON RUDI STEINER
DAS TREIBENDE BUCH
TEIL 6 - DER TRAUMTRÄGER
DAS TAGEBUCH DES TODES: 1942
DER SCHNEEMANN
DREIZEHN GESCHENKE
FRISCHE LUFT, EIN ALTER ALBTRAUM UND DIE FRAGE, WAS MAN MIT EINER JÜDISCHEN LEICHE ANSTELLEN SOLL
DAS TAGEBUCH DES TODES : KÖLN
DER BESUCHER
DER SCHMUNZLER
DAS TAGEBUCH DES TODES: DIE PARISER JUDEN
TEIL 7 - DUDEN BEDEUTUNGSWÖRTERBUCH
CHAMPAGNER UND AKKORDEON
DIE TRILOGIE
DER KLANG DER SIRENEN
DER HIMMELSDIEB
FRAU HOLZINGERS ANGEBOT
DER LANGE MARSCH NACH DACHAU
FRIEDE
DER IDIOT UND DIE MANTELMÄNNER
TEIL 8 - DIE WORTESCHÜTTLERIN
DOMINOS UND DUNKELHEIT
DIE ÜBERLEGUNG, WIE RUDI NACKT AUSSIEHT
STRAFE
DIE FRAU EINES MANNES, DER SEIN VERSPRECHEN HÄLT
DER SAMMLER
DIE BROTESSER
DAS VERSTECKTE SKIZZENBUCH
DIE ANZUGSAMMLUNG DES ANARCHISTEN
TEIL 9 - DIE LETZTE MENSCHLICHE FREMDE
DIE NÄCHSTE VERSUCHUNG
DER KARTENSPIELER
DER SCHNEE VON STALINGRAD
DER ALTERSLOSE BRUDER
DER UNFALL
DER BITTERE GESCHMACK VON FRAGEN
EIN WERKZEUGKASTEN, EIN BLUTER, EIN BÄR
HEIMKEHR
TEIL 10 - DIE BÜCHERDIEBIN
DER WELTUNTERGANG
DER ACHTUNDNEUNZIGSTE TAG
DER KRIEGSTREIBER
DER WEG DER WORTE
BEKENNTNISSE
ILSA HERMANNS KLEINES SCHWARZES BUCH
FLUGZEUGBÄUCHE
DER WELTUNTERGANG
EPILOG - DIE LETZTE FARBE
DANKSAGUNG
Copyright

DANKSAGUNG

Ich möchte damit anfangen, dass ich mich bei Anna McFarlane bedanke (die so warmherzig wie sachkundig ist) und bei Erin Clarke (für ihre Voraussicht, ihre Freundlichkeit und dafür, dass sie mir jedes Mal zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Rat gab). Ein großes Dankeschön auch an Alexandra Ernst, Leena Flegler und Bernd Stratthaus für ihr Engagement und ihren Enthusiamus. Besonderer Dank gilt Bri Tunnicliffe, weil sie es mit mir ausgehalten und meinen Abgabeterminen für Korrekturen Glauben schenkte.

Trudy Whites Grazie und Talent kann ich nicht oft genug würdigen; es ist eine Ehre für mich, dass ihre Kunst auf diesen Seiten zu sehen ist.

Ein herzliches Dankeschön an Melissa Nelson, die einer schwierigen Aufgabe scheinbare Leichtigkeit verlieh. Es blieb nicht unbemerkt.

Dieses Buch wäre ohne die folgenden Personen nicht zustande gekommen: Cate Paterson, Nikki Christer, Jo Jarrah, Anyez Lindop, Jane Novak, Fiona Inglis und Catherine Drayton. Dank an euch alle, dass ihr eure wertvolle Zeit in diese Geschichte  – und in mich – investiert habt.

Mein Dank geht auch an das Sydney Jewish Museum, das Australian War Memorial, an Doris Seidler vom Jüdischen Museum München, an Andreas Heusler vom Stadtarchiv München und an Rebecca Biehler (die mich über die saisonalen Gewohnheiten von Apfelbäumen aufklärte).

Bedanken möchte ich mich auch bei Dominika Zusak, Kinga Kovacs und Andrew Janson für all die aufmunternden Worte und die Geduld.

Mein besonderer Dank schließlich gilt Lisa und Helmut Zusak  – für die Geschichten, die wir kaum glauben können, für das Lachen und für eine neue Sicht der Dinge.

EPILOG

DIE LETZTE FARBE

Es wirken mit:

 

der Tod und Liesel – hölzerne Tränen – Max – und der Übergeber

TOD UND LIESEL

 

 

Seitdem sind etliche Jahre vergangen, aber es gibt immer noch viel zu tun. Ich versichere euch, dass die Welt eine Fabrik ist. Die Sonne feuert sie an, und die Menschen beherrschen sie. Und ich bleibe. Ich trage sie davon.

Was den Rest der Geschichte betrifft, werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich bin müde, so müde, und ich werde es euch erzählen, so knapp und direkt, wie ich nur kann.

 

 

EINE LETZTE TATSACHE

 

Ich möchte euch mitteilen, dass die Bücherdiebin gestern
erst gestorben ist.

 

Liesel Meminger lebte noch sehr lange, weit entfernt von Molching und dem Untergang der Himmelstraße.

Sie starb in einem Vorort von Sydney, Australien. Das Haus hatte die Nummer 45 – so wie das der Fiedlers, wo die Menschen bei Luftangriffen Schutz gesucht hatten –, und der Himmel hatte das großartige Blau eines Nachmittags. Wie die Seele ihres Papas, so saß auch ihre aufrecht da.

Ihre letzten Visionen galten ihren drei Kindern, ihren Enkeln, ihrem Ehemann und der langen Liste aus Leben, die mit ihrem eigenen verwoben waren, unter ihnen – leuchtend wie Laternen  – Hans und Rosa Hubermann, ihr Bruder und der Junge, dessen Haar für immer die Farbe von Zitronen hatte.

 

Aber es gab auch noch andere Bilder.

Kommt mit, und ich werde euch eine Geschichte erzählen.

Ich will euch etwas zeigen.

HOLZ AM NACHMITTAG

 

 

Die Himmelstraße war zerstört, und Liesel Meminger hatte kein Zuhause mehr. Man sprach von ihr als dem »Mädchen mit dem Akkordeon«, und man brachte sie zur Polizei, wo nun entschieden werden musste, was mit ihr werden sollte.

Sie saß auf einem sehr harten Stuhl. Das Akkordeon lugte durch ein Loch im Kasten.

Nach drei Stunden erschienen der Bürgermeister und die Frau mit den Fusselhaaren auf der Wache. »Wir haben gehört«, sagte die Frau, »dass ein Mädchen aus der Himmelstraße überlebt hat. «

Der Polizist zeigte ihr den Weg.

 

Ilsa Hermann bot ihr an, den Kasten zu tragen, aber Liesel hielt ihn fest in der Hand, als sie die Stufen der Wache hinuntergingen. Ein paar Häuserblocks von der Münchener Straße entfernt trennte eine deutlich sichtbare Linie die Ausgebombten von den Glücklichen.

Der Bürgermeister saß am Steuer.

Ilsa hatte sich neben Liesel auf den Rücksitz gesetzt.

Zwischen beiden stand der Instrumentenkasten. Liesels Hand lag darauf, und sie ließ es zu, dass Ilsa Hermann diese Hand mit ihrer eigenen hielt.

 

Es wäre so leicht gewesen zu schweigen, aber Liesel reagierte ganz anders auf ihr Unglück. Sie saß in dem eleganten Gästezimmer im Haus des Bürgermeisters und redete und redete – mit sich selbst – bis tief in die Nacht hinein. Sie aß kaum etwas. Das Einzige, was sie völlig verweigerte, war ein Bad.

Vier Tage lang trug sie die Überreste der Himmelstraße mit sich herum, hinterließ sie auf den Teppichen und Bodendielen der Großen Straße 8. Sie schlief viel und träumte nicht, und meistens wäre sie am liebsten gar nicht aufgewacht. Alles verschwand, wenn sie schlief.

An dem Tag, an dem die Beerdigungen stattfanden, hatte sie sich immer noch nicht gewaschen, und Ilsa Hermann fragte höflich, ob sie es jetzt tun wolle. Bei früheren Gelegenheiten hatte sie ihr lediglich das Badezimmer gezeigt und ihr ein Handtuch gewiesen.

Die Trauergäste, die der Bestattung von Hans und Rosa Hubermann beiwohnten, sprachen noch lange über das Mädchen in dem hübschen Kleid und der Schicht aus Himmelstraßenschmutz. Es ging das Gerücht, dass sie später am selben Tag völlig angekleidet in die Amper watete und etwas Merkwürdiges sagte.

Etwas von einem Kuss.

Etwas von einem Saumenschen.

Wie viele Male musste sie Abschied nehmen?

 

Danach kamen und gingen die Wochen und Monate und jede Menge Krieg. In den Augenblicken schlimmster Trauer dachte sie an ihre Bücher, besonders an diejenigen, die speziell für sie gemacht worden waren, und an das eine, das ihr Leben gerettet hatte. Eines Morgens, in einem neuerlichen Zustand des Schocks, ging sie gar in die Himmelstraße, um die Bücher zu suchen, aber es war nichts von ihnen übrig geblieben. Es gab keine Linderung, keine Heilung. Es würde Jahre, Jahrzehnte dauern. Dazu brauchte es ein langes Leben.

 

Für die Steiners gab es zwei Trauerfeiern. Die erste fand am Tage ihrer Grablegung statt; die zweite, als Alex Steiner auf Urlaub nach Hause kam.

Seit ihn die Nachricht erreicht hatte, war Alex dahingewelkt.

»Herr im Himmel«, sagte er, »wenn ich Rudi nur auf diese Schule geschickt hätte.«

Man rettet jemanden.

Man tötet jemanden.

Wie hätte er es ahnen sollen?

Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er alles dafür gegeben hätte, in jener Nacht in der Himmelstraße gewesen zu sein, denn dann hätte Rudi überlebt.

Er erzählte Liesel davon, auf den Stufen zur Großen Straße 8. Er war sofort, nachdem er von ihrer Rettung gehört hatte, zu ihr gekommen.

 

An diesem Tag, auf den Stufen, wurde Alex Steiner in Stücke gesägt.

Liesel sagte ihm, dass sie Rudis Lippen geküsst hatte. Es war ihr peinlich, aber sie glaubte, dass er es gerne wissen wollte. Er weinte hölzerne Tränen und schenkte ihr ein Eichenlächeln. Der Himmel, den ich in Liesels Vision von diesem Tag sah, war grau und schimmernd. Ein silbriger Nachmittag.

MAX

 

 

Als der Krieg vorbei war und Hitler sich in meine Arme begeben hatte, nahm Alex Steiner die Arbeit in seinem Schneidergeschäft wieder auf. Er verdiente kaum Geld damit, aber immerhin konnte er sich ein paar Stunden am Tag ablenken. Liesel begleitete ihn oft. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und gingen häufig nach Dachau, nachdem das Konzentrationslager befreit worden war, nur um jedes Mal von den Amerikanern abgewiesen zu werden.

 

Endlich, im Oktober 1945, kam ein Mann mit sumpfigen Augen, fedrigen Haaren und einem glatt rasierten Gesicht in den Laden. Er ging zur Verkaufstheke. »Ich suche Liesel Meminger. Ist sie hier?«

»Ja, sie ist hinten«, sagte Alex. Hoffnung machte sich in ihm breit, aber er wollte ganz sicher sein. »Darf ich fragen, wer Sie sind? «

 

Liesel kam heraus.

Sie fielen sich in die Arme, weinten und gingen zu Boden.

DER ÜBERGEBER

 

 

Ja, ich habe in dieser Welt vieles erlebt. Ich bin bei den größten Katastrophen dabei und diene den schlimmsten Schurken.

Aber es gibt auch andere Momente.

Einer Vielzahl von Geschichten (oder nur einer Handvoll, wie ich bereits eingangs erklärte) gestatte ich, mich bei der Arbeit abzulenken, genauso wie es die Farben vermögen. Ich finde sie an den unglücklichsten, unwahrscheinlichsten Orten, und ich sorge dafür, dass ich mich an sie erinnere, während ich mit meiner Arbeit fortfahre. Die Bücherdiebin ist eine solche Geschichte.

 

Als ich nach Sydney kam und Liesel mitnahm, konnte ich endlich etwas tun, worauf ich schon lange gewartet hatte. Ich setzte sie ab, und wir gingen über die Anzac Avenue, in der Nähe des Fußballplatzes, und dann zog ich ein staubiges schwarzes Buch aus meiner Tasche.

Die alte Frau war verblüfft. Sie nahm es in die Hand und fragte: »Ist das mein Buch?«

Ich nickte.

Beklommen öffnete sie Die Bücherdiebin und blätterte durch die Seiten. »Ich kann es nicht glauben …« Obwohl der Text verblasst war, konnte sie ihre Worte noch lesen. Die Finger ihrer Seele berührten die Geschichte, die vor so langer Zeit im Keller der Himmelstraße geschrieben worden war.

Sie setzte sich auf die Bordsteinkante, und ich gesellte mich zu ihr.

»Hast du es gelesen?«, fragte sie mich, aber sie schaute mich nicht an. Ihre Augen hingen an den Worten.

Ich nickte. »Viele Male.«

»Hast du es verstanden?«

Was folgte, war ein langes Schweigen.

Ein paar Autos fuhren vorüber, in beide Richtungen. Hinter den Lenkrädern saßen Hitlers, Hubermanns und Maxe, Mörder, Lindners und Steiners …

Ich wollte der Bücherdiebin vieles sagen, über Schönheit und Brutalität. Aber was sollte ich ihr darüber erzählen, was sie nicht schon längst wusste? Ich wollte ihr erklären, dass ich die menschliche Rasse permanent unter- und überschätze – dass ich sie nur selten einzuschätzen weiß. Ich wollte sie fragen, wie ein und dieselbe Sache so hässlich und gleichzeitig so herrlich sein kann und ihre Worte und Geschichten so vernichtend und brillant.

Aber nichts davon kam mir über die Lippen.

Ich konnte mich nur Liesel Meminger zuwenden und ihr die einzige Wahrheit sagen, die ich wirklich kenne. Ich sagte es zu der Bücherdiebin, und ich sage es jetzt zu euch.

 

 

EINE LETZTE ANMERKUNG EURES
ERZÄHLERS

 

Ich bin von Menschen verfolgt.

ANKUNFT IN DER HIMMELSTRASSE

Das letzte Mal.

Dieser rote Himmel …

Wie konnte die Bücherdiebin so enden, auf den Knien, heulend und flankiert von lächerlich wirkenden, klebrigen, zusammengebackenen Schutthaufen – alles das Werk von Menschen?

Es begann Jahre zuvor, mit Schnee.

Die Zeit war gekommen. Für einen.

 

 

EIN BESONDERS TRAGISCHER MOMENT

 

Ein Zug fuhr schnell.
Er war vollgepackt mit Menschen.
Im dritten Wagen starb ein sechsjähriger Junge.

 

Die Bücherdiebin und ihr Bruder fuhren nach München, wo sie Pflegeeltern übergeben werden sollten. Aber wir wissen ja bereits, dass der Junge dort niemals ankam.

 

 

WIE ES GESCHAH

 

Ein heftiger Hustenanfall.
Ein letzter Atemzug, der Endspurt.
Und dann – nichts mehr.

 

Als der Husten aufhörte, blieb nichts mehr außer dem Nichts des Lebens, das weiterschleift, kurz und still aufzuckt. Eine Plötzlichkeit fand ihren Weg auf seine Lippen – Lippen von einem korrodierten Braun, die sich abschälten wie alte Farbe. Die dringend einen neuen Anstrich benötigten.

Ihre Mutter schlief.

Ich betrat den Zug.

Meine Füße bahnten sich durch den überfüllten Gang, und dann lag meine Hand auf seinem Mund.

Niemand bemerkte etwas.

Der Zug raste weiter.

Bis auf das Mädchen.

 

Mit einem wachen und einem noch träumenden Auge sah die Bücherdiebin, auch bekannt unter ihrem Namen Liesel Meminger, dass Werner, ihr kleiner Bruder, zur Seite gerutscht war. Er war tot, daran gab es keinen Zweifel.

Seine blauen Augen starrten zu Boden.

Und sahen nichts.

 

Bevor sie aufwachte, hatte die Bücherdiebin vom Führer geträumt, von Adolf Hitler. In ihrem Traum nahm sie an einer Versammlung teil, auf der er eine Rede hielt. Sie betrachtete den knochenfarbenen Scheitel in seinem Haar und das vollkommene Viereck seines Schnurrbarts. Bereitwillig lauschte sie dem Strom aus Worten, die aus seinem Mund quollen. Seine Sätze glühten im Licht. In einem ruhigeren Augenblick beugte er sich doch tatsächlich nieder und lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln und sagte: »Guten Tag, Herr Führer. Wie geht’s dir heut?« Sie konnte nicht besonders gut sprechen, geschweige denn lesen, weil sie kaum je die Schule besucht hatte. Den Grund dafür würde sie zur rechten Zeit erfahren.

Gerade als der Führer antworten wollte, wachte sie auf.

Es war Januar 1939. Sie war neun Jahre alt.

Ihr Bruder war tot.

 

Ein Auge offen.

Eines noch träumend.

Ich glaube, es ist besser, wenn ein Traum vollendet wird, aber darüber habe ich nun wirklich keine Macht.

Das zweite Auge schrak auf, erwachte und erwischte mich, gerade als ich niederkniete, seine Seele heraustrennte, in meine geschwollenen Arme nahm, wo sie schlaff lag. Schon bald wurde sie wärmer, aber als ich die Seele des Jungen aufnahm, war sie noch ganz weich und kalt, wie Eiskrem. Sie schmolz in meinen Armen. Dann wurde sie warm. Heilte.

Für Liesel Meminger blieben nur die eingekerkerte Steifheit der Glieder und der beständige Angriff der Gedanken. Es stimmt nicht. Es stimmt nicht. Es stimmt nicht.

Und das Zittern.

Warum zittern sie immer?

Ja, ich weiß, ich weiß – ich nehme an, es hat etwas mit Instinkt zu tun. Den Fluss der Wahrheit aufzuhalten. Ihr Herz war in diesem Augenblick schlüpfrig und heiß, und laut, so laut so laut.

Dummerweise blieb ich. Ich schaute zu.

 

Als Nächstes ihre Mutter.

Die Bücherdiebin weckte sie mit demselben verstörten Zittern.

Vielleicht könnt ihr es euch vorstellen, vielleicht auch nicht. Denkt euch eine schwerfällige Stille. Denkt euch Fetzen und Splitter aus fließender Verzweiflung. Und stellt euch vor, wie man in einem Zug ertrinkt.

 

Es schneite unentwegt, und der Zug nach München musste wegen eingeschneiter Gleise auf der Strecke anhalten. Eine Frau heulte. Neben ihr stand ein Mädchen, wie betäubt.

In Panik öffnete die Mutter die Tür.

Sie kletterte hinaus in den Schnee, den kleinen Körper in den Armen.

Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

 

Wie ihr bereits wisst, stiegen auch zwei Wachmänner aus. Sie diskutierten und stritten darüber, was zu tun war. Die Situation war, gelinde gesagt, unerfreulich. Es wurde schließlich beschlossen, dass alle drei zur nächsten Station gebracht werden sollten, wo man Weiteres veranlassen würde.

Diesmal humpelte der Zug durch das eingeschneite Land.

Er taumelte in den Bahnhof und blieb stehen.

Sie traten auf den Bahnsteig, der Körper des Jungen noch immer in den Armen der Mutter.

Sie standen da.

Der Junge wurde schwer.

 

Liesel hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Alles war weiß, und als sie im Bahnhof zurückblieben, starrte sie auf die verblassten Buchstaben auf dem Schild vor ihr. Für Liesel hatte dieses Dorf keinen Namen. Hier, in diesem namenlosen Dorf, sollte ihr Bruder Werner zwei Tage später begraben werden. Die Trauergesellschaft bestand aus einem Priester und zwei frierenden Totengräbern.

 

 

EINE ÜBERLEGUNG

 

Zwei Wachmänner.
Zwei Totengräber.
Der eine gibt Befehle.
Der andere tut, was man ihm sagt.
Was, wenn der andere mehr als ein Einzelner wäre?

 

Fehler, Fehler – manchmal scheine ich nichts als Fehler zu machen.

Zwei Tage lang kümmerte ich mich um meine Angelegenheiten. Ich reiste über den Erdball und legte die Seelen auf das Förderband zur Ewigkeit. Ich sah ihnen nach, wie sie reglos dahinglitten.

Ein paar Mal schärfte ich mir ein, mich von der Beerdigung von Liesel Memingers Bruder fernzuhalten. Doch ich missachtete meinen eigenen Rat.

Bereits aus großer Entfernung sah ich die kleine Gruppe Menschen steif inmitten des Ödlands aus Schnee stehen. Ich näherte mich, und der Friedhof hieß mich willkommen wie einen Freund.

Schon bald war ich bei ihnen.

Ich senkte den Kopf.

 

Links neben Liesel standen die Totengräber, rieben sich die Hände und jammerten über den Schnee und die schlechten Arbeitsbedingungen. »Es ist so schwer, durch das ganze Eis zu graben« und so weiter. Einer von ihnen war sicher nicht älter als vierzehn Jahre. Ein Lehrling.

Als er davonging, fiel ihm nach ein paar Dutzend Schritten ein schwarzes Buch aus der Manteltasche, ohne dass er es merkte. Ein sanfter Fall.

 

Ein paar Minuten später wandte sich Liesels Mutter gemeinsam mit dem Priester zum Gehen. Sie dankte ihm für die Zeremonie.

Aber das Mädchen blieb.

Ihre Knie berührten den eisigen Boden. Ihr Augenblick war gekommen.

Immer noch ungläubig, fing sie an zu graben. Er konnte nicht tot sein. Er konnte nicht tot sein. Er konnte nicht …

Innerhalb von Sekunden hatte sich der Schnee in ihre Haut gefressen.

Gefrorenes Blut malte Linien auf ihren Händen.

Irgendwo in all dem Schnee sah sie ihr entzweigebrochenes Herz. Jede seiner Hälften glühte und schlug unter all dem Weiß. Sie merkte erst, dass ihre Mutter zurückgekommen war, um sie zu holen, als sie die knochige Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie wurde weggezerrt. Ein warmer Schrei füllte ihre Kehle.

 

 

EINE KURZE SZENE, ETWA ZWANZIG
METER ENTFERNT

 

Als das Zerren ein Ende nahm, standen die Mutter und
das Mädchen da und atmeten.
Etwas Schwarzes, Eckiges ruhte im Schnee.
Nur das Mädchen sah es.
Sie bückte sich, hob es auf und hielt es fest in
ihren Fingern.
Die Schrift auf dem Buch war silbern.

 

Sie hielten sich an den Händen.

Ein letzter, durchnässter Abschied, dann drehten sie sich um und verließen den Friedhof, wobei sie mehrmals zurückschauten.

Ich dagegen blieb noch ein Weilchen länger.

Ich winkte.

Niemand winkte zurück.

 

Mutter und Tochter ließen den Friedhof hinter sich und machten sich auf zum Bahnhof, um den nächsten Zug zu besteigen, der nach München fuhr.

Beide waren mager und bleich.

Beide hatten wunde Lippen.

Liesel sah es in dem schmutzigen, angelaufenen Fenster des Zuges, als sie kurz vor Mittag einstiegen. In den Worten der Bücherdiebin, die sie später niederschrieb, setzten sie ihre Reise fort, als ob alles passiert sei.

 

Als der Zug im Münchener Hauptbahnhof einfuhr, quollen die Passagiere aus den Wagen wie aus einem aufgerissenen Paket. Es waren Menschen jeder Größe und Statur; die Armen unter ihnen erkannte man am leichtesten. Sie bemühen sich, immer in Bewegung zu bleiben, als ob es helfen würde, von einem Ort zum anderen zu gehen. Sie ignorieren die Tatsache, dass am Ende ihrer Reise nur eine neue Version desselben alten Problems auf sie wartet – wie ein Verwandter, den man nur widerwillig begrüßt.

Ich glaube, die Mutter wusste das nur zu genau. Sie würde ihr Kind zwar nicht den oberen Zehntausend von München übergeben, aber immerhin einer Pflegefamilie, die das Mädchen und den Jungen zumindest ernähren und ihnen eine Ausbildung angedeihen lassen konnte.

Den Jungen.

Liesel war sich sicher, dass die Mutter die Erinnerung an ihn mit sich trug, auf ihren Schultern. Sie setzte ihn ab. Sie sah seine Füße und Beine und den Rumpf auf dem Bahnsteig aufschlagen.

Wie konnte diese Frau bloß laufen?

Wie schaffte sie es, sich zu bewegen?

Das ist etwas, was ich nie wissen oder begreifen werde – wozu menschliche Wesen fähig sind.

Sie hob ihn auf und lief weiter. Das Mädchen blieb dicht an ihrer Seite.

 

Ihr nächster Weg führte sie zu den Behörden. Fragen wurden gestellt, über ihre Verspätung und den Jungen, und diese Fragen brachten sie dazu, die verletzlichen Köpfe zu heben. Liesel blieb in der Ecke des kleinen, staubigen Büros, während ihre Mutter mit verkrampften Gedanken auf einem sehr harten Stuhl saß.

Dann kam das Durcheinander des Abschieds.

Der Abschied war feucht. Das Mädchen vergrub den Kopf in den wollenen, fadenscheinigen Tiefen des Mantels der Mutter. Wieder nahm das Gezerre seinen Anfang und sein Ende.

 

Eine ganze Wegstrecke außerhalb von München lag eine Kleinstadt namens Molching. Dorthin brachte man sie, in eine Straße, die nach dem Himmel benannt war.

Wer immer der Himmelstraße ihren Namen gegeben hatte, war offensichtlich mit einem gesunden Sinn für Humor gesegnet gewesen. Nicht dass es die Hölle auf Erden wäre. Das nicht. Aber so sicher, wie es nicht die Hölle war, so sicher war es auch nicht der Himmel.

Dessen ungeachtet warteten die Pflegeeltern auf ihren Schützling.

Die Hubermanns.

Sie hatten ein Mädchen und einen Jungen erwartet, für deren Pflege sie eine magere Unterstützung bekommen sollten. Niemand wollte Rosa Hubermann erklären müssen, dass der Junge die Reise nicht überlebt hatte. Tatsache war, dass überhaupt niemand jemals den Wunsch hatte, ihr irgendetwas erklären zu müssen. Was ihre Natur anging, so war sie nicht gerade als umgänglich bekannt, obwohl sie in Bezug auf Pflegekinder einen guten Ruf genoss. Sie hatte etliche von ihnen geradegerückt.

Liesel fuhr in einem Auto.

Sie war noch nie in einem Auto gefahren.

Ihr Magen hob und senkte sich unentwegt, gemeinsam mit ihrer vergeblichen Hoffnung, dass sie sich verfahren würden oder irgendjemand seine Meinung ändern würde. Inmitten von all dem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihrer Mutter zurück, die am Bahnhof darauf wartete, wieder abfahren zu können. Zitternd. Eingehüllt in diesen nutzlosen Mantel. Sie kaute an den Nägeln und wartete auf den Zug. Der Bahnsteig war lang und ungemütlich, ein Band aus kaltem Zement. Würde sie bei ihrer Rückfahrt nach der Grabstätte ihres Sohnes Ausschau halten? Oder würde der Schlaf übermächtig sein?

Der Wagen fuhr weiter, und Liesel sah voller Angst der letzten, endgültigen Kurve entgegen.

 

Der Tag war grau, die Farbe Europas.

Vorhänge aus Regen waren um den Wagen gezogen.

»Wir sind gleich da.« Die Dame von der Pflegevermittlung, Frau Heinrich, wandte sich um und lächelte. »Dein neues Zuhause.«

Liesel wischte einen blanken Kreis auf die angelaufene Fensterscheibe und schaute hinaus.

 

 

MOMENTAUFNAHME DER
HIMMELSTRASSE

 

Die Gebäude scheinen zusammengeklebt zu sein,
meistens kleine zweistöckige Häuser und
Mehrfamilienhäuser, die nervös wirken.
Schmutziger Schnee liegt ausgebreitet da wie ein Teppich.
Zement, leere Hutständerbäume und graue Luft.

 

Im Auto saß auch ein Mann. Während Frau Heinrich im Haus verschwand, blieb er bei dem Mädchen. Er sagte kein Wort. Liesel vermutete, dass er sie im Zweifelsfall am Weglaufen hindern oder sie nach drinnen schleppen sollte, wenn sie versuchte, Ärger zu machen. Als der Ärger jedoch anfing, saß er einfach nur da und sah zu. Vielleicht war er nur der letzte Ausweg, wenn nichts anderes mehr half.

Nach ein paar Minuten kam ein sehr großer Mann nach draußen. Hans Hubermann, Liesels Pflegevater. An seiner einen Seite ging die mittelgroße Frau Heinrich. An seiner anderen befand sich die klobige Gestalt von Rosa Hubermann, die aussah wie ein kleiner Schrank, über den man einen Mantel geworfen hatte. Sie watschelte mehr, als dass sie ging. Man hätte es fast niedlich nennen können, wenn da nicht ihr Gesicht gewesen wäre, verkniffen wie zerdrückte Pappe und verärgert, als ob sie sich mit allem und jedem nur gerade eben so abfinden könnte. Ihr Mann ging aufrecht und hatte eine brennende Zigarette zwischen den Fingern. Eine selbst gedrehte.

 

Folgendes geschah:

Liesel weigerte sich auszusteigen.

 

»Was ist los mit dem Kind?«, wollte Rosa Hubermann wissen. Sie wiederholte es: »Was ist los mit diesem Kind?« Sie steckte ihr Gesicht in den Wagen und sagte: »Na, komm. Komm.«

Der Vordersitz flog auf das Armaturenbrett zu. Ein Korridor aus kaltem Licht öffnete sich Liesel. Sie rührte sich nicht.

Durch den Kreis auf der Fensterscheibe, den sie gewischt hatte, konnte Liesel die Finger des großen Mannes draußen sehen, die immer noch die Zigarette hielten. Asche taumelte von ihrer Spitze, wirbelte ein paar Mal herum und fiel dann zu Boden. Es dauerte fast fünfzehn Minuten, bis sie sich aus dem Auto locken ließ. Es war der große Mann, dem das Kunststück gelang.

Still.

 

Dann kam das Gartentor. Sie klammerte sich daran.

Tränen stürmten aus ihren Augen, während sie sich festhielt und sich weigerte, ins Haus zu gehen. Die Leute kamen aus ihren Häusern auf die Straße und gafften, bis Rosa Hubermann ihnen Flüche entgegenschleuderte, die dafür sorgten, dass sie dahin zurückeilten, woher sie gekommen waren.

 

 

WAS ROSA HUBERMANN IHNEN
ZU SAGEN HATTE

»Was glotzt ihr denn so, ihr Arschlöcher?«

 

Schließlich trat Liesel Meminger zögernd ein. Hans Hubermann hielt ihre Hand. Der kleine Koffer hielt ihre andere. Vergraben in den Falten ihrer Kleidung im Innern des Koffers lag ein kleines schwarzes Buch, nach dem – so dürfen wir vermuten  – ein vierzehnjähriger Totengräber in einem namenlosen Dorf stundenlang gesucht hatte. »Ich schwöre Ihnen«, höre ich ihn zu seinem Vorgesetzten sagen, »ich habe keine Ahnung, wo es geblieben ist. Ich habe überall gesucht. Überall!« Ich bin sicher, dass er niemals das Mädchen verdächtigt hätte. Und doch war es hier – ein schwarzes Buch mit silbernen Buchstaben unter der Decke ihrer Kleidung:

 

 

HANDBUCH FÜR TOTENGRÄBER

 

In zwölf Schritten zum Erfolg.
Wie man ein guter Totengräber wird.
Herausgegeben von der Bayerischen Friedhofsvereinigung.

 

Die Bücherdiebin hatte zum ersten Mal zugeschlagen. Es war der Beginn einer außergewöhnlichen Karriere.

ALS SAUMENSCH AUFZUWACHSEN

Ja, eine außergewöhnliche Karriere.

Ich sollte allerdings vorausschicken, dass zwischen dem ersten Diebstahl und dem zweiten eine nicht unerhebliche Zeitspanne lag. Eine weitere bemerkenswerte Tatsache ist, dass das erste Buch aus dem Schnee gestohlen wurde und das zweite aus dem Feuer. Und es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass sie Bücher geschenkt bekam. Alles in allem besaß sie vierzehn Bücher, aber ihre Geschichte besteht – aus ihrem Blickwinkel heraus betrachtet – hauptsächlich aus zehn. Von diesen zehn waren sechs gestohlen. Eines tauchte auf dem Küchentisch auf, zwei fertigte ein versteckter Jude für sie an, und eines wurde ihr an einem weichen, gelbgekleideten Nachmittag überreicht.

Als sie ihre Geschichte aufschrieb, fragte sie sich, ab welchem Augenblick genau die Bücher und Worte nicht mehr nur irgendetwas bedeuteten, sondern alles. War es, als sie das erste Mal jenen Raum erblickte, in dem sich die Regale bis zur Zimmerdecke streckten? Oder als Max Vandenburg in der Himmelstraße eintraf und zwei Hände voll Leid und eine Ausgabe von Hitlers Mein Kampf bei sich trug? War es das Vorlesen im Luftschutzraum? Der letzte Marsch nach Dachau? War es Die Worteschüttlerin? Vielleicht würde es niemals eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Wann und Wo geben. Überhaupt greife ich mir selbst vor. Bis wir zu den genannten Ereignissen kommen, müssen wir uns zunächst Liesel Memingers Anfängen in der Himmelstraße widmen und der Frage, was es mit Saumenschen auf sich hat.

 

Bei ihrer Ankunft waren die Bissspuren des Schnees auf ihren Händen und das frostige Blut auf ihren Fingern noch deutlich sichtbar. Alles an ihr war unterernährt. Drahtdünne Schienbeine. Arme, hager wie Kleiderbügel. Sie zeigte es nicht oft, aber wenn es herausbrach, war auch ihr Lächeln am Verhungern.

Ihre Haarfarbe näherte sich dem Blond, das als Kennzeichen des Deutschtums galt, aber sie hatte gefährliche Augen. Dunkelbraun. Zu jener Zeit mochte man in Deutschland keine braunen Augen. Vielleicht hatte sie die von ihrem Vater geerbt, aber wissen konnte sie es nicht; sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Es gab nur eine einzige Sache, die sie von ihrem Vater wusste, ein Etikett, das sie nicht verstand.

 

 

EIN MERKWÜRDIGES WORT

 

Kommunist

 

Sie hatte es in den vergangenen Jahren einige Male gehört.

»Kommunist.«

Da waren Pensionen, vollgestopft mit Menschen, Zimmer, vollgestopft mit Fragen. Und dieses Wort. Das merkwürdige Wort war immer da, irgendwo in der Nähe, stand in der Ecke, lauerte im Schatten. Es trug Anzüge und Uniformen. Egal wohin sie gingen, es war da, sobald die Sprache auf ihren Vater kam. Sie konnte es riechen und schmecken. Sie konnte es nur nicht buchstabieren und auch nicht begreifen. Wenn sie ihre Mutter fragte, was es bedeutete, wurde ihr gesagt, dass es nicht wichtig sei, dass sie sich über diese Sachen keine Sorgen machen solle. In einer Pension gab es eine Frau, die kräftiger und gesünder war als die anderen und die versuchte, den Kindern das Schreiben beizubringen, indem sie mit Kohle auf Wände malte. Liesel hätte sie zu gerne nach der Bedeutung jenes Wortes gefragt, aber es bot sich einfach nie die Gelegenheit. Eines Tages holte man die Frau zum Verhör. Sie kehrte nicht zurück.

 

Als Liesel in Molching eintraf, hatte sie zumindest eine Ahnung, dass sie gerettet war, aber das war ihr kein Trost. Wenn ihre Mutter sie liebte, warum setzte sie sie dann vor der Haustür von Fremden aus? Warum? Warum?

Warum?

Der Umstand, dass sie die Antwort kannte – wenn auch nur in groben Zügen –, war unwichtig. Ihre Mutter war ständig krank, und es war nie genug Geld da, um sie gesund zu machen. Liesel wusste das. Aber das hieß nicht, dass sie es auch akzeptieren musste. Auch wenn ihr immer wieder gesagt worden war, dass sie geliebt wurde, so gab es für sie keinen Grund, den Beweis dafür in der Tatsache zu sehen, dass sie zurückgelassen worden war. Nichts konnte etwas daran ändern, dass sie ein verlorenes, hageres Kind an einem weiteren fremden Ort war, mit noch mehr fremden Menschen. Allein.

 

Die Hubermanns lebten in einem der kleineren Häuser in der Himmelstraße. Eine Handvoll Zimmer, eine Küche und ein Toilettenhäuschen hinter dem Haus, das sie sich mit den Nachbarn teilten. Das Dach war flach, und es gab einen niedrigen Keller, wo Vorräte aufbewahrt wurden. Der Keller war wirklich sehr niedrig. 1939 war das noch kein Problem. Später, 1942 und ’43, wurde es zu einem. Als die Luftangriffe begannen, mussten sie immer die Straße hinunterlaufen, bis sie zu einem geeigneten Schutzraum kamen.

Am Anfang war es das Fluchen, das den größten Eindruck auf Liesel machte. Es war so heftig und maßlos. Jedes zweite Wort war entweder Saumensch oder Saukerl oder Arschloch.

»Saumensch, du dreckiges!«, schrie Liesels Pflegemutter an jenem ersten Abend, als das Mädchen sich weigerte, ein Bad zu nehmen. »Du dreckiges Schwein! Warum willst du dich nicht ausziehen?« Zu wüten war eine ihrer großen Stärken. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Rosa Hubermanns Gesicht permanent mit Wut bekleidet war. So waren die Knitter und Falten in ihrer Pappkartonhaut entstanden.

Liesel ihrerseits war in Angst gebadet. Auf keinen Fall würde sie in die Wanne steigen und erst recht nicht in ein Bett. Sie hatte sich in eine Ecke des wandschrankengen Badezimmers geklemmt und tastete nach nicht vorhandenen Armen an der Wand, an denen sie sich festhalten konnte. Aber da war nichts außer der Wandfarbe, gepressten Atemzügen und der Sintflut aus Rosas Beschimpfungen.

»Lass sie in Ruhe.« Hans Hubermann betrat die Szene. Seine sanfte Stimme bahnte sich den Weg hinein, als ob sie durch eine Menschenmenge schlüpfte. »Überlass sie mir.«

Er kam näher und setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Die Kacheln waren kalt und unfreundlich.

»Weißt du, wie man Zigaretten dreht?«, fragte er sie, und in der nächsten Stunde saßen sie in dem aufsteigenden Teich aus Dunkelheit, spielten mit Tabak und Zigarettenpapierchen. Hans Hubermann rauchte ihre selbst gedrehten Zigaretten.

Als die Stunde vorbei war, konnte Liesel eine halbwegs anständige Zigarette drehen. Ein Bad nahm sie noch immer nicht.

 

 

EIN PAAR WORTE ÜBER
HANS HUBERMANN

 

Er rauchte gern.
Was er am Rauchen am meisten mochte,
war das Drehen der Zigaretten.
Er war Anstreicher von Beruf, und er spielte Akkordeon.
Das war ganz nützlich, besonders im Winter, wenn er ein
bisschen Geld verdienen konnte, indem er in den Kneipen
von Molching spielte, im »Knoller« beispielsweise.
Er war mir bereits in einem Weltkrieg aus dem Weg
gegangen, sollte aber später in einen zweiten geschickt
werden (als eine perverse Art von Belohnung), wo er es
irgendwie schaffte, sich mir ein weiteres Mal zu entziehen.

 

Für die meisten Menschen war Hans Hubermann kaum sichtbar. Ein un-besonderer Mensch. Seine Fähigkeiten als Anstreicher waren zweifellos exzellent. Sein Können als Musiker war überdurchschnittlich. Und doch war er irgendwie in der Lage – und ich bin mir sicher, dass auch euch schon solche Menschen begegnet sind –, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, selbst wenn er in vorderster Reihe stand. Er war immer nur da. Nicht auffällig. Nicht wichtig oder besonders wertvoll.

Das Gute an diesem Eindruck war, dass er täuschte. Denn Hans Hubermann war wertvoll, und Liesel Meminger erkannte dies. (Das Menschenkind – manchmal viel schlauer als der unfassbar schwerfällige Erwachsene.) Sie bemerkte es sofort.

Seine Haltung.

Die Ruhe, die ihn umgab.

Als er an jenem Abend das Licht in dem kleinen, lieblos wirkenden Badezimmer einschaltete, betrachtete Liesel die außergewöhnlichen Augen ihres Pflegevaters. Sie waren aus Freundlichkeit gemacht und aus Silber. Weiches Silber, schmelzend. Liesel sah diese Augen und begriff, dass Hans Hubermann sogar eine ganze Menge wert war.

 

 

EIN PAAR WORTE ÜBER
ROSA HUBERMANN

 

Sie war 1,55 Meter groß und trug die braungrauen Strähnen
ihres elastischen Haars zu einem Knoten am Hinterkopf
zusammengefasst. Um die Haushaltskasse aufzubessern,
wusch und bügelte sie die Wäsche für fünf der
wohlhabenderen Familien in Molching.
Ihr Essen schmeckte scheußlich.
Sie besaß das unglaubliche Talent, fast jeden,
den sie traf, vor den Kopf zu stoßen.
Aber sie liebte Liesel Meminger.
Sie hatte nur einfach eine merkwürdige Art,
diese Liebe zu zeigen.
Ihre Art bestand darin, sie regelmäßig mit dem Kochlöffel
und mit Beschimpfungen zu malträtieren.

 

Als Liesel endlich ein Bad nahm – zwei Wochen nachdem sie in der Himmelstraße eingetroffen war –, nahm Rosa sie in die Arme und drückte sie so heftig, dass ihr die Knochen knackten. Während sie das Mädchen fast erstickte, sagte sie: »Saumensch, du dreckiges – das wurde aber auch Zeit!«

 

Ein paar Monate später waren sie nicht mehr Herr und Frau Hubermann. Mit der ihr eigenen Art warf Rosa Hubermann Liesel eines Tages eine Faustvoll Worte entgegen: »Jetzt hör mal zu, Liesel, von heute an nennst du mich Mama.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Wie hast du deine richtige Mutter genannt? «

Leise sagte Liesel: »Auch Mama.«

»Na, dann bin ich jetzt Mama Nummer zwei.« Sie warf ihrem Ehemann einen Blick zu. »Und den da drüben.« Sie schien die Worte in ihrer Hand zu sammeln, sie zu einem Teig zu kneten und sie über den Tisch zu feuern. »Den Saukerl da, den nennst du Papa, verstanden?«

»Ja«, nickte Liesel schnell. Schnelle Antworten wurden in diesem Haus geschätzt.

»Ja, Mama«, korrigierte Mama sie. »Saumensch! Nenn mich Mama, wenn du mit mir redest!«

In diesem Moment war Hans Hubermann mit dem Drehen seiner Zigarette fertig geworden, hatte das Papier abgeleckt und sie zwischen seinen Fingern glatt gerollt. Er schaute zu Liesel hinüber und zwinkerte ihr zu. Sie hatte keine Vorbehalte, ihn Papa zu nennen.