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Das Buch

Am 23. August 2006 endete eine der spektakulärsten Entführungen in der jüngeren Geschichte: Natascha Kampusch gelang die Flucht aus dem Kellerverlies, in dem sie über acht Jahre eingesperrt war. Darüber hat sie ein viel beachtetes Buch geschrieben. Zehn Jahre nach der Selbstbefreiung gewährt sie Einblick in ihr Leben nach der Flucht. Sie erzählt von ihren Erfahrungen, bitteren und schönen, von ihren Träumen und Alpträumen, von ihrem Alltag, ihrem sozialen Einsatz für Projekte (unter anderem in Sri Lanka) und ihrem Engagement für traumatisierte Jugendliche. In der Hoffnung, dadurch auch das eigene Trauma zu überwinden.

Die Autorin

Natascha Kampusch, Jahrgang 1988, war zehn Jahre alt, als sie auf dem Schulweg entführt wurde. Erst nach über acht Jahren gelang ihr die Flucht. Seitdem versucht sie, ihr Leben in Freiheit zu meistern. Seit einigen Jahren engagiert sie sich für traumatisierte Jugendliche.

2010 erzählte Natascha Kampusch die Geschichte ihrer Entführung in dem Bestseller 3096 Tage. Er war die Grundlage für den gleichnamigen Film, der 2013 in die Kinos kam.

Heike Gronemeier arbeitete zehn Jahre als Lektorin bei verschiedenen Verlagen. 2009 gründete sie die Agentur »text & bild« in München und ist seitdem als Lektorin und Co-Autorin freiberuflich tätig.

NATASCHA

KAMPUSCH

mit Heike Gronemeier

10 Jahre Freiheit

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List

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ISBN 978-3-8437-1261-3

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: © Kristof Gyselinck

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Gewidmet all jenen tapferen Frauen, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen, in der Hoffnung auf ein freies, selbstbestimmtes Leben.

Gewidmet all jenen, die es geschafft haben, einen Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation zu finden.

Ich widme dieses Buch auch all jenen Menschen, die in ihrer Kindheit schrecklicher Gewalt und Missbrauch ausgesetzt waren und die nie Hilfe von außen erhalten haben. Ich hoffe, dass sie eines Tages in der Lage sein werden, ihren Schmerz zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Geben Sie sich nicht auf, so endlos lang der Weg, der vor Ihnen liegt, auch scheinen mag. Vor allem die vergangenen zehn Jahre haben mir gezeigt, dass die Freiheit in unserer Seele beginnt und sich langsam von innen nach außen arbeitet.

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog

Zwischen »Kaspar Hauser« und »Weltsensation«
Die ersten Wochen meines neuen Lebens

»Frau Kampusch, wie geht’s Ihnen?«
Das Interview

Annäherung unter dem Brennglas der Öffentlichkeit
Meine Eltern, die Medien und ich

»Geh doch mal tanzen!«
Das Ringen um Normalität

Ausgebremst
Die schwierige Suche nach einer Aufgabe

3096 Tage
Aus meinem Buch wird ein Film

»Vielleicht sprenge ich es eines Tages in die Luft«
Das Haus in Strasshof

»Eine Frage des Anstands«
Mein Engagement in Sri Lanka

In der Endlosschleife
»Natascha-Gate«

Epilog

Anhang

Dank

Anmerkungen

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Prolog

Glaube an dich du bist etwas wert. Tröste dich es wird alles wieder gut. Sei stark.

Halte durch du wirst es schaffen. Du wirst belohnt werden. Nur Mut. Es gibt immer Hoffnung.

Gib nie auf! Vertraue auf dich!! Vertraue auf die Zukunft. Alles wird gut werden. Glück auf!

Wenn du dir etwas vornimmst, und daran arbeitest wirst du dein gestecktes Ziel erreichen. Nichts kann dich umbringen. Sei Tapfer. Alles waß du dir von anderen antun läst, sollte nicht dein Proplem sein, befreie dich.

Fleiß zahlt sich aus. Du bekommst letztendlich immer was du willst. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.

Die Wege ans Ziel mögen schwer sein, aber, mit jedem schritt wird es dir leichter fallen!

Du stecks alles weg wenn es sein muss. Wenn er dich zerfäzt oder gemein anders ist, es ist nicht dein Proplem, sondern das seine!

Diese Zeilen (mit all ihren Rechtschreib- und Interpunktionsfehlern) habe ich während meiner Gefangenschaft mit verschiedenfarbigen Buntstiften auf die Rückseite eines Wandkalenders geschrieben. Manche Sätze, die mir besonders wichtig waren, habe ich zusätzlich eingekringelt. Meine Schrift war etwas ungelenk, es war nicht viel Platz auf dem Blatt, so dass ein Satz in den anderen, eine Zeile in die andere überging. So wie alles in diesem winzigen Raum ineinander überging. Tage und Nächte, Minuten und Stunden, Licht und Dunkelheit. Träume und Realität, angespannte Wachheit und unruhiger Schlaf. Ein Leben, verdichtet auf wenige Quadratmeter, umgeben von dicken, massiven Mauern. Unauffindbar, vielleicht längst vergessen und aufgegeben, wie der Täter mir immer wieder einredete.

Als ich diese Zeilen schrieb, war ich zehn oder elf Jahre alt, genau weiß ich es nicht mehr. Ich war überzeugt davon, dass diese Zeilen, diese Sätze, die mir Mut machen sollten, nur hier unten in diesem Verlies von Bedeutung sein würden. Dass sie mir über die Jahre meiner Gefangenschaft hinweghelfen würden, wie lange sie auch dauern mochte. Mir bei der Abgrenzung vom Täter und seiner Tat dienlich sein würden, was immer er mir auch antun würde. Ich habe damals definitiv nicht damit gerechnet, dass diese Sätze auch über den Tag meiner Gefangenschaft hinaus von Bedeutung sein würden.

Die über einen halben Meter dicken Mauern aus Schutt, Beton und Metall wurden nach meiner Selbstbefreiung ersetzt durch andere Mauern. Auf den ersten Blick durch sehr viel durchsichtigere, scheinbar leichter zu durchdringende. Doch diese Mauern konnte ich bis heute nicht ganz überwinden. Auch weil immer wieder neue dazukommen. Wie wallartige Ringe, die meiner neuen Freiheit, in die ich so viele Hoffnungen gesetzt habe und die ich mir während meiner Gefangenschaft so unendlich gut und schön ausgemalt habe, ein ums andere Mal Grenzen setzen. Grenzen, gegen die ich anrennen konnte, so viel ich wollte, ohne dass sie nachgaben. Grenzen, die so willkürlich erscheinen, dass ich kein Mittel habe, sie zu überwinden. Das Anrennen dagegen hat mich immer wieder in meiner Entwicklung, in meinem Versuch, mich mit dem Leben – meinem Leben – zu versöhnen, zurückgeworfen.

Viele dieser Ringe kamen von außen. Errichtet durch das öffentliche Interesse, das irgendwann keine Schranken mehr kannte. Es war sehr viel Empathie dabei und ehrliches Mitgefühl, aber auch mangelndes Gespür und Sensibilität für Ethik und Moral und die Bedürfnisse eines Opfers, das ich war, auch wenn ich es nie hatte sein wollen. Die anfängliche Anteilnahme vermischte sich mit Forderungen und Erwartungen, eigentlich klare Fakten traten hinter Spekulationen und kruden Theorien zurück. Viele, die mit diesem Verbrechen zu tun hatten oder nach meiner Selbstbefreiung damit befasst waren, sahen nicht die Menschen dahinter, sondern die Chance, bekannt zu werden, und sei es nur für die Halbwertszeit eines einzigen Interviews.

Es gibt, was das angeht, viele Opfer der Tat, unmittelbar wie mittelbar. Meine Eltern und meine Familie zählen dazu. Ich weiß, dass sie in den achteinhalb Jahren meiner Gefangenschaft mehrmals durch die Hölle gingen, zerfleischt von Selbstvorwürfen und dem Unvermögen, etwas gegen die Situation unternehmen zu können. Angeklagt und bezichtigt, misstrauisch beäugt, schwankend zwischen Hoffnung und Resignation und willfährige Opfer der Medien im Ringen um die ultimative »Inside-Story«. Meine Klassenkameraden, die in ihrem Schock die Schuld bei sich suchten und Angst davor hatten, dass ein ähnliches Schicksal ihnen selbst drohen könnte. Die vielen Ermittler und Einsatzkräfte, der Druck, Ergebnisse bringen zu müssen trotz weniger Anhaltspunkte. Versagensängste, tatsächliche Fehler, immer neue Theorien über mein Verschwinden oder meine Zeit in Gefangenschaft, all das war eine Melange, deren Nachgeschmack bis heute sehr bitter ist.

Ich selbst bin eine öffentliche Person geworden, nicht weil ich das immer schon gewollt hätte, sondern weil im »Fall Kampusch« nie Ruhe einkehrte. Verschwörungstheoretiker, Journalisten, tatsächliche oder selbsternannte Ermittler, Politik und Justiz – alle kochten ihr eigenes Süppchen, missbrauchten mich für Zwecke, über die ich keine Kontrolle hatte und deren zugrundeliegende Motive oft erst im Nachhinein sichtbar wurden. Aufklärung und ein Handeln im Interesse des Opfers waren manchmal tatsächlich nur ein Deckmäntelchen.

Ich wurde beschuldigt, die Entführung selbst geplant zu haben, mögliche Mittäter zu decken, zu lügen, in Selbstmitleid zu versinken und beständig Profit aus einer Geschichte zu schlagen, die sich so, wie ich sie immer wieder geschildert habe, nicht zugetragen haben konnte. Schließlich würde so kein Opfer aussehen, das ein jahrelanges Martyrium hinter sich hat.

Ich hatte lange genug Zeit, mich auf den Tag X vorzubereiten, auch wenn dann vieles anders gekommen ist und mich in seiner ganzen Wucht überrollt hat. Ich habe nicht auf einen fremden Retter oder ein Wunder gehofft, sondern mich, als ich innerlich bereit dazu war und sich eine Gelegenheit ergeben hat, selbst befreit. Ich habe die Kontrolle behalten und mich nicht meinem Schicksal ergeben. Ich habe während der achteinhalb Jahre meiner Gefangenschaft in Teilen die Rolle gespielt, die der Täter mir zugedacht hatte. Aber ich habe sie nie als meine Lebensrolle angenommen. Ich habe meine innere Identität nie aufgegeben, meinen Willen nicht brechen lassen. Wäre das passiert, hätte ich diese Zeit wahrscheinlich nicht überlebt.

Die Stärke, die dazu geführt hat, dass ich mich an eine surreale Situation anpassen konnte, wurde nun, nach meiner Selbstbefreiung, zu einem Makel. Zu einem vermeintlichen Beleg dafür, dass es so schlimm ja nicht gewesen sein konnte. Anstatt sich mit mir zu freuen, dass ich diese langen Jahre einigermaßen überstanden hatte, ging es nun darum, mich zu demontieren. Die Stimmung über das »Wunder von Strasshof« schlug um in Neid, Missgunst und teils unverhohlenen Hass, der mir vor allem aus der schützenden Anonymität des Internets entgegenschlug. Eine Form des Hasses, die ich bis heute nicht ganz verstehen kann.

Es ging so weit, dass ich mich für ein Verbrechen, das an mir verübt wurde, zu rechtfertigen hatte. Weil der Täter nicht mehr greifbar war, gab es keinen Fall Priklopil. Sondern nur noch den Fall Kampusch. Ich musste für die Verunsicherung, die diese Tat in der Gesellschaft ausgelöst hat, in gewisser Weise büßen. Eine kriminelle Tat eines einzelnen Mannes brachte zum Vorschein, wie dünn der Lack der Zivilisation ist, der unsere Gesellschaft überzieht. Wir sind die Guten. Das Böse lauert im Abgrund, es muss eine böse Fratze haben, offensichtlich sein. Das ist es aber eben nicht. Letztlich ist das nicht mehr als eine große Selbsttäuschung. Indem man Tätern, wie das auch bei Josef Fritzl geschehen ist, Etiketten wie »Monster« oder »Bestie« anheftet und sie somit vom Normalen in eine »übermenschlich-grauenvolle« Dimension hebt, erhofft man sich vielleicht eine Art Absolution. Mit so etwas habe man nicht rechnen können, das sprenge ja jede Vorstellungskraft. Das ist sicher richtig. Aber ist es nicht auch so, dass »die Gesellschaft« – ohne dass ich das jetzt verallgemeinern möchte – immer wieder auch wegguckt und sich wegduckt und damit den Dingen ihren Lauf lässt, weil sie es nicht erträgt, dass das Böse eben auch in der Nachbarschaft, in der Familie, mitten unter uns ist?

Genau das führt zu jener großen Verunsicherung, genau das kann man nicht ertragen und wähnt mindestens eine große Verschwörung dahinter. Die Tat eines Einzelnen, der doch eigentlich ein ganz Netter war, bürgerlich, ordentlich gemähter Rasen, vielleicht ein »Mama-Bub«, aber immer freundlich – das kann nicht sein, das darf nicht sein. Es muss viel monströser sein, mehr hineininterpretiert werden, damit man es erträgt.

Ich musste beides ertragen. Die Gefangenschaft und die stellvertretende »Inhaftnahme« danach. Mir kam es manchmal vor, als ob Kinder versuchten, einen seltsamen Käfer zu retten. Sich darum streiten, wer ihn halten darf, und ihn zum Schluss im Übereifer zerquetschen. Ich musste so vielen Bildern entsprechen, so vielen Rollen, die mir mit einem Mal zugedacht waren, dass ich mich manchmal fragte, wer ich eigentlich bin. Die meisten Menschen haben ein ganz eigenes Bild von mir als Person entwickelt. Nichts ist so befremdlich, wie sich selbst gegenübergestellt zu werden. Das ist in der Innenschau in den eigenen vier Wänden so, aber das ist um ein Vielfaches schwerer, wenn es über die Plattform der Öffentlichkeit geschieht. Jeder Journalist, jede Person auf der Straße wusste subjektiv besser über mich und meine Lebensgeschichte Bescheid als ich selbst. Über das, was ich dachte, was ich brauchte, was ich fühlte, wie ich zu sein hatte. Es war manchmal so, als könnte ich Natascha Kampusch nicht das Wasser reichen. Ich war nicht die zur Heiligen stilisierte Ikone, der Jungfrau Maria gleich, zu der ich aufgrund eines Fotos, das begleitend zu meinen ersten Interviews veröffentlicht wurde, hochgeschrieben wurde. Ich war nicht die Außerirdische oder der Engel, der gesandt wurde, um eine neue Kirche der Erleuchteten zu gründen. Ich war nicht die Blaupause für Menschen, die selbst Traumatisches erlebt hatten und die hofften, ich könnte eine Lösung für ihre Situation bereithalten. Ich war auch nicht die Hure, das Stück Dreck, das man noch ein Stück tiefer in den Schlamm treten musste, damit es endlich begreift, was Dreck fressen wirklich bedeutet. Nicht die Vorlage für krude Phantasien über den richtigen Umgang mit Mädchen und Frauen, nicht das Objekt für weitere Erniedrigungen und Demütigungen. Das hatte ich, weiß Gott, lange genug gehabt.

Ich war vor einem Feind geflohen und hatte mit einem Mal zig Feinde, in manchen Internetforen sogar Tausende Feinde. Ohne dass ich einen von ihnen gekannt oder irgendeinen Bezug zu ihm oder zu ihr gehabt hätte. Vor allem aber war ich nicht darauf vorbereitet, dem »Draußen« so schutzlos ausgeliefert zu sein. Denn dieses »Draußen« hatte so viele Facetten, dass ich darauf nicht vorbereitet sein konnte. Im Verlies hatte ich irgendwann gelernt, welches Verhalten welche Reaktion und Strafe nach sich ziehen würde. Der Täter ging auf eine Art tatsächlich sehr durchschaubar vor. Er wusste, welche Knöpfe er drücken musste, um mich zu treffen, ich wusste es umgekehrt nach einigen Jahren auch.

Strom abschalten, Licht abdrehen, Batterien für den Walkman wegnehmen, Nahrungsentzug. Schläge und andere Misshandlungen. Die Weigerung, ihn »Gebieter« zu nennen. Die Macht, schlampig zu putzen und ein Haar zu hinterlassen oder Fingerabdrücke, die ihm zum Verhängnis werden konnten. Die ständige Furcht, vor allem später, als ich mit ihm an der Billa-Kasse stand oder an der eines Baumarkts, dass alles auffliegen und man auf mich aufmerksam werden könnte. Es waren wenige Fäden, die ich während meiner Gefangenschaft in der Hand hatte, und es hat sehr lange gedauert, bis mir bewusst war, dass es diese Fäden gab und ich manchmal auch an ihnen ziehen konnte.

Draußen, in der Welt der Guten, hatte ich kaum eine Chance. Da ging es nicht um holzschnittartiges Reagieren, um Tat, Verfehlung und Strafe oder Belohnung. Da ging es um vielfältige Interessen, um sehr viel subtilere Formen von Strafe und Belohnung. Das ständige Schwelen der »Causa Kampusch«, die rein von der Aufklärung des eigentlichen Verbrechens her gesehen längst keine mehr war, hat mir sehr zugesetzt. Die immer haarsträubenderen Gerüchte haben dazu geführt, dass ich nicht zur Ruhe kam. Anfangs war ich empört. Dann wütend. Dann nur noch traurig. Ich habe mich mit der Frage gequält, was es ist, dass ich so abgelehnt werde, dass ich als jemand gebrandmarkt werde, dem man auf eine Art beinahe mehr Untaten zutraut wie dem Täter. Das Schlimmste, was man unterstellen konnte, war gerade gut genug. Ich habe nicht verstanden, warum sich die Grenzen so dermaßen verwischen konnten. Vielleicht, weil ich einigen Menschen oder Teilen der Gesellschaft unbewusst einen Spiegel vorgehalten habe. Der Blick hinein hat Angst gemacht. Angst vor Abgründen, vor Verdrängung, aber auch vor dem Zulassen von Stärke und Schwäche.

Ich habe wirklich geglaubt, mit meiner Selbstbefreiung würde das beginnen, was ich in einem Interview einmal als mein »drittes Leben« bezeichnet habe. Ein völlig neuer Abschnitt, ein Neubeginn, voller Energie und Chancen. Ich habe unterschätzt, auf welche Weise und über welch langen Zeitraum ich von außen dazu gezwungen werden würde, der dunklen Vergangenheit immer wieder Platz in meinem Leben einzuräumen. Es gab Phasen, da war ich tatsächlich überzeugt, ich könnte die Vergangenheit abstreifen wie einen Handschuh. Ohne immer wieder mit dem Zugang zu der einengenden Existenz davor konfrontiert zu werden. Als hätte ich mein Gedächtnis verloren und würde jetzt ein vollkommen neues Leben führen.

Der sinnbildliche Handschuh war einer, der mit der Zeit den Status eines Fehdehandschuhs bekam. Ich selbst weiß gut genug, dass ich nicht mein Gedächtnis verloren habe und mich dieser Handschuh mit seinen dunklen Fingern immer wieder daran erinnern wird, dass ich eine Geschichte habe, die ich mir nicht ausgesucht habe, die mich aber mein Leben lang begleiten wird. Das weiß ich, und darauf bin ich vorbereitet, und damit werde ich klarkommen, irgendwie, mal besser, mal schlechter. Dass mir andere ihren ganz eigenen Handschuh vor die Füße werfen, damit habe ich nicht gerechnet. Und die Motive schmerzen mich manchmal mehr als manche Misshandlungen des Täters. Die waren wenigstens offensichtlich.

Ich habe vollkommen unterschätzt, wie viel Kraft es mich kosten würde, etwas abzuschließen, was offenbar nicht abgeschlossen werden darf oder nicht abgeschlossen werden kann. Immer wenn ich denke, ich kann es schaffen, ich bin auf einem guten Weg, belehrt mich »die Welt« eines Besseren. Manchmal ist es meine innere Welt, die Erinnerung, die mich daran hindert, mich von der Vergangenheit zu lösen. Oft genug ist es die äußere, die offenbar ein Interesse daran hat, mich daran zu hindern, mein eigenes Leben zu führen. Indem sie mich in eine Zelle sperrt, in die ich lange Jahre de facto gesteckt worden bin. Aber aus der ich mich offenbar nicht befreien darf.

Denn genauso, wie der Täter überhöht werden musste, damit die Tat erträglicher wurde, muss das Opfer eine Rolle erfüllen. Entweder gebrochen bis zum Ende seines Lebens oder mit einem Erwartungsdruck belegt, an dem es nur scheitern kann. Ich weiß nicht, ob ein Außenstehender sagen würde, ich sei gescheitert. Weil ich zwar meinen Hauptschulabschluss nachgeholt, aber noch keine Ausbildung abgeschlossen habe zum Beispiel. Ich weiß nicht, ob ich in Zukunft als gescheitert gelten werde. Es kommt immer darauf an, nach welchen Maßstäben man »Scheitern« bemisst. Für mich ist es schon ein Sieg, dass ich noch lebe. Dass ich in der Lage bin, all das auszuhalten, mit dem ich von außen – auch und gerade in den letzten zehn Jahren – konfrontiert wurde. Dass ich weitgehend unabhängig und selbständig leben kann.

Ich lebe zwischen den beiden Polen aus der Stärke der Überlebenden und der Schwäche des Opfers. Es braucht vielleicht einen zweiten Blick, um das zu erkennen. Das, was man mir oft als Arroganz oder Hochmütigkeit ausgelegt hat, war in vielen Fällen nichts anderes als Rückzug, als ein Zeichen von Unsicherheit. Ein Schutzpanzer, den ich schon während meiner Kindheit langsam aufgebaut habe und in der Gefangenschaft vervollständigen musste. Ich habe unterschätzt, wie wichtig er auch in Freiheit sein würde. Worte können sehr verletzend sein. Ebenso können bestimmte Mechanismen der Gesellschaft schmerzhafte Wunden schlagen. Ich habe auf teils sehr bittere Weise Zusammenhänge erkennen müssen, an denen viele ihr Leben lang blind vorübergehen, ohne sie wahrnehmen zu müssen. Es gibt Tage, an denen ich wünschte, genau das wäre mir erspart geblieben. Und während ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, dass es solche Sätze sind, die mir von manchen wieder ausgelegt werden als pures Selbstmitleid. Die in Blogs Kommentare nach sich ziehen wie »Dann geh doch zurück in den Keller«. Dass es heißen wird, jetzt schreibt sie noch ein Buch, »mach di net immer so wichtig, dei Gfries halt eh scho koana mehr aus«.

Ich bin darauf vorbereitet. Den Glauben an das Gute im Menschen werde ich trotzdem nicht verlieren. Und auch nicht den Mut, wenn man das Mut nennen will, Dinge anzusprechen, die ich für wichtig halte.

In einem Interview drei Jahre nach meiner Selbstbefreiung habe ich einmal gesagt, ich würde mich fühlen wie eine entwurzelte Orchidee, eine Pflanze, die irgendwohin geschwemmt wird, kurzfristig Wurzeln fasst und dann weitertreibt. Die dort eingepflanzt wird, wo andere sie gern sehen oder haben würden. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch ein Stück weit dazu beiträgt, Verständnis zu schaffen für mein Bedürfnis, dort zu wachsen und zu gedeihen, wo und wie ich das möchte. Dass es auch dazu beiträgt zu versöhnen, indem man einen zweiten Blick wagt, einen Blick dahinter. Und ich möchte einen Schlusspunkt setzen, hinter eine Geschichte, in der irgendwann alle nur noch Getriebene waren.

Ich möchte weiter auf mich und die Zukunft vertrauen. Ich habe nur dieses eine Leben, und ich möchte es nutzen. Auch wenn der Weg in dieses Leben, in meine Zukunft schwer sein mag, fällt es mir doch mit jedem Schritt leichter. Jeder Tag in Freiheit ist ein Geschenk, dem ich versuche, mit Freude und Dankbarkeit zu begegnen. Aber auch mit Mut und Tatendrang.

Nelson Mandela hat einmal gesagt: »Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert.« Meine eigenen Fesseln muss ich selbst lösen – wie jeder andere auch …