Inhaltsverzeichnis
1
Damals, ganz zu Anfang, fand ich sie sympathisch.
Wirklich.
Ich fand sie richtig nett, wie sie da stand mit ihren langen, dunklen Locken und ihrem schüchternen Grinsen.
Ich bin genauso auf sie reingefallen wie alle anderen.
Angefangen hatte es damit, dass meine Mutter ein paar Wochen vorher verkündet hatte: »Ich finde, ich könnte jetzt wieder arbeiten. Ich war neulich in der Bibliothek und hab nachgefragt, und die sind ganz begeistert, weil ich ja durch meine Beurlaubung eine Stelle blockiere und sie also zu wenig Leute haben.«
Wir saßen beim Abendbrot und jeder reagierte anders.
Ich zuckte die Achseln und dachte: Wird auch langsam Zeit.
Immerhin sind die Zwillinge schon sieben und gehen in die Schule. Immerhin hat sie das mal studiert und sie liebt ihren Beruf – also soll sie auch wieder arbeiten dürfen.
Mein Vater lugte über seine Halbmondbrille und kniff die Lippen zusammen. Dann entspannte er sich wieder und fragte: »Und wie willst du alles unter einen Hut kriegen?«
Daniel angelte sich die letzte Salamischeibe vom Wurstbrett und kicherte. »Frag lieber, wie wir das alles unter einen Hut bringen sollen. Schließlich sind wir eine wahnsinnig emanzipierte Familie.«
Rina glotzte traumverloren in die Luft – die hatte mal wieder nichts mitgekriegt, sie lebt immer in irgendeiner Fantasiegeschichte. Vielleicht in dem Märchen von Hänsel und Gretel, jedenfalls irgendwas, wo arme Kinderchen in die böse große Welt geschubst werden.
Dafür hatte Tina genau zugehört und legte sofort den Finger auf die wundeste Stelle von Mamas Plan: »Und wer passt auf uns auf? Daniel ist immer weg und Alex ist zu streng.«
Ich grinste in mich rein. Es zahlte sich also aus, wenn man sich nicht immer auf der Nase herumtanzen ließ. Somit schied ich als Babysitter schon mal aus, das war mir sehr recht. Ich liebe die Zwillinge zwar heiß und innig, aber ich hatte keine Lust auf den Job als Dauerunterhalterin.
Meine Mutter räusperte sich. »Ihr könntet nach den Sommerferien Hortplätze kriegen. Da bekommt ihr nach der Schule ein leckeres Essen, und danach könnt ihr spielen, bis der Hort zu Ende ist.«
»Und wann ist das?«, fragte Tina.
»Äh … ich glaube, er schließt um fünf.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, polterte Papa los. »Du willst doch deine Kinder nicht bis fünf bei fremden Leuten lassen und …«
»Unsere Kinder!«, unterbrach Mama ihn ziemlich scharf. »Außerdem hast du ja gar keine Ahnung, was hier nachmittags los ist. Du redest doch wie der Blinde von der Farbe!«
»Also … wie kannst du …« Papa plusterte sich auf, aber noch bevor er richtig loslegen konnte, sagte Daniel: »Mama hat recht, Papa. Die Zwillinge sind eh nachmittags immer bei ihren Freundinnen, oder die Freundinnen sind hier. Da können doch alle auch gleich in den Hort gehen.«
»Ich will aber in keinen Hort!«, jaulte auf einmal Rina los. Anscheinend hatte sie doch was von der Unterhaltung mitgekriegt. »Hort ist blöd.«
»Ach ja?«, erkundigte ich mich. »Und wer sagt das?«
»Nicki.«
»Und in welchen Hort geht Nicki?«
»In keinen.« Rina merkte zu spät, dass sie gerade ein Eigentor geschossen hatte. »Äh, der hat aber mal …«
Ich winkte ab. »Hörensagen zählt nicht. Ich finde, Mama sollte wieder arbeiten, wenn ihr das denn Spaß macht.«
Mama grinste. »Danke für die Schützenhilfe, Alex, aber ich hab das schon lange mit Papa geklärt. Das eben war bloß ein Schaukämpfchen.« Sie kicherte.
»Heißt das, dass wir ganz bestimmt in den Hort müssen?« Tina, die sonst immer eine große Klappe hat, klang auf einmal ganz ängstlich.
Meine Mutter beugte sich zu ihr runter und streichelte ihr über die Wange. »Nein, Tinchen, das heißt es nicht. Hort ist nur eine Möglichkeit, und zwar frühestens ab Ende der Sommerferien. Von März bis zu den Sommerferien will ich ein Au-pair-Mädchen einstellen.«
»Und was ist Au-pair?«, fragte Rina. So wie sie das aussprach, hörte es sich kein bisschen französisch an, eher wie »Ohpeer«.
»Das sind junge Dinger, die Deutsch lernen wollen und für Kost und Logis in der Familie helfen«, leierte Daniel.
»Was ist Logis?« Tina ist vielleicht der frechere Zwilling, aber Rina ist mit Sicherheit der nervigere. Fragen, fragen und nochmals fragen.
»Logis heißt Unterbringung«, brummte Papa. »Ein Zimmer, ein Bett und ein Bad.«
»Und wo soll sie wohnen?«, fragte ich. Mir schwante plötzlich Schlimmes. Denn seitdem ich vor drei Jahren in das Kellerzimmer gezogen bin, hab ich auch ein eigenes Bad, und das ist toll, weil mich jetzt morgens keiner mehr raustrommelt, wenn ich angeblich zu lange brauche. Leider ist das Gästezimmer auch im Keller. Obwohl es eigentlich nicht Keller heißt, sondern Souterrain, das ist in Bremen so eine Art Halbkeller, vorn bei der Tür geht’s ein paar Stufen runter und hinten zu ebener Erde raus in den Garten.
Oder wie in unserem Fall in einen kleinen Hinterhof.
Meine Mutter wich meinem Blick aus.
Aha, dachte ich. Mist.
»Na ja, ich hab ans Gästezimmer gedacht. Dann könnte sie auch dein Bad mitbenutzen.« Mama verzog den Mund, als wollte sie mich um Entschuldigung bitten. »Es erscheint uns als die beste Lösung. Oder hättest du eine bessere Idee?«
Ich überlegte blitzschnell. Vielleicht könnte Daniel runterziehen? Der blockiert das Bad zwar auch manchmal, wenn er eins von seinen stinkenden chemischen Experimenten macht, aber morgens ist er immer rasend schnell mit seinen Reinigungsritualen fertig. (Verdächtig schnell, wenn man mich fragt.)
Daniel wohnt oben unterm Dach neben dem Zwillingszimmer. Dort oben gibt es nur eine Toilette mit Waschbecken und Dusche, aber das reicht ja.
Ich holte tief Luft.
»Vergiss es, Alex«, sagte Daniel schnell. »Ich will mit meinem Krempel nicht runterziehen, ich fühl mich wohl da oben.«
»Och, Daniel – und was, wenn ich dafür hundertmal den Tisch abräume?« Ich klimperte mit den Lidern und versuchte, ihn so lieb wie möglich anzupeilen.
Er winkte ab. »Hör auf, du siehst aus wie eine Kuh auf Droge. Nee, ich bleib oben.«
Mein Vater seufzte. »Außerdem müsste dieses Au-pair dann ja immer an unserem Schlafzimmer vorbei – nein, das fände ich nicht so gut. Man braucht schließlich noch ein bisschen Privatleben.«
»Mann mit zwei n, hm?«, fragte ich kniebig. »Mein Privatleben ist euch wohl wurschtegal!«
Mama hob die Hände. »Sieh mal, das dauert doch allerhöchstens ein Jahr. Dann sind die Zwillinge vielleicht ganz wild auf den Hort. Und für den Haushalt genügt uns Sina.«
Sina ist unsere Putzhilfe, die für ein halbes Jahr ausgestiegen ist, weil sie ihre Mutter pflegt, bis die ihren Heimplatz antreten kann oder wie man das nennt, wenn ein pflegebedürftiger alter Mensch ins Heim soll.
Ich stöhnte. »Bleibt also alles an mir hängen, na toll.«
»Was heißt: an dir?«, bölkte Papa. »Ich muss schließlich für alles bezahlen.«
»Irrtum, mein Schatz«, sagte Mama und lächelte ihr quietschsüßes Gummibärchen-Lächeln. »Ich verdien ja bald auch was.«
Papa schmierte so heftig auf seiner Brotscheibe herum, dass er schon ein Loch hineingebohrt hatte.
»Meine liebe Sabine, daran merkt man mal wieder, wie wenig du vom knallharten Leben weißt. Dein tolles Gehalt bringt uns in eine derart teure Steuerklasse, dass wir froh sein können, wenn wir am Ende nicht mit weniger Kohle dastehen als jetzt.«
Meine Mutter tippte sich an die Stirn. »Du spinnst ja. Klar verdien ich kein Managergehalt, aber ein bisschen wird schon übrig bleiben, jedenfalls genug für den Hort und das Au-pair-Mädchen.«
Papa biss von seiner Stulle ab und redete dann mit vollem Mund weiter. Daran konnte man erkennen, dass er echt genervt war, denn wenn wir das machen, regt er sich immer schrecklich auf: »Das berden bir ja sehen. Außerdem hast du – sobeit ich beiß – bisher noch gar kein Au-pair-Mädchen gefunden!«
»Können wir mit aussuchen?«, fragte Tina.
»Das fehlte noch«, stöhnte Mama. »Darum kümmere ich mich ganz allein, aber ich werde eine Nette finden, das versprech ich euch. Und wenn ihr jetzt mit Essen fertig seid, ab ins Bad, Alexandra und Daniel räumen ab. Papa und ich haben noch einiges zu bereden.«
Der Rest der Mahlzeit verlief ziemlich schweigsam, weil offensichtlich alle was hatten, worüber sie nachdenken mussten.
Nachdem die anderen verschwunden waren, machten Daniel und ich uns an die Arbeit, er brachte das Geschirr aus dem Esszimmer in die Küche und ich räumte es in die Geschirrspülmaschine ein. (Diese Arbeitsteilung beruht auf der schlichten Tatsache, dass ich doppelt so viel Geschirr darin unterbringe wie er.)
»Und – wie findest du das?«, fragte er mich.
Ich schnitt eine Grimasse. »Ich bin – ehrlich gesagt – nicht scharf auf eine Zimmernachbarin.«
»Kann ich gut verstehen, aber ich würde meinen Kram nie im Kellerzimmer unterbringen können – das siehst du doch ein?«
Ich nickte widerstrebend. Dani hat nicht nur eine Werder-Bremen -Ecke und eine Computerecke, er hat auch noch eine Martial-Arts-Ecke und in der vierten steht sein Bett. Irgendwie hat er auch noch einen Kleiderschrank, eine Kommode und einen Ohrensessel in seinem Zimmer untergebracht. Das alles hätte wirklich im Gästezimmer keinen Platz, da passen nur Bett, Schrank, Tisch, Stuhl und Kommode rein.
»Ich weiß nicht so richtig, wie ich es finden soll, dass wir noch jemanden ins Haus kriegen«, fuhr er fort. »Aber Mama wird schon aufpassen, dass es eine ist, mit der wir gut klarkommen.«
Daniel ist eigentlich ganz in Ordnung – soweit ein älterer Bruder in Ordnung sein kann. Meistens verstehen wir uns ganz gut und halten auch gegen die Kleinen und gegen unsere Eltern zusammen. Allein wären wir gegen die Übermacht oft verloren.
Ich richtete mich auf und knallte die Tür der Spülmaschine zu. »Es ist ja nicht für ewig. Ich bin jedenfalls froh, dass wir Koopmanns unsere Bude irgendwann auch wieder allein bewohnen.«
Prophetische Worte.
Wenn ich damals gewusst hätte, was auf mich zukam, wäre ich bestimmt schreiend aus dem Haus gelaufen.
Aber damals hatte ich null Ahnung, wusch und trocknete mir die Hände ab und stieg mit Tante Henny in meine Kemenate runter.
Tante Henny heißt so, weil sie schon als Winzkatze dieses wunderschöne rotgelbe Fell hatte. »Wie Tante Henny«, hatte einer der Zwillinge andächtig festgestellt, und wir hatten alle gelacht, weil unsere uralte Tante Henny sich wirklich die Haare genauso hellrot färbt. Aber irgendwann ist der Name bei den anderen dann zu »Tanny« geworden, nur ich nenne sie noch »Tante Henny«, weil ich finde, dass das schöner klingt.
Ich machte es mir mit ihr auf meinem Bett zwischen den fünfzehn Kissen bequem und überlegte, welchen Film ich einlegen wollte. Ich habe nämlich (wahrscheinlich als einzige Fünfzehnjährige in Bremen) keinen eigenen Fernseher (weil meine Eltern es wichtig finden, dass wir uns die Köpfe einschlagen, um uns auf ein Programm zu einigen), aber ich hab einen Laptop, auf dem ich DVDs abspielen kann.
Ich bin nämlich ein Fan von alten Filmen. Früher hab ich mir von meinen Freundinnen (beziehungsweise deren Müttern) immer Hollywood-Schinken besorgt wie Vom Winde verweht oder High Noon oder Die Nacht vor der Hochzeit, aber inzwischen kuck ich mir ab und zu auch mal deutsche Heimatfilme aus den Fünfzigern an, die sind echt zum Kaputtlachen. Die aus den Sechzigern kann man knicken, das sind meistens nur noch albern bebilderte, dusselige Schlagerliedchen, aber die Heide-, Schwarzwald- und Alpenfilme von Dunnemals sind echt der Hammer, was Herzschmerz angeht. Meinen schier unerschöpf lichen Filmvorrat (und einen Kubikmeter Videos, die ich mangels Rekorder nicht abspielen kann) verdanke ich einem Erbe. Bevor Onkel Jochen (ein Cousin meines Vaters) an Aids starb, hat er mir seinen gesamten Filmschatz vermacht. Leider habe ich nur ganz vage Erinnerungen an ihn, in seinen letzten Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber Papa hatte ihm von meiner Filmleidenschaft erzählt, und so kam ich an etwa 200 (zweihundert!) Filmklassiker.
Meine wichtigsten Seelentröster halte ich aber ganz geheim. Das sind die alten Verfilmungen der Kästner-Romane Das doppelte Lottchen, Pünktchen und Anton und Emil und die Detektive. Das fliegende Klassenzimmer ist mein Lieblings-Weihnachtsfilm mit der schönsten Schneeballschlacht aller Zeiten, und bei der Szene, in der sich der Nichtraucher und der Internatsleiter Doktor Böck zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wiedersehen, krieg ich jedes Mal wieder feuchte Augen. (Peinlich, aber irgendwie sehr wohltuend.)
Ich kuschelte mich mit Tante Henny zusammen auf mein Bett, klickte Über den Dächern von Nizza an und schob alle Gedanken an die drohende Invasion in meinem Badezimmer beiseite.
Leider kann man auch mit den besten Filmen nicht alle unangenehmen Gedanken verbannen und blöderweise musste ich immer wieder an die drohende Mathearbeit denken. Irgendwann hab ich in letzter Zeit den Anschluss verpasst und momentan raff ich gar nichts mehr. Leider hat sich mein guter Kumpel Jonas von mir weggesetzt, nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich nicht mit ihm knutschen will, und jetzt hab ich niemanden mehr zum Abschreiben. Martha und Laura (meine besten Freundinnen) stehen genauso auf dem Schlauch wie ich und deshalb sind die Aussichten auf eine hübsche Vier ziemlich trübe. Wahrscheinlich werde ich die Arbeit verhauen und Ärger mit meinen Eltern kriegen, weil ich nicht rechtzeitig Alarm geschlagen habe. (»Wir hätten dir doch jederzeit eine Nachhilfe organisiert …«) Aber ich hatte eben immer gehofft, dass ich den Anschluss wieder finden würde, und danach ist das mit Jonas passiert. Doch der eigentliche Grund für meine mangelnde Aufmerksamkeit war möglicherweise, dass ich mich in Marlon verknallt hatte.
Total verknallt.
Mit Haut und Haaren. In seine immer braun getönte Haut und seine pechschwarzen Haare. In seine braunen Augen und seine Art, ganz still in sich hineinzulächeln. In sein Grübchen. In seine Art, sich mit gespreizten Fingern durch die Haare zu fahren.
Ach ja.
Seufz.
Marlon Beermann.
Cary Grant und Grace Kelly fuhren gerade in einem Cabrio über die berühmte Corniche (ob es diese Küstenstraße von Nizza nach Cannes im Zeitalter der Autobahnen immer noch gibt?), aber ich war nur mit halbem Hirn und Herzen dabei. Die anderen Hälften dachten an Mathe und Marlon.
Ich schaltete aus, schob Tante Henny zur Seite, die protestierend maunzte, und holte leise stöhnend mein Mathebuch und das Heft raus. Vielleicht half es ja, wenn ich mir den Stoff noch mal von Anfang an reinzog.
Wenigstens kann man bei geometrischen Zeichnungen nicht dauernd an Marlon denken.
(Irrtum. Kann man doch.)
Damals dachte ich noch, eine verhauene Mathearbeit und Liebeskummer wären das Schlimmste, was mir passieren konnte.
Von wegen.
Da hab ich nur noch nicht gewusst, wie sich das anfühlt, wenn man den Boden unter den Füßen verliert.
Zuerst Fliese für Fliese, dann meterweise und zum Schluss stürzt man ins Bodenlose.
2
»Stellt euch vor, ich war bei der Vermittlung«, verkündete meine Mutter ein paar Tage später beim Mittagessen.
»Was denn für’ne Vermittlung?«, fragte unsere Dauerfragerin Rina.
»Für Au-pair-Mädchen«, antwortete Mama. »Sie sind ganz optimistisch, weil sie mehrere geeignete Mädchen in ihrer Kartei haben.«
»Aha. Und wann erfährst du Genaueres?«, erkundigte sich Daniel.
Meine Mutter hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Sie haben gesagt, sie melden sich, wenn sie alle Bewerbungen bearbeitet haben. Aber sie denken, dass wir zum 1. März mit einem Mädchen rechnen können.«
»Oh, toll, das ist ja schon in drei Wochen«, jubelte Tina.
»Quatsch, das sind noch fünf Wochen«, sagte ich. »Kennst du den Kalender noch nicht?«
»Mama!«, schrie Tina empört. »Alex ist wieder streng!«
Mama grinste. »Stimmt. Zur Strafe bringt sie dir nachher den Kalender bei.«
»Für wen ist denn die Strafe gedacht?«, fragte ich honigsüß.
Tina sah mich misstrauisch an. Ich zwinkerte ihr zu und da grinste sie.»Bringst du mir den auch bei?«, fragte Rina.
»Klar«, sagte ich. »Dani und Mama machen inzwischen die Küche.«
»Schlaues Aas«, knurrte Daniel, und Mama lachte und sagte: »Guter Schachzug, meine Süße.«
Nach dem Essen setzte ich mich im Kinderzimmer mit den beiden auf die Mini-Stühle an ihrem Tisch und malte auf ein Blatt die zwölf Monate: die Namen und was Typisches.
JANUAR und ein Eiszapfen.
FEBRUAR und eine Faschingsmaske.
Und so weiter.
Die Zwillinge waren begeistert und machten Vorschläge, was für Bilder wir zu jedem Monat nehmen sollten.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie und freute mich an ihnen. Sie sind nicht nur niedlich, sondern auch schlau. Beide trugen genau die gleichen Klamotten: rote Pullis zu Jeans, und beiden hatte Mama die dichten langen Haare zu Zöpfen geflochten und rumfliegende Strähnen mit lustigen bunten Clips gebändigt. Kein Wunder, dass außerhalb der Familie sie kaum jemand auseinanderhalten kann: Erstens sind sie eineiig, zweitens immer gleich angezogen. Manchmal muss sogar ich zweimal hinschauen, um zu erkennen, wer wer ist. Doch sowie sie den Mund aufmachen, ist für Eingeweihte sonnenklar, wer da spricht.
Als wir die Monate fertig hatten (der Dezember hatte ein Lebkuchenherz gekriegt), schrieb ich an den Rand die Wochentage untereinander und teilte das Blatt in Spalten ein. Über die schrieb ich 1.WOCHE, 2.WOCHE und so weiter.
»So, in diesem Jahr war der 1. Januar ein Freitag. Seht mal her!«
Ich begann mit den Zahlen, füllte damit eine Woche nach der anderen aus, und siehe da: der Januar hörte am 31., einem Samstag, auf. Dann machte ich beim Februar weiter. Als ich das Jahr durchnummeriert hatte, nahm ich einen roten Buntstift und malte einen Kreis um das heutige Datum.
»Bitte schön, heute haben wir Donnerstag, den 24. Januar.«
Dann nahm ich einen blauen Stift und malte einen Kreis um den 1. März. »Und so lange dauert es noch bis zum 1. März.«
»Alles klar«, sagte Rina. »Jetzt sieht man genau, wie viele Wochen und Tage es noch sind.«
»Du bist gemein! Du warst gar nicht dran!«, schrie Tina. »Alex hat das für mich machen sollen – und gar nicht für dich.«
»Ist doch wurscht«, sagte Rina und wendete sich der Puppenecke zu. »Ich hab’s jetzt kapiert und du hast den Kalender.«
Tina war gleich versöhnt. »Kann ich mit Puppen?«, fragte sie und Rina nickte.
»Was ist das denn für eine Sprache?«, fragte ich verblüfft. »Willst du eine Puppe sein oder was?«
»Nee, ich will mit Rina mitspielen und mit den Puppen«, erklärte sie mir und verzog spitzbübisch den Mund.
Ich wuschelte ihr über die Haare. »Schlaumeier«, sagte ich und zupfte sie an einem Zopf.
»Schlaumeierin«, verbesserte mich Rina.
Ich grinste in mich rein. Die beiden sind wirklich ziemlich clever, das muss man ihnen lassen. Wenn die mal so alt sind wie ich, kapieren sie bestimmt auch Mathe, darauf könnte ich wetten.
Ich schlich in mein Zimmer, für den Fall, dass meine Mutter noch eine Arbeit für mich hatte.
Dann sah ich sehnsüchtig zu meinem Laptop rüber, weil ich Marnie eingelegt hatte, aber Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, wie Opa immer sagt.
Erst mal Hausaufgaben. Marnie musste warten. Und Tante Henny auch, die erwartungsvoll auf meinem Bett saß und gekrault werden wollte.
»Pech, du Fellknäuel«, sagte ich zu ihr und da wickelte sie den Schwanz um sich herum und machte es sich allein gemütlich.
Ganz schön gemein.
Englisch und Französisch waren kein Problem, in Deutsch sollten wir einen Text erläutern – das dauerte etwas.
Aber Mathe war ein Problem. Das mit dem Pythagoras hatte ich ja noch kapiert, aber jetzt bekamen wir nur noch ganz wenige Angaben zu einer Zeichnung und sollten sie trotzdem konstruieren können.
Ich saß da mit Zirkel und Winkelmesser und frisch gespitztem nadeldünnem Bleistift, doch irgendwie klappte es nicht.
Jonas.
Der könnte mir sagen, wie es geht. Aber der wollte ja, dass ich mit ihm gehe oder so ein Quatsch. Jonas ist nett und hat einen komischen Adamsapfel, der immer hoch und runter hüpft, wenn er sich beim Sprechen aufregt. Er hat außerdem Segelohren (aber von der Form her eigentlich sehr hübsche) und einen breiten Mund. Leider auch Pickel. Keine Akne, sondern nur ab und zu einen dicken Eiterpickel.
Armer Jonas.
Der hatte wohl gedacht, wenn er sagen kann, er hat eine Freundin, dann denken alle, sieh mal einer an, der hat ja trotz Pickel eine Freundin, und schon brauchte er sich deshalb keinen Kopf mehr zu machen.
Nee, also nicht mit mir.
Marlon ist da ganz anders.
Als der in unsere Klasse kam, haben ihn alle Brando genannt. Da hat er aber nie drauf gehört. Wenn einer gebrüllt hat: »He, Brando!«, hat er einfach nicht reagiert, bis derjenige irgendwann »He, Marlon!« gesagt hat, und erst dann hat er geantwortet.
Marlon redet nie viel, das liegt aber vielleicht auch daran, dass er von den Philippinen stammt und eine andere Muttersprache hat (seine Vatersprache ist aber Deutsch). (Wieso eine Frau auf den Philippinen so für Marlon Brando schwärmt, dass sie ihren Sohn nach ihm nennt, ist mir ein Rätsel.) In Deutsch steht er manchmal ein bisschen auf dem Schlauch, aber in Englisch und Physik und Chemie und Mathe ist er ein Ass – deshalb ist Schule kein Problem für ihn.
Den müsste ich mal fragen, ob er mir Nachhilfe geben kann! (Klar, der denkt an nichts anderes …)
Martha und Laura sind auch in ihn verknallt, das haben wir uns neulich gestanden, als die beiden bei mir übernachtet haben.
»Er hat so was Geheimnisvolles«, hat Martha gesagt und sehnsüchtig zum Fenster gestarrt, als könnte Marlon gleich wie Graf Dracula reingeflogen kommen. Geheimnisvolle Typen sind ja momentan sehr gefragt, besonders Vampire und andere Untote.
»Ich finde ihn unheimlich lässig«, hat Laura geseufzt. »Seine Klamotten, und wie er immer dasitzt und überhaupt.«
Ich hab nichts gesagt, aber als die beiden mich dann neugierig angeschaut haben, bin ich rot geworden und hab mit den Achseln gezuckt.
»Der macht sich nichts aus Mädchen«, hab ich gesagt. »Jedenfalls macht er sich nichts aus uns.«
»Vielleicht hat er ja schon’ne Freundin«, überlegte Laura. »Vielleicht eine, die schon älter ist. Würde ich ihm glatt zutrauen.«
»Oder er steht auf Jungs.« Martha kicherte. »Dann hätte unsere Alex hier noch am ehesten’ne Chance.«
»Das ist gemein!«, hab ich gebrüllt und mit einem Kissen nach ihr geworfen.
Leider bin ich nämlich noch ziemlich flach. Wenig Busen, wenig Arsch. Nur lange Haare, doch die haben Jungs ja auch manchmal.
»Aber Alex hat kein Sixpack«, hat Laura gequiekt. Da hab ich auch ihr ein Kissen an den Kopf geworfen.
Danach rollten wir lachend und kissenschwingend über die Matratzen und hatten Marlon erst mal vergessen. Wir hatten einen Riesenspaß und flüsterten noch bis nachts um zwei miteinander.
Wie immer, wenn wir zusammen bei einer von uns übernachteten, war es super. Das Drollige an unserem flotten Dreier ist die Tatsache, dass wir total unterschiedlich sind. Laura ist klein und, na ja, ein bisschen pummelig. Aber ihr steht das richtig gut, und mit ihren kurzen schwarzen Haaren und ihrem großen Lachmund hat sie auch jede Menge Verehrer – bloß ist leider keiner dabei, den sie gut findet. Martha ist im Gegensatz zu uns beiden eine lange Bohnenstange, sie hat eine richtige Modelfigur und echte blonde Haare. Sie hat nur leider einen ziemlichen Latschgang und behauptet, das käme von den jahrelangen Ballettstunden. Aber wenn sie sich Mühe gibt, schwebt sie wie eine etwas groß geratene Elfe durch die Gegend. Laura hatte schon mehrere Typen an der Backe, aber sie hat immer nach kurzer Zeit Schluss gemacht, weil ihr irgendwas an den Jungs nicht passte. Sie ist echt anspruchsvoll, unsere Elfe.
Ich bin klein und dünn, sozusagen noch eine weitere Variante. Aber trotz unseres unterschiedlichen Äußeren verstanden wir uns super und waren schon seit der Grundschule dickste Freundinnen.
Ich konnte damals ja nicht ahnen, wie schwierig das mit meinen beiden besten Freundinnen noch werden würde. Damals hätte ich gedacht, dass wir immer zusammenhalten würden.
Wie Pech und Schwefel.
Von wegen.
Damals war die Welt noch in Ordnung, trotz Mathetest und unerreichbarem Marlon.
Ich hab es bloß nicht gewusst.
3
Es dauerte nicht mehr fünf Wochen und zwei Tage. Das Au-pair-Mädchen stand schon eine Woche später vor unserer Tür.
Ljuba.
Ljuba heißt Liebe. (Das habe ich gleich gegoogelt.)
Damals fand ich, dass das ein wunderschöner Name ist.
Später bekam ich beim Hören ihres Namens einen ganz anderen Reflex. Ljuba – WÜRG!
Ljuba stand also vor der Haustür und meine Mutter betrachtete sie von oben bis unten.
Zufällig war ich auch da, weil ich meine Tage hatte und beim Schwimmunterricht nicht mitzumachen brauchte.
Ich betrachtete Ljuba ebenfalls von oben bis unten. Schulterlange dunkle Locken.
Blaue Augen.
Eine total pickelfreie Haut.
Weil es kalt war, trug sie so eine Batschkappe aus Pelz auf dem Kopf, und ihr schwarzer Mantel hatte einen Kragen aus dem gleichen Pelz (Kunstfell). Sie trug lila UGG-Stiefel (oder eine gute Imitation) und eine schwarze Schultertasche mit dicken grünen Buchstaben: LS.
Ljuba sagte: »Gestatten, habe ich bekommen Ihren Namen, weil Sie suchen Mädchen für Kinder. Au Pair. Heiße ich Ljuba Sacharow und will ich lernen Deutsch. Kann ich arbeiten gut und gebe ich mir große Miehe.«
»Kommen Sie doch erst mal rein, Frau Sacharow«, sagte Mama und öffnete die Tür ein wenig weiter. »Das ist übrigens unsere große Tochter Alexandra.« Sie zeigte auf mich.
Ljuba neigte kurz den Kopf.
Ich grinste sie an.
Ljuba kam herein, Mama schloss die Haustür und sagte: »Legen Sie doch ab, da ist die Garderobe.«
Folgsam hängte Ljuba ihren Mantel an einen Haken, und die Mütze darüber, und dann stand sie da und lachte uns an.
Gute Figur. Schlank, aber an den richtigen Stellen die richtigen Kurven.
»Freu ich mich wegen Kennenlernen«, sagte sie und strahlte immer weiter, und ich merkte plötzlich, dass ich sie auch anstrahlte. Dieses Strahlen war echt ansteckend.
Mama öffnete die Tür zum Wohnzimmer und sagte zu mir: »Machst du uns einen Tee?«
Dann verschwand sie mit Ljuba im Wohnzimmer, und ich ging in die Küche, kochte Wasser, goss den Tee auf und zwischendurch deckte ich ein Tablett mit hübschen Friesentassen, Klöntjes und Sahne und zum Schluss stellte ich noch eine Schale mit Keksen dazu.
Das brachte ich ins Wohnzimmer und stellte es auf die breite Bank zwischen den Sofas. Tante Henny war mir gefolgt und beäugte den Gast. Dann sprang sie auf meinen Schoß und schnurrte zufrieden, während ich sie gehorsam kraulte.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte Mama, und Ljuba strahlte.
»Möchte gern, ja«, sagte sie und nickte.
Ich goss ein und zeigte auf den Kandis und die Sahne und sagte: »Nehmen Sie sich bitte.«
Während ich vorsichtig in kleinen Schlucken meinen heißen Tee trank, hörte ich Mama beim Kreuzverhör zu. Sie fragte Ljuba ein Loch in den Bauch. Aber schließlich wollte sie ja wissen, wen sie uns da ins Haus holte.
(Bestimmt wäre alles anders gekommen, wenn sie damals die richtigen Fragen gestellt hätte … Oder wenn sie ein bisschen Gespür für Psychos gehabt hätte …)
Ljuba antwortete artig, sie komme aus einem Vorort von Moskau, woraufhin Mamas Augen aufleuchteten, denn sie liebt die russische Literatur über alles.
Ljuba konnte so gut Deutsch, weil ihre Mutter Dolmetscherin ist und dafür gesorgt hat, dass ihre Tochter Fremdsprachen lernt. Weil Ljuba besser Englisch und Französisch kann als Deutsch, hat sie beschlossen, als Au-pair-Mädchen nach Deutschland zu gehen und die Sprache erst mal richtig zu lernen, bevor sie in Russland auf die Dolmetscherschule geht.
»Aber Sie sprechen doch sehr gut Deutsch«, sagte Mama verdutzt.
»Nicht genug gut für Dolmetscherin«, antwortete Ljuba und strahlte schon wieder. »Will ich machen Sprachkurs an Volksschule.«
»Volkshochschule«, korrigierte Mama.
Ljuba nickte strahlend. »Danke, Volkshochschule.«
Eigentlich hätte mir schon damals so viel Strahlen verdächtig sein sollen, aber ich war ganz im Gegenteil begeistert und grinste fröhlich mit.
Ljuba erzählte von sich. Sie hatte keine Geschwister, ihr Vater war tot, aber eine Großmutter lebte noch, und eine Tante mit Sohn. (Offenbar wurden die Männer in dieser Familie nicht sehr alt.) Sie las gern, surfte gern im Internet und spielte gern mit Kindern.
»Kinder?«, fragte sie und tat so, als würde sie sich umsehen.
Mama sagte: »Die kommen gleich aus der Schule. Essen Sie doch mit uns zu Mittag, dann können Sie gleich alle kennenlernen. Heute kommt auch ausnahmsweise mein Mann zum Essen, der bleibt sonst mittags immer im Gericht.«
Ljuba riss die Augen auf. »Gericht?«
»Ja, mein Mann ist Staatsanwalt, und seine Termine liegen so dicht beieinander, dass er mittags meistens nicht genug Zeit hat, um nach Hause zu fahren.«
»Bleibe ich gern«, sagte Ljuba. »Kann ich helfen?«
»Klar«, sagte ich. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo das Geschirr und Besteck ist.«
Ljuba legte ihre beiden Handflächen aneinander, als ob sie betete. »Möchte ich eine Bitte sagen, ja?«
Mama und ich sahen sie verdutzt an.
»Aber ja doch«, sagte Mama.
»Können Sie sagen Ljuba zu mir? Und du? Ist mit Sie für mich so fremd.« Dabei lächelte sie so flehentlich, dass es einen Stein erweicht hätte – gar nicht zu reden von Sabine und Alexandra Koopmann.
»Gern«, sagte meine Mutter. »Also dann: Ljuba, ich heiße Sabine.«
Sie schüttelten sich förmlich die Hände.
»Und ich bin Alex«, sagte ich und wir schüttelten uns ebenfalls die Hände.
Ljuba senkte gerührt den Blick und biss sich auf die Unterlippe. Heute würde ich eher sagen, dass sie ihren Triumph verbergen wollte.
Doch bevor dieser magische Moment peinlich werden konnte, gab es eine Dauerklingelei an der Tür, ich ging öffnen und die Zwillinge stürzten herein.
»Mama, Mama, heute haben wir die Fische gefüttert«, kreischten sie.
In ihrem Klassenraum steht ein total langweiliges Aquarium und reihum dürfen die Kinder der Klasse es säubern und die Fische füttern. Das ist für sie irgendwie das Allergrößte – warum, weiß niemand.
Sie warfen ihre Ranzen auf die Erde, schmissen die Mäntel dazu und polterten ins Wohnzimmer, wo sie wie erstarrt stehen blieben.
Da saß Ljuba, Mama war schon durchs Esszimmer in die Küche gegangen und ich hörte es schmurgeln. Sie briet die Fischfilets.
»Bin ich Ljuba«, sagte Ljuba und streckte den beiden die Hand hin. »Und freue ich mich, dass ich euch lerne kennen.«
Die Zwillinge waren total überrascht und gaben ihr stumm die Hand.
»Und wie heißt du?«, fragte Ljuba Rina.
»Rina.«
»Und du?«, fragte sie Tina.
»Tina.«
»Nur Rina und Tina? Oder geht auch länger?«
Die beiden grinsten, und Rina sagte: »Ich heiße Katharina«, und Tina sagt: »Ich heiße Kristina.«
»Schöne Namen«, sagte Ljuba, und die Zwillinge nickten verblüfft, denn das hatten sie wohl noch nie gehört, weil kaum jemand ihre vollen Namen kannte.
Dann schickte ich sie wieder raus, die Mäntel aufhängen und die Schultaschen hochbringen, und ging mit Ljuba ins Esszimmer, wo wir den Tisch deckten.
»Für sieben«, sagte ich und legte die Sets an ihre angestammten Plätze und das für Ljuba auf den Platz zwischen Tina und Rina. Da konnten wir ja schon mal unauffällig testen, wie sie mit den beiden zurechtkam. Dann holte ich den Gästestuhl aus der Ecke und stellte ihn dazu. Es ist manchmal ganz praktisch, wenn jemand zwischen den beiden sitzt, falls sie wieder rumtoben oder Blödsinn machen wollen.
Danach holte ich die Schüssel mit Kartoffeln und die mit Salat, während Mama die Platte mit dem Bratfisch auf den Tisch stellte.
Mittlerweile war Daniel eingetrudelt und wurde Ljuba vorgestellt, und als wir schon alle saßen, kam endlich auch mein Vater und ließ sich schnaufend auf seinen Platz fallen, bevor er merkte, dass nicht nur Koopmanns am Tisch saßen.
»Oh, wen haben wir denn da?«, fragte er und stemmte sich halb von seinem Stuhl hoch.
»Bleib sitzen, Bernhard, das ist Ljuba. Sie kommt aus Russland und möchte gern als Au-pair bei uns arbeiten«, sagte Mama und reichte den Teller mit den Zitronenschnitzen weiter.
Ljuba nickte und lächelte Papa schüchtern an.
»Dann können Sie ja gleich die ganze Bande kennenlernen«, sagte er und grinste. »Hoffentlich gefällt es Ihnen bei uns.«
»Gefällt mir sehr«, sagte Ljuba, hob ein Stück Kartoffel von der Tischdecke auf und legte es wieder auf Rinas Teller zurück. »Schmeckt gut. Schmeckt gut wie zu Hause bei uns.«
Dann setzte mein Vater noch seine Fähigkeiten als Verhörexperte ein, und wir erfuhren, dass Ljuba keinen Führerschein hat, aber Rad fahren kann, dass sie gern schwimmt und oft spazieren geht.
»Typisch«, sagte ich. »Mama erkundigt sich nach Lesen und so, und du nach Sport. Ist doch irgendwie geschlechtsspezifisch.«
»Was für Fisch?«, fragte Ljuba mit großen Augen und wir lachten, auch die Zwillinge, obwohl die den Witz gar nicht kapiert hatten.
»Und du kommst wirklich aus Russland?«, hakte Tina noch mal mit großen Augen nach.
Ljuba nickte. »Ganz weit weg.«
»Pöh«, machte Rina und winkte ab. »Papa war auch schon mal da. In Russland, echt! Papa war in Moskau!«
Sie grinste befriedigt, weil sie das gewusst hatte.
KLIRR!
Ein Besteckteil war auf den Boden geklirrt und Ljuba tauchte mit rotem Kopf wieder über der Tischplatte auf, ein Messer in der Hand.
»Oh, bitte ich Entschuldigung, ist mich gefallen.«
»Mir gefallen«, sagte Rina stolz, weil sie das wusste.
»Runtergefallen«, ergänzte Tina.
Manno – die Minis gaben ganz schön an!
»Und Sie waren wirklich in Moskau?«, wandte sich die immer noch tomatenrote Ljuba an meinen Vater.
Er lachte. »Oh, das ist lange her. Damals war ich noch Student und diese Kinder hier … waren noch in weiter Ferne.«
»Wir waren noch nicht mal geplant«, sagte Tina andächtig.
Mama prustete. »Da hast du recht, meine Süße. Als Papa in Moskau war, kannten wir uns nämlich noch gar nicht so lange.«
»Aber warum in Moskau?«, beharrte Ljuba. »So weit weg.«
»Das war so eine Art Studentenaustausch«, erklärte Papa geduldig. »Wir waren eine kleine Gruppe, etwa fünfzehn Leute, und verbrachten da ein Feriensemester.« Er stieß einen kleinen Seufzer aus. »Schön war das. Nie wieder hab ich in so kurzer Zeit so viele neue Erfahrungen gemacht. Das war die Zeit der Perestroika, als der Kalte Krieg vorbei war und man wieder miteinander reden durfte.« Versonnen lächelte er vor sich hin. »Nie wieder hab ich so viel Schnaps getrunken wie damals. Aber leider hab ich das bisschen Russisch, das ich mal konnte, vergessen – ich weiß nur noch da und njet und nasdarowje. Schade eigentlich.«
»Macht nix«, sagte Ljuba und winkte großzügig ab. »Lerne ich Deutsch. Sehr praktisch.«
Nachdem Daniel dann auch noch erfahren hatte, dass Ljuba sich mit Computerspielen auskannte, war eigentlich alles geritzt. Während er und ich abräumten, tranken Mama und Papa mit Ljuba im Wohnzimmer einen Espresso und besiegelten damit ihre Anstellung.
Die Zwillinge waren für eine Viertelstunde rausgeschickt worden und hatten wahrscheinlich in Papas Arbeitszimmer vor der Uhr gewartet, denn auf die Sekunde genau stürmten sie nach fünfzehn Minuten ins Wohnzimmer und schrien: »Bleibt sie bei uns?«
Alle lachten, nickten und waren sich einig: ein Supergrund zur Freude.
Damals hab ich mich auch riesig gefreut. Irgendwie hatte ich die vage Hoffnung, auf diese Weise zu einer Art Schwester zu kommen, mit der man über Mode und Musik, über Filme und Jungs quatschen könnte. Von so einer Schwester hatte ich immer geträumt. Daniel hatte ganz andere Interessen und die Zwillinge waren noch viel zu klein für solche Themen.
Ja, eine große Schwester – das wäre schön gewesen.
Wie man sich doch täuschen kann …
4
Gleich am nächsten Tag stand Ljuba mit einem Koffer und einer Reisetasche vor unserer Tür (jedenfalls standen diese Sachen dann später auf dem Schrank in ihrem Zimmer), und als ich mittags aus der Schule kam, war sie bereits ins Gästezimmer eingezogen.
Im Bad hatte ich vorsichtshalber schon am Vortag unter dem Spiegel die halbe Ablage und im Regal ein Bord freigeräumt, da standen jetzt ein paar Kosmetikartikel mit Etiketten mit kyrillischen Buchstaben (wahrscheinlich Nivea auf Russisch), und im Regal lagen die Handtücher und Badetücher, die wir für Ljuba auf den Tisch gelegt hatten, und eine Tüte mit Watte und ein Karton mit Binden.
Meine Mutter und ich hatten das Gästebett frisch bezogen, eine bunte Tagesdecke darübergebreitet und Kissen daraufgelegt, die früher auf Daniels Bett gelegen hatten, bevor er sich zu männlich für solchen Schnickschnack fühlte, wie er das nannte. Als ich im Vorbeigehen einen neugierigen Blick durch den geöffneten Türspalt von Ljubas Zimmer riskierte, fand ich, es sah ganz gemütlich aus.
In den nächsten Tagen zeigte Mama Ljuba ihre Aufgaben.
Sie sollte einkaufen, ein bisschen bei der Hausarbeit helfen und nachmittags die Zwillinge beaufsichtigen.
Da die sich im Prinzip sehr gut selbst organisierten, mussten sie nur hin und wieder zu ihren Freundinnen gebracht und abgeholt werden, oder man musste den Mädchen, wenn sie bei uns waren, mal einen Saft oder Apfelschnitze bringen und dafür sorgen, dass sie das Haus nicht in die Luft jagten. Außerdem wurden sie zum Kinderturnen gebracht und abgeholt, und wenn es heiß genug war (aber das ist in Bremen leider nicht so häufig der Fall, wie man es sich wünschen würde), ging man mit ihnen ins Freibad.
Ansonsten hatte Ljuba frei und abends konnte sie zu ihren Kursen gehen. Da sie schon über achtzehn war, machten unsere Eltern ihr keine direkten Vorschriften, wann sie nach Hause zu kommen hatte, aber meine Mutter ließ durchblicken, dass während der Woche um elf Zapfenstreich war, denn wir mussten spätestens um halb sieben aufstehen.
Am Anfang gab es noch manchmal komische Situationen, wenn Ljuba nicht wusste, dass man in der Mikrowelle einen Deckel auf die Pötte legen muss, weil sonst vielleicht das Zeug rumspritzt, oder wenn sie das Kabel nicht aus dem Staubsauger ziehen konnte, weil man dazu eine Sperre lösen muss. Aber sonst kannte sie sich mit allen Maschinen bestens aus, besser als ich, muss ich zugeben, denn ich kann bis heute den Staubsaugerbeutel nicht wechseln, sondern brülle immer nach Daniel (aber eigentlich eher, damit der auch mal was tut).
In der zweiten Woche fragte Ljuba Mama, ob sie mal allein kochen dürfte, und wir fanden ihre Soljanka sehr lecker. Das ist so eine Art Eintopf mit viel Gemüse und Wurstscheiben und jeder Menge Gewürzen.
Mama freute sich auf ihren Job und ging vormittags oft in die Bibliothek – um sich wieder einzuarbeiten, wie sie sagte. Aber ich glaube, sie war einfach schrecklich gern wieder mit ihren Kolleginnen und Kollegen zusammen. Nach so vielen Jahren mit den Zwillingen, Babygruppen, Kindergärten und Elternabenden war sie wahrscheinlich froh, dass sie es endlich wieder mit Büchermenschen zu tun hatte.
Bald hatte sich Ljuba in unseren Tagesrhythmus eingeklinkt.
Das geteilte Badezimmer war gar nicht so schwierig, wie ich befürchtet hatte.
Wenn ich aufstand, war Ljuba meistens schon fertig und kümmerte sich oben um das Frühstück, und an den Wochenenden klopfte sie immer an meine Tür und sagte: »Zwanzig Minuten? Ist okay?«, und dann wusste ich, dass ich noch länger lesen konnte. Sie hinterließ das Waschbecken und die Dusche immer picobello, sodass ich mir Mühe geben musste, um da mitzuhalten. Denn ich wollte ja nicht, dass sie hinter mir herputzte oder mich für eine Sifftante hielt.
Wir kamen also ganz gut miteinander klar, aber das, was ich mir so als Ältere-Schwester-Ersatz vorgestellt hatte, ergab sich zu meiner Enttäuschung nicht.
Ich fragte sie ein paar Mal, ob sie sich mit mir einen Film ansehen wollte (ich hatte nämlich in Onkel Jochens Sammlung auch den russischen Klassiker Wenn die Kraniche ziehen), aber sie sagte immer: »Keine Zeit, muss lernen« oder so was, und als ich ihr anbot, sie könnte sich von mir Bücher ausleihen, lachte sie bloß und sagte: »War ich bei Sabine in Bibliothek und hab ich jetzt ganz viele Biecher, danke.«