© Historikerkanzlei – Genealogisch-Historische Recherchen GmbH

Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7543-7574-7

Inhalt

Einführung.

Erbschaftsgenealogie und ihre Geschichten

Liebe Leserin, lieber Leser!

Für Außenstehende mag der Begriff „Erbenermittlung“ die Vorstellung von etwas Detektivischem hervorrufen. Selbst für gestandene Berufsgenealoginnen und -genealogen ist es nicht vermessen zu behaupten, dass die Recherche nach Erbinnen und Erben voller Überraschungen und unerwarteter Wendungen steckt. Was aber verbirgt sich wirklich hinter dieser Berufssparte, die Tätigkeiten eines Anwalts, Historikers und Detektivs vereint?

Zum erbschaftsgenealogischen Alltag gehört ebenso der freudige Moment, eine Leerstelle im Verwandtschaftsbaum gefüllt wie das befriedigende Gefühl, nach monate- oder sogar jahrelangen Recherchen in archivalischen Quellen, Ein- und Auswanderungslisten, Standesamtsregistern und in kaum leserlichen Matriken (manchmal in den entferntesten Teilen der Welt) endlich eine Erbin oder einen Erben gefunden zu haben.

Von Zeit zu Zeit begegnet uns Erbenermittlerinnen und Erbenermittlern eine gewisse Skepsis, wenn Menschen von ihrer Erbberechtigung aufgrund einer Verwandtschaftsbeziehung mit einer für sie unbekannten Person erfahren. Schließlich kommt es auch nicht alle Tage vor, wie aus heiterem Himmel die Nachricht zu bekommen, dass man einen „Geldregen“ zu erwarten hat.

Interessant, ernüchternd und bewegend sind zudem Lebenswege, Biografien und Geschichten, die in der berufsgenealogischen Praxis rekonstruiert und ein Stück weit in den Erzählungen der Erbinnen und Erben vergegenwärtigt werden. Die Konfrontation mit familiären Schicksalsschlägen kann auch die noch so gestandenen Erbenermittlerinnen und Erbenermittler betroffen machen.

Allein dieser kurze Einblick in den Alltag unseres Berufsstands zeigt, dass Genealogie nicht nur verwandtschaftliche Beziehungen nachzeichnet; sie vermag es immer auch staubtrockene Dokumente mit Leben zu füllen.

Davon und von vielem mehr wissen in diesem Buch Erbenermittlerinnen und Erbenermittler auf ihrer weltweiten Jagd nach Erben zu berichten. Der vorliegende Sammelband vereint 30 genealogische Geschichten einiger ihrer spannendsten Fälle aus den vergangenen 17 Jahren. Für Namen, die fallen, wurden Pseudonyme gewählt, Ortsangaben mitunter geändert, um die Anonymität und Integrität der Protagonistinnen und Protagonisten zu wahren.

30 Genealoginnen und Genealogen der Historikerkanzlei und ihrer Tochterfirmen haben aus ihrem reichen Fundus jeweils eine Geschichte gewählt, die sie persönlich über das Normalmaß hinaus bewegt hat, über die sie haben nachdenken müssen, weil sie sie begleitet hat, im beruflichen wie privaten Alltag.

Es sind Geschichten, welche …

Und es sind Geschichten, denen unterschiedliche Auswahlmotive zugrunde liegen, die aber alle eines gemeinsam haben: Sie sind es wert erzählt zu werden, weil sie die Erbschaftsgenealogie und Familienforschung als einen faszinierenden Berufsstand ausweisen.

Die Geschichten, die wir hier gesammelt haben, machen deutlich, dass jenseits von Geburtsurkunden, Passagierlisten, Trauungsurkunden, Sterbematriken oder Verlassenschaftsakten – um nur einige der grundlegenden Quellen unseres Metiers zu nennen – unser Beruf es vermag, nicht nur verwandtschaftliche Beziehungen zu rekonstruieren. Mit unserer Arbeit machen wir Geschichten, die sich um sie spannen, mit ihren biografischen Höhen und Tiefen für Außenstehende greifbar(er) – gleich einer Reise in die Vergangenheit, die in die Gegenwart ausstrahlt.

Es sind Geschichten, die einen rühren, erstaunen und zum Schmunzeln bringen, die betroffen machen und mit Verwunderung erfüllen. Die hier versammelten Beiträge zeugen damit nicht nur von den alltäglichen Herausforderungen genealogischer Praxis; sie tragen zugleich den individuellen und familienbiografischen Wendungen und Eigenheiten von Lebenswegen Rechnung.

Wir wünschen Ihnen beim Lesen viel Vergnügen!

Nicolas Forster

Wien, im September 2021

Hannes Bacher

Die Frau mit den zwei Identitäten

Der Erbschaftsfall der vor einigen Jahren in Großbritannien verstorbenen Leopoldine Diana Paget gab mir über lange Zeit Rätsel auf, zumal die wahre Identität der Verstorbenen absichtlich verschleiert worden zu sein schien.

Ein genealogisches Partnerbüro machte unsere Kanzlei auf den Nachlass aufmerksam, der bereits vor einigen Jahren ohne die Auffindung von Erbinnen und Erben abgeschlossen worden war. Ich überlegte mir, wie man mit den wenigen vorhandenen Daten erfolgreiche Recherchen durchführen könnte. Auf der Suche nach Urkunden und anderen Quellen zur Erblasserin, die Aufschluss über deren Verwandtschaft geben konnten, stieß ich in einem britischen Register auf deren Trauung. Offenbar hatte die Erblasserin 1947 einen Briten geehelicht. Auf der Heiratsurkunde war sie mit einem Alter von 30 Jahren und als Tochter eines bereits verstorbenen Josef Reinhart, von Beruf Major der österreichischen Armee, vermerkt. Weiters war dem Dokument zu entnehmen, dass die Erblasserin zuvor bereits mit einem Herrn Fuchs verheiratet gewesen; diese Ehe war aber wieder geschieden worden war. Als Geburtsland der Dame war hier Deutschland vermerkt, was allerdings im Widerspruch zu den angeführten Daten des Vaters stand.

Mit diesen ersten Informationen begann meine Suche. Anhand von Dokumenten zur Einreise nach Großbritannien konnte ich in Erfahrung bringen, dass die Verstorbene geschieden, kinderlos und in Österreich geboren worden war. In der fraglichen Zeit fanden sich weder ein Offizier mit dem Namen Reinhart in Österreich noch Hinweise auf die Erblasserin oder ihren Geburtsort. Ausgehend von der Annahme, dass sie ihren Ehemann vermutlich kennengelernt hatte, als er als Besatzungssoldat in Österreich stationiert gewesen war, engte ich die Suche auf die damalige britische Besatzungszone ein. Um meine Recherche weiter eingrenzen zu können, recherchierte ich in alten Telefonbüchern und Gefallenenlisten des Zweiten Weltkriegs nach Personen mit dem Namen Reinhart, mit dem Ziel, über eine Namenshäufung endlich den Geburtsort der Erblasserin bestimmen zu können. Alsbald stellte sich die Stadt Graz als derjenige Ort heraus, an dem dieser Name mit Abstand am häufigsten vertreten war.

Das 1948 in Großbritannien angegebene Alter von 30 Jahren zugrunde legend, suchte ich in Grazer Kirchenbüchern nach dem Geburtsdatum von Frau Paget unter ihrem Mädchennamen Reinhart. Ich konnte aber in der Zeit um 1918 keine „Leopoldine Diana“ in Kombination mit diesem Namen finden. Schon beschlich mich die Sorge, mich mit Graz vertan zu haben. Dann aber versuchte ich noch einmal in den Kirchenbüchern Kindstaufen zu finden, die einem Vater „Josef Reinhart“ zugeordnet werden konnten. Tatsächlich fand ich mehrere Kinder, auf die das zutraf und stieß dabei auch auf eine Christiane Stefanie Reinhart, geboren im Jahr 1912, Tochter eines Postbeamten. Der Taufeintrag wäre an sich nicht weiter beachtenswert, wenn darin nicht Christiane Stefanie Reinharts Eheschließung mit einem Andreas Fuchs im Jahr 1930 nachgetragen worden wäre. Ich erinnerte mich daran, dass die Erblasserin eine geschiedene „Fuchs“ gewesen war und überprüfte die Trauung im Jahr 1930. Bei dieser war eine spätere Ehescheidung vermerkt, was sich mit den Daten der Erblasserin deckte. In mir keimte der Verdacht auf, dass die Angaben, die Frau Paget in Großbritannien über sich selbst gemacht hatte, mit Vorsicht zu genießen waren. Vielleicht handelte es sich ja bei der gefundenen „Christiane Stefanie“ sogar um die gesuchte Erblasserin?

Um diese Frage zu beantworten, zog ich im Stadtarchiv alte Meldeunterlagen heran. Dadurch konnte ich in Erfahrung bringen, dass Christiane Reinhart zwei Jahre nach ihrer Eheschließung eine Tochter zur Welt gebracht hatte. Da aber die Erblasserin laut den vorliegenden Daten kinderlos gewesen sein soll, hegte ich so meine Zweifel an der Theorie, es handelte sich bei den beiden um ein und dieselbe Person. Aber ein Jahr darauf, 1933, hatte sie ihre Familie verlassen und sich nach London abgemeldet, um dort als Dolmetscherin zu arbeiten, wodurch ein Bezug zur britischen Insel belegt war. Erst kurz vor Kriegsbeginn kehrte sie nach Graz zurück, lebte aber vom Gatten und von der Tochter getrennt und ließ sich kurz darauf von Andreas Fuchs scheiden. In den Kriegsjahren arbeitete sie als Dolmetscherin für die Wehrmacht. In dieser Zeit war sie mit einem Offizier liiert. Aus dieser Beziehung gingen zwei außereheliche Töchter hervor. Wie schon einmal zuvor ließ Frau Reinhart bald darauf ihr bisheriges Leben zurück, ihre außerehelichen Kinder blieben bei deren Großeltern, und sie selbst ging 1947 erneut nach England.

Kurz darauf tauchte in den anfangs erwähnten Einreisedokumenten erstmalig die Erblasserin auf, was mich bei meiner bisherigen Annahme, dass „Christiane Stefanie“ und „Leopoldine Diana“ ein und dieselbe Person waren, bestärkte.

Ich machte mich nun daran, nach diesen drei Kindern, die in Österreich zur Welt gekommen waren, zu suchen. Bei meiner Recherche fand ich schließlich auch einen hochbetagten Bruder der vermuteten Erblasserin. Dieser berichtete mir, dass seine Schwester einen britischen Soldaten kennengelernt habe und mit diesem Hals über Kopf im Jahr 1947 nach London gegangen sei. Die Kinder seien in Österreich zurückgeblieben, und über einige Jahre habe er nichts mehr von ihr gehört. Erst Ende der 1950er Jahre hätten ihn erste Briefe seiner Schwester erreicht; anhand eines aufbewahrten Kuverts konnte ich feststellen, dass die Absenderin „Leopoldine Page“ war. Dadurch war ich mir meiner Sache sicher und nahm Kontakt mit den drei in Österreich geborenen Kindern auf. Auch diese bestätigten mir, dass sie Briefe der Mutter unter diesem Namen erhalten hätten, doch sei ihr Kontakt etwa zehn Jahre vor dem Ableben der Erblasserin abgebrochen. Offenbar war Frau Page zu diesem Zeitpunkt in einem Pflegeheim untergebracht worden. Ich hatte mit den drei Töchtern also die gesuchten Erbinnen gefunden.

Mit allen recherchierten Informationen konnten die offenen Fragen zur Identität der Erblasserin am Ende geklärt werden. Die genauen Gründe für die falschen Angaben werden wohl für immer im Verborgenen bleiben, aber vielleicht hatte die Erblasserin diese gemacht, um in Großbritannien möglichen Problemen aufgrund ihrer Arbeit bei der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges aus dem Weg zu gehen. Sie hatte nicht nur ihre Vornamen geändert, sie hatte sich auch einige Jahre jünger gemacht. Den Beruf des Vaters hatte sie ebenfalls falsch angegeben, und auch stimmte es nicht, dass sie kinderlos war. Trotz der vielen von der Erblasserin mit Absicht falsch gestreuten Informationen konnte der Nachlass am Ende den Kindern zukommen – was aber sicher nur ein schwacher Trost für das Entbehren der Mutter war.

Gregor Brezina

Der Verbindungsmann

Vor einiger Zeit wurde ich von einer schwedischen Institution kontaktiert, die eine Erbin oder einen Erben in einer Verlassenschaft in Schweden suchte. Dabei handelte es sich um ein Bestattungsinstitut, das noch einige weitere Betätigungsfelder wie Nachlassabwicklung oder juristische Beratung in Erbschaftsangelegenheiten abdeckt. Denn in Schweden werden Verlassenschaften in der Regel nicht von Notaren oder anderen staatlichen Institutionen abgewickelt, sondern von Privatpersonen oder -unternehmen.

Das Interessante an diesem Fall war, dass die schwedische Erbenermittlungskanzlei versucht hatte, mit einem der Erben (dem Neffen der Erblasserin) in Kontakt zu treten, dieser wiederum hatte versucht Kontakt zu den zuständigen Stellen in Schweden aufzunehmen. Doch die beiden hatten sich ganz offenbar verfehlt. Es lag ein Testament vor, in dem ein Österreicher, eine Ungarin und das schwedische Rote Kreuz als Erben und Erbinnen festgesetzt waren. Die Testamentseintragung ist in Schweden nicht geregelt. Damit das Testament nach dem Tod der Erblasserin bzw. des Erblassers auch gefunden und vollstreckt werden konnte, musste der Aufbewahrungsort einer Vertrauensperson mitgeteilt werden. Mir gelang es mit dem österreichischen Erben in Kontakt zu treten. Es sollte sich herausstellen, dass dies der einfachste Schritt in diesem Fall gewesen war.

Ab diesem Zeitpunkt fungierte die Historikerkanzlei, über die nun die gesamte Korrespondenz verlief, als Schnittstelle zwischen den verschiedenen Parteien. In einem weiteren Schritt versuchten wir mit der Erbin in Ungarn in Kontakt zu treten. Einem Ungarisch sprechenden Kollegen gelang es schließlich, ihren Sohn ausfindig zu machen. Dieser war Rechtsanwalt, wollte unser Angebot nicht annehmen und richtete sich dann direkt an Schweden.

Das war nicht das einzige Problem, denn es mussten alle gesetzlichen Erbinnen und Erben über die Verlassenschaft informiert werden, egal ob ein Testament vorhanden war oder nicht. Daher mussten wir herausfinden, ob es noch weitere Erbberechtigte in Österreich gab. Nach langer Suche und Abklärung mit dem uns bekannten österreichischen Erbinnen und Erben konnte dies ausgeschlossen werden. Alle Brüder der Erblasserin waren schon vor geraumer Zeit verstorben, der letzte war der Vater des österreichischen Erben gewesen. Auch etwaige Cousinen und Cousins waren nicht mehr am Leben. Da der österreichische Erbe die Erblasserin gekannt hatte und sich mit ihr in Verbindung hatte setzen wollen, verlangte er einen Sterbenachweis. Zur Abwicklung mussten die Erbinnen und Erben unterschiedliche Dokumente aus Schweden, das Testament beispielsweise, unterschrieben retournieren. Auch an dieser Stelle kam es zu weiteren Komplikationen, denn die Dokumente waren auf Schwedisch verfasst, und es gab keine deutsche oder englische Übersetzung. Also ging die Korrespondenz via E-Mail und Telefon mit den schwedischen Kollegen wieder los, bis wir zumindest das Wichtigste aus dem Dokument verstanden hatten.

Im Anschluss daran war wiederum unklar, ob die Erbinnen und Erben an der schwedischen Version des Tagsatzungstermins via Internet teilnehmen sollten. Nach längerem Hin und Her entschlossen sich die Schweden, dass die Aushändigung eines Sitzungsprotokolls ausreichen müsse. Aber auch dieses Protokoll ließ wieder auf sich warten. Nachdem wir es schließlich erhalten hatten, konnten wir endlich feststellen, was in der Verlassenschaft eigentlich vorhanden war.

In Schweden aber bestellte die juristische Autorität, „Överförmyndaren“ genannt, einen Abwesenheitskurator, da nicht hundertprozentig sichergestellt werden konnte, dass alle gesetzlichen Erbinnen und Erben informiert worden waren. Das schwedische Recht sieht vor, dass ein Testament nur innerhalb der ersten sechs Monate angefochten werden kann. Sobald diese Zeit verstrichen ist, bekommt das Testament Rechtskraft. Erneut entstanden aufgrund von Sprachverwirrung einige Probleme, da das Dokument nur zu einem kleinen Teil auf Englisch verfasst war, der große Rest aber auf Schwedisch. Schließlich sollten die Erbinnen und Erben ihre Bankdaten bekannt geben und vor Zeugen unterschreiben. Als nach einer gewissen Zeit noch immer kein Geldeingang am Konto des österreichischen Erben zu verzeichnen war, hakten wir wieder nach. Es stellte sich heraus, dass uns die Schweden das falsche Dokument zugesandt hatten. Also musste die Bekanntgabe der Bankdaten vor Zeugen wiederholt werden. Doch auch dies beschleunigte die ganze Sache nicht. Auf Nachfrage erfuhren wir, dass die Schweden auf allen möglichen Wegen versucht hatten, die ungarische Erbin zu erreichen, denn erst wenn alle Erbinnen und Erben die Dokumente retourniert hatten, konnte die gesamte Verlassenschaft abgeschlossen werden. Nun baten uns die Schweden erneut um Hilfe, da unser Ungarisch sprechender Kollege die Erbin bereits zuvor kontaktiert hatte. Auch diesmal gelang es ihm, den Sohn zu erreichen, der uns wiederum die Zusendung der Dokumente zusicherte.

Danach waren alle Hürden aus dem Weg geräumt, und es ging vergleichsweise schnell: Der Erbe bekam seinen Erbteil und wir unser wohlverdientes Honorar. Auch wenn die Zusammenarbeit mit dem schwedischen Unternehmen mit vielen Problemen verbunden gewesen war, konnten wir doch einen Kooperationspartner für zukünftige Fälle gewinnen.

Riccardo Ferrarini Finetti

Aut imperium aut voluptas

Herr Durante Belisario wurde im Alter von 70 Jahren tot in seiner Wohnung aufgefunden, die sich in einem Hochhaus im Herzen von Mailand befand. Ein Nachbar, der länger nichts von ihm gehört hatte, hatte die Polizei verständigt. In der Wohnung fand man lediglich ein paar alte Fotos und mehrere handgeschriebene Briefe, die 30 Jahre zuvor verfasst worden waren. Von möglichen Verwandten keine Spur.

Die meisten unserer Geschichten beginnen auf diese Weise – genauer gesagt enden sie so für andere und beginnen für uns.

Wenn wir mit dem Tod eines Menschen konfrontiert sind, der offensichtlich einsam verstarb, besteht häufig die Gefahr, dass fälschlicherweise angenommen wird, die Person hätte von der Gesellschaft isoliert gelebt und keine besonderen zwischenmenschlichen Beziehungen gehabt. Doch das wäre ein gewaltiger Trugschluss.

Aus den gefundenen Unterlagen erfuhren wir, dass Durante Belisario mehrere Jahre nach der Niederlage Italiens in der Schlacht von Gondar im ehemaligen Italienisch-Ostafrika geboren worden war. Nach dieser Niederlage waren die italienischen Kolonialgebiete an die britische Militärregierung gefallen. Wir konnten zunächst lediglich zwei Namen der ursprünglichen Familie von Durante Belisario ermitteln – jenen seines Vaters Emidio Belisario, zweifellos italienischer Herkunft, sowie jenen seiner aus Eritrea stammenden Mutter Senait Zhera.

Die Recherchen gestalteten sich sehr aufwändig. Um herauszufinden, wie wir die tatsächliche Herkunftsfamilie von Durante Belisario ermitteln könnten, reichte es nicht aus, einfach nur die Archive der italienischen Behörden und das Personenstandsregister zu durchsuchen. Wir mussten die Lebensabschnitte des Verstorbenen rekonstruieren, zweifellos auch mit unmittelbaren Zeugen seines Lebens sprechen und uns mit der verwaltungstechnischen, politischen und wirtschaftlichen Geschichte sowie den Gesetzen der ehemaligen italienischen Kolonien in der unmittelbaren Nachkriegszeit auseinandersetzen. Angesichts dieser historischen Rahmenbedingungen zeichnete es sich bereits ab, dass die Recherchen herausfordernd sein würden.

Die Situation von Kindern, die in ehemals italienischen Kolonien geboren wurden, ist äußert problematisch, da es Italienern und Italienerinnen durch das Gesetz zum „Schutz der italienischen Rasse“ ab 1933 – lange vor den „Rassengesetzen“ von 1938 – verboten war, Kinder aus einer Beziehung mit einer eritreischen Frau anzuerkennen. Diese Kinder wurden abwertend als Mestize – auf Eritreisch „dqala“ – bezeichnet. Eritreerinnen konnten jedoch in ihrem Land den Vor- und Nachnamen des Kindsvaters angeben, selbst wenn dieser bereits in Italien verheiratet war und das Kind nicht anerkannte.

Auch heutzutage gibt es kaum Gesetze, die die Rechte dieser heute meist betagten Menschen schützen, die einerseits Kinder eines italienischen Staates sind, der nicht mehr existiert, und andererseits Bürger eines Staates, der sie weiterhin als schambehaftet ansieht. Glücklicherweise versuchen Angehörige einer ethnischen Minderheit, die durch eine bestimmte soziale Lage und Gemeinsamkeiten wie Geschichte, Sprache und geografische Herkunft verbunden sind, eigene gesellschaftliche Netzwerke in ihrer neuen Heimat aufzubauen.

Ein Beispiel dafür ist die Website „Mai Taclì“, eine der Plattformen, über die italienische Eritreer sich gegenseitig finden können. Wenn man in der Stichwortsuche der Website den Namen Durante Belisario eingibt, findet man einen Artikel, in dem sich sein alter Schulfreund Fosco, der jetzt in Italien lebt, an ihn erinnert.

Zu meinem Glück war es nicht schwierig, Herrn Fosco aufzuspüren, mit dem ich bei mehreren Gelegenheiten sprechen konnte. Er erzählte mir, dass Durante sein Schulfreund gewesen war, oder genauer gesagt sein Internatsfreund in der Stadt Saganeiti, wo eritreische Kinder von ihren Müttern zurückgelassen wurden, weil sich die Frauen für sie keine Schulausbildung leisten konnten oder – wohl eher wahrscheinlich – die Frauen von ihren Familien dazu gezwungen wurden, ihre Kinder abzugeben.

Von Fosco erfuhr ich, dass Durante das Land in den 1960er Jahren auf einem Schiff verlassen hatte, nach Neapel gegangen war, zunächst in Rom gewohnt hatte, von dort jedoch zum Arbeiten nach Mailand und schließlich an seinen letzten Wohnort hatte umziehen müssen.

Darüber hinaus musste ich das Staatsarchiv des Verteidigungsministeriums in Rom, in dem die Informationen und Verwaltungsakten zu diesem Zeitraum aufbewahrt werden, und vor allen Dingen die italienische Botschaft in Asmara kontaktieren, um so viele Informationen wie möglich zu beschaffen. In den Verwaltungsakten fand ich mehrmals den Namen des Vaters von Durante, Emidio, der in den 1930er Jahren als Angehöriger einer Pioniertruppe des Militärs registriert war.

Nun konnte ich die Suche in Norditalien fortsetzen, wo Emidio offenbar eine zweite Familie hatte. So kam einerseits sein Nachlass seinen rechtmäßigen Erben zu, die nichts von der Lebensgeschichte ihres Großvaters Emidio gewusst hatten. Andererseits konnten, wenn auch im kleinen Rahmen, die geschichtlichen Umstände um Durantes Geburt und Leben aufgeklärt und gewürdigt werden.

Nicolas Forster

Der ungarische Erbe

Einer der kniffligsten Fälle, den ich je bearbeitet habe, sollte sich schließlich als einer der einfachsten herausstellen: Es handelt sich um den Fall des „ungarischen Erben“ – und der stellte sich folgendermaßen dar: