Josi Saefkow

Tagträumer

Eine Depression ist wie ein Dämon, den du nur mit großer Kraft und Anstrengung loswirst. Er frisst dich von innen heraus auf, bis eine leere Hülle übrig ist, in welcher er als Parasit glücklich weiterlebt. Dieses Monster ernährt sich von deiner Trauer, deiner Wut und deinen Ängsten, deren Schöpfer er ist. Es besiedelt deinen Leib, bevor du seine Nähe überhaupt wahrgenommen hast. Seine kalten Berührungen sind wie eiserne Peitschenhiebe. Zunächst nimmt dieser Dämon dir die Stimme, danach lähmt er deine Muskeln. Erst lässt er dich heulen wie ein neugeborenes Kind, dann lässt er dich toben wie ein tollwütiger Löwe. Menschen werden beginnen, dich zu bemitleiden oder einfach nur zu belächeln. Sie werden deine Anwesenheit meiden und deine Probleme nicht ernst nehmen. Die Gedanken in deinem Kopf werden auch dich dazu bringen, die Nähe zu Artgenossen zu scheuen- sogar zur eigenen Familie.

Du spürst all seine Bewegungen. Er spricht zu dir. Er rät dir ab von all dem, was dich glücklich machen könnte, gibt dir schlechte Ratschläge, lässt dich denken, du seist lediglich ein Schandfleck für unsere Welt. Er liebt es, wie du weinst, wie du ihn anflehst, dass er endlich aufhören solle. Doch er erhört keine dieser Bitten. Er gleicht einem bösartigen Tumor, welcher stetig in dir wächst. Bist du zu schwach, um gegen ihn zu kämpfen, kann er dich bis in den Tod treiben. Er kennt keine Gnade. Ärzte verabreichen Tabletten zur Beruhigung, doch diese können solch ein Raubtier nicht besiegen, nicht einmal schwächen, höchstens betäuben. Es gibt nur ein Heilmittel, vor dem sich der seelenfressende Dämon fürchtet. Auch wenn dieses nicht sichtbar und in unendlicher Ferne scheint, ist es immer in Reichweite. Man muss danach greifen und es nie mehr loslassen. Es ist die Lebensfreude.

Erster Schritt ins Glück

Seine Hand umfasste meinen Arm, denn er wollte nicht, dass ich den Streit beende, indem ich einfach wegging.

„Warum hörst du mir nie zu?“

Ich antwortete nicht darauf, sondern brüllte zurück: „Lass mich los!“, befreite mich mit einem schnellen Ruck von seinem Griff und stampfte die Treppe hinauf.

Wie erwartet, konnte ich Torpus nicht abschütteln.

„Du wirst dich jetzt nicht in deinem Zimmer verkriechen! Ich will, dass wir das ein für alle Mal klären“, schrie er mir zu.

„Es gibt nichts zu klären.“

Ich drehte mich nicht zu ihm um, wusste aber, dass er mir dicht auf den Fersen war.

Die Stimme meiner Mutter drang von unten: „Hört auf zu streiten!“

„Ich will bloß meine Ruhe“, sagte ich zum wahrscheinlich tausendsten Mal.

Torpus fasste von hinten an meine Schulter, ich rüttelte mich, ging in Eile in mein Zimmer und schaute ärgerlich zu ihm, während ich sprach: „Du hast mir gar nichts zu sagen!“

Die Tür knallte ich ihm vor seiner Nase zu, schloss ab, was seinen Zorn anheizte. Er klopfte mehrmals an. „Alasha! Komm da raus!“

„Hau ab!“, brüllte ich.

Ich ging rückwärts, drehte mich dann nach links. Mein Blick fiel wie von selbst auf das kleine, eingerahmte Foto meines Vaters, welches auf dem Nachttisch stand. Ich nahm es, setzte mich aufs Bett und lehnte mich an der Wand an. Meine Sicht wurde stetig verschwommener, je länger ich auf das Bild starrte.

Er sah auf dem Foto so glücklich aus. Ein einziger Gedanke flog in meinem Kopf hin und her: „Ich werde ihn nie wieder so sehen können.“ Die Trauer ließ ich über mich ergehen.

Die Rufe von Torpus wurden allmählich leiser. Es wurde still. Das Foto lag nicht mehr in meinen Armen. Die Luft um mich herum veränderte sich. Es wurde angenehm warm. Fremdartige, wässrige Materie klebte auf meiner nackten Haut. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Es war finster. Ich dehnte mich und spürte deutlicher einen seltsamen Schleim um mich herum. Die Bewegungen waren mühsam, ich kam keinen Schritt voran. Ich befand mich in einem unangenehm engen Raum. Die rechte Hand streckte ich nach vorne aus und merkte etwas Hartes, Hölzernes, welches durch Berührungen an den jeweiligen Stellen in gelblichem Licht erstrahlte. Mein Handabdruck war noch fünf Sekunden danach zu erkennen. Ich strich über die Wand. Als ich kurz mit den Fingerspitzen festhing, wurde mir klar, dass ich Krallen besaß. Es war alles so irreal, wie in einem Traum. Jedoch wachte ich nicht auf.

Langsam wurde ich unruhig. Mit den Beinen drückte ich fest gegen die Wand. Leises Knacken der Rinde konnte ich hören. Es dauerte eine Weile, bis ich eher zufällig die Kette bemerkte, die an meinem Hals hing. Ein Schlüssel war daran gebunden. Das dazugehörige Schlüsselloch konnte ich ertasten. Er passte perfekt. Voller Hoffnung drehte ich ihn, bis Geräusche von knackendem Holz erklangen.

Ganz plötzlich brach die Wand entzwei und öffnete sich wie eine Tür. Ich fiel wie ein Stein herunter und landete auf weichem Moos zwischen Pilzen und Blumen. Der geleeartige Schleim floss auf mich herab und bildete eine dickflüssige Pfütze. Ich hustete und spuckte den durchsichtigen, grünlichen Glibber aus, blieb dabei auf dem Bauch liegen. Das Licht blendete sehr. Bäume raschelten und ich hörte unbekannte Vogelgesänge. Ich wischte mir über mein schleimiges Gesicht und drehte meinen Kopf mühsam nach hinten. Ein gigantischer Baum wurzelte dort. An ihm befanden sich weitere dieser Türen. Das Loch, aus dem ich kam, leuchtete.

Meine Glieder waren wie eingerostet und es fiel mir schwer, aufzustehen. Selbst bei dem dritten Versuch scheiterte ich. In der Pfütze unter mir spiegelte ich mich selbst. Mein Körper war wie immer dunkelbraun, doch meine Arme waren verziert mit violetten Mustern, meine Unterarme waren gepanzert. Auf meinem Kopf trug ich zwei schwarze Hörner, meine Haare waren lila. Das dunkle Fell an meinen Schultern und an meinem Bauch war verklebt. Ich legte mich auf den Rücken und schaute empor. Zwischen den breiten Baumkronen schimmerte das Sonnenlicht hindurch. Hoch oben flogen anscheinend riesige, kreischende Fledermäuse. Das Laub war nicht überall grün, die Rinde nicht immer braun. Hier wuchsen Pflanzen, wie es sie niemals in der Menschenwelt gab.

Ich unternahm einen weiteren Versuch, mich auf beide Beine zu stellen. Diesmal hatte ich Erfolg. Mir wurde schwindelig, als ich hochkam. Der Boden war glatt. Vorsichtig tat ich einen Fuß auf den anderen.

Immer derselbe Satz kam in mir auf: „So einen schönen Traum hatte ich noch nie.

Ich wollte ihn ausnutzen, alles aus ihm rausholen, bevor er vorbeigehen würde. Während ich mich betastete, fiel mir etwas Entscheidendes auf: ich besaß Flügel. Sie waren dicht angewinkelt an meinen Armen. In meinem Umkreis bemerkte ich einen etwas größeren Felsen. Voller Vorfreude kletterte ich darauf, spreizte oben angekommen meine ledernen Schwingen, nahm

einen Meter Anlauf, sprang auf und glitt wie erhofft über den Boden hinweg. Es war ein wundervoller Moment. Vor Freude jubelte ich laut. Allerdings war es schwierig, die Flugrichtung zu ändern, weshalb ich direkt auf einen blauen, riesigen Pilz zusteuerte. Den Zusammensturz konnte ich nicht verhindern, doch ich schaffte es, mich an ihm festzukrallen, um danach herunterzuklettern. Mein Körper war wie aufgetaut. Ich war so fröhlich, wie schon lange nicht mehr.

Ich lauschte, als Geräusche mich aufmerksam machten. Ohne Bedenken ging ich in die Richtung, aus der sie kamen. Unter dichtem Gebüsch lag ein sich bewegendes wurmähnliches Etwas. So achtlos, wie ich war, fasste ich es an. Ein Knurren wurde hörbar, als das Ding sich zurückzog. Ich blickte reflexartig hinauf. Hinter dem Busch regte sich ein großes, teilweise lila gefärbtes Tier. Sein vogelähnlicher Kopf drehte sich zu mir und sein Nackenschild, welches wie eine einzige Blume wirkte, stellte sich auf. Ein Name sprang mir blitzartig in den Sinn: „Sucárza“ [Sukárssa].

Der Drache schrie mich an. Mein Gehirn, mein Bauch und mein Herz sagten mir allesamt: „Lauf!

Doch meine Kraft ließ kurzerhand nach. Mein Körper konnte dem nicht standhalten. Ich rannte um einen großen, umgefallenen Baumstamm herum und versteckte mich dort an einer Stelle, um die Echse abzuschütteln und kurz zu verschnaufen. Jeden ihrer Schritte nahm ich wahr. Sie blieb stehen, schaute sich um. Eilig krabbelte ich hinein in den hohlen Stamm und konnte sie durch ein kleines Loch beobachten. Plötzlich verlor ich sie aus den Augen. Mein Herz raste. Keine zwei Atemzüge später brach der Baumstamm in der Hälfte auseinander. Er wurde durch das Gewicht der Echse einfach zerdrückt. So schnell ich konnte lief ich heraus. In der Ferne schimmerte das Sonnenlicht durch die Bäume. Die Pflanzen wurden weniger. In der Hoffnung, an einen sicheren Ort zu gelangen, rannte ich weiter. Vor mir war eine Klippe. Ich sprang, weitete meine Flügel aus und schwebte über einen breiten Fluss. Der Drache hinter mir brüllte und schlug kaum mit seinen vier Flügeln, während er mir folgte. Ein menschengroßes Loch in der braunen Gesteinswand war nun mein Ziel. Mit großer Mühe konnte ich die Richtung einschlagen und erreichte die kleine Höhle. Ich flog hinein und stürzte beim Landeversuch auf den Boden. Endlich konnte ich durchatmen. Die paar Schrammen, die ich mir zugezogen hatte, ließ ich außer Acht. Zunächst war alles ruhig, doch auf einmal erschien das Gesicht der Sucarza am Höhlenausgang. Vor Schreck krabbelte ich rückwärts. Sekunden später wurde das Gebrüll des Drachen leiser. Stattdessen vernahm ich ein Klopfen, welches nicht von hier stammen konnte. Meine Umwelt verblasste. Das Gestein, auf dem ich saß, wurde so weich wie eine Matratze.

Die Umrisse von Möbelstücken wurden erkennbar. Das Foto lag in meinen Armen. Meine Tränen waren längst getrocknet.

Ich hörte die besorgte Stimme meiner Mutter: „Alasha, komm raus! Komm bitte, es gibt Abendessen!“

Eine halbe Stunde war vergangen. Ich wunderte mich, wie schnell ich eingeschlafen war. Mein Appetit war groß. Trotz der Überzeugung, dass es erneut Streit gäbe, stellte ich Papas Bild weg und ging hinunter. Gegenüber der Treppe befand sich unsere Küche, links davon das Esszimmer mit großen Fenstern und Ausblick auf den Garten. Beide Räume waren ausgestattet mit schicken Holzmöbeln. Außer fürs Bad gab es in diesem Stockwerk keine Türen, sondern Torbögen. Die Wände waren teils braun und beige und die Decke meist weiß, der Fußboden in den Fluren aus hellem, orangebraunem Holz. Alles war groß und schön eingerichtet.

Das Abendessen verlief friedlich, aber nur weil meine Mutter die aufkommende Diskussion sofort durch ihr Eingreifen beendete.