Juan Gómez-Jurado

Zerrissen

Thriller

Aus dem Spanischen von Carsten Regling

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Juan Gómez-Jurado

Juan Gómez-Jurado, geboren 1977 in Madrid, ist derzeit einer der erfolgreichsten spanischen Autoren. Bereits der erste Thriller des mehrfach ausgezeichneten Journalisten wurde zu einem internationalen Bestseller und in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seither ziehen seine Romane Millionen Leser weltweit in den Bann. Mit ›Zerrissen‹ legt der sympathische Erfolgsautor und Vater zweier Kinder seinen neuesten nervenzerreißenden Thriller vor, der mit seinem hoch emotionalen, filmisch erzählten Plot gewiss niemanden kaltlässt.

Weitere Informationen zum Autor und seinem Werk: www.juangomezjurado.com

Über das Buch

Washington D.C. Vielleicht wäre alles ganz anders gelaufen, wenn David Evans rechtzeitig seine Schicht in der Privatklinik Saint Claire beendet hätte. Doch als der renommierte Neurochirurg nach einer eingeschobenen Not-OP gegen Mitternacht nach Hause kommt, ist seine Haushaltshilfe tot – und seine Tochter Julia verschwunden, entführt von einem hochintelligenten Psychopathen. Mr White, wie er sich nennt, will jedoch kein Lösegeld: Die Siebenjährige komme nur frei, wenn Evans’ nächster Patient die anstehende Operation nicht überlebt. Dem Neurochirurgen bleiben 55 Stunden, um eine Lösung für das fatale Dilemma zu finden: Auf dem Spiel stehen das Leben seiner kleinen Tochter – und das seines Patienten, des mächtigsten Mannes der Vereinigten Staaten.

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2015

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München

© 2014 LAGOESPEJO, S. L.

Titel der spanischen Originalausgabe:

›El Paciente‹

(Editorial Planeta S. A., Barcelona)

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel/punchdesign, München

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42733-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21587-9

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423427333

 

 

 

Für A, J und K,
die drei wichtigsten Buchstaben in meinem Leben

 

 

 

 

»Mit dem Wahnsinn ist es wie mit der Schwerkraft:

Es reicht schon ein kleiner Schubs.«

Jonathan Nolan, ›The Dark Knight‹

Dr. Evans’ Tagebuch

Sie glauben, mich zu kennen.

Doch Sie täuschen sich. Sie alle, ohne Ausnahme.

Die ganze Welt kennt meinen Namen. Unzählige Male haben Sie mein Gesicht gesehen. Zum ersten Mal, als die Polizei die Großfahndung nach mir einleitete und mein Foto überall im Fernsehen zu sehen war. Und zuletzt wohl an dem Tag der Live-Übertragung, als mich das Gericht vor Millionen von Fernsehzuschauern für schuldig erklärte. Sie alle haben eine Meinung zu dem, was ich getan habe. Doch wissen Sie was? Ob Sie mich dafür verurteilen oder mir Beifall spenden, ist mir völlig egal.

Seit tausendachthundertdreiundzwanzig Tagen, elf Stunden und zwölf Minuten sitze ich nun schon im Todestrakt. Jede wache Minute habe ich seither über die Ereignisse nachgedacht, die mich hierhergeführt haben.

Und dennoch bereue ich nichts von dem, was ich getan habe … außer vielleicht das, was ich damals zu Kate gesagt habe.

Ich bin kein Heiliger, kein Märtyrer, kein Terrorist. Ich bin auch kein Verrückter oder gar ein Mörder.

Ich passe in keine dieser Schubladen.

Ich bin nur ein Vater.

Und das ist meine Geschichte.

63 Stunden vor der Operation

1

Alles begann mit Jamaal Carter. Hätte ich ihn an jenem Abend nicht gerettet, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen.

Als der Pager piepte, war ich sofort aus dem Schlaf aufgefahren. Schlecht gelaunt setzte ich mich auf und rieb mir die Augen. Das Bereitschaftszimmer der Chirurgen roch nach Schweiß und ungewaschenen Füßen.

Von Natur aus schlafe ich wie ein Stein. Rachel hatte mich deswegen immer aufgezogen; sie behauptete, man könnte mich mit einem Kran aus dem Bett hieven, ohne dass ich davon aufwachen würde. Für den Pager gilt das allerdings nicht: Das verdammte Ding schafft es, dass ich beim zweiten Piepen auf den Beinen bin.

Darauf wurde ich in sieben Jahren Ausbildung getrimmt. Wenn man da nämlich nicht augenblicklich auf der Matte steht, reißt einem der leitende Assistenzarzt den Arsch auf. Allerdings macht man es in unserem stressigen Beruf auch nicht lange, wenn man sich während der sechsunddreißigstündigen Schichten zwischendurch nicht mal kurz hinlegt. Deshalb lernen wir Chirurgen schnell, auf der Stelle einzuschlafen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet, und wie ein Pawlow’scher Hund beim ersten Piepen des Pagers wieder hochzuschrecken. Inzwischen habe ich zwar nur noch halb so oft Bereitschaftsdienst wie früher, schließlich bin ich nun schon seit vier Jahren Oberarzt, der Reflex ist mir zum Glück aber geblieben.

Gähnend zog ich den Pager unterm Kopfkissen hervor. Auf dem Display leuchtete der Code 342. Die Neurochirurgie. Verärgert warf ich einen Blick auf die Uhr. Bis zum Ende meiner Schicht fehlten nur noch dreiundzwanzig Minuten, und ich hatte einen anstrengenden Dienst hinter mir; unter anderem war ich drei Stunden damit beschäftigt gewesen, den Schädel eines englischen Kulturattachés zusammenzuflicken, der am Dupont Circle verunglückt war. Der Mann war noch keine zwei Tage in Washington, und schon hatte er auf die harte Tour erfahren, dass man hier im Kreisverkehr andersherum fährt als in London.

Die Krankenschwestern wussten, wie erschöpft ich war. Wenn man mich anfunkte, musste es sich also um einen wirklichen Notfall handeln. Auf meinem Handy wählte ich die Nummer der Station, aber es war besetzt, und so spritzte ich mir am Waschbecken in der Ecke schnell noch etwas Wasser ins Gesicht und machte mich auf den Weg.

Als ich auf den Flur trat, war es zwanzig vor sechs. Die Sonne verschwand bereits hinter den Bäumen des Rock Creek Parks, und ihre letzten Strahlen fielen orangefarben durch die hohen Sprossenfenster herein. Im letzten Jahr hätte ich mich über so einen Sonnenuntergang noch gefreut, sogar wenn ich wie jetzt zum Fahrstuhl eilen musste. Doch nun sah ich nicht mehr hin. Der Mann, der aus mir geworden war, hatte nichts mehr für grandiose Anblicke übrig.

 

Im Fahrstuhl stieß ich auf Jerry Gonzales, einen Pfleger aus der Allgemeinchirurgie, der ein Krankenhausbett beförderte. Der kräftig gebaute Mann musste ganz nach hinten treten, damit ich noch in den Aufzug passte. Jerry lächelte unsicher. Ich grüßte mit einem Nicken zurück.

»Dr. Evans … ähm … vielen Dank noch mal für das Lehrbuch, das Sie mir neulich geliehen haben. Es liegt in meinem Spind, ich bringe es Ihnen nachher.«

»Lass nur, Jerry, du kannst es behalten.« Gleichgültig winkte ich ab. »Ich lese eh nicht mehr viel.«

Ein unangenehmes Schweigen trat ein. Früher hätten wir ein bisschen herumgeflachst oder uns ein paar witzige Anekdoten erzählt. Aber das war vorbei. Ich konnte fast hören, wie er die Worte, die er eigentlich sagen wollte, hinunterschluckte. Zum Glück: Ich kann Mitleid nämlich nur schwer ertragen.

»Müssen Sie sich um den verletzten Jugendlichen kümmern?«, brachte er schließlich heraus.

»Hat man mich deshalb gerufen?«

»In Barry Farm gab’s ’ne wilde Schießerei. Da herrscht Bandenkrieg. In den News reden sie von nichts anderem mehr.« Er deutete auf seine Ohrhörer. »Es gab sieben Tote und ’nen Haufen Verletzte.«

»Und warum hat man ihn nicht ins MedStar gebracht?«

Jerry zuckte mit den Schultern, und im selben Moment öffneten sich die Aufzugstüren. Ich war im vierten Stock angelangt, auf dem sich die Neurochirurgie befand.

 

Das Saint Claire liegt südlich des Rock Creek Parks in der Nähe der Taft Bridge. Viele Bewohner Washingtons haben wahrscheinlich noch nie etwas von der kleinen, exklusiven Privatklinik gehört, geschweige denn sie zu Gesicht bekommen. Der herrschaftliche viktorianische Backsteinbau mit den weißen Fenstern ist etwas von der Straße zurück versetzt und versteckt sich zudem hinter hohen alten Bäumen, sodass man schon ganz gezielt danach suchen muss. Der Klinikleitung ist das nur recht, soll das Saint Claire doch nicht für jedermann zugänglich sein: Die meisten unserer Patienten leben im mondänen Kalorama-Viertel und sind hohe Diplomaten aus dem Ausland, die in den umliegenden Botschaften arbeiten und deren Regierungen zähneknirschend die horrenden Krankenhausrechnungen begleichen.

Zu meinem großen Missfallen hält der Klinikdirektor auch nicht viel von der notfallmedizinischen Grundversorgung. Die Aktionäre der Klinik wollen schließlich hohe Einnahmen und niedrige Ausgaben sehen. Aber zum Glück ist das Saint Claire, wie alle Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten, gesetzlich dazu verpflichtet, jeden Notfall zu behandeln, der zu uns gebracht wird. Selbst wenn absehbar ist, dass die Rechnung nicht bezahlt werden kann.

Und so kam es, dass ich Jamaal Carter begegnete.

Er lag auf einer fahrbaren Liege im Gang gegenüber dem Stationszimmer. Außer einem Polizisten eskortierten ihn eine Ärztin und zwei Rettungssanitäter, deren Uniformen von Blut durchtränkt waren. Sie sahen mitgenommen aus und sprachen leise miteinander. Wenn man wusste, mit was für einer Scheiße sie es jeden Tag zu tun hatten, musste die Schießerei wirklich heftig gewesen sein.

Die Assistenzärztin aus der Notaufnahme blätterte mit besorgtem Gesicht im Notfallprotokoll. Sie musste neu sein, ich hatte sie noch nie gesehen.

»Sind Sie der Neurochirurg?«, fragte sie, als sie mich kommen sah.

»Nein, ich bin der Klempner; diesen schicken Kittel hat man mir bloß geliehen, damit mein Blaumann nicht schmutzig wird.«

Sprachlos starrte sie mich an, sodass ich ihr zuzwinkern musste, damit sie den Scherz begriff, dann lachte sie nervös. Den jungen Kollegen hilft es immer, wenn man die Atmosphäre etwas auflockert, weil sie von den langjährigen Ärzten oft wie Hundescheiße an der Schuhsohle behandelt werden, sodass jede noch so kleine menschliche Geste für sie wie ein Glas Wasser in der Wüste ist.

Sie zeigte auf den jungen Schwarzen.

»Eine Schusswaffenverletzung. Glasgow Coma Score 15, Blutdruck 100 zu 60, Puls 89. Sein Zustand ist stabil, aber das Projektil steckt direkt neben dem Th5. Der Kerl ist gerade mal sechzehn.«

Ich warf einen Blick auf das CT, das mir die Ärztin hinhielt, damit ich die genaue Position der Kugel sehen konnte. Es sah nicht gut aus.

Der Junge lag auf dem Bauch und trug Baggy Jeans und eine blaue Jacke der Washington Wizards, deren rechten Ärmel jemand aufgeschnitten hatte, um einen Streifschuss verbinden zu können. Der Arm war von oben bis unten tätowiert, so wie sicher auch der andere, der mit einer Handschelle an die Liege gefesselt war.

Auf der Rückseite der Jacke, dort, wo eigentlich das Teamwappen sein sollte, war ein großes Loch in den Stoff geschnitten. An der Stelle sah man eine kaum blutende Schusswunde. Es hatte ihn an der Wirbelsäule erwischt, unterhalb der Schulterblätter. Seine Werte waren stabil, er schwebte nicht in unmittelbarer Lebensgefahr, aber die Kugel hatte womöglich sein Nervensystem verletzt.

Ich ging neben dem leise stöhnenden Jungen in die Hocke. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht und war durch die Schmerzmittel ziemlich benommen. Ich strich ihm über die Wange.

»Wie heißt du, Kollege?«

Ich musste die Frage mehrmals wiederholen, bis er schließlich reagierte.

»Jamaal … Jamaal Carter.«

»Hör zu, Jamaal, wir kümmern uns um dich. Aber du musst uns helfen.«

Mit einem Wink bat ich die Assistenzärztin, ihm zusammen mit mir seine Nikes auszuziehen, die vor der Schießerei weiß gewesen sein mussten und jetzt schmutzig rot waren.

»Kannst du deine Zehen bewegen?«

Die Zehen bewegten sich nicht. Ich stach mit der Spitze meines Kugelschreibers in seine Fußsohle.

»Spürst du was?«

Zu Tode erschrocken schüttelte er den Kopf und begann zu schluchzen. Wenn dieses Kerlchen schon sechzehn war, war ich der Kaiser von China. Die Mitglieder dieser Gangs wurden von Tag zu Tag jünger.

Was bist du nur für ein verdammter Idiot, Kleiner, dachte ich und wandte mich an die diensthabende Oberschwester, die gerade aus dem Stationszimmer trat, wo sie bis eben telefoniert hatte.

»Was macht dieser Junge hier?«

Nervös rieb sie sich die Hände.

»Das MedStar hat ihn hergeschickt. Sie wissen dort nicht, wo ihnen der Kopf steht, Doktor, und …«

»Das weiß ich schon«, herrschte ich sie an. »Ich will wissen, warum er noch nicht im OP ist, verdammt noch mal! Die Kugel muss auf der Stelle raus!«

Ich wollte zum Fußende der Liege gehen, um die Bremsen zu lösen, doch sie stellte sich mir in den Weg. Resigniert ließ ich die Arme sinken. Es hat keinen Zweck, sich mit einer Oberschwester anzulegen, erst recht nicht, wenn sie dreißig Kilo mehr wiegt als man selbst.

»Es tut mir leid, Sie angefunkt zu haben, Dr. Evans. Ich habe eben mit der Chefärztin gesprochen. Sie genehmigt die Operation nicht.«

»Von wem redest du, Margo? Dr. Wong ist auf einem Kongress in Alabama.«

»Sie hat zufällig angerufen. Gerade nachdem ich Sie über den Pager alarmiert hatte. Sie wollte wissen, wie’s uns geht.« Um Entschuldigung bittend, hob die Oberschwester die Schultern. »Da musste ich es ihr doch erzählen. Als sie gehört hat, wer der Verletzte ist, hat sie angeordnet, seinen Zustand zu stabilisieren, wie dies gesetzlich vorgeschrieben ist, und ihn zu beobachten, bis wir ihn in ein öffentliches Krankenhaus verlegen können.«

Ich holte tief Luft. Die Chefin hatte gut reden, es war einfach, so was von einer Fünf-Sterne-Suite aus anzuordnen. Aber hier, in der realen Welt, lag ein schwerverletzter Junge, den man irgendwann in eine überfüllte Klinik bringen würde, wo mit größter Wahrscheinlichkeit ein völlig überarbeiteter Assistenzarzt die äußerst riskante Operation übernehmen würde. Sollte Jamaal nicht im Saint Claire bleiben, würde er wahrscheinlich nie wieder laufen können.

»Ist gut, Margo. Ich rufe Dr. Wong an.« Ich griff nach meinem Handy. »Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?«, fragte ich die Sanitäter, während ich auf das Freizeichen wartete.

»Die Kugel ist von der Wand abgeprallt, bevor sie ihn erwischt hat, deshalb lebt er noch«, antwortete einer der beiden kopfschüttelnd. »Ein paar Zentimeter weiter rechts, und es wäre nicht mehr als ein Kratzer gewesen, aber so …«

Aber so ist sein Pech jetzt unseres, vervollständigte ich im Stillen den Satz, während ich mich umdrehte und ein paar Schritte den Gang hinunterging, denn am anderen Ende der Leitung war nun meine Chefin dran.

»Gib dir keine Mühe, Evans«, begrüßte sie mich.

»Wie sind die Martinis in Alabama, Chefin?«

»Du wirst ihn nicht operieren.«

»Stephanie, er ist fast noch ein Kind! Er braucht unsere Hilfe.«

»Eine Hilfe, die neunzigtausend Dollar kostet und uns niemand erstattet.«

»Stephanie …«

»Evans, wir haben unser jährliches Budget für solche Notfallbehandlungen bereits um das Doppelte überzogen. Und es ist erst Oktober. Es tut mir leid, aber meine Antwort lautet Nein.«

»Dann wird er für immer gelähmt bleiben«, war alles, was ich darauf sagen konnte. Als wüsste sie das nicht selbst.

»Daran hätte er denken sollen, bevor er sich diesen Idioten angeschlossen hat.«

Ihre Worte klangen hart, das stimmt. Und Dr. Wong ist auch ein herzloses Miststück. Aber gehen Sie nicht zu streng mit ihr ins Gericht. Sie ist eine begnadete Chirurgin, und als Chefärztin ist es zudem ihre Pflicht, die Interessen des Krankenhauses zu vertreten. Genau das tat sie an jenem Tag. Und was ihr Urteil betraf, weil der Junge einer Gang angehörte … nun, so sind Ärzte eben.

Wir Ärzte müssen die Dinge rational betrachten und von den Fakten und den uns zur Verfügung stehenden Mitteln ausgehen. Es gibt nur eine Niere? Dann bekommt sie am besten der jüngste Patient, selbst wenn er nicht ganz oben auf der Warteliste steht. Jemand raucht trotz aller Warnungen zwei Schachteln Zigaretten am Tag? Dann kann er nicht erwarten, dass wir auch nur eine Träne vergießen, wenn er irgendwann mit Lungenkrebs eingeliefert wird. Und wenn jemand säuft wie ein Loch, reißen wir höchstwahrscheinlich ein paar Witze über Leberpasteten, nachdem er uns seine Leberzirrhose gezeigt hat. Aber keine Sorge, natürlich tun wir das erst nach der Visite, im Stationszimmer.

Ob ich auch so ticke, wollen Sie wissen?

Gute Frage. Die Antwort darauf fällt mir nicht leicht …

Ich bin, wie schon gesagt, kein Monster. Ich bin ein Mensch wie jeder andere. Ich habe nur so oft mit gutherzigen, rechtschaffenen Leuten zu tun, denen unversehens etwas Schlimmes widerfährt, dass ich jedem, bei dem es einen ganz offensichtlichen Grund für sein Leiden gibt, tatsächlich die Schuld daran gebe. Das ist reiner Selbstschutz, mein Gehirn wehrt sich so gegen übermäßigen Stress: Ich tue, was ich kann, indem ich versuche, die einzelnen Fälle nicht zu nah an mich heranzulassen. Bigotte und politisch korrekte Menschen werden jetzt sagen, das sei unmenschlich, aber glauben Sie mir, auf diese Weise können wir Ärzte am besten helfen.

Hin und wieder passiert es dennoch. Auf einmal steigt dir der Duft eines Rasierwassers in die Nase, das dich an deinen Adoptivvater erinnert, oder ein Patient macht eine bestimmte Geste, hat einen besonderen Akzent. Oder zwei erschrocken blickende Augen wie Jamaal. Und plötzlich versagen die ganzen Schutzmechanismen, die man für unzerstörbar gehalten hat. Und man tut etwas, das man nicht tun sollte: Man nimmt Anteil am Schicksal eines Menschen und setzt sich für ihn ein.

»Stephanie, bitte … Wie kann ich dich überzeugen?«, flehte ich, wobei ich nervös auf und ab zu gehen begann.

»Vergiss es. Du wartest jetzt sieben Minuten, bis deine Schicht zu Ende ist. Dann ist es das Problem eines anderen. Und du kannst nach Hause gehen.«

Abrupt blieb ich stehen. Irgendwas hatte in ihren Worten, ihrem Tonfall mitgeschwungen, das ich nicht recht zu deuten wusste … Unbewusst massierte ich mir die Nasenwurzel, während ich angestrengt überlegte.

Du wartest sieben Minuten … das Problem eines anderen …

Sieben Minuten! Das war es, was mir meine Chefin indirekt zu verstehen gab! Als diensthabender Chirurg würde ich während der nächsten sieben Minuten die Verantwortung für das Schicksal des Jungen tragen. Ich und niemand sonst.

»Dr. Wong, ich muss auflegen. Der Zustand des Patienten verschlechtert sich rapide. Sein Leben steht auf dem Spiel. Ich muss die Kugel rausholen.«

»Ich bedauere, das zu hören, Evans«, verabschiedete sie sich angespannt.

Mit großen Schritten lief ich zurück zu Jamaal und brüllte ein paar knappe Anweisungen. Augenblicklich machten die Sanitäter den Krankenschwestern Platz, die die Liege eilig zum OP schoben, während ich die Oberschwester bat, einen Anästhesisten zu rufen. Das sollte kein Problem sein. Keiner in der Klinik würde es wagen, mir etwas abzuschlagen.

Nicht nach allem, was mit Rachel passiert war.

Dann lief ich selbst los in Richtung Schleusenraum, wobei ich noch einen letzten Anruf machte.

»Hallo, Svetlana? … Ihr müsst leider ohne mich essen. Ich habe hier noch einen Notfall reinbekommen.«

»In Ordnung, Dr. Evans«, antwortete sie mit diesem slawischen Akzent, der ihrer Stimme einen gleichförmigen Ton verlieh. »Ich bringe Ihre Tochter dann ins Bett. Soll ich es ihr sagen, dass Sie später kommen?«

»Nein, gib sie mir kurz«, entgegnete ich seufzend.

Ich hatte Julia versprochen, ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Früher hatte Rachel das getan. Seitdem sie nicht mehr bei uns war, wollte ich das eigentlich jeden Abend tun. Doch ich hatte mein Versprechen schon so oft gebrochen, dass ich mich geschämt hätte, es meiner Tochter nicht selbst zu sagen. Ich hörte Svetlana nach ihr rufen. Sie musste laut schreien, um den Fernseher zu übertönen.

»Hallo, Papi!«, hörte ich zwei Minuten später Julias helle Kinderstimme. »Wann bist du hier? Es gibt Hähnchen zum Abendessen!«

»Hallo, Prinzessin! Ich … ich komme leider etwas später. Weißt du, hier ist eben ein junger Mann eingeliefert worden, der ein großes Problem hat, und nur dein Papi kann ihm helfen. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

»Hm …«

Die eintretende Stille sprach Bände. Sie war ein einziger, stummer Vorwurf und löste automatisch all die Schuldgefühle aus, die ich meinem siebenjährigen Kind gegenüber empfand.

»Was siehst du dir gerade an?«, fragte ich betont munter, um uns beide abzulenken.

»SpongeBob. Wo Plankton sagt, dass er nicht mehr das geheime Rezept für den Krabbenburger klauen will. Und einen Laden mit Geschenken aufmacht.«

»Und Mr Krabs redet dann so lange auf ihn ein, bis er ihn überzeugt hat, das Rezept erneut zu klauen. Das ist eine meiner Lieblingsfolgen!«

»Mami mochte sie auch sehr.«

Diesmal war ich es, der nichts mehr sagte. Ich brauchte einfach ein paar Sekunden, bis ich weiterreden konnte. Ich hatte einen Kloß im Hals und wollte nicht, dass sie es merkte.

»Sobald ich zu Hause bin, komm ich hoch und deck dich zu«, erklärte ich schließlich voller Zärtlichkeit. »Aber jetzt musst du lieb sein und Svetlana gehorchen. Denk dran, wir sind ein Team.«

Julia seufzte, um deutlich zu machen, dass sie sich damit noch nicht zufrieden gab.

»Ich krieg dann aber auch einen Gutenachtkuss. Selbst wenn ich schon schlafe!«

»Natürlich kriegst du den. Versprochen«, versicherte ich ihr und stimmte dann den Schlachtruf an, den Rachel sich für unsere Familie ausgedacht hatte. »Team Evans, können wir das schaffen?«

»Ja, wir schaffen das!«, antwortete sie ohne große Begeisterung.

»Ich liebe dich, Julia«, war das Letzte, was ich ihr noch sagte, bevor sich die Tür zum Schleusenraum öffnete.

Ohne zu antworten, legte sie auf.

 

Fünfeinhalb Stunden später ging ich vollkommen gerädert über den Klinikparkplatz zu meinem Lexus, als mein Handy klingelte.

»Wie ist es gelaufen?«

Dr. Wong sprach mit schleppender Stimme, weshalb ich sofort wusste, dass ihre Minibar-Rechnung kein Pappenstiel sein würde. Aber meine Chefin wird sie sicher nicht als Spesen abrechnen, sondern selbst bezahlen, und zwar in bar. Alle Chirurgen trinken, und je älter wir werden, desto mehr. Es hilft uns, einzuschlafen und bei Müdigkeit und Stress eine ruhige Hand zu bewahren, Probleme, die mit dem Alter zunehmen. Doch das würden wir nie offen zugeben, unter keinen Umständen. Es sei denn, man hat nichts mehr zu verlieren. So wie ich.

»Gut. In drei bis fünf Jahren wird ein Gangster mehr die Bewohner von Anacostia in Angst und Schrecken versetzen. Vielleicht auch schon vorher. Falls er wegen guter Führung vorzeitig aus dem Knast kommt«, antwortete ich, während ich in meinen Hosentaschen nach dem Autoschlüssel suchte.

»Ich werde das Direktorium informieren müssen, Evans. Es gab bereits Beschwerden wegen deines allzu liberalen Umgangs mit unserem Budget. Ich hoffe, dein Bericht rechtfertigt den operativen Eingriff.«

Egal wie müde ich war, ihre letzten Worte verstand ich nur allzu gut.

»Keine Sorge, Chefin. Mein OP-Bericht ist makellos«, sagte ich zynisch. »Ich werde ihnen keinen Grund für meinen Rausschmiss liefern. Ich bin der Victor Hugo der Arztberichte.«

Dr. Wong lachte.

»Wenn dir die Operation am Freitag gelingt, kann dir eh keiner mehr was. Dann wirst du für alle Ewigkeit unangreifbar sein und kannst in jedem Krankenhaus des Landes Chefarzt werden«, sagte sie voller Neid.

Ich war ihr dankbar, dass sie unerwähnt ließ, was mit meiner Karriere passierte, falls der Eingriff misslang.

»Übertreiben Sie mal nicht. Sollte alles klappen, geht der Erfolg aufs Konto unseres ganzen Teams.«

Wieder lachte sie, etwas zu laut. Sie war eindeutig betrunken.

»Meine beiden Ex-Männer haben besser gelogen als du, Evans. Mir kannst du nichts vormachen. Aber jetzt geh nach Hause und ruh dich aus. Vergiss nicht, morgen siehst du den Patienten.«

»Keine Panik, Chefin. Ich hab alles im Griff.«

»Wie alt bist du eigentlich, Evans? Achtunddreißig?«

»Sechsunddreißig.«

»Wenn du in dem Tempo weitermachst, wirst du keine vierzig, Junge. Schlaf gut, Evans.«

Ich drückte auf das Beenden-Symbol und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte ich zufrieden. Zum ersten Mal seit vielen Tagen, um genau zu sein. Ehe die Woche vorbei wäre, würde das Glück endlich wieder auf meiner Seite sein, so, wie es seit Rachels Tod nicht mehr vorgekommen war.

Ich würde eine bessere Stelle angeboten bekommen und ein geregelteres Leben führen.

Ich würde auch definitiv mehr Zeit für Julia haben.

Und niemand würde mir mehr was können.

2

Es war fast Mitternacht, als ich die Haustür aufschloss. Wir wohnten am Dale Drive in Silver Springs, gerade noch »inside the Beltway«. Das Haus stammte aus den Dreißigerjahren und war aus grauem Stein. Vielleicht haben Sie ein Foto im ›National Enquirer‹ gesehen oder in einem dieser sensationsgeilen Blogs; auf einem war sogar ein Screenshot von der Website des Immobilienbüros zu sehen, das uns das Haus vermittelt hatte.

Wir hatten es kurz vor dem großen Immobiliencrash gekauft, als Rachel schon hochschwanger war … ich sehe es noch genau vor mir, wie sie ein paar Wochen später gerade einen riesigen Bären an die Wand des Kinderzimmers malte, als die Fruchtblase platzte. In freudiger Erwartung, aber auch voller Angst waren wir in die Klinik gerast …

Unser neues Zuhause war ziemlich teuer gewesen, da wir aber beide berufstätig waren, konnten wir es uns leisten. Nach Rachels Tod wurde es jedoch immer schwerer, das Haus zu halten. Rachel hatte eine Lebensversicherung gehabt, bei der Julia als Bezugsberechtigte genannt war, aber die Versicherung zahlte uns natürlich keinen einzigen Cent. Wir bekamen ein formelles Schreiben, in dem man uns mitteilte, dass meine Frau ja »aus freiem Willen« gegangen sei, und dazu den vollständigen Abdruck der Klausel 13.7 des Versicherungsvertrags. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich den verfluchten Brief angeekelt zu einer Kugel zusammenknüllte und in den Papierkorb schleuderte. Irgendwann danach stand dann noch ein Anwalt vor der Tür, der über gemeinsame Bekannte davon gehört hatte und meinte, wir könnten die Versicherung verklagen, ich jagte ihn jedoch zum Teufel. Auch wenn wir das Geld wirklich gut hätten gebrauchen können – es wäre einfach obszön gewesen, deswegen vor Gericht zu ziehen.

Was mich belastete, war nicht nur die Hypothek, sondern auch Julias Betreuung. Ein Neurochirurg, der zusätzliche Bereitschaftsdienste übernehmen muss, um alle Rechnungen begleichen zu können, hat nicht gerade verlässliche Arbeitszeiten. Deshalb brauchten wir eine Haushaltshilfe, die auch bei uns wohnte. Zuerst hatten wir eine Brasilianerin, die sich jedoch vor Kurzem aus dem Staub gemacht hatte, einfach so, ohne dass irgendwas vorgefallen wäre. Die Tage danach waren ein einziges Chaos. Meine arme Julia musste mehrere Nachmittage im Stationszimmer verbringen, wo sie die Schwarz-Weiß-Schaubilder in den alten Anatomiebüchern ausmalte, die sie in meinem Sprechzimmer fand; die Nieren gelangen ihr dabei ziemlich gut, sie sahen aus wie sympathische, bucklige Kartoffelmännchen.

Ich hatte auf den Online-Portalen von ›Craigslist‹ und DC Nanny‹ annonciert, doch meldete sich zunächst kein Mensch, trotz Washingtons hoher Arbeitslosenquote. Bis ich vor vier Wochen dann eine Mail mit Svetlanas Bewerbung und ihrem Lebenslauf erhielt. Und was soll ich Ihnen sagen? Ich hatte das Gefühl, das große Los gezogen zu haben. Nicht nur, dass sich Svetlana genial um Julia kümmerte, sie kochte auch fantastisch. Sie benutzte riesige Mengen Gänseschmalz, wie sie es aus ihrer serbischen Heimat kannte, und egal, wann ich nach Hause kam, der Tisch war immer gedeckt und in der Mikrowelle stand ein Teller mit Essen.

Bis auf diesen Abend.

An diesem Abend lag nicht einmal eine Serviette auf dem Küchentisch.

Missmutig stellte ich meinen Arztkoffer auf einem der Stühle ab und nahm mir einen Apfel aus dem Obstkorb. Während ich ihn hungrig hinunterschlang, entdeckte ich auf der Anrichte ein aufgeschlagenes ›Dora the Explorer‹-Malbuch. Ich trat näher: Auf dem Malblatt war Doras Affe Boots zu sehen, doch war kaum etwas ausgemalt, nur einer seiner Stiefel war schon rot. War Julia etwa so schlafen gegangen? Das sah ihr gar nicht ähnlich: Normalerweise bestand sie darauf, ihre Bilder fertig zu malen, nicht nur, weil sie dadurch später ins Bett musste, sondern vor allem, weil ihr Charakter keine halben Sachen duldete. War sie den ganzen Abend böse auf mich gewesen, weil ich nicht rechtzeitig zum Essen nach Hause gekommen war?

Als ich verwundert das Buch zuklappte, rollte darunter ein roter Wachsmalstift hervor, fiel auf den Boden und landete schließlich unter dem Küchentisch. Schnell bückte ich mich, um ihn aufzuheben – da pikste mich auf einmal etwas in die Spitze meines Zeigefingers. Hastig zog ich die Hand zurück und sah an einem Blutstropfen, dass ich mich wohl an etwas geschnitten hatte.

Leise fluchend lief ich zur Spüle und hielt den Finger unter den Hahn. Und das mehrere Minuten lang.

Womöglich mag Ihnen das übertrieben erscheinen, aber wer nicht sein halbes Leben der Medizin gewidmet hat, kann kaum begreifen, welch große Bedeutung die Hände für einen Neurochirurgen haben. Das Wort, das dem wahrscheinlich am nächsten kommt, ist Ehrfurcht. Ich pflege sie jedenfalls mit einer fast krankhaften Besessenheit, und jedes Mal, wenn ich mich beim Werkeln zu Hause ein bisschen verletze, gerate ich in schreckliche Panik, so, wie wenn der Chef oder der Ehepartner zu einem sagt: »Wir müssen reden.« Deshalb haben wir stets antiseptisches Desinfektionsmittel, Mullbinden und Heftpflaster im Küchenschrank. Und natürlich auch im Badezimmer. Und in der Garage. Und im Handschuhfach meines Wagens. Man kann schließlich nie vorsichtig genug sein.

Nachdem ich jedenfalls so viel Desinfektionsmittel auf die winzige Wunde geschüttet hatte, als wollte ich einen ganzen Mülleimer damit desinfizieren, bückte ich mich erneut. Diesmal schob ich aber vorher den Stuhl weg und sondierte erst mal das Terrain. Und da sah ich es: Zwischen einem der Tischbeine und der Wand steckte eine Keramikscherbe. Ich wickelte ein Papiertaschentuch um meine Hand und zog sie vorsichtig heraus. Die Scherbe stammte von einer Dora-Tasse. Neben der jungen Abenteurerin, welcher der Kopf fehlte, war der verschlagene Fuchs Swiper zu sehen, der sie hinter einem Strauch belauerte.

Julia hatte die Tasse von Rachel bekommen. Es war ihre Lieblingstasse.

O je, hoffentlich war sie nicht dabei, als sie zerbrach, dachte ich besorgt, sonst hat sie sicher Rotz und Wasser geheult. Schnell warf ich die Scherbe in den Mülleimer und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Ich wollte meiner Kleinen so rasch wie möglich den versprochenen Gutenachtkuss geben, und falls ihr Kissen nass geweint war, würde ich sie auf jeden Fall wecken.

Wir hatten diese simple Tasse zufällig in einem »Home Depot«-Laden entdeckt, und beim täglichen Frühstück war sie mir kaum noch aufgefallen. An jenem Abend aber, weniger als zwei Wochen vor Rachels erstem Todestag, löste der Anblick der Scherbe eine Flut von Erinnerungen in mir aus.

Wir hatten sie an einem Samstag gekauft. Rachel und ich hatten frei und mussten nicht ins Krankenhaus. Wir brauchten ein neues Sofa und hatten abgemacht, dass Julia es für uns aussuchen durfte. Sie hüpfte auf allen ausgestellten Sofas herum, aber keines war ihr letztlich weich genug oder hatte einen Elefanten auf dem Polster. Darum verließen wir den Laden mit nichts als dieser Tasse – und einem glücklichen Kind mit einem dicken Kakao-Schnurrbart. Sie wollte ihn sich partout nicht abwischen lassen und schnitt uns den ganzen Heimweg über im Rückspiegel lustige Grimassen.

Einmal mehr spürte ich in dieser Nacht, welch schrecklichen Verlust wir erlitten hatten, und sehnte mich so sehr nach einer Umarmung, wie sie vielleicht vor ein paar Stunden meine kleine Tochter gebraucht hätte, als ihre heißgeliebte Tasse zersprungen war. Leise öffnete ich die Tür zu ihrem Zimmer. Komisch, warum war es darin dunkel? Julia schlief für gewöhnlich nur ein, wenn ihre kleine rosafarbene Lampe brannte. Auf Zehenspitzen tastete ich mich zum Nachttisch und drückte auf den Lichtschalter.

Julias Bett war leer.

Merkwürdig … Nun, vielleicht hatte sie schlecht geträumt und Svetlana gefragt, ob sie bei ihr schlafen durfte. Das Kindermädchen hätte mir aber zumindest eine Notiz auf der Anrichte hinterlassen können. Und überhaupt: Warum war das Bett gemacht? Hatte Julia so gebettelt, dass Svetlana nicht einmal versucht hatte, sie hinzulegen? Meine Kleine weiß genau, wie man einen Erwachsenen um den Finger wickelt. Ich würde mit der Serbin ein ernsthaftes Wort reden müssen.

Grummelnd stieg ich die Treppe wieder hinunter ins Erdgeschoss. Svetlanas Schlafzimmer lag hinter der Küche und hatte ein großes Fenster zur Garageneinfahrt.

Ich klopfte leise.

Nichts.

Ich klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort.

Vorsichtig öffnete ich die Tür.

Das Zimmer war leer.

Nicht nur, dass niemand darin schlief, nein, es war, als hätte es seit Monaten niemand mehr betreten. Bettlaken, Decke, Kopfkissen, Teppiche, Handtücher, Kosmetikartikel: All das fehlte. Und auch der Kleiderschrank war komplett ausgeräumt. Zudem roch es im ganzen Zimmer stark nach Desinfektionsmittel.

Das flaue Gefühl im Magen, das ich verspürt hatte, als ich Julia nicht in ihrem Zimmer fand, verwandelte sich schlagartig in Angst. Ich fühlte mich wie am höchsten Punkt der Achterbahn, wenn man weiß, dass man jeden Moment in die Tiefe stürzt.

»Julia! Julia, mein Liebling!«, schrie ich und rannte los.

Ich raste durch das ganze Haus, machte überall Licht und rief immer panischer nach meiner Tochter.

 

Zehn Minuten später blieb ich schwer atmend am Fuß der Treppe stehen. Das Blut pochte mir in den Schläfen, und ich spürte jeden meiner Atemzüge.

Du musst einen kühlen Kopf bewahren, Dave, sagte eine Stimme in meinem Innern; es war die von Dr. Colbert, meinem Mentor, der mir als Erster gezeigt hatte, wie man ein Skalpell richtig hält. Konzentrier dich und geh ganz methodisch vor, so, wie du es von mir gelernt hast. Als Erstes rufst du jetzt Svetlana auf ihrem Handy an.

Ich hatte ihre Nummer gespeichert, doch es ging nur der Anrufbeantworter dran.

Verdammt, wo können sie bloß sein um diese Zeit?, dachte ich, während ich wie ein Wahnsinniger im Flur auf und ab tigerte und im Kopf all die Orte durchging, die irgendwie infrage kamen. Wenn Svetlana etwas zu erledigen hatte, nahm sie Rachels Prius, aber der stand in der Garage, und der Motor war kalt. Die beiden konnten also nicht weit weg sein. Waren sie bei einem Nachbarn? Aber warum hatten sie dann keine Nachricht hinterlassen? Und vor allem: Warum zum Teufel fehlten sämtliche Sachen des Kindermädchens?

Mir blieb nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen. Das Metropolitan Police Department, das FBI, die Nationalgarde, wen auch immer: Hauptsache, ich bekam auf der Stelle meine Tochter zurück!

Ich wählte die 911.

Besetzt.

Besetzt? Wie zum Henker konnte die 911 besetzt sein?!

Ich atmete tief ein und aus und versuchte, mich zu beruhigen. Ich sollte mir vielleicht erst mal überlegen, was ich ihnen überhaupt erzählen konnte. Was wurde einem immer in diesen Broschüren empfohlen, die in den Einkaufszentren und bei Elternversammlungen verteilt wurden? … Dass man sich erinnern soll, welche Kleidung das Kind möglicherweise trug. Also, was könnte Julia anhaben?

Ich rannte wieder nach oben. Im Kinderzimmer schien nichts zu fehlen, nicht mal ein paar Schuhe. Alles wirkte aufgeräumt und sauber. Nur der gelbe SpongeBob-Schlafanzug, den Julia gestern getragen hatte, war weg. Er lag weder unter ihrem Kopfkissen noch im Wäschekorb. Normalerweise benutzte sie einen Schlafanzug zwei oder drei Tage, bevor er gewaschen wurde. Und sie zog ihn immer vor dem Abendessen an.

Was wusste ich noch? Svetlana musste gepackt, ihr Zimmer geputzt und danach mit meinem Mädchen im Schlafanzug auf die Straße gegangen sein. Ihre Sachen müssen jedoch mehrere Kartons gefüllt haben. Das war unmöglich allein und zu Fuß fortzuschaffen. Jemand musste sie also abgeholt haben. Jemand, der die Zeit genutzt hatte, als ich die Kugel aus Jamaal Carters Wirbelsäule entfernte. O Gott, es war alles meine Schuld, ich hätte hier sein müssen, um meine Tochter zu beschützen!

Ich wählte noch einmal die 911.

Wieder besetzt.

Ich starrte auf mein Handy. Es war unmöglich, dass die Notrufnummer besetzt war, aber ich dachte nicht länger darüber nach, denn plötzlich kam mir ein Gedanke: Wenn Julia entführt worden war, warum gab es dann bis auf die Keramikscherbe keine Spuren eines Kampfes?

Meine Kehle war auf einmal wie ausgetrocknet. Mein Gott, und ich hatte der jungen Serbin blind vertraut! Ich hatte ihr sogar selbst die Tür zu meinem Haus aufgemacht, sodass sie jede unserer Gewohnheiten ausspionieren und alles genauestens planen konnte!

Konzentrier dich, Dave, sagte ich mir streng, erinnere dich an alles, was du von ihr weißt. Also: Sie stammte aus Serbien, war fünfundzwanzig Jahre alt und studierte Anglistik. Sie wollte ihren Doktor in den USA machen und hatte mir ein Empfehlungsschreiben ihrer Professoren von der Novi-Beograd-Universität gezeigt. Und sie brauchte Geld, um sich das Studium in Washington leisten zu können.

Svetlana war klein, zierlich und aufgeweckt, auch wenn sie immer etwas traurig wirkte. Und Julia hatte sie schnell akzeptiert. Die beiden schienen sich prima zu verstehen. Wahrscheinlich lag das daran, dass auch Svetlana ihre Mutter im etwa gleichen Alter wie Julia verloren hatte, damals während des Bosnien-Kriegs. Aber davon erzählte sie meiner Kleinen natürlich nichts; mir hatte sie es nur während des Vorstellungsgesprächs anvertraut. Und schließlich hatte sie mir noch die Telefonnummer ihres Doktorvaters an der Georgetown University gegeben, eines Mannes mit freundlicher Stimme, der mir versicherte, Svetlana sei eine fleißige Studentin und sehr vertrauenswürdig.

Alles schien folglich in bester Ordnung zu sein, und ich brauchte unbedingt ein Kindermädchen, also hatte ich sie eingestellt. Sie hatte nicht einmal ein Handy, weshalb ich ihr eins kaufte, um sie im Notfall erreichen zu können. Soweit ich wusste, telefonierte sie damit aber nie, weder mit irgendwem in ihrer Heimat, noch mit irgendwelchen Freunden in Washington. Selbst an ihren freien Tagen schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und lernte. Ich hatte sie also nie mit irgendwem länger sprechen sehen, außer …

… außer letzte Woche!

Ein verrückter Gedanke schoss mir durch den Kopf. Wütend schnappte ich die Autoschlüssel.

Bevor ich mich bei der Polizei lächerlich machte, musste ich auf jeden Fall diesem Verdacht nachgehen.

3

Jim Robson und ich hatten uns noch nie gut verstanden.

Bevor Rachel und ich heirateten, gab er sich keine große Mühe, besonders freundlich zu mir zu sein. Wenn wir die Robsons besuchten, verzog er den Mund zu einem gequälten Grinsen, gab mir die Hand – und steckte sie dann schneller wieder in die Hosentasche als ein Politiker deinen letzten Cent. Die feindseligen Blicke, mit denen er mich aus dem Augenwinkel taxierte, wenn er sich in jenen Jahren unbeobachtet glaubte, hätten meine Chrom-Vanadium-Skalpelle jedenfalls sicher zum Schmelzen gebracht.

»Das bildest du dir nur ein, Liebling«, flüsterte mir Rachel zu, wenn sie nachts zu mir ins Gästezimmer geschlichen kam. »Er ist ein alter Griesgram und will halt nur das Allerbeste für seine Töchter.«

»Ich bin bald ein verdammter Neurochirurg, Rachel. Was will er mehr?«

»Ach, Dave, das Wichtigste in seinem Leben war einfach immer, seine kleinen Mädchen zu beschützen. Du wirst das erst begreifen, wenn du selbst mal Vater bist und einen jungen Kerl mit einer solchen Waffe durchs Haus laufen siehst«, erklärte sie mit einem anzüglichen Grinsen, während ihre Hand unter der Bettdecke auf Erkundungstour ging.

Wie auch immer: Die Robsons waren jedenfalls ein eingeschworener Clan. Rachel war die verantwortungsvollere und vernünftigere der beiden Schwestern und schimpfte ständig mit der jüngeren Kate wegen deren verrückter Ideen. Aura, die Mutter, war eine fröhliche Plaudertasche, die uns immer das Neueste von den Nachbarn erzählte, während sie wie ein Wirbelwind in ihrer Küche herumhantierte und köstliches Maisbrot backte. Und schließlich gab es Jim, den Familienpatriarchen, der sich was darauf einbildete, aus Virginia zu stammen, weil er wie viele dort glaubte, die Pilgerväter zu seinen Vorfahren zählen zu können.

Er trank sein Bier immer auf der Veranda, irritiert von der Gegenwart dieses groß gewachsenen, dunkelhaarigen Assistenzarztes, der behauptete, das Herz seiner Ältesten erobert zu haben.

»Und? Was gibt’s Neues im Norden?«, fragte er bei jedem Besuch.

»Na, du weißt ja, Jim, die Flagge hat inzwischen fünfzig Sterne.«

Er lachte nie über meine unbeholfenen Versuche, lustig zu sein, und das sollte sich auch nach unserer Hochzeit nicht ändern. Aber von dem Zeitpunkt an gaben wir uns beide zumindest etwas mehr Mühe, miteinander auszukommen, sodass die Treffen mit den Robsons nahezu nett wurden, auch wenn ich mich bei ihnen nach wie vor unbehaglich fühlte. Und das nicht nur wegen Jim; ich spürte einfach, dass ich nie wirklich dazugehören würde.

Wahrscheinlich, weil sich bei mir so was wie Familiensinn nie richtig herausbilden konnte. Ich bin Vollwaise und habe meine leiblichen Eltern nie kennengelernt. Ich wuchs in verschiedenen Heimen auf, wo die Kinder um mich herum keine Geschwister, sondern erbitterte Rivalen waren, mit denen man sich ums Essen und jegliche Art von Zuwendung stritt. Im Alter von neun Jahren wurde ich schließlich von einem Ehepaar aus Pottstown, Pennsylvania, adoptiert. Roger Evans war Landarzt, seine Frau seine Sprechstundenhilfe. Während meines zweiten Jahres an der Universität, noch bevor ich Rachel kennengelernt hatte, kamen die beiden jedoch bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Dadurch wurde ich zum zweiten Mal Vollwaise – und das warf mich wieder aus der Bahn, sodass ich das Studienjahr wiederholen musste. Das Gefühl von Verlorenheit war mir zwar von klein auf vertraut, jahrelang schien es sich jedoch versteckt zu haben. Als meine Adoptiveltern starben, packte es mich erneut und ließ mich nicht mehr aus seinen schwarzen Fängen. Erst Rachel war dann in der Lage, es wieder in seine Schranken zu weisen.

Auf Rachel konnte ich nun aber nicht mehr zählen, und so waren Julia und ihre Familie alles, was ich noch hatte.

 

Seit fünfzehn Jahren fuhr ich nun schon an Geburtstagen, Thanksgiving, Weihnachten, dem 4. Juli und an jedem dritten Sonntag die gut eineinhalb Stunden nach Fredericksburg. Bei der Geschwindigkeit, mit der ich in dieser Nacht unterwegs war, dauerte die Fahrt wahrscheinlich nur halb so lange.

Ich weiß nicht mehr, was die Tachonadel anzeigte, ich weiß nur noch, dass ich so mit Adrenalin vollgepumpt war, dass ich mich bei Falmouth beinahe umgebracht hätte. Unzählige Male war ich hier abgefahren, aber in dieser Nacht war ich so durch den Wind, dass ich an der Ausfahrt vorbeirauschte, und als ich es endlich merkte, machte ich eine derartige Vollbremsung, dass die Reifen rauchten, und legte dann mitten auf dem I-95 den Rückwärtsgang ein.

Zu meinem großen Glück war der Interstate Highway vierspurig, und es herrschte um ein Uhr nachts kaum noch Verkehr: Sonst wäre mir meine Geisterfahrt wahrscheinlich teuer zu stehen gekommen. Hinter mir raste nämlich ein riesiger Sattelschlepper direkt auf mich zu. Seine Scheinwerfer im Rückspiegel und das dröhnende Hupen kamen näher und näher. Kurz vor dem Zusammenstoß gelang es dem Fahrer gerade noch, auf die andere Spur auszuweichen, wobei der zwanzig Tonnen schwere Truck meine hintere Stoßstange leicht streifte und die Druckwelle meinen Wagen beinahe ins Schleudern brachte.

Am ganzen Körper zitternd, hielt ich auf dem Randstreifen vor der Ausfahrt 133 und versuchte, mich zu beruhigen. Ich war kurz davor gewesen, mich umzubringen.

Und das alles wegen einer dämlichen Ahnung.

 

Jim gehörte eine kleine, aber recht bekannte Baumarktkette namens »Robson Hardware Repair«. Bestimmt haben Sie schon einmal seinen Werbeslogan gehört: »Selbst ist der Mann!« Er passte perfekt zu meinem toughen Schwiegervater. Die Kette hatte fünf oder sechs Filialen, aber keine lag nördlich von Arlington. Es kam darum nicht oft vor, dass Jim den Potomac überquerte, es sei denn, er hatte einen Termin in Washington D.C. So wie vor etwa einer Woche, als die Robsons uns besuchen kamen.

Wie immer kündigte Aura ihr Kommen mit der Diskretion einer laut scheppernden Glocke an.

»Juliaaaaa! Wo ist mein Engelchen? Juliaaaaa!«

Und wie immer kam meine Kleine freudestrahlend die Treppe runtergerannt und rutschte unten auf Socken übers Parkett ihrer Großmutter direkt in die Arme.

»Oma!«, rief sie, küsste sie stürmisch ab und packte sie dann an der Hand. »Komm mit hoch in mein Zimmer, ich will dir was zeigen.«

Lächelnd sah ich ihnen nach, bat Jim ins Wohnzimmer und bot ihm einen Drink an, obwohl ich genau wusste, dass er ablehnen würde. Er trank nie, wenn er fuhr.

Mit einem trockenen »Nein, danke« ließ er sich auf dem Sofa nieder und betrachtete mit offensichtlichem Missfallen die Einrichtung. Rachel hatte schlichte Möbel mit klaren Linien gemocht, was sich so gar nicht mit dem traditionellen Geschmack ihres Vaters vertrug.

»Kaum zu glauben, wie Julia gewachsen ist. Aber wir haben sie ja auch schon über einen Monat nicht mehr gesehen.«

»Ich hatte in letzter Zeit sehr viel zu tun«, rechtfertigte ich mich genervt.

Ich muss gestehen, dass unsere Besuche nach Rachels Tod etwas seltener geworden waren. Allerdings ärgerte es mich auch, dass immer ich zu ihnen fahren musste, schließlich war es von Fredericksburg nach Silver Spring genauso weit wie von Silver Spring nach Fredericksburg. Aber das sagte ich nicht laut. Aus Höflichkeit. Und weil mein Schwiegervater mich noch immer einschüchterte, verdammt.

»Und genau da liegt das Problem, Dave. Du arbeitest zu viel.«

Lustig, so etwas aus dem Mund von jemandem zu hören, der sein Leben lang von einer Filiale zur nächsten gehetzt war und auswendig wusste, wo jede einzelne Schraube in seinem Lager zu finden war.

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Jim.«

»Es tut Julia nicht gut, dass du so viel weg bist.«

Ich runzelte die Stirn. Darauf würde ich garantiert nicht eingehen. Herausfordernd sah ich ihm in die Augen. Er wandte den Blick nicht ab.

»Ich habe meine Baumärkte verkauft, Dave.«

»Wie?!«

Die Nachricht haute mich um. Jim hatte immer damit geprahlt, dass der Tod ihn garantiert hinter dem Verkaufstresen antreffen würde, wenn er ihn eines Tages holen käme, und ich hatte mir immer vorgestellt, wie Jim das Sensenblatt begutachtete und dem Knochenmann als Erstes einen ordentlichen Schleifstein anbot.

»Aber Jim … die Läden … sie sind dein Leben!«

An meinem Einwand war wohl etwas Wahres dran, denn er rutschte unbehaglich auf dem Sofa herum und verschränkte dann die Arme.

»Seit Rachel von uns gegangen ist, kann ich mich kaum noch auf meine Arbeit konzentrieren«, brummte er schließlich. »Seit Monaten geht mir nicht aus dem Sinn, dass das Leben viel zu kurz ist. Und dass es noch anderes gibt als Schraubenschlüssel, um das man sich kümmern sollte.«

Genau das hatte Rachel immer zu ihm gesagt, wenn wir bei Truthahn und Kartoffelbrei zusammen am Tisch gesessen hatten.

»Du weißt ja, ›Ace Hardware‹ hat oft versucht, mir meine Läden abzukaufen …«, fuhr er fort. »Heute habe ich ihr Angebot angenommen. Sie haben zwar weniger gezahlt als noch vor fünf, sechs Jahren, aber die Zeiten sind hart. Und ich bekomme auch so noch mehr als genug für den Rest meines Lebens. Ich bin jetzt dreiundsechzig und habe beinahe ein halbes Jahrhundert wie ein Tier geschuftet. Ich denke, ich habe es mir redlich verdient, in Rente zu gehen und mich nur noch um das zu kümmern, was mir am allerwichtigsten ist.«

»Da hast du vollkommen recht, Jim. Das war die richtige Entscheidung. Herzlichen Glückwunsch.«

Der Alte schien mit meiner Reaktion jedoch nicht zufrieden zu sein. Missmutig schüttelte er den Kopf.

»Du hast mich nicht verstanden, Dave. Ich sagte, ich werde mich jetzt um das kümmern, was mir am allerwichtigsten ist. Und das ist meine Enkelin. Ich will, dass Julia zu uns zieht.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an und brachte nur ein lächerliches Glucksen heraus, Ausdruck meiner Ungläubigkeit.

»Du machst … Witze.«

Aber in Jim Robsons Augen zeigte sich keine Spur von einem Scherz.

»Nein, Dave, das ist mein Ernst. Für meine Enkelin ist es das Beste. Und für dich wird es eine große Erleichterung sein.«

»Willst du … willst du damit sagen, dass ich mich noch freuen soll, wenn du mir meine Tochter wegnimmst?!«

»So eine Stadt wie Washington ist nichts für ein kleines Mädchen. Hier wird sie nur zu einem dieser uniformierten Roboter. Eine ordentliche öffentliche Schule in unserer Kleinstadt wird ihr guttun.«

Das tat besonders weh. Kaum wussten wir, dass Rachel schwanger war, hatten wir uns sofort auf die Suche nach der besten Schule gemacht. Schließlich hatten wir uns für eine entschieden, in der Kreativität und Spaß am Lernen wichtiger waren als Konkurrenzdenken und Leistungsdruck. Auf jeden freien Platz kamen zwölf Bewerbungen. Wir hatten endlos angestanden und alle unsere Beziehungen spielen lassen, um unser Kind dort anmelden zu können. Und jetzt kam dieser Klugscheißer daher und stellte unsere Entscheidung einfach so infrage.