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ÜBER DEN AUTOR

Lukas Erler, Jahrgang 1953, studierte Soziologie, Philosophie und Sozialgeschichte in Marburg und absolvierte dort eine Ausbildung zum Logopäden. Er arbeitete als Soziologe in der Stadtentwicklungsplanung und ist seit über zwanzig Jahren als Logopäde in der neurologischen Rehabilitation tätig. Lukas Erler lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Nordhessen. Ölspur (2010) ist sein erster Roman, Mörderische Fracht, der zweite Band seiner Krimi-Trilogie, erschien 2011.

ÜBER DAS BUCH

Bodenschätze in der Arktis, ein verschwundenes Forschungsschiff, Mord und Korruption in Brüssel – mit Bilanz des Todes legt Lukas Erler den dritten Band seiner packenden und rasanten »Ölspur-Trilogie« vor und beendet die Reihe um seine sympathischen Antihelden Thomas Nyström und Anna Jonas mit einem fulminanten Showdown.

»Es ist lange her, dass ein deutscher Krimi so gut, so perfekt dahergekommen ist.« Focus

»Lukas Erler hält uns mit seinem fulminanten Thriller ständig in Atem. Er verwebt seine sorgfältige Figurenzeichnung klug mit geopolitischen Informationen und einem Spannungsbogen, den er bis zum Schluss meisterlich aufrechterhält.« Basler Zeitung

»Das Böse erscheint nicht in Gestalt von Burschen mit Bärten, die so aussehen, als führten sie Übles im Schilde. Böses wird von Menschen in Anzügen getan, die in Konferenzräumen sitzen und schreckliche Entscheidungen treffen. Und sie tun es, weil es sich lohnt.«
Frank Ruddy
ehemaliger Spitzenanwalt in der Rechtsabteilung von Exxon


»Ob Rache ethisch sei? Ebenso ethisch wie Krieg, alter Junge! Wenn Sie nicht ein Dienstverweigerer aus Gewissensgründen sind, können Sie mich nicht verurteilen.«
Geoffrey Household, Einzelgänger, männlich


»People tell me old walking blues ain’t bad, well, it’s the worst old feeling, Lord, I most ever had!«
Robert Johnson, Walkin’ Blues

WALKIN’ BLUES

Wie weit würde er gehen müssen? Schwer zu sagen, wenn man kein Ziel hatte. Doch das stimmte nicht ganz, oder? Es gab durchaus ein Ziel, nur handelte es sich nicht um einen Ort.

Das Ziel war, nicht verrückt zu werden. Im Grunde eine einfache Sache. Solange er ging, einen Fuß vor den anderen setzte und auf seine Schrittlänge achtete, konnte er die Angst und das furchtbare Hämmern im Kopf ertragen und seinen Verstand behalten.

Am Anfang war er gerannt. Das hatte am besten funktioniert. Als die Farben vor seinen Augen explodierten und der Schmerz hinter seinen Schläfen aufloderte, war er einfach losgerannt, und das qualvolle Dröhnen hatte nachgelassen. Immer mehr, je länger er lief. Später, als seine Kräfte schwanden, wechselte er zum schnellen Gehen, und es wurde wieder schlimmer, doch nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Er traute sich zu, es auszuhalten – wenn er in Bewegung blieb. Nur: Wie lange konnte er das noch?

Gut, dass er sich entschlossen hatte, den Wald zu verlassen und auf der Straße weiterzulaufen. Im Wald hatte er kaum etwas sehen können, und einmal war er gestürzt und mit dem Kopf auf einen Baumstumpf geknallt. Mit zwei Fingern fuhr er vorsichtig über die große Beule an seiner Stirn. Er hatte den Aufprall kaum gespürt, sondern nur daran gedacht, dass er nicht liegen bleiben durfte. Wenn er liegen blieb, würde der Schmerz über ihn kommen und ihn zermalmen.

Den Seitenstreifen der Landstraße konnte er im fahlen Licht der Morgendämmerung gut erkennen. Sehr einfach, darauf zu laufen. Immer einen Schritt nach dem anderen. I walk the line. Wie Johnny Cash. Aber der hätte als Kettenraucher niemals so viele Stunden hintereinander laufen können. Wie viele Stunden waren es denn? Er wusste es nicht. These boots are made for walking. Nancy Sinatra. Mein Gott, lebte die noch? Es gab so viele Songs über das Laufen. Schön, dass er sich daran erinnerte. Als der Schmerz seinen Verstand übernahm und die Dinge um ihn herum sich in helle Blitze auf seiner Netzhaut auflösten, hatte es sich angefühlt, als ob alle Gedanken und Empfindungen gelöscht wurden. Systemabsturz. Tabula rasa. Game over. Doch das war vorübergegangen. Er konnte wieder denken und sich erinnern. Nun ja, nicht an alles. Zum Beispiel wusste er nicht genau, wo er sich befand, aber das beunruhigte ihn nicht. Es ging einzig und allein darum, dem Schmerz zu entkommen. Die unfassbare Angst, die er nach dem Zusammenbruch verspürt hatte, schien sich etwas zurückzuziehen. Mach dir nichts vor, dachte er, sie wartet einfach nur ab, bis du müde wirst.

Als er das Geräusch eines herannahenden Autos hörte, trat er zwei Schritte nach rechts in den Wald. Er wusste nicht recht warum, doch es schien ihm wichtig, nicht gesehen zu werden. Der Wagen rauschte mit aufgeblendeten Scheinwerfern an ihm vorbei, und er ging zurück auf die Straße. Um diese Zeit waren nur wenige Autos unterwegs, erst bei Tagesanbruch nahm der Verkehr zu. Dann konnte er einfach im Wald weitergehen. Bei Tageslicht kein Problem.

Sorgen machte ihm allerdings der Druck auf seiner Blase, den er schon seit geraumer Zeit registrierte. Über kurz oder lang würde er pinkeln müssen. Und dafür musste er stehen bleiben. Wie lange dauerte es, die Blase zu entleeren? Zehn Sekunden oder fünfzehn? Konnte er es riskieren, so lange stehen zu bleiben? Einen Augenblick lang erwog er die Möglichkeit im Gehen zu pinkeln, doch dabei bekam vielleicht seine Hose etwas ab. Mit nasser Hose weiterzugehen kam nicht infrage.

Es lief einfach darauf hinaus, dass er sich zusammenreißen musste.

Eine halbe Stunde später, im bleichen Licht der aufgehenden Sonne, gab er auf. Er drehte sich mit dem Rücken zur Straße, öffnete den Reißverschluss seiner Hose und betrachtete dabei voller Verwunderung seine schmutzigen Hände. Schließlich bückte er sich und wischte sie im feuchten Gras am Straßenrand sorgfältig ab. Er hatte keine Vorstellung, um was es sich bei den rostbraunen, eingetrockneten Flecken auf seinen Fingern handeln mochte, und es interessierte ihn auch nicht.

Denn in diesem Augenblick kam der Schmerz zurück.