Ulrich Wickert, geboren 1942, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Als Korrespondent in den USA und Frankreich, als langjähriger Anchorman der Tagesthemen hat er das Fernsehbild der Deutschen geprägt. Mit seinen Bestsellern Der Ehrliche ist der Dumme, Das Buch der Tugenden, Gauner muss man Gauner nennen und Redet Geld, schweigt die Welt hat er die Wertedebatte immer wieder angestoßen. Auch seine Bücher über Frankreich und seine Kriminalromane mit dem Untersuchungsrichter Jacques Ricou waren Bestseller.
Für Julia
Jacques sah sie tanzen, geschmeidig und mit abwesendem Blick zum Rhythmus der Trommeln. Sie hatte ihren schlanken Körper in ein fröhlich buntes Madrastuch gewickelt. Gar nicht wie eine Witwe, dachte er und fragte sich, wie alt sie wohl sei – schwer zu sagen, irgendwo in den Dreißigern oder doch schon vierzig?
Loulou reichte ihm die Flasche Tafia, starken, beißenden Rum, wie ihn nur Schwarze vom Lande trinken, und ermunterte ihn zu einem weiteren Schluck: »Der Tod ist bei uns Anlass zu einem großartigen Gelage.«
Jacques wischte den Flaschenhals ab, trank das braune Gesöff, hustete und schüttelte sich. Trotz seines leichten Sommeranzugs war ihm heiß, er fühlte sich wie in einem türkischen Dampfbad. Immer leiser tönten die Trommeln, nur noch ein kleiner Schlag hier oder da. Aus dem Kreis in der Mitte der Lichtung lösten sich die Tanzenden, manche blieben schweißgebadet stehen, andere fielen schwer atmend auf die Holzbänke vor den Tischen und griffen gleich zu einer Flasche Bier. In die plötzliche Ruhe stieß der dumpf krächzende Ruf eines Vogels. Koo-hee! Koo-hee! Koo-hee! Jemand hob beschwörend die Hand und lauschte, die Umstehenden nickten. Und die Zamanas, Bäume hoch wie eine Kathedrale, flüsterten in der Brise der Nacht. Über ihnen sah Jacques den von Sternen übersäten Himmel.
Als er auf der Plantation Alizé von Gilles Maurel kurz vor der Dämmerung aus dem Leihwagen gestiegen war, hatte er nur das laute Schnarren von Grillen gehört und in der Ferne ein vereinzeltes Bellen. Der Wind blies angenehm zu dieser Stunde. Niemand hatte sich gezeigt. Er hatte keinen menschlichen Laut gehört.
Um den zweiten Stock des Herrenhauses der Habitation führte eine Galerie aus Gusseisen. Neunzehntes Jahrhundert, hatte Jacques gedacht, schön! Doch bevor er die Stufen zur Veranda bewältigt hatte, war die Terrassentür aufgeschlagen.
Ein großer Kreole in schwarzem Anzug war herausgetreten, den linken Arm um eine Holzkiste mit Flaschen. Jacques hatte gedacht, der muss jeden Tag mindestens eine Stunde an Geräten üben, sonst baut man solche Schultern nicht auf. Er wusste das, denn Muskeln hatte Jacqueline schon lange an ihm vermisst, und jetzt vermisste er sie, wie sie damals war vor sieben Jahren, als sie sich kennen gelernt hatten.
»Zur Trauerfeier kommen Sie zu spät«, sagte der Kreole, der die Rechte vorstreckte und sich als Loulou vorstellte. Gott, was für ein wilder Händedruck, Jacques zuckte zwar, ließ sich den kurzen Schmerz aber nicht anmerken. Er sah auf Loulous Hand. Sie war mächtig, aber bis hin zu den polierten Fingernägeln penibel gepflegt.
»Jacques Ricou. – Ich bin etwas zu spät gelandet. Frau Maurel …?«
Nur für einen Augenschlag senkte der Kreole den Blick, als wollte er das Schuhwerk von Jacques prüfen, dann sagte er: »Kommen Sie mit.«
Jacques folgte Loulou, der ihn ohne viel Federlesens zur Totenfeier in den tiefen Wald im Norden von Martinique führte. Und Loulou berichtete ihm in gepflegtem Französisch, was vorgefallen war.
Gestern Abend war Gilles Maurel gestorben, und heute am Mittag hatten sie ihn schon beerdigt. Das Radio-bois-patate, das schneller ist als die Eile des Windes, also die Buschtrommel, hatte die Nachricht im Schatten des Mont Pelée verbreitet. Als es dunkel geworden war und die Békés, die auf den Antillen geborenen weißen Pflanzer, sich von der Witwe verabschiedet hatten, waren die Einheimischen mit Bambusfackeln und zahlreichen Kisten Rum und Lorraine-Bier, mit gebratenen Hähnen und fetten Kaninchen weit in die Wildnis gezogen, wo die Männer Bänke und Tische aufgebaut hatten.
Die Kreolen nahmen ihn einfach nicht wahr, als er, Jacques, geführt von Loulou aus dem Wald auf die Lichtung trat. Der Tanz war schon hitzig entbrannt. Im Licht der Fackeln warfen die Körper lange, flatternde Schatten in die Bäume. Er fühlte sich unwohl, fremd, schon allein weil sein grauer Anzug viel zu elegant war. Eine modische Konzession an Jacqueline, seine Ex-Frau, die ihn hier als Pariser verriet. Nicht dass die Kreolen sich nicht ihrer Tradition gemäß gekleidet hätten, die Männer in Schwarz, die Frauen in bunten Kleidern aus Madrastüchern, einige der alten noch mit dem Kopftuch, dem Mouchoir de tête-coco-zaloye, um den Kopf, weil sie ihr Haar nicht gern dem verrückten Wind aussetzten. Grau und schwarz wirkt der Coco-zaloye, der eigentlich nur zur Hausarbeit getragen wird.
Jacques zog das frische, gefaltete Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Er fühlte sich blass und kränklich, mit fiebrigem Schweiß auf Oberlippe und Stirn. Loulou drückte ihn auf einen Platz am Ende der letzten Bank zum dunklen Wald hin, Jacques nickte, aber niemand am Tisch erwiderte den Gruß, und wen auch immer er anblickte, der hatte sich schon längst abgewandt.
Mitten auf dem Tanzplatz stand, allein und in Gedanken versunken, eine Kreolin: Amadée, die Witwe. Aber wie eine Hinterbliebene sieht sie wirklich nicht aus, dachte Jacques wieder, als er sie prüfend beobachtete. Statt Trauer strahlte sie Wärme und Gelassenheit aus, vielleicht sogar ein wenig Lebensfreude. Jacques atmete tief durch, ein Seufzer, als wollte er seine Gedanken vertreiben. Eine schöne Frau, und trotzdem offen und freundlich. Loulou trat auf sie zu und berührte ihren Arm – zärtlich, wie es Jacques schien. Sie blickte hoch.
Von den Tischen kamen lautes Lachen und Gesprächsfetzen. Einer rief: »Gilles, damit du weißt, wie ehrlich ich bin, habe ich dir heute zehn Sous ins Grab geworfen, als Abzahlung meiner Schulden. Den Rest erhältst du, wenn wir uns wieder treffen.«
Brüllendes Gelächter. Die Tafia-Flaschen klirrten.
Loulou führte Amadée an das Ende der Bank, Jacques erhob sich, knöpfte die Jacke zu und sagte: »Madame Maurel, ließe sich Trauer teilen, würde ich Ihnen gern etwas davon abnehmen. Lassen Sie mich dennoch mein Mitgefühl ausdrücken. Mein Name ist Jacques Ricou, und ich bitte um Entschuldigung, dass ich als Fremder ohne mein Zutun in diese intime Feier eingebrochen bin.«
Amadée lachte herzlich und unterbrach ihn: »Jacques, ich weiß nicht, was Sie von meinem Mann wollten. Sie kommen aber zu spät. Loulou meinte, Sie wirkten wie ein Verwandter von Gilles, also nehmen wir Sie als solchen in unsere Runde auf. Alles andere später.«
Sie griff nach seiner Hand, ließ die Trauergäste mitten auf einer Bank auseinander rücken, zog ihn neben sich an den Tisch und sagte in die Runde: »Seid nett zu ihm, Jacques gehört zur Familie.«
Und um ihre Worte zu bestärken, gab sie ihm eine Bise, einen Kuss von Wange zu Wange. Ihre trockene Hand hielt seine weiterhin mit leichtem Griff auf dem Tisch und ließ sie erst los, um die Tafia-Flasche zu ergreifen, einen Schluck zu nehmen und sie ihm weiterzureichen. Er trank, obwohl er in seinem Kopf schon jenes dumpfe Gefühl empfand, das er so gut kannte. Man Yise, eine gewaltige Frau, die Leichenwäscherin, als die Amadée sie vorstellte, reichte ihm mit breitem Lachen ein gebratenes Hähnchenbein, worüber Jacques fast verzweifelte, denn er mochte weder Hähnchen, noch mochte er mit den Fingern essen.
Gestern hatte er auf der Fahrt zum Flughafen Orly über das kalte Wetter geflucht, es war unter zehn Grad gewesen in Paris und hatte genieselt. Jetzt war sein Anzug durchgeschwitzt, der Kragen drückte, er war müde. Am Abend war er mit der üblichen Verspätung in Fort-de-France gelandet. Bis er in seinem Hotelbett gelegen hatte, war es weit nach Mitternacht – in Paris hatten schon die ersten Wecker geklingelt.
Vielleicht war es doch eine Schnapsidee, Gilles Maurel des Mordes zu verdächtigen. Einen Mann von über neunzig, der zu allem Überfluss auch noch gestorben war, bevor er ihn hatte sprechen können. Da er aber kein Mann war, der Schnapsideen verfolgt, konnte er sich die Fragwürdigkeit seiner Reise auch nicht eingestehen. Man muss allen, auch den unmöglichen Spuren nachgehen, lautete sein Prinzip, das er immer noch nicht für falsch hielt, schließlich hatte es ihn zum Erfolg gebracht – und dafür wurde er gefürchtet.
Nichts ist unmöglich, solange man es nicht versucht hat, pflegte er zu antworten, wenn jemand eine seiner Anweisungen als phantastisch abtun wollte.
Amadée ergriff noch einmal seine Hand, sagte: »Es ist genug Tafia da«, stellte die Flasche vor ihn, lachte und stand auf, während die Trommeln unter kräftigen Schlägen wieder zu dröhnen begannen.
Jacques spürte ihre Hand noch lange. Sie war trocken und sanft, so wie die von Jacqueline, die jedes neue Schönheitsmittel ausprobierte. Nicht nur kaum sichtbare Falten ließ seine Ex mit dem Wundermittel Botox wegspritzen, sondern auch die Feuchtigkeit auf der Handfläche. Sie hasste Schweißpatschen, wie sie sich ausdrückte. Du lieber Gott, Jacques schüttelte sich innerlich, Jacqueline! Deren Anwalt hatte wieder finanzielle Forderungen gestellt, obwohl sie es war, die ihn verlassen hatte und die schließlich auch nicht schlecht verdiente. Kein Wunder, die Wirkung von Botox hält höchstens sechs Monate vor. Er vermisste sie trotzdem, aber er vermisste sie nicht, wenn er daran dachte, wie sie sich mit ihren Freundinnen traf – wie einst zu Tupperware-Verkaufstees –, zu Meetings mit dem Schönheitsspezialisten, der mit der Botoxspritze die Damen einzeln im Nebenzimmer verarztete.
Entspann dich, versuchte Jacques sich zu beruhigen, entspann dich, du findest den Weg zurück ohnehin nicht allein.
Amadée und Loulou tanzten jetzt wie in Trance. Man Yise rüttelte an Jacques’ Arm und prustete kreolische Sätze heraus, die er nicht verstand, aber die Geste mit der Tafia-Flasche war eindeutig. Alle schauten ihn an. Er trank noch einen Schluck, was lauten Jubel auslöste. Man Yise schlug Jacques auf die Schulter. Ihm gegenüber saß ein kräftiger Kreole mit Glubschaugen in einem großen, runden Kopf, der eine neue Flasche aus der Kiste holte, den Korken mit seinen Ziegenzähnen herauszog, einen langen Schluck nahm und den Tafia an ihn weiterreichte mit dem Wort »Frère« – Bruder.
Jacques wollte sich im Kreis der feiernden Trauergemeinde kein Zögern erlauben, so nippte er nur, was anschwellenden Protest von allen auslöste. Eine Hand kippte die Flasche in seinen Mund, so dass der Rum aus den Mundwinkeln in seinen Hemdkragen lief. Alle brüllten vor Lachen und schlugen sich auf Schultern und Schenkel. Jacques fürchtete nun einen Bruderschaftskuss von Man Yise, aber die fragte nur, ob er Gilles jüngerer Bruder sei.
Jacques sah sie erschrocken an: »Gilles hätte höchstens mein Vater sein können.«
Wieder lachten alle. Jacques überlegte, ob er gelallt hatte. Der Kreole nahm noch einen Schluck Tafia und reichte ihm erneut die Flasche. Jacques spürte alle Blicke und wusste, dass er noch einen großen Schluck trinken musste. Als er die Flasche polternd wieder auf dem Holztisch absetzte, hielt er sich an ihrem Hals fest, als wäre sie eine Säule.
Loulou setzte sich neben ihn, nahm einen Schluck und reichte ihm wieder die Flasche. Mit lautem Lachen und einem kumpelhaften Schlag auf die Schulter machte der kräftige Mann Jacques zum Mittelpunkt des Kreises. Jacques ahnte, was sie vorhatten, aber er konnte sich nicht mehr wehren.
Immerhin nahm er noch mit leichtem Wohlgefühl wahr, dass plötzlich zwei Finger von Amadées warmer Hand seine Haut über dem Kragen berührten, als sie sich wie zufällig auf seine Schulter stützte, um die Rumflasche auf dem Tisch zu ergreifen. Durch einen kurzen Druck ihrer Finger machte sie klar, dass diese Geste nicht zufällig geschah. Er sah ihr zu, wie sie grazil einmal schluckte und ihm dann die Flasche reichte, die beiden Finger immer noch an seiner Haut über dem Kragen.
Der Tafia kreiste und kehrte immer wieder zu Jacques als Mittelpunkt zurück. Unter großem Gelächter.
*
»Würden Sie mir, bitte, noch ein Glas Zitronensaft reichen?«, fragte Jacques seine Gastgeberin. Das frische, saure Getränk wirkte belebend. Amadée saß ihm gegenüber am Frühstückstisch, der mit frischen Früchten, zwei aufgebackenen Buttercroissants, Säften und starkem Kaffee gut, aber nicht übermäßig reichlich gedeckt war. Ihm fiel auf, dass das dünne, mit tropischen Vögeln bemalte Porzellan von Hermès stammte, das Silberbesteck von Christofle.
Jacques nahm seinen Saft entgegen. Und um ihr nicht das Gefühl zu vermitteln, er sei von ihrer Schönheit beeindruckt, stierte er über sie hinweg in die Ferne.
»Bei ganz klarem Wetter kann man das Meer sehen«, sagte sie.
»Reiten Sie?«, fragte Jacques, der auf der Weide zwei Pferde grasen sah. Das gepflegte Grün zog sich, in leichten Wellen abfallend, mindestens zwei Kilometer hin bis zu der endlos scheinenden Bananen-Plantation, die in weiter Ferne dann mit dem dunkelgrünen Urwald verschmolz, der sich vom Osthang des Mont Pelée bis zum Atlantik ausbreitete.
»Nein, mein Mann ist geritten. Und er ist an den Folgen eines Sturzes vom Pferd gestorben.«
»Das tut mir Leid. Wie ist das passiert?«
»Er ist jeden Abend um einen anderen Teil der Plantation geritten, und vorgestern auf dem Rückweg ist das Pferd wahrscheinlich abgerutscht – auf einem engen, steinigen Pfad. Gilles ist einen Felshang hundert Meter tief hinuntergestürzt, nicht weit von der Gorge de la Falaise.«
»War er allein?«
»Ja. Aber Bananenarbeiter haben den Schrei gehört und ihn gleich gefunden. Er war wohl sofort tot.«
Trotzdem war es nicht unbedingt ein Unfall, dachte Jacques, aber er zögerte – ganz gegen seine Art –, sie zu befragen; dabei galt er doch als einer der erfahrensten Untersuchungsrichter von Paris – und als der kaltschnäuzigste. Gerade in diesem Fall hatte er jede Person der Republik, die irgendetwas mit dem Fall zu tun haben könnte, vernommen, Minister, Parteiführer, Unternehmer und Präfekten, Polizeipräsidenten, ehemalige Generäle und auch deren Fahrer, Sekretärinnen, Referenten und Geliebte. Nie war er um Fragen verlegen gewesen. Meist hatte er sie in Paris, in seiner Festung, wie er das Dienstzimmer nannte, gestellt, während Martine Hugues, seine Gerichtsschreiberin, schweigend Protokoll führte.
In Amadées Augen vermutete er ein schelmisches Lächeln, als wollte sie ihn fragen, woran er sich vom gestrigen Abend noch erinnere.
Heute früh, als er in einem Gästezimmer im oberen Stockwerk aufgewacht war, jemand hatte ihm Jacke, Krawatte und Schuhe ausgezogen, hatte die Tür zur Galerie offen gestanden, die Sonne schien hell herein, und die seidenen Vorhänge wisperten leise, als die Stoffe sich im warmen Wind streiften. Auf den Holzdielen standen wenige Möbel, eine polierte Kommode aus edlem Holz an der Wand, ein zierlicher Schreibtisch, am Fenster ein Sessel aus Flechtwerk.
Zwei große kolorierte Kupferstiche, die einen exotischen Vogel zeigten, hingen an der Wand, und Jacques dachte, es könnten Arbeiten von Jean Jacques Audubon sein, aber höchstens Drucke, denn ein Original aus dem neunzehnten Jahrhundert würde sich nur ein sehr wohlhabender Bananenpflanzer leisten können. Doch als er näher hinschaute, erkannte er auf den Blättern unten rechts die Bleistiftsignatur »2001 G.M.«. Hervorragende Arbeiten, dachte Jacques bewundernd.
Im Bad hatte er Rasierzeug und ein frisches Hemd gefunden. Er konnte sich an nichts mehr erinnern, an gar nichts, nur an den Rum, aber er verspürte keinen Kater. Er würde so tun, als wüsste er nicht, dass sie ihn absichtlich mit Tafia voll geschüttet hatten.
»Madame …«, setzte er an, doch sie unterbrach ihn mit einem Lachen. »Amadée – Jacques!«
»Danke, dass Sie mich so zuvorkommend aufgenommen haben. Ich bin …«
»Ich weiß, wer Sie sind: der unbeugsame Juge Ricou! Der Schrecken der Politiker. Ich weiß so ziemlich alles, selbst dass Sie geschieden sind! Schließlich steht über Sie genug in den Zeitungen. Jacques, eine kreolische Trauerfeier mag auf Sie befremdlich wirken, aber wer seine einheimischen Gebräuche hochhält, ist nicht unbedingt ein wilder, unwissender Neger. Auch wir sind Franzosen, unsere Vorfahren die Gallier!«
Jacques lachte mit ihr. Wenn Amadée auch eine hellhäutige Kreolin war, gallische Herkunft konnte er nicht an ihr erkennen. Unsere Vorfahren waren die Gallier! Diesen blöden Lehrsatz lernten noch vor wenigen Jahren alle französischen Schulkinder aus ihren in Paris gedruckten Schulbüchern, ganz gleich, ob sie nun in Frankreich, Guyana, auf Tahiti oder den französischen Antillen aufwuchsen: »Nos ancêtres les Gaulois« galt auch für Kreolen. Ihre kulturelle Arroganz haben die Vertreter des Zentralstaats selbst heute nicht abgelegt.
»Wir haben zwar hier auf der Habitation Alizé weder Radio noch Fernsehen, wir haben noch nicht einmal Telefon. Gilles wollte von der Metropole nichts mehr wissen. Aber wir haben trotzdem vieles gehört, und Loulou hat mir alle Wissenslücken über Sie aufgefüllt.«
»Was macht Loulou?«
»Er ist Journalist in Fort-de-France. Wenn ich es richtig sehe, krempeln Sie gerade die politischen Parteien wegen Schmiergeldzahlungen um. Ich weiß nur nicht, warum Sie hier sind und was in aller Welt Sie zu Gilles führt?«
Sollte er die Wahrheit sagen, dass er eigentlich nur einem Gefühl nachgegangen war?
»Es hängt mit Ihrem Nachbarn Victor LaBrousse zusammen.«
»Mit LaBrousse hat sich Gilles seit über einem Jahr nicht mehr getroffen. Die beiden hatten sich verkracht.«
»Vielleicht hängt mein Besuch bei Ihnen mit der Ursache für diesen Krach zusammen. Waren die beiden Männer vorher gut befreundet?«
»Beide Familien waren Pieds-noirs, Franzosen, die seit Generationen in Algerien gelebt hatten.«
Kolonisatoren, die gekommen waren, als die Algerier angeblich die Franzosen, die mit schwarzen Stiefeln kamen, »schwarze Füße« nannten – Pieds noirs.
»Aber sie haben sich erst hier kennen gelernt. Gilles wohnte schon eine Ewigkeit auf Martinique, bevor Victor vor dreizehn oder vierzehn Jahren gekommen ist und seine Plantation gekauft hat.«
»Waren Sie bei dem letzten Treffen dabei?«
»Ja, Gilles hat sich so aufgeregt, dass er fast einen Herzanfall bekommen hätte. Er hatte auf einem Foto, das bei LaBrousse hängt, einen französischen Offizier erkannt, mit dem Sie sich übrigens auch befasst haben. Der General, der letztes Jahr ermordet worden ist, war auf dieser Aufnahme zu sehen. Ich kenne die Geschichte. Ich vermute, der General diente LaBrousse als Vorbild. Haben Sie ihn, Victor LaBrousse, schon besucht? Er wohnt nicht weit von hier.«
»Gestern Nachmittag.«
*
Jacques war vom Flughafen mit dem kleinen Peugeot 206 in den Ort gefahren und hatte im »Imperial« ein Zimmer genommen. Kein luxuriöses Hotel, aber eines der besseren in Fort-de-France. Die großen Ferienhotels lagen auf der anderen Seite der Bucht an der Pointe-du-Bout. Er war hier, um zu arbeiten, und sein Besuch war präzise und entsprechend den Regeln vorbereitet. Darauf legte er Wert. Von Paris aus hatte er bei der Polizei in Fort-de-France um Amtshilfe nachgesucht. Es hatte fast zwei Tage gedauert, bis Martine ihn endlich mit Kommissar Césaire von der Police judiciaire in Martinique hatte verbinden können.
»Sind wir von den Pariser Sitten inzwischen auch so verseucht worden, dass Sie sogar uns anrufen«, lachte Césaire in den Hörer.
»Das sehen Sie falsch«, antwortete Jacques ironisch. »Schon je was von der exception culturelle gehört? Paris versteht sich doch immer schon als Hort aller Zivilisation, die es in die ganze Welt zu verbreiten gilt. Dazu gehört auch unser Justizwesen. Dessen Auswirkungen sollt ihr auch mal kennen lernen – von mir!«
»Welcher Béké hat denn von hier aus in die schwarzen Kassen gezahlt?«, fragte Césaire.
»Ein bisschen komplizierter ist das schon.«
Jacques bat Césaire, Victor LaBrousse zur Befragung in die Polizeidirektion nach Fort-de-France zu zitieren, verschwieg jedoch, dass er sich eigentlich mehr für Gilles Maurel interessierte.
»Auf Martinique lebt man anders«, lachte ihn der Polizist aus Fort-de-France aus, er müsse sich schon selbst zu LaBrousse begeben. Schließlich sei der ein angesehener und wohlhabender Pflanzer mit Beziehungen zur Politik.
Wer ihm in Paris so arrogant gekommen wäre, dem hätte Jacques auf der Stelle eine gerichtliche Verfügung geschickt.
Dem Mann auf Martinique gegenüber blieb er aber erstaunlich gelassen. Und er ertappte sich bei dem Gedanken, wie wohltuend es sein könnte, eine seiner abstrusen Spuren selbst zu verfolgen, schon allein weil ihm das erlauben würde, für ein paar Tage aus Paris zu fliehen – dienstlich.
Noch hielt er dem politischen Druck, der immer weniger subtil auf ihn ausgeübt wurde, stand, aber der Fall, an dem er nun seit acht Jahren arbeitete, begann ihn zu nerven. Manchmal hatte er sogar Angst.
Dazu kam die Trennung von Jacqueline! Wenn es im Büro kriselt, muss das Privatleben stimmen – oder umgekehrt, pflegte er zu philosophieren. Bei ihm herrschte aber im Augenblick mindestens doppelte Unordnung.
Jetzt aber war er hier auf dieser exotischen Insel und für vier Uhr mit LaBrousse auf dessen Plantation verabredet.
Jacques nahm den direkten Weg über die N 3 quer durch Martinique und ließ sich Zeit. Die Strecke ist kurvig und steigt schon bald hinter Fort de France an. Bei Balata sah er die Nachbildung von Sacré-Cœur, die 1928 gebaut worden war. Kitsch, Jacques schüttelte den Kopf, genauso ein Kitsch wie das Original auf dem Montmartre, das seinerzeit wegen des Sieges der barbarischen Teutonen 1870 über die Nachfahren der Hellenen gebaut worden war!
Die Straße stieg weiter bergan. Jacques begann in seinem kleinen Auto zu schwitzen. In Frankreich gibt es, grob gesagt, zwei Sorten von Staatsdienern, dachte er: solche, die man als die Katholiken bezeichnen könnte, weil sie im Dienst eine Pfründe sehen, und solche, die für ihn die Protestanten waren, weil sie jede Ausgabe von Steuergroschen sorgsam beachten. Weil er zu den Sparsamen zählte, hatte er diesen Peugeot 206 gemietet – ohne Klimaanlage, und er bereute es schon jetzt. Die Sonne hatte den kleinen Wagen erbarmungslos aufgeheizt, und der Fahrtwind brachte nur wenig Erleichterung.
In Le Morne-Rouge hielt er an, er lag gut in der Zeit, setzte sich unter das Laubdach einer Ajoupa, genoss die leichte Brise und trank eine undefinierbare, aber wenigstens eiskalte Limonade. Am Klapptisch neben ihm saßen zwei Kreolen und spielten Domino.
Zweimal krähte der Corbeau. Le Corbeau bedeutet nicht nur krächzender Rabe, sondern besagt auch, dass ein schräger Vogel Geheimnisse verpfeift, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Le Corbeau wird ein anonymer Denunziant genannt, eine Übelkrähe, die Bestandteil des täglichen Lebens in Frankreich ist. Einmal verpfiff ein Corbeau den General Baltazar de Montagnac an die Justiz, beim zweiten Mal – acht Jahre später – gab er an zu wissen, wer der Mörder des Generals sein könnte. Und erst da tauchte der Name Victor LaBrousse in diesem Fall auf, obwohl der Pflanzer auf Martinique von Anfang an daran beteiligt war, viele Millionen Francs, später Euro zugunsten französischer Politiker zu waschen.
Eines frühen Morgens, drei Tage vor Himmelfahrt 2002, war Balthazar de Montagnac vor seiner Villa in Saint-Cloud, dem schicken Villenviertel am südwestlichen Rande von Paris, erschossen worden. Eine einzige Kugel aus einem Präzisionsgewehr älterer Bauart, wie die verwendete Munition verriet, hatte ihn aus fast zweihundert Metern Entfernung in die Brust getroffen und ihm das Herz zerrissen. Sein Gärtner hatte ihn, im schönsten Sonnenschein auf dem Rasen liegend, wenige Meter von der Terrasse entfernt, gefunden. An diesen Ort pflegte der General seine Besucher zu führen und den einzigartigen Blick über ganz Paris zu rühmen mit dem Eiffelturm als Kompassnadel in der Mitte des Panoramas. Der Schuss war von den Oleanderbüschen an der hohen Gartenmauer aus abgegeben worden.
Noch bevor die Polizei eintraf, verbreitete sich die Meldung vom Mord an dem General wie ein Lauffeuer über das Internet, die Rundfunknachrichten nahmen sie auf, und die Mittagsnachrichten im Fernsehen begannen ausnahmsweise nicht mit dem Lieblingsthema der nach Quote schielenden Fernsehmacher: dem beunruhigenden Fall eines kleinen Mädchens, das verschwunden war.
General de Montagnac ermordet! Das deutete nicht nur auf einen politischen Skandal hin, nein, das war eine Sensation, die die Staatsspitze erschüttern könnte, wie einst der Tod von Arbeitsminister Robert Boulin, der im Wald von Rambouillet in einem fünfzig Zentimeter tiefen Tümpel ermordet aufgefunden worden war. Der populäre Boulin stand damals kurz davor, Raymond Barre als Premierminister abzulösen. Der Fall wurde nie gelöst. Es sei ein Selbstmord gewesen, hieß es, und es war geradezu lächerlich, was die vom Innenminister abhängige Polizei damals beschloss: Boulin sei absichtlich in der flachen Pfütze ertrunken.
Doch so einfach ließ sich der Mord am General de Montagnac nicht vertuschen. Denn ein Corbeau hielt den Fall am Köcheln.
Sechs Monate waren seit dem Schuss auf den General vergangen, und immer noch hatte die Polizei keinen konkreten Hinweis auf einen Täter. Als die zuständigen Beamten beschließen wollten, auch dessen Tod als Selbstmord einzuordnen, wies der Corbeau in seiner zweiten Mitteilung auf Verdächtige hin, mit der Bemerkung: die vor acht Jahren bei Gericht eingegangene erste Lieferung von ihm solle nicht vergeblich gewesen sein.
Die neuen Papiere brachten LaBrousse ins Spiel. Und das erstaunte Jacques Ricou, denn LaBrousse war zwar jahrelang als Handlanger de Montagnacs in das Geschäft mit der schwarzen Kasse verwickelt gewesen, doch bei keinem Verhör, in keiner Rechnung oder Akte hatte der Richter bisher einen Hinweis auf ihn gefunden.
Martine sagte dazu nur lakonisch: »Da stecken noch viel mehr drin, die wir nicht kennen. Du hast noch viel Arbeit vor dir, Monsieur le juge, es ist nur die Frage, wer wen zuerst erwischt: die anderen dich oder du die anderen.«
»Die anderen sind im Moment im Vorteil, aber das hier ist ein Punktgewinn für uns.«
Der anonyme Denunziant, der sich in den schmutzigen Geschäften der hohen Politik, der Justiz und der Geheimdienste offensichtlich auskannte, hatte mit seiner ersten Briefsendung kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1995 einen Machtkampf zwischen der Gerichtsbarkeit und den Renseignements Généraux, dem Inlandsgeheimdienst, ausgelöst. Für Eingeweihte war das erkennbare Ziel des Denunzianten der Sturz des Innenministers.
In einem Umschlag ohne Fingerabdrücke hatte er der Justiz einen Packen Rechnungen geschickt, die von einer völlig unbekannten Beratungsfirma namens »Sotax« an solche Bauunternehmen adressiert worden waren, die Aufträge von verschiedenen öffentlichen Stellen und Kommunen erhalten hatten. Da ging es um alles: den Bau von Metrolinien, von Straßen, Bahntrassen, Brücken, Autobahnzubringern und ganzen Hochhaussiedlungen in der Banlieue.
Die Staatsanwaltschaft hatte das Dossier in einem rosa Aktenordner, die Farbe für Finanzdelikte, weiter an den für diese Dinge zuständigen Untersuchungsrichter Jacques Ricou geleitet, und der hatte schon beim Öffnen des Umschlags gegenüber Martine den Verdacht geäußert, es könne sich hier wieder einmal um einen Fall illegaler Parteienfinanzierung handeln. Das wäre beileibe nicht das erste Mal. Denn die Parteien in Frankreich hatten sich ein besonderes System der Selbstbedienung zu ihrer Finanzierung ausgedacht.
Die Politiker hatten einfach den Satz von Louis Quatorze, »l’Etat, c’est moi«, auf sich bezogen und, unter Verdrängung der Ursachen, die zur französischen Revolution geführt hatten, dieses Postulat umgewandelt in: Der Staat gehört uns. Daraufhin hatten sie ohne Scheu Millionenbeträge aus den öffentlichen Kassen abgezweigt, um ihre Wahlkämpfe – und nicht nur die – zu bezahlen. Denn jeder, der das Schwarzgeld zwischen die Finger bekam, teilte es in mehrere Häufchen und behielt einen stattlichen Prozentsatz für sich.
Das System funktionierte äußerst simpel: Firmen, die Aufträge von Gemeinden oder anderen staatlichen oder städtischen Einrichtungen erhielten, zahlten zehn Prozent der Vertragssumme an »Planungsbüros«, die zwar nichts planten, aber das Geld an die schwarzen Kassen ihrer Partei weiterleiteten, die wiederum im Gemeinderat oder im Rathaus über die Vergabe von Aufträgen entschied. Für die Unternehmen war das Geschäft mit den Rechnungen in jedem Falle einträglich. Sie stellten die Kosten für die angebliche Arbeit der Planungsbüros den öffentlichen Kassen wieder in Rechnung. So wanderten in Wirklichkeit Steuergroschen meist über den Umweg ausländischer Währung in die Taschen der Politiker.
An diesem nationalen Brauchtum änderte sich auch nichts, als ein Gesetz zur Parteienfinanzierung diese Art der Wertschöpfung untersagte. Denn die politische Klasse rechnete fest damit, dass Justitia unter der Binde vor den Augen hindurchlugen, den Politiker vor sich erkennen und dann ein Auge zudrücken würde. Zumindest war es immer so gewesen: Die Justiz tat der Politik nicht weh, schließlich hatte die Regierung stets den längeren Atem; denn wer sprach wohl Beförderungen oder Ernennungen aus?
Die Rechnungen in Ricous rosa Dossier stammten aus den Jahren 1994 und 1995, beliefen sich auf mehrere hundert Millionen Francs, und der Richter hatte durch diskrete Recherchen schnell herausgefunden, dass die »Sotax« außer einer Sekretärin, die auf gediegenem Papier Rechnungen schrieb, niemanden beschäftigte.
General de Montagnac war eine schillernde Figur. Als Berufssoldat hatte er sich im Zweiten Weltkrieg in Indochina und Algerien bewährt und es bis zum General gebracht. Mit sechzig als Militär pensioniert, war er nahtlos in eine Karriere als Politiker gewechselt und wurde zweimal für jeweils sechs Jahre zum Senator gewählt – ein ehrenwertes, scheinbar sogar politisch gewichtiges, aber im Machtgeflecht von Paris ziemlich unbedeutendes Amt. Doch in Paris zählen die Fassaden, der äußere Prunk verdeckt den Plunder dahinter. Der Sitz des Senats, das Palais de Luxembourg, wirkt noch beeindruckender und würdiger als die hellenistische Fassade der Assemblée nationale. Und ein Senator wird nicht direkt, sondern von den Wahlmännern der Regionen gewählt, das lässt ihn vermeintlich hoheitsvoll über den Parteien schweben. Doch trotz all ihrer Würde – zu sagen haben die alten Herren im Senat recht wenig.
Balthazar de Montagnac, aus kleinem Adel im Süden Frankreichs stammend, war erst als Politiker reich und einflussreich geworden, und obwohl seine Zeit im Senat schon fünf Jahre zurücklag, galt er immer noch als einer der Barone der L.E.F., einer konservativen Sammlungsbewegung unter dem populistisch klingenden Namen »Liberté – Égalité – Fraternité«, Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, was einst die wilden Revolutionäre gefordert hatten. In der Öffentlichkeit wurde er, der nun auf die Achtzig zuging, immer noch als der General angesprochen. Er war ein nüchterner, ja, humorloser Mann, doch, ausgestattet mit einem viereckigen Schädel und einem in Jahrzehnten Militärdienst trainierten straffen Brustkorb, strahlte er große Bedeutung aus mit seinem aufrechten Gang und der stets perfekt gepflegten dunklen Mähne, deren Haaransatz er sich einmal in der Woche von den hübschen, in luftige Kittel gekleideten Mädchen bei Monsieur Georges in der Avenue Franklin D. Roosevelt mit einem Pinsel schwarz nachfärben ließ.
In der Partei hatte der General, der mit politischen Äußerungen nie hervortrat, häufig die Strippen für die L.E.F. im Dunkeln gezogen, wenn es um Abstimmungsverhalten, unerklärte Koalitionen und erst recht, wenn es um Ämter ging. Deshalb schmeichelte ihm, wer nach Posten schielte, und gab sich als sein Freund aus. Aber der General wurde nicht nur als geheimer Finanzier in der L.E.F., sondern auch über sein Lager hinaus respektiert, weil er, so schien es, über unkontrolliert viel Bargeld verfügte. Welche Quelle er anzapfte, wollte niemand wissen; manch einer vermutete, er habe nicht nur für die Armee, sondern auch für den Geheimdienst gearbeitet, der seinerzeit das Ölunternehmen Elf-Aquitaine gegründet hatte, um von der Politik finanziell unabhängig zu sein. Und Elf verteilte in den guten alten Zeiten jedes Jahr Hunderte von Millionen nicht nur an Politiker und Parteien in Frankreich, sondern an so manchen Regierungschef im Ausland, an afrikanische Häuptlinge oder Präsidenten von Ländern, in denen Ölreserven lagen.
All das geschah selbstverständlich im Einvernehmen mit dem jeweiligen Staatspräsidenten, dem der jeweilige Chef von Elf einen handgeschriebenen Zettel präsentierte, auf dem stand, wer wie viel bekommen sollte. Die Partei des Präsidenten wurde stets besonders bedacht. Zu seiner Amtszeit, so wird berichtet, machte François Mitterrand jedes Jahr stets die gleichen glucksenden Geräusche, mit denen er seine Unzufriedenheit ausdrückte, wenn ihm die Liste vorgelegt wurde, und fügte noch einiges für die Sozialisten hinzu.
Regelmäßig kurz vor Weinachten machte der General die Runde durch Paris. Aus dem Kofferraum seines großen Peugeot, den er an diesem Tag ausnahmsweise selber chauffierte, verteilte er, nach einem geschickt ausgeklügelten System, in großen Bündeln Fünfhundert-Franc-Scheine. So erhielt etwa die Mätresse des Ministers einer anderen Partei mehrere hunderttausend Francs, womit er nicht nur eine Freundin, sondern darüber hinaus auch einen heimlichen Alliierten gewann.
Vor den Wahlen im Frühjahr 1995 war Jacques Ricou mit der Untersuchung beauftragt worden, aber der Fall war Jahr um Jahr gewachsen. Dann war im Herbst 2002 der General erschossen worden. Insgeheim hatten sich all jene Politiker, Beamte und Unternehmer, die in das Geflecht der »Sotax« verstrickt waren, den Tod des Generals erhofft, am liebsten friedlich, wegen seines hohen Alters, denn das hätte, unter normalen Umständen, die Einstellung der Untersuchung bedeutet. So hatte die bisher willfährige Justiz immer gehandelt.
Aber es war nichts mehr so wie früher, als ohnehin alles besser war. Richter einer neuen Generation, wie Jacques Ricou, Éric Halphen, Renaud van Ruymbeke und vor allem Eva Joly, haben inzwischen bewiesen, was eine unabhängige Justiz bewirken kann und was Gerechtigkeit bedeutet. Auch aus diesem Grunde war Jacques Ricou im Frühjahr 2003 so schnell bereit, nach Martinique zu reisen, um Victor LaBrousse zu vernehmen.
Drei Wochen zuvor hatte er in der zweiten Sendung des Corbeau wieder brisantes Material entdeckt. Unter den Papieren waren einige Protokolle, die im Jargon der Renseignements Généraux, des Inlandsgeheimdienstes, »blancs« genannt werden – »weiß«, weil das Papier weder Briefkopf noch Unterschrift trägt, damit es nicht auf einen bestimmten Agenten zurückverfolgt werden kann. Blancs existieren stets in nur drei Exemplaren, eines behält der Agent, das zweite geht an den Chef des Geheimdienstes und das dritte erhält der Innenminister. Der Corbeau musste also auf einem guten, sehr guten Posten sitzen, um eine Kopie herstellen und an den Richter schicken zu können.
Martine hatte den Umschlag geöffnet und war damit sofort in Jacques’ Büro geeilt. Grinsend hatte sie ihn gefragt: