Zsolnay E-Book
DAS VERBRECHEN
KOMMISSARIN LUNDS 1. FALL
Roman
Aus dem Englischen
von Barbara Heller und
Rudolf Hermstein
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter
dem Titel The Killing bei Macmillan, London.
Der Roman basiert auf Søren Sveistrups Forbrydelsen –
einer Serie des dänischen Fernsehens. Koautoren:
Torleif Hoppe, Michael W. Horsten und Per Daumiller.
ISBN 978-3-552-05629-9
Copyright © David Hewson 2012
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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Non nobis solum nati sumus.
Wir sind nicht für uns allein geboren.
CICERO, DE OFFICIIS I, 22
Durch den dunklen Wald, dessen kahle Bäume keinen Schutz bieten, rennt Nanna Birk Larsen. Neunzehn, atemlos, zitternd in ihrem kurzen, zerrissenen Hemd, barfuß, in dem zähen Matsch strauchelnd. Harte Wurzeln haken sich um ihre Knöchel, dichtes Gestrüpp zerkratzt ihre wild rudernden weißen Arme. Sie stürzt, fängt sich wieder, kämpft sich aus stinkenden Tümpeln hoch, versucht das Zähneklappern zu stoppen, versucht zu denken, zu hoffen, sich zu verstecken.
Ein gleißendes Auge verfolgt sie, wie ein Jäger das angeschossene Wild. Im Zickzack, langsam näher rückend, bewegt es sich durch den Pinseskoven, den Pfingstwald. Kahle silberne Stämme ragen aus dem kargen Boden wie Gliedmaßen uralter, versteinerter Leichen. Wieder ein Sturz, der schlimmste. Der Boden unter ihr verschwindet und mit ihm ihre Beine. Um sich schlagend, aufschreiend vor Schmerz und Verzweiflung, stürzt das Mädchen in den sumpfigen, eiskalten Graben, prallt gegen Steine und Holz, paddelt durch scharfkantigen Schotter, spürt, wie ihr Kopf und ihre Hände, ihre Ellbogen, ihre Knie über den harten Untergrund schrammen.
Das kalte Wasser, die Angst, und er, nicht mehr weit …
Sie kämpft sich aus dem Schlamm hoch, keuchend, klettert die Böschung hinauf, stemmt ihre aufgerissenen, blutenden Füße in den Morast, spreizt die Zehen, um darin Halt zu finden. Oben ein Baum. Dürre Blätter streifen ihr Gesicht. Der Stamm ist dicker als die anderen, sie wirft die Arme um ihn und denkt an ihren Vater Theis, einen Schrank von einem Mann, schweigsam, brummig, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Welt draußen. Sie klammert sich an den Baum, wie sie sich früher an ihren Vater geklammert hat. Seine Stärke bei ihr, ihre bei ihm. Nichts sonst brauchte sie, würde sie je brauchen.
Vom unendlichen Himmel kommt ein dumpfes Heulen. Die strahlenden, alles sehenden Lichter eines Flugzeugs fliehen die Grenzen der Schwerkraft, fliehen Kastrup, fliehen Dänemark. Der flüchtige Schein verwirrt und blendet. In dem unerbittlichen Gleißen tasten Nannas Finger über ihr Gesicht. Fühlen die Wunde, die vom linken Auge zur Wange läuft, bösartig, offen, blutend.
Sie riecht ihn, spürt ihn. An ihr. In ihr.
Durch all die Schmerzen, inmitten der Angst, schießt eine heiße Flamme der Wut empor.
Du bist Theis Birk Larsens Tochter.
Alle sagten das, wenn sie ihnen Grund dazu gab.
Du bist Nanna Birk Larsen, Theis’ Kind und Pernilles Kind, du wirst dem Ungeheuer entkommen, das in der Nacht durch den Pfingstwald jagt, draußen am Rand der Stadt, in der es, nur wenige Kilometer und doch so weit entfernt, jenen warmen sicheren Ort namens Zuhause gibt.
Sie steht an den Stamm geschmiegt, wie sie sich früher an ihren Vater geschmiegt hat, die Arme um die rissige silberne Rinde geschlungen, ihr seidig glänzendes Hemd verdreckt und blutverschmiert, zitternd, stumm, redet sich ein, dass Rettung nahe ist, jenseits des dunklen Waldes und der toten Bäume, die keinen Schutz bieten. Wieder streicht ein weißer Strahl über sie. Es ist nicht die Lichtflut aus dem Bauch eines Flugzeugs, das über dem Ödland dahinfliegt wie ein riesiger Maschinenengel, der müßig nach einer verlorenen Seele Ausschau hält, um sie zu retten.
Lauf, Nanna, lauf, ruft eine Stimme.
Lauf, Nanna, lauf, denkt sie.
Der Schein einer Taschenlampe ist jetzt auf ihr, das gleißende Auge. Es ist da.
»Es ist im Hinterhaus«, sagte der Polizist. »Ein Obdachloser hat sie gefunden.«
Halb acht Uhr morgens, noch dunkel. Es regnete eisige Bindfäden. Vicekriminalkommissær Sarah Lund stand im Windschatten des schmutzigen Backsteinbaus in der Nähe der Docks und sah den Uniformierten zu, die das Gelände absperrten. Der letzte Tatort, den sie in Kopenhagen sehen würde. Ein Mord natürlich. Eine Frau noch dazu.
»Das Gebäude steht leer. Wir überprüfen den Wohnblock gegenüber.«
»Wie alt ist sie?«, fragte Lund.
Der Polizist, ein Mann, den sie kaum kannte, zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Regen vom Gesicht.
»Warum fragen Sie?«
Ein Albtraum, wollte sie sagen. Einer, aus dem sie um halb sieben mit einem Schrei hochgefahren war. Als sie aufstand, tappte Bengt, der liebe, fürsorgliche, ruhige Bengt, in der Wohnung umher und packte die letzten Sachen. Mark, ihr Sohn, lag in tiefem Schlaf vor dem Fernseher in seinem Zimmer und regte sich nicht, als sie leise hineinspähte. Am Abend würden sie ins Flugzeug nach Stockholm steigen. Ein neues Leben in einem anderen Land. Neue Ufer. Abgebrochene Brücken.
Sarah Lund war achtunddreißig, eine ernste Frau, die unablässig die Welt um sich herum betrachtete, nie sich selbst. Es war ihr letzter Tag bei der Kopenhagener Polizei. Frauen wie sie kannten keine Albträume, keine Ängste im Dunkeln, kein Aufblitzen eines erschrockenen jungen Gesichts, das vielleicht einmal ihres gewesen war.
Das waren die Phantasien anderer.
»Keine Antwort?«, sagte der Polizist und sah sie missmutig an. Er zog das Absperrband hoch und führte sie zu der eisernen Schiebetür. »Wissen Sie was? So was hab ich überhaupt noch nicht gesehen.«
Er gab ihr ein Paar blaue Schutzhandschuhe und wartete, bis sie sie übergestreift hatte, dann stemmte er die Schulter gegen das rostige Metall. Kreischend wie eine misshandelte Katze ging die Tür auf.
»Bin gleich wieder da«, sagte er.
Sie wartete nicht, ging einfach los, wie sie es immer tat, allein, schaute, erst in die eine Richtung, dann in die andere, die hellen Augen weit geöffnet, schaute nur. Aus irgendeinem Grund schob der Polizist, kaum war sie drin, die Tür zu, so schnell, dass die Katze eine Oktave höher kreischte als zuvor. Und dann verstummte, als die schwere Eisentür sich dröhnend schloss und den grauen Tag aussperrte.
Vor ihr ein Gang in der Mitte eines Raums wie ein Fleischerladen, Träger mit Haken daran. An der Decke eine einzelne Reihe Glühbirnen. Der Betonboden glänzte feucht. Ganz hinten bewegte sich etwas im Halbdunkel, schwang wie ein riesiges Pendel langsam hin und her. Irgendwo klackte ein Lichtschalter, dann war es finster, so finster wie am Morgen in ihrem Schlafzimmer, als ein wüster, unerwünschter Traum sie wachgerüttelt hatte.
»Licht!«, rief Lund.
Ihre Stimme hallte im schwarzen, leeren Bauch des Gebäudes wider.
»Licht, bitte.«
Kein Laut. Sie war eine erfahrene Polizistin, dachte stets an alles, was sie mit sich führen musste, bis auf die Pistole, die ihr immer erst später einfiel. Aber sie hatte die Taschenlampe, wohlverwahrt in ihrer rechten Tasche. Holte sie heraus und hielt sie nach Polizistenart: rechte Hand erhoben, Handgelenk nach hinten abgewinkelt, Lichtstrahl geradeaus, suchend, in Winkel spähend, in die andere nicht schauten.
Das Licht und Lund gingen auf Suche. Decken, alte Kleider, zwei zerdrückte Coladosen, eine leere Kondompackung. Drei Schritte, dann blieb sie stehen. Rechts an der Wand, in Bodennähe, eine Pfütze, scharlachrot, klebrig, auf dem abblätternden Putz zwei waagerechte Streifen, wie verschmiertes Blut, von einer Leiche, die über den Boden geschleift wurde.
Lund holte ihre Nikotinkaugummis hervor und steckte sich einen in den Mund. Sie ließ nicht nur Kopenhagen hinter sich. Auch das Rauchen stand auf der Abschussliste. Sie bückte sich, tupfte einen blauen Latexfinger in die Pfütze, hob ihn an die Nase und schnupperte daran. Drei Schritte weiter stieß sie auf eine Axt, der Griff sauber und glänzend, als sei sie erst tags zuvor gekauft worden. Sie legte zwei Finger in die rote Flüssigkeit an der Schneide, rieb sie aneinander, roch daran, überlegte.
Lund würde sich nie mit dem Nicotinell-Geschmack anfreunden. Sie ging weiter. Das Ding dort vorn war jetzt deutlicher zu sehen. Eine Industrieplane, rot verschmiert. Wie das Leichentuch eines geschlachteten Tiers. Darunter menschliche Umrisse. Lund veränderte die Position der Taschenlampe, hielt sie dicht an der Taille, den Strahl aufwärts gerichtet, musterte die Plane, suchte eine Stelle, wo sie sie greifen konnte. Sie riss die Plane mit einem Ruck weg, und was dahinter war, pendelte im Schein der Lampe langsam hin und her. Das starre Gesicht männlich, der Mund zu einem immerwährenden O geöffnet. Schwarze Haare, rosa Haut, ein monströser Plastikphallus. Auf dem Kopf ein leuchtend blauer Wikingerhelm mit silbernen Hörnern und goldenen Zöpfen.
Lund legte den Kopf schräg und lächelte, der Zöpfe wegen.
Ein Zettel war an der Brust der Sexpuppe befestigt: Danke, Chefin, für sieben gute Jahre. Die Jungs.
Gelächter aus dem Dunkel.
Die Jungs.
Ein guter Scherz. Obwohl sie ruhig echtes Blut hätten nehmen können.
Das Polizeipräsidium war ein graues Labyrinth auf einem aufgeschütteten Stück Land nahe am Wasser. Von außen ein düsterer Kasten, öffnete sich das Gebäude auf einen runden Hof. Klassische Säulen säumten die schattigen Arkaden ringsum. Im Innern führten Wendeltreppen zu den gebogenen, mit gemasertem schwarzen Marmor ausgekleideten Gängen, die sich wie verkalkte Adern um das vollkommene Rund zogen. Lund hatte drei Monate gebraucht, um sich in dem Komplex zurechtzufinden. Auch jetzt noch musste sie manchmal überlegen, wo sie sich befand.
Das Morddezernat lag im zweiten Stock Nordost. Sie saß in Buchards Büro, den Wikingerhelm auf dem Kopf, hörte sich Witze an, packte Geschenke aus, lächelte und schwieg unter den Papphörnern und den goldenen Zöpfen. Dann bedankte sie sich, ging in ihr Büro und begann ihre Sachen zusammenzupacken. Keine Zeit für so viel Aufhebens. Lächelnd betrachtete sie das Foto von Mark auf dem Schreibtisch. Vor drei Jahren aufgenommen, er war neun gewesen, lange bevor er mit dem albernen Ohrring nach Hause kam. Vor – kurz vor – der Scheidung. Dann war Bengt gekommen, um sie nach Schweden zu locken, in ein Leben jenseits der trüben, kalten Fluten des Öresunds.
Ihr Sohn Mark, ernst, damals wie heute. In Schweden würde sich das ändern. Wie überhaupt alles.
Lund schob den Rest – ihren Dreimonatsvorrat Nicotinell, die Stifte, den Bleistiftspitzer in Form eines Londoner Busses – vom Schreibtisch in einen ramponierten Pappkarton und legte das Bild von Mark obendrauf. Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein.
Sie schaute, schätzte ab, wie sie es immer tat. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Die Haare kurzgeschnitten, die Miene streng. Große Augen, große Ohren. Die Kleider billig und etwas zu jugendlich für einen Mann, der nicht viel jünger sein konnte als sie. Er trug einen Karton, der ganz ähnlich aussah wie ihrer. Sie sah einen Stadtplan von Kopenhagen darin, ein Kinder-Basketballnetz, ein Spielzeug-Polizeiauto, Kopfhörer.
»Ich suche das Büro von Kommissarin Lund«, sagte er und starrte auf den Wikingerhelm, der an den neuen Skiern hing, einem Geschenk ihrer Kollegen.
»Das bin ich.«
»Jan Meyer. Gehört das hier zur Uniform?«
»Ich gehe nach Schweden.«
Lund nahm ihren Karton, und die beiden vollführten einen kleinen Tanz, als sie sich aneinander vorbeischlängelten.
»Warum denn das, um Himmels willen?«, fragte Meyer.
Sie stellte den Karton ab, strich ihre langen, widerspenstigen braunen Haare zurück und überlegte, ob sie irgendetwas Wichtiges vergessen hatte. Er nahm das Basketballnetz aus dem Karton, besah sich die Wand.
»Meine Schwester hat auch mal so was gemacht«, sagte er.
»Was?«
»Hat ihr Leben hier nicht auf die Reihe gekriegt und ist mit einem Typ nach Bornholm.« Meyer verstaute das Netz auf den Aktenschränken. »Netter Kerl. Hat aber nicht funktioniert.«
Genervt von ihren Haaren, holte Lund ein Gummiband aus der Tasche und fasste sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Warum nicht?«
»Zu weit weg. Den ganzen Tag nur Kühe furzen hören, das hat sie verrückt gemacht.« Er nahm einen Bierkrug aus Zinn heraus und drehte ihn hin und her. »Und wo genau ziehst du hin?«
»Nach Sigtuna.«
Meyer hielt inne und sah sie schweigend an.
»Das ist auch sehr weit weg«, fügte Lund hinzu.
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und holte einen kleinen Kinderfußball aus dem Karton. Dann stellte er das Polizeiauto auf den Schreibtisch und schob es hin und her. Das Blaulicht begann zu blinken, und die Sirene heulte. Er spielte noch damit, als Buchard mit einem Zettel in der Hand hereinkam.
»Ihr habt euch schon kennengelernt«, sagte der Chef. Es war keine Frage.
Die onkelhafte Ausstrahlung des Mannes, neben dem sie beim Frühstück gesessen hatte, war verschwunden.
»Ja, wir hatten bereits das Vergnügen …«, begann Lund.
»Das ist eben reingekommen.« Buchard gab ihr die Notiz. »Aber wenn du jetzt packen musst …«
»Ich hab noch Zeit«, sagte sie. »Den ganzen Tag …«
»Gut. Du kannst Meyer ja mitnehmen.«
Der Mann mit dem Karton drückte seine Zigarette aus und zuckte die Schultern.
»Er packt gerade aus.«
Meyer ließ das Auto los, nahm den Fußball und ließ ihn in der Hand auf und ab hüpfen. Er grinste. Wirkte dadurch anders, menschlicher, runder.
»Die Arbeit geht vor.«
»Ein guter Anfang«, sagte Buchard. Ein scharfer Unterton. »Wäre mir lieb, Meyer. Und Ihnen auch.«
Lund saß auf dem Beifahrersitz, scannte durchs offene Fenster das Kalvebod Fælled. Dreizehn Kilometer südlich der Stadt, nicht weit vom Meer. Nach mehreren Regentagen ein strahlender Morgen. Würde wahrscheinlich nicht lange schön bleiben. Flaches Marschland, gelbes Gras, Gräben bis zum Horizont und rechts ein kahler, dunkler Wald. Schwacher Meergeruch, ringsum der Gestank verrottender Pflanzen. Die Luft feucht, nahe dem Gefrierpunkt. Ein harter, kalter Winter kündigte sich an.
»Du darfst dort keine Waffe tragen? Und keine Festnahmen durchführen? Was ist mit Strafzetteln?«
Jemand hatte, als er am frühen Morgen seinen Hund ausführte, Mädchenkleider gefunden, auf einem Stück Ödland nahe einem Birkenwäldchen namens Pinseskoven. Pfingstwald.
»Um Leute festzunehmen, muss man schwedischer Staatsbürger sein. Das ist ein …« Lund wünschte, sie hätte gar nicht erst geantwortet. »So ist das dort.«
Meyer schob sich eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund, dann knüllte er die Tüte zusammen und warf sie in den Fußraum. Er fuhr wie ein Halbwüchsiger, zu schnell, ohne viel Rücksicht auf andere.
»Was sagt dein Sohn dazu?«
Sie stieg aus, achtete nicht darauf, ob er ihr folgte. Ein Zivilbeamter stand am Fundort, ein Polizist in Uniform ging auf dem Gelände umher, kickte gegen die welken Grasbüschel. Ein geblümtes Top, wie ein Teenager es tragen mochte, und ein Videothekausweis, das war alles, was sie hatten. Beides in Beweisbeuteln. Auf dem Top waren Blutflecken. Lund drehte sich um dreihundertsechzig Grad, wie sie es immer tat, ihre großen, glänzenden Augen suchend.
»Wer kommt hier so her?«
»Tagsüber hauptsächlich Kindergartengruppen, die einen Ausflug machen. Nachts auch mal Nutten aus der Stadt.«
»Tolle Location, um eine Nummer zu schieben«, sagte Meyer. »Wo bleibt heutzutage eigentlich die Romantik? Kannst du mir das einmal sagen?«
Lund drehte sich noch immer langsam um sich selbst.
»Seit wann liegt das Zeug hier?«
»Seit gestern. Jedenfalls nicht seit Freitag, da war eine Schulklasse hier. Die hätten’s bestimmt gesehen.«
»Keine Vermisstenanzeige? Keine Meldung von einem Krankenhaus?«
»Nein, nichts.«
»Irgendeine Ahnung, wem das gehört?«
Der Kriminalbeamte zeigte ihr die Plastiktüte mit dem Top.
»Größe sechsunddreißig«, sagte er. »Mehr wissen wir nicht.«
Es sah billig aus, die Blumen so knallig und kindlich, dass es auch ironisch gemeint sein konnte. Ein Teenagerscherz: kindisch, aber sexy.
Lund nahm den zweiten Beutel und inspizierte die Ausweiskarte. Ein Name stand darauf: Theis Birk Larsen.
»Das haben wir nicht weit vom Weg gefunden«, sagte der Polizist. »Das Top lag hier. Vielleicht haben sie sich gestritten, und er hat sie aus dem Auto geschmissen. Und dann …«
»Und dann«, sagte Meyer, »hat sie Schuhe, Mantel, Handtasche und Kondompackung genommen, ist den ganzen Weg zu Fuß zurückgegangen und hat sich zu Hause vor den Fernseher gesetzt.«
Lund konnte den Blick nicht von dem Wald lösen.
»Soll ich mal mit diesem Birk Larsen reden?«, fragte der Polizist.
»Ja, tun Sie das.« Sie schaute auf die Uhr.
Noch acht Stunden, dann war es vorbei. Kopenhagen und das Leben davor. Meyer kam heran und hüllte sie in eine Rauchwolke.
»Warum reden wir nicht selbst mit ihm, Lund? Eine Nutte hier auszusetzen. Die Frau zu verprügeln. Meine Sorte Kundschaft.«
»Aber nicht unsere Sorte Arbeit.«
Die Zigarette flog in den nächsten Graben.
»Ich weiß. Ich würde …« Er holte eine Kaugummipackung hervor. Der Mann schien von Chips, Süßigkeiten und Zigaretten zu leben. »Ich würde mich nur gern ein bisschen mit ihm unterhalten.«
»Worüber? Es gibt keinen Fall. Die Prostituierte hat sich nicht beschwert.«
Meyer beugte sich vor. »Ich bin gut im Reden«, sagte er wie ein Lehrer, der zu einem Kind spricht.
Er hatte abstehende, fast schon komische Ohren und war unrasiert. Er könnte gut als verdeckter Ermittler arbeiten, dachte Lund. Vielleicht hatte er das ja auch getan. Sie erinnerte sich, wie Buchard mit ihm gesprochen hatte. Rowdy. Polizist. Meyer konnte beide Rollen spielen.
»Ich hab gesagt …«
»Du solltest mich sehen, Lund. Echt. Bevor du gehst. Mein Geschenk an die Schweden.«
Er nahm ihr die Karte aus der Hand. Las den Namen.
»Theis Birk Larsen.«
Sarah Lund drehte sich ein letztes Mal um die eigene Achse und betrachtete das gelbe Gras, die Gräben, den Wald.
»Ich fahre«, sagte sie.
Pernille hockte auf seinem mächtigen Brustkorb, lachend wie ein Kind. Halbnackt auf dem Küchenboden, am Morgen eines Arbeitstages. Es war Theis’ Idee gewesen, wie fast alles.
»Zieh dich an«, befahl sie, rollte sich von ihm herunter und stand auf. »Geh arbeiten, du Untier.«
Er grinste wie der halbwüchsige Rowdy, den sie noch in Erinnerung hatte. Stieg dann wieder in seine knallrote Latzhose. Vierundvierzig, rotes, graumeliertes Haar, Koteletten bis zu dem breiten Kinn hinab, ein Gesicht, das von einem Augenblick zum anderen von heiß zu kalt und dann wieder zur gewohnten undurchdringlichen Miene wechseln konnte. Pernille war ein Jahr jünger, eine vielbeschäftigte Frau, noch gut in Form nach drei Kindern, sodass sie seine Blicke noch genauso auf sich zog wie vor zwanzig Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Sie schaute zu, wie er in die schwere Hose stieg, und sah sich dann in der kleinen Wohnung um.
Nanna war schon in ihrem Bauch gewesen, als sie nach Vesterbro zogen. In ihrem Bauch, als sie heirateten. Hier, in diesem hellen, farbenfrohen Raum – Topfpflanzen am Fenster, Fotos an den Wänden, all der Krimskrams einer Familie – hatten sie sie großgezogen. Vom schreienden Säugling zum schönen jungen Mädchen, und in zu großem Abstand waren Emil und Anton dazugekommen, jetzt sieben und sechs. Die Wohnung lag über dem Lager von Birk Larsens Spedition. Unten herrschte mehr Ordnung als in den beengten Räumen oben, wo sie zu fünft lebten und einander ständig im Weg waren. Ein Sammelsurium von Souvenirs, Kinderzeichnungen, Spielzeug und vielem anderem. Pernille betrachtete die Küchenkräuter am Fenster, durch die grün das Licht schien.
Voller Leben.
»Nanna wird bald ein eigenes Apartment brauchen«, sagte sie und strich ihr langes kastanienbraunes Haar glatt. »Könnten wir nicht eine Anzahlung machen?«
Er stöhnte, lachte.
»Die Entscheidung überlassen wir besser ihr. Erst einmal muss sie mit der Schule fertig sein.«
»Theis …«
Sie schmiegte sich wieder in seine kräftigen Arme, sah ihm ins Gesicht. Manche hatten Angst vor Theis Birk Larsen. Sie nicht.
»Vielleicht ist das mit der Anzahlung gar nicht nötig«, sagte er.
Sein derbes Gesicht verzog sich zu einem verschmitzten Grinsen.
»Warum nicht?«
»Das wird nicht verraten.«
»Sag’s mir!«, rief Pernille und boxte ihn gegen die Brust.
»Dann wär’s ja kein Geheimnis mehr.«
Er ging die Treppe hinunter ins Lager. Sie folgte ihm. Transporter und Arbeiter, Paletten und in Schrumpffolie verpackte Güter, Inventarlisten und Zeitpläne.
Die Dielen in der Küche knarrten. Vielleicht hatte sie auch geschrien. Sie hatten es gehört, das sah sie an ihren grinsenden Gesichtern. Vagn Skærbæk, Theis’ ältester Freund, der schon vor ihr da gewesen war, tippte sich an einen imaginären Hut.
»Sag schon!« Sie nahm seine alte schwarze Lederjacke vom Haken.
Birk Larsen zog die Jacke an, holte die unvermeidliche Wollmütze aus der Tasche, setzte sie auf. Innen rot, außen schwarz. Er schien in dieser Kluft zu wohnen. Wie ein rotbrüstiger wilder Robbenbulle sah er darin aus, zufrieden mit seinem Revier, bereit, jeden Eindringling abzuwehren.
Ein Blick auf das Klemmbrett, ein Häkchen neben eine Fuhre, dann rief er Vagn Skærbæk zum nächststehenden Transporter. Ebenfalls scharlachrot. Wie an der Arbeitskleidung der Männer prangte auch an dem Wagen der Name Birk Larsen. Und an dem roten Christiania-Dreirad mit dem Transportkasten, das Skærbæk noch immer am Laufen hielt, achtzehn Jahre, nachdem sie es gekauft hatten, um Nanna darin in der Stadt herumzukutschieren.
Birk Larsen. Herrscher über ein glückliches kleines Reich. König seiner kleinen Welt in Vesterbro.
Klatschte in seine riesigen Hände. Bellte Befehle. Dann ging er los. Pernille Birk Larsen blieb stehen, bis sich die Männer wieder an die Arbeit machten. Die Steuervoranmeldung musste fertiggestellt werden. Geld musste bezahlt werden, und das war nie angenehm. Geld musste auch versteckt werden. Niemand gab dem Staat alles, wenn er es vermeiden konnte.
Wir brauchen nicht noch mehr Geheimnisse, Theis, dachte sie.
Unter der bronzenen Absalon-Statue, unter dem Glockenturm und dem zinnenbewehrten Dachfirst, vor der türmchenverzierten roten Backsteinfestung des Rådhus, des Kopenhagener Rathauses, standen drei Plakate: Kirsten Eller, Troels Hartmann, Poul Bremer. Lächelnd, wie es nur Politiker können.
Eller, die Frau, schmale Lippen, wie zu einer Art Schmunzeln zusammengepresst. Die Zentrumspartei, die ewig in einer Art philosophischem Niemandsland festsaß und darauf hoffte, sich an die eine oder die andere Seite anhängen zu können und dann die Brosamen vom Tisch des Herrn abzubekommen.
Darunter strahlte Poul Bremer in die Stadt hinaus, die ihm gehörte. Oberbürgermeister von Kopenhagen seit zwölf Jahren, ein korpulenter, gemütlicher Politiker, jenen Abgeordneten nahestehend, die über die Ausgaben entschieden, gewöhnt an die Meinungsumschwünge seiner trägen Parteisoldaten, wohlvertraut mit dem weit gespannten Netzwerk der Anhänger und Unterstützer, die ihm aufs Maul schauten. Schwarzes Jackett, weißes Hemd, dezente graue Seidenkrawatte, seriöse schwarze Brille, der Typ des freundlichen Lieblingsonkels, des großzügigen Spenders von Geschenken und Gefälligkeiten, des cleveren Verwandten, der alle Geheimnisse kennt, alles weiß.
Dann Troels Hartmann. Der Junge. Der Attraktive. Der Politiker, auf den die Frauen schauten, den sie insgeheim bewunderten. Er trug die Farben der Liberalen. Blauer Anzug, blaues Hemd, offener Kragen. Hartmann, zweiundvierzig, gutaussehend, jungenhafter nordischer Typ. Ein Anflug von Schmerz in den klaren kobaltblauen Augen war dem Objektiv des Fotografen entgangen. Ein guter Mann, sagte das Bild. Eine neue Generation, die die alte mit Macht verdrängte, frische Ideen brachte, Veränderung verhieß. Dank des Wahlsystems schon auf halbem Weg zum Ziel, leitete er mit Energie und Weitblick die Schulverwaltung der Stadt. Schon jetzt Bürgermeister, wenn auch nur für den Bereich Schulen und Hochschulen.
Drei Politiker, im Begriff, gegeneinander um die Krone Kopenhagens zu kämpfen, der Hauptstadt, einer wuchernden Metropole, in der über ein Fünftel von Dänemarks fünfeinhalb Millionen Einwohnern lebte und arbeitete, stritt und kämpfte. Jung und Alt, gebürtige Dänen und Zugewanderte, nicht immer willkommen. Ehrlich und fleißig, faul und korrupt. Eine Stadt wie jede andere.
Eller, die Außenseiterin, deren einzige Chance darin bestand, sich möglichst teuer zu verkaufen. Hartmann, jung, idealistisch. Naiv, sagten seine Feinde, tapfer darauf hoffend, Poul Bremer, den Granden der Stadtpolitik, von dem hohen Ross zu stoßen, das der alte Mann sein Eigen nannte.
In dem kalten Novembernachmittag strahlten ihre Gesichter in die Kamera, für die Presse, für die Leute auf der Straße. Hinter den rauchgeschwärzten verzierten Fenstern des roten Backsteinschlosses namens Rådhus aber, in den Galeriekorridoren und den zellenartigen Räumen, in denen Politiker flüsterten und Ränke schmiedeten, sah das Leben anders aus. Hinter dem starren, künstlichen Lächeln der drei tobte ein Krieg.
Schimmerndes Holz. Hohe, schmale Bleiglasfenster. Ledermöbel. Gold, Mosaiken und Gemälde. Der Geruch von poliertem Mahagoni. Plakate von Hartmann standen überall, lehnten an den Wänden, warteten darauf, in der Stadt verteilt zu werden. In einem Holzrahmen auf dem Schreibtisch ein Bild seiner Frau in ihrem Krankenhausbett, ruhig, tapfer, schön, vier Wochen vor ihrem Tod. Daneben ein Foto von John F. Kennedy und einer rehäugigen Jackie im Weißen Haus. Eine Band spielte im Hintergrund, blickte bewundernd auf die beiden. Jackie lächelnd, in einem seidenen Abendkleid. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Das Weiße Haus, wenige Tage vor Dallas.
In seinem Privatbüro betrachtete Troels Hartmann die Fotos und sah dann auf den Tischkalender. Montagmorgen. Drei der längsten Wochen seines politischen Lebens lagen vor ihm. Das erste einer endlosen Folge von Meetings. Seine beiden engsten Berater saßen mit ihren Laptops vor sich auf der anderen Seite des Schreibtischs und gingen den Tagesplan durch. Morten Weber, Wahlkampfmanager, Freund seit Studienzeiten. Engagiert, ruhig, einzelgängerisch, konzentriert. Vierundvierzig, widerspenstige Locken, beginnende Glatze, ein freundliches, angespanntes Gesicht, umherschweifende Augen hinter einer billigen Goldrandbrille. Wusste nie, wie er aussah, und kümmerte sich auch nicht darum. Schien die ganze Woche nicht aus dem zerknitterten Jackett, das nicht zur Hose passte, herausgekommen zu sein. Am glücklichsten, wenn er sich in Akten vertiefen oder in rauchgeschwängerten Räumen Kompromisse aushandeln konnte. Manchmal rollte er mit seinem Bürostuhl in eine ruhige Ecke, holte seinen Insulinpen hervor, zog sich das Hemd aus dem Gürtel und verpasste sich eine Spritze in seinen wabbeligen weißen Bauch. Dann rollte er an den Tisch zurück und klinkte sich wieder in die Diskussion ein, ohne auch nur eine Sekunde lang den Faden verloren zu haben.
Rie Skovgaard, die politische Beraterin, tat dann so, als bemerkte sie es nicht.
Hartmanns Gedanken schweiften von Webers Aufzählung der Termine ab. Einen Moment lang fühlte er sich aus der Welt der Politik herausgerissen. Zweiunddreißig, ebenmäßiges, ernstes Gesicht, dunkelhaarig, eher attraktiv als schön. Kämpferisch, streitbar, immer elegant. Heute trug sie ein enganliegendes grünes Kostüm. Teuer. Die Frisur schien sie von dem Foto auf Hartmanns Schreibtisch übernommen zu haben. Jackie Kennedy um 1963, das lange Haar um den schlanken Hals geschwungen, scheinbar lässig, obwohl keine Strähne je aus der Reihe tanzte.
»Präsidentenbegräbnisfrisur« nannte Weber es, wenn auch nur hinter ihrem Rücken. Anfangs hatte Rie Skovgaard nicht so ausgesehen.
Morten Weber war der Sohn eines Lehrers aus Aarhus. Skovgaard verfügte über bessere Beziehungen. Ihr Vater war ein einflussreicher Hinterbank-Abgeordneter. Bevor sie zu den Liberalen wechselte, war sie Account Executive der Kopenhagener Niederlassung einer New Yorker Werbeagentur gewesen. Jetzt pushte sie Hartmann, sein Image, seine Ideen, ganz ähnlich, wie sie früher Lebensversicherungen und Supermarktketten verkauft hatte.
Ein ungleiches Team, schwierig manchmal. War sie eifersüchtig auf Weber? Darauf, dass er ihr zwei Jahrzehnte voraushatte, sich im Parteisekretariat der Liberalen hochgearbeitet hatte, der Mann im Hintergrund, während Hartmanns nettes Lächeln und sein einnehmendes Wesen Publicity und Stimmen brachten? Rie Skovgaard war dagegen die Newcomerin, sie witterte Chancen, Ideologien langweilten sie.
»Die Diskussion heute Mittag. Wir brauchen Plakate vor der Schule«, sagte sie in ruhigem, professionellem Ton. »Wir brauchen …«
»Schon erledigt«, sagte Weber und zeigte auf den Bildschirm.
Es war ein trüber Tag. Regen und Wolken. Aus den Fenstern sah man auf die Fassade des Palace Hotel. Nachts warf die blaue Neonschrift ein eigenartiges Licht in den Raum.
»Ich hab heute Morgen gleich einen Wagen hingeschickt.«
Sie verschränkte ihre dünnen Arme.
»Du denkst wirklich an alles, Morten.«
»Das muss ich auch.«
»Was soll das heißen?«
»Bremer.« Es klang wie ein Schimpfwort. »Die Stadt gehört schließlich nicht zufällig ihm.«
»Nicht mehr lange«, schaltete sich Hartmann ein.
»Hast du die neuesten Umfragewerte gesehen?«, fragte Skovgaard.
Hartmann nickte. »Sehen gut aus. Besser als erhofft.«
Morten Weber schüttelte den Kopf.
»Die hat Bremer auch gesehen. Und der wird nicht auf seinem bequemen Arsch sitzen bleiben und sich sein Reich wegnehmen lassen. Das Rededuell heute Mittag, Troels. In einer Schule. Das wird ein Heimspiel. Da kommen die Medien.«
»Apropos Schulen«, unterbrach Skovgaard. »Letztes Jahr haben wir zusätzliche Mittel für mehr Computer beantragt. Einen besseren Netzzugang. Aber Bremer hat das abgeblockt. Seitdem ist der Krankenstand an den Schulen um zwanzig Prozent gestiegen. Damit können wir ihn konfrontieren …«
»Er hat das persönlich abgeblockt?«, fragte Hartmann. »Weißt du das genau?«
Ein leises, spitzbübisches Lächeln.
»Ich hab ein paar vertrauliche Protokolle ergattert.«
Wie eine schuldbewusste Schülerin schwenkte Skovgaard die zarten Hände über den Papieren, die vor ihr auf dem Tisch lagen.
»Da steht’s, schwarz auf weiß. Ich kann was davon durchsickern lassen, wenn es sein muss. Da findet sich auch sonst jede Menge, womit wir ihn konfrontieren können.«
»Können wir den Scheiß bitte lassen?«, giftete Weber. »Die Leute erwarten etwas Besseres von uns.«
»Die Leute erwarten, dass wir verlieren, Morten«, antwortete Skovgaard prompt. »Und das will ich ändern.«
»Rie…«
»Wir werden’s schaffen«, unterbrach Hartmann. »Und zwar auf saubere Art. Ich hab mich zum Frühstück mit Kirsten Eller getroffen. Ich glaube, die wollen das Spiel mit uns machen.«
Die beiden anderen schwiegen. Dann fragte Skovgaard: »Die sind an einem Wahlbündnis interessiert?«
»Ein Bündnis mit Kirsten Eller?«, knurrte Weber. »O Gott. Ein Pakt mit dem Teufel …«
Hartmann lehnte sich zurück und schloss die Augen, glücklich wie seit Tagen nicht mehr.
»Die Zeiten haben sich geändert, Morten. Poul Bremer verliert an Rückhalt. Wenn Kirsten sich mit ihrem nicht unerheblichen Gewicht für uns starkmacht …«
»Dann haben wir eine Koalitionsmehrheit«, ergänzte Skovgaard strahlend.
»Das will gut überlegt sein«, sagte Weber.
Sein Handy klingelte, und er ging damit ans Fenster.
Troels Hartmann überflog die Unterlagen, die Skovgaard für ihn vorbereitet hatte, ein Briefing für das Duell.
Sie rückte ihren Stuhl neben seinen, um mitlesen zu können.
»Du brauchst meine Hilfe nicht, oder? Das sind deine Ideen. Wir wollen dich nur daran erinnern, was du denkst.«
»Das kann ich auch gebrauchen. Ich hab meine Uhr verloren! Eine gute Uhr. Eine …«
Skovgaard stieß ihn an. Sie hatte die silberne Rolex in der Hand, hielt sie diskret unter dem Tisch, sodass niemand sie sehen konnte.
Sie öffnete seine Hand und drückte die Uhr hinein.
»Ich hab sie unter meinem Bett gefunden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie da hingekommen ist. Du?«
Hartmann streifte sich die Rolex übers Handgelenk.
Weber kam mit besorgter Miene vom Fenster zurück, das Telefon in der Hand.
»Die Sekretärin des Oberbürgermeisters ist dran. Bremer will dich sprechen.«
»Wieso?«
»Weiß ich nicht. Aber jetzt sofort.«
Hartmann sah auf die Uhr. »In einer Viertelstunde. Ich tanze nicht nach seiner Pfeife.«
Weber schien verwirrt. »Hast du nicht gesagt, du hast deine Uhr verloren?«
»In einer Viertelstunde«, wiederholte Hartmann.
Flure in alle Richtungen, lang und schimmernd, an den Wänden Fresken von Schlachten und Zeremonien. Majestätische Figuren in voller Rüstung blickten auf die unten entlangeilenden Gestalten herab.
»Sehr glücklich siehst du nicht aus«, sagte Hartmann auf dem Weg zum Büro des Oberbürgermeisters.
»Glücklich? Ich bin dein Wahlkampfleiter. In drei Wochen sind die Wahlen. Du schließt Bündnisse, ohne mir was davon zu sagen. Was erwartest du? Ein munteres Liedchen, einen Freudentanz, einen Scherz?«
»Meinst du, Bremer weiß Bescheid? Über Kirsten Eller?«
»Poul Bremer hört die Flöhe husten. Und außerdem – nimm einmal an, du bist Kirsten Eller und willst einen Deal aushandeln … Probierst du’s dann nur bei einer Seite?«
Vor der Tür zum Rathaussaal blieb Hartmann stehen.
»Lass mich nur machen, Morten. Das krieg ich schon raus.«
Poul Bremer stand in Hemdsärmeln auf dem Podium, neben dem Amtssessel, den er die letzten zwölf Jahre besetzt gehalten hatte. Sprach in jovialem Ton ins Telefon. Hartmann ging nach vorn und griff nach dem Buch, das neben dem Mikro auf dem Tisch lag. Eine Cicero-Biografie. Und hörte zu – was Bremer auch bezweckt hatte.
»Ja, ja. Lass mich ausreden.« Dieses tiefe, volle Lachen, Bremers heiserer Segen für diejenigen, die in seiner Gunst standen. »Du wirst demnächst in der Regierung sitzen. Als Minister. Das prophezeie ich dir, und ich irre mich nie.« Ein Blick auf seinen Besucher. »Sorry … ich muss Schluss machen.«
Bremer setzte sich auf den Platz des Beigeordneten, nicht den des Oberbürgermeisters.
»Hast du das Buch gelesen, Troels?«
»Nein. Sorry.«
»Nimm’s mit. Ein lehrreiches Geschenk. Erinnert uns daran, dass wir nur eins aus der Geschichte lernen, nämlich dass wir nichts aus der Geschichte lernen.« Ton und Auftreten eines freundlichen Lehrers, über die Jahre ausgefeilt. »Cicero war ein guter Mann. Hätte es weit gebracht, wenn er gewartet hätte, bis er dran war.«
»Ist bestimmt keine leichte Lektüre.«
»Komm, setz dich zu mir.« Bremer zeigte auf den Platz neben sich. Den des Oberbürgermeisters. Den Thron. »Probier ihn aus. Er gehört niemandem. Nicht mal mir, du wirst lachen.«
Hartmann ging auf den Scherz ein. Ließ sich auf das harte polierte Holz fallen. Atmete den Mahagonigeruch ein, den Geruch der Macht. Sah sich im Saal um: im Halbkreis die leeren Stühle der Stadträte, davor Flachbildschirme und Abstimmungsknöpfe.
»Es ist nur ein Stuhl, Troels.« Bremer grinste ihn an.
Er sprach und bewegte sich wie ein jüngerer Mann. Das gehörte zum Image.
»Rom mochte Cicero, schätzte seine Ideen. Ideen sind gut für schöne Reden. Viel mehr aber auch nicht. Cäsar war ein Diktator, aber auch ein Gauner, den die Römer kannten und liebten. Cicero war ungeduldig. Penetrant. Ein Emporkömmling. Weißt du, was aus ihm wurde?«
»Er ging zum Fernsehen?«
»Sehr witzig. Sie haben ihn abgeschlachtet. Haben seine Hände und seinen Kopf im Forum Romanum zur Schau gestellt, damit die Leute was zu lachen hatten. Ist manchmal schon ein undankbarer Haufen, dem wir dienen.«
»Du wolltest mich sprechen?«
»Ich hab die Umfragewerte gesehen. Du auch?«
»Ja.«
»Du wirst mal ein guter Oberbürgermeister werden. Du wirst diese Stadt gut regieren.« Bremer strich die Ärmel seines schwarzen Seidensakkos glatt und zog die Manschetten des schicken weißen Hemdes heraus, nahm seine Brille ab, prüfte, ob sie sauber war, und fuhr sich durch das silberne Haar. »Nur noch nicht jetzt.«
Hartmann seufzte und schaute auf seine Rolex.
»In vier Jahren gehe ich in Pension. Wozu also die Eile?«
»Man nennt das, glaub ich, eine Wahl. Dritter Dienstag im November. Alle vier Jahre.«
»Ich mach dir ein Angebot. Ein Platz an meinem Tisch. Mehr Kompetenzbereiche als nur die Schulen. Es gibt sieben Bürgermeister. Den Oberbürgermeister und sechs für die einzelnen Dezernate. Von denen kannst du haben, welches du willst. Dann lernst du, wie die Stadt funktioniert. Wenn es dann so weit ist, bist du gut vorbereitet auf den Job, und ich geb ihn mit Freuden ab.«
Bremer bedachte ihn mit seinem flüchtigen Lächeln.
»Dann hast du keinen Konkurrenten, das garantiere ich dir. Aber nicht jetzt. Du bist noch nicht so weit.«
»Das hast ja wohl nicht du zu entscheiden.«
Das Lächeln erlosch.
»Ich mein’s nur gut. Wieso sollten wir Feinde sein …«
Hartmann stand auf und wandte sich zum Gehen. Poul Bremer vertrat ihm den Weg. Er war ein stattlicher Mann, noch fit. In jungen Jahren, so erzählte man sich, habe er sich mit brutalen Mitteln Unterstützung verschafft. Keiner wusste, ob das stimmte. Keiner wagte zu fragen.
»Troels.«
»Du sitzt schon zu lange auf deinem Stuhl«, sagte Hartmann schroff. »Tritt ohne Aufhebens ab. Mit Würde. Vielleicht finde ich irgendwo einen Job für dich.«
Der alte Mann sah ihn belustigt an.
»Macht dich ein einziges kleines Versprechen von der Zentrumspartei so zuversichtlich? Ich bitte dich. Die sind die Haustiere. Eller, die fette Schlampe, die lutscht doch jedem den Schwanz und lässt ihn dann auf sich pissen. Wenn sie einen Unterausschuss dafür kriegt. Trotzdem …« Er rückte seine goldenen Manschettenknöpfe gerade.
»Die wissen, wo ihr Platz ist. Ein kluger Politiker weiß das.«
Er nahm das Buch und hielt es Hartmann hin. »Lies es. Da kannst du was lernen. Niemand will, dass er in Stücke gerissen wird und die Leute sich dran weiden. Solche Übergänge müssen gemanagt werden. Leise. Effizient. Mit …«
»Du wirst verlieren«, unterbrach ihn Hartmann.
Der alte Mann lachte in sich hinein.
»Armer Troels. Auf den Plakaten wirkst du so eindrucksvoll, aber in natura …«
Er berührte das Revers von Hartmanns Seidenanzug.
»Was ist da drunter, frag ich mich. Weißt du das überhaupt selbst?«
Noch ehe sie den Motor abgestellt hatte, war Meyer schon draußen und zeigte einer Frau, die gerade etwas in den Kofferraum eines Kombis packte, seinen Dienstausweis.
Rot.
Alles hier war leuchtend rot. Die Arbeiter in ihren Latzhosen. Die Transporter. Selbst ein blankgeputztes Christiania-Dreirad mit einem Kasten vorn, um darin Kinder in den Kindergarten zu fahren, Einkäufe zu transportieren oder einen gehfaulen Hund herumzukutschieren. Alles in derselben Farbe, auf allem der Name Birk Larsen.
Lund folgte Meyer, sah sich um und hörte ihm mit halbem Ohr zu. Zwei Schiebetüren führten in einen Raum, der Lagerhalle und Garage in einem war. In der Ecke, hinter Kisten, Kasten und Geräten, ein Büro mit Glasfront, ganz am Ende eine Treppe mit einem »Privat«-Schild. Offenbar wohnte Birk Larsen über seinem Arbeitsplatz.
»Wo finde ich Theis Birk Larsen?«, fragte Meyer.
»Mein Mann ist bei der Arbeit. Und ich muss jetzt zum Steuerberater.«
Eine Frau in den Vierzigern, schick, gutaussehend, kastanienbraunes Haar, eine Spur gepflegter als Lunds. Sie trug einen beigen Gabardinemantel und wirkte gestresst, mit den Gedanken woanders. Kinder, dachte Lund. Unverkennbar. Und sie mochte die Polizei nicht. Wer mochte die schon?
»Wohnen Sie hier?«, fragte Lund.
»Ja.«
»Ist er da oben?«
Die Frau ging in die Garage zurück.
»Kommen Sie wegen der Vans? Wir sind eine Spedition. Da stehen die schon mal im Weg.«
»Nein, darum geht’s nicht.« Lund folgte ihr ein paar Schritte. Noch mehr Rot, noch mehr rote Arbeitskleidung. Kräftige Männer wuchteten Kisten herum, checkten Klemmbretter, musterten Lund von oben bis unten. »Wir wollen nur wissen, was er am Wochenende gemacht hat.«
»Wir waren am Meer. Mit unseren beiden Jungs. Von Freitag bis Sonntag. Hatten ein Ferienhaus gemietet. Warum?«
Planen und Seile. Holzkisten und Paletten. Lund fragte sich, was sie als Nicht-ganz-Polizistin in Schweden vorfinden würde. Darüber hatte sie noch gar nicht richtig nachgedacht. Bengt wollte nach Schweden. Und sie wollte mit.
»Ist er vielleicht noch mal in die Stadt gefahren, weil er was Dringendes zu erledigen hatte?«, fragte Meyer.
Die Frau griff nach einem Aktenordner. Sie schien genervt.
»Nein, ist er nicht. Das war unser erstes freies Wochenende in zwei Jahren. Wieso sollte er?«
Ein unaufgeräumtes Büro. Überall Papierkram. Große Firmen arbeiteten anders. Die hatten Systeme. Organisation. Geld. Lund ging hinaus und schaute in den Kofferraum. Unterlagen und Aktenordner. Kinderspielzeug. Ein kleiner Fußball, ganz ähnlich wie der, den Meyer ins Büro mitgebracht hatte. Ein ramponiertes Nintendo. Sie schlenderte in das Büro zurück.
»Was hat er gemacht, als Sie nach Hause gekommen sind?«, fragte Meyer.
»Wir sind schlafen gegangen.«
»Da sind Sie sich sicher?«
Sie lachte.
»Ja, bin ich.«
Lund wanderte unterdessen in dem Büro umher, sah sich das Chaos an, hielt zwischen all den Rechnungen und Quittungen nach etwas Persönlichem Ausschau.
»Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie Theis da anhängen wollen … ist mir auch egal«, sagte die Frau. »Wir waren am Meer. Dann sind wir zurückgekommen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«
Meyer schnaubte, warf Lund einen Blick zu.
»Gut. Vielleicht kommen wir ein andermal wieder.«
Er ging hinaus und zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich gegen einen der roten Transporter und schaute zum fahlen Himmel auf. An der hinteren Wand des Büros, hinter ramponierten, altmodischen Ablagekörben, einige Fotos. Ein hübsches junges Mädchen, lächelnd, die Arme um zwei kleine Jungen gelegt. Dasselbe Mädchen in Nahaufnahme, blonde Ringellocken, wache Augen, ein bisschen zu viel Make-up. Um älter zu wirken.
Lund holte ihre Nikotinkaugummis hervor und steckte sich einen in den Mund.
»Sie haben eine Tochter?«, fragte sie, den Blick noch auf das Mädchen gerichtet, das gewinnende Lächeln. Auf beide Fotos, allein, zu alt, und mit den Jungen, die große Schwester.
Die Mutter ging zur Tür. Blieb stehen. Drehte sich um, sah Lund an und sagte leise: »Ja. Und zwei Jungs. Sechs und sieben.«
»Leiht sie sich manchmal den Videothekausweis von ihrem Vater?«
Birk Larsens Frau sah plötzlich anders aus. Das Gesicht schlaff, gealtert. Der Mund offen. Die Augenlider zuckend, als führten sie ein Eigenleben.
»Schon möglich. Warum?«
»War sie heute Nacht zu Hause?«
Meyer war zurückgekommen und hörte zu.
Die Frau legte ihre Papiere ab. Sie schien beunruhigt, erschrocken.
»Nanna war übers Wochenende bei einer Freundin. Lisa. Ich dachte …«
Ihre Hand wanderte zu ihrem kastanienbraunen Haar hinauf, ohne Grund. »Ich dachte, sie ruft vielleicht an. Hat sie aber nicht.«
Lund konnte die Augen nicht von den Fotos lösen, dem Gesicht, strahlend, sorglos in die Kamera blickend.
»Sie sollten sie anrufen. Jetzt.«
Das Gymnasium Frederiksholm im Stadtzentrum. Wo das Geld war. Nicht in Vesterbro. Große Pause. Lisa Rasmussen rief noch einmal an.
»Hier ist Nanna. Ich mach gerade Hausaufgaben. Hinterlasst mir eine Nachricht. Ciao!«
Lisa Rasmussen holte tief Luft und sagte dann: »Nanna, bitte ruf zurück.«
Bescheuert, dachte sie. Dreimal hatte sie an diesem Morgen dieselbe Nachricht auf Nannas Mailbox gesprochen. Jetzt saß sie im Unterricht, und Rama, der Lehrer, sprach über Bürgerrecht und die bevorstehenden Wahlen. Niemand wusste, wo Nanna war. Niemand hatte sie mehr gesehen seit der Halloween-Party am Freitag in der Aula der Schule.
»Heute«, sagte Rama, »habt ihr die Möglichkeit herauszufinden, wem ihr eure Stimme geben wollt.«
Ein Foto auf dem Whiteboard. Das Halbrund der Stühle im Rathaussaal. Drei Politiker, ein gutaussehender, ein alter Mann, eine blasiert wirkende, dicke Frau. Lisa scherte das alles nicht. Von neuem holte sie ihr Handy hervor und tippte eine Nachricht. Nanna, wo steckst du, verdammt nochmal?
»Wir haben das Glück, in einem Land zu leben, in dem wir das Recht haben, unsere Stimme abzugeben«, fuhr der Lehrer fort. »Über unsere Zukunft zu entscheiden. Unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«
Er war um die dreißig, irgendwo aus dem Nahen Osten, was man ihm aber nicht anhörte. Einige der Mädchen standen auf ihn. Groß, attraktiv. Gute Figur, coole Hemden und Hosen. Immer hilfsbereit. Hatte immer Zeit für die Schüler. Lisa mochte Ausländer nicht besonders. Auch nicht, wenn sie lächelten und gut aussahen.
»Dann lasst mich einmal hören, welche Fragen ihr für das Bürgermeisterduell vorbereitet habt«, sagte Rama.
Die Klasse fast vollzählig, die anderen schienen interessiert.
»Lisa?« Natürlich. »Deine drei Fragen. Hast du die in deinem Handy?«
»Nein.«
Sie hörte sich an wie ein bockiges Kind, und das wusste sie auch. Rama legte abwartend den Kopf schräg.
»Ich hab sie vergessen. Ich hab …«
Die Tür ging auf, und die Direktorin kam herein. Die furchteinflößende Koch, eine untersetzte Frau mittleren Alters, die Deutsch unterrichtet hatte, bevor sie zur Schulleiterin aufgestiegen war.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Ist Nanna Birk Larsen anwesend?«
Keine Antwort.
Sie ging nach vorn.
»Hat jemand von euch Nanna heute gesehen?«
Nichts. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Lehrer. Lisa wusste, was als Nächstes kommen würde. Gleich darauf stand sie mit den beiden draußen auf dem Flur. Koch sah sie aus ihren schwarzen Augen an und fragte gebieterisch: »Wo ist Nanna? Sie wird von der Polizei gesucht.«
»Ich hab Nanna seit Freitag nicht mehr gesehen. Wieso fragen Sie mich?«
Koch bedachte sie mit ihrem Du-lügst-Blick.
»Ihre Mutter hat der Polizei gesagt, sie hätte das Wochenende bei dir verbracht.«
Lisa Rasmussen lachte. Sie und Nanna wurden manchmal für Schwestern gehalten. Gleich groß, gleich angezogen, beide blond, aber Nanna war hübscher. Und Lisa war fülliger um die Taille.
»Was? Sie war nicht bei mir.«
»Du weißt also nicht, wo sie ist?«, fragte Rama ein wenig sanfter.
»Nein! Woher soll ich das wissen?«
»Wenn du was von ihr hörst, sag ihr, sie soll zu Hause anrufen«, sagte Koch. »Es ist wichtig.« Sie warf Rama einen Blick zu. »Ihr Klassenzimmer wird für das Duell gebraucht. Sehen Sie zu, dass Sie um elf draußen sind.«
Als sie gegangen war, drehte Rama sich um, fasste Lisa Rasmussen am Arm und sagte: »Wenn du irgendwas darüber weißt, wo Nanna ist, musst du’s sagen.«
»Sie dürfen mich nicht anfassen.«
»Entschuldige.« Er nahm seine Hand fort. »Wenn du weißt …«
»Ich weiß gar nichts. Lassen Sie mich in Ruhe.«
Lund und Meyer in Birk Larsens Wohnung. Die gleiche Unordnung wie im Büro unten, aber auf angenehme Art. Fotos, Kinderzeichnungen, Topfpflanzen und Blumen. Vasen und Urlaubssouvenirs. Liebevoll hergerichtet, dachte Lund. Sie selbst schaffte das einfach nicht. Die Frau, von der sie inzwischen wusste, dass es Pernille Birk Larsen war, bemühte sich, eine gute Mutter zu sein. Mit Erfolg, soweit Lund das beurteilen konnte.
»Sie ist nicht in der Schule«, sagte sie.
Pernille trug noch immer ihren Regenmantel, als sei das alles gar nicht wahr.
»Dann ist sie bei Lisa, ihrer Freundin. Lisa hat mit ein paar Jungs zusammen eine Wohnung. Nanna ist ständig dort.«
»Lisa ist in der Schule. Und sie hat gesagt, Nanna sei am Wochenende nicht bei ihr gewesen.«
Pernilles Mund stand offen. Ihre Augen waren geweitet, leer. An der Küchenwand die gleichen Fotos wie im Büro: Nanna mit den Jungen, Nanna allein, schön und zu alt für neunzehn. An eine Korktafel gepinnt, neben einem Plan für die Sportveranstaltungen der Schule. Die Wohnung atmete eine Atmosphäre ungezwungener, behaglicher Häuslichkeit. Wie Hundegeruch, vom Besitzer nicht mehr, von Außenstehenden sofort wahrgenommen.
»Aber wo ist sie dann? Was ist passiert?«, fragte Pernille.
»Wahrscheinlich gar nichts. Wir tun auf jeden Fall alles, um sie zu finden.«