Fabian Vogt

Bibel für Neugierige

Das kleine Handbuch göttlicher Geschichten

Fabian Vogt, Dr. theol., Jahrgang 1967, hat Theologie, Germanistik und Gesang studiert. Er ist Pfarrer, Sachbuchautor und Kabarettist („Duo Camillo“) – und in allen drei Berufen bekannt. Der vielseitige Autor gehört der Künstlervereinigung „Das Rad“ an und wurde mit dem „Deutschen Science-Fiction-Preis 2001“, der „Honnefer Zündkerze 2010“ und dem „Wertheimer Affen 2013“ (in Silber) ausgezeichnet. Vogt lebt mit Frau und Kindern in Oberstedten.

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© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig


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Gesamtgestaltung: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Titelillustration: Thees Carstens

Autorenfoto: Nicole Kohlhepp © 2011 Gemeinnützige MEDIENHAUS GmbH,

Frankfurt/ M.

ISBN 978-3-374-03947-0

www.eva-leipzig.de

Für alle,
die noch glauben können,
dass „wer sucht,
auch findet“. (Mt. 7,7)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Eine kleine Geschichte Israels

Gemeinsam sind wir stark

Der Bund zwischen Gott und den Menschen

Mit Gott auf Du und Du

Gott, der Schöpfer und Freund

Freiheit, die ich meine

Erlösende Taten eines Gottes, der zuhört

Durch dick und dünn

Gottes sanfte Menschlichkeit

Aus Hoffnung leben

Das bewusste, gesegnete Warten auf Gott

Fazit 1

Eine kleine Geschichte der ersten Christen

Von einem, der auszog, das Fürchten zu besiegen

Was wir von Jesus wirklich wissen

Schreib mal wieder!

Von der Macht der Briefe

Eine Geschichte, drei Leidenschaften

Was Markus, Matthäus und Lukas von Jesus erzählen

Lauter Missverständnisse und Herausforderungen?

Was Johannes von Jesus denkt

Warten auf Gott

Apokalyptische Freundlichkeiten

Fazit 2

Wegweisendes zum Schluss

Register

Buchempfehlungen

Vorwort

Warum musste Gott am Anfang erst mal das „Tohuwabohu“ aufräumen? Gilt Noah eigentlich als Archetyp? Wie war das noch mit den biblischen Urvätern Abraham, Isaak und Jakob? Wollte Jona Walfreiheit? Wer, bitteschön, heißt freiwillig Nebukadnezar? Wieso war die Ehe von Samson und Delila bloß so eine haarige Angelegenheit? Puh. Alles ganz schön kompliziert, oder? Zudem gehen die Fragen im Neuen Testament ja noch weiter: War Jesus Christ? Hatte Petrus wasserfeste Füße? Werden Jünger älter? Gibt es auch Ungleichnisse? Wieso macht der gute „Vater im Himmel“ zwei Testamente? Hätte nicht ein Evangelium gereicht? Und: Wie kann ein 2000 Jahre altes Buch heute noch aktuell sein?

Um ehrlich zu sein: Die Bibel ist ein ziemlich verrückter Schmöker. Eine riesige Sammlung von Geschichten, Gedichten, Gedanken und Gefühlen. Tausende von Seiten voller wundersamer Erfahrungen aus einer fernen, antiken Welt im Vorderen Orient. Erstaunliche Erzählungen, denen kaum etwas Menschliches fremd und nur sehr wenig peinlich ist. Und doch durchzieht ein grandioser Gedanke all diese Texte: „Es gibt nichts Schöneres, als mit Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, in Kontakt zu kommen.“ In allem Elend, aller Hoffnung, aller Freude und aller Sehnsucht vertrauen die Protagonisten darauf, dass Gott sie auf einem guten Weg führt – hin zu einem großen Ziel. Ja, die Erzähler schwärmen davon, wie sich in ihren persönlichen Erfahrungen Himmel und Erde verwebt haben.

Doch jetzt kommt das große Aber: Die Schönheit dieser „göttlichen Geschichten“ erschließt sich einem oftmals erst dann, wenn man etwas über die Hintergründe und die Zusammenhänge weiß. Vor allem, weil – so nannte es der Dichter und Philosoph Gotthold Ephraim Lessing einmal – zwischen der biblischen Welt und unserer modernen Gesellschaft nun mal ein „garstiger breiter Graben“ liegt, den man nicht so leicht überqueren kann. Ist doch wahr: Wer im 21. Jahrhundert mit seinem Smartphone lässig durch eine belebte Fußgängerzone latscht, braucht eine Menge Vorstellungskraft, um sich in einen Zolleintreiber oder eine Witwe im Römischen Reich des Jahres 30 hineindenken zu können. Sprich: Da kann ein bisschen Wissen über die damaligen Verhältnisse nicht schaden. Und mal unter uns, die meisten Leute wissen heutzutage meist nicht mehr, was die zwölf kleinen Propheten wollten, wann Samuel gelebt hat und worin sich die vier Evangelien unterscheiden. Ja, mal Hand aufs Herz, welcher Nichttheologe kann denn in wenigen Sätzen die Grundaussagen des Alten und des Neuen Testaments zusammenfassen? So viele werden es wohl nicht sein.

Das ist an sich auch gar nicht tragisch. Nur passiert es dann bisweilen, dass jemand unvorbereitet die Bibel zur Hand nimmt und – wenn er Pech hat – erst einmal auf endlose Namenslisten, abschreckende Rituale und einen Wust seltsam klingender Namen und Orte stößt – was alles nicht gerade einlädt, sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzten. Dazu kommt: Wer die Bibel kaum kennt, dem kann man viel erzählen. Was ja in der Weltgeschichte der letzten 2000 Jahre leider allzu oft passiert ist. Ich meine, was hat man nicht alles an Grausamkeiten und Irrwegen mit der Bibel begründet: Kriege, Rassismus, Völkerhass, Folter, Frauenfeindlichkeit, Machtmissbrauch oder Unterdrückung. Eine unfassbare Aufzählung an Leid und Elend. Immer mit der vollmundigen Erklärung: „Die Bibel sagt das so!“ Unfassbar. Tragischerweise wurden dabei irgendwelche Aussagen wild aus dem Zusammenhang gerissen, um damit eigene Interessen zu kaschieren. Das heißt aber auch: Wer mehr über die zentralen Ideen der Bibel weiß, der schützt sich und Gott vor Missbrauch.

In diesem Buch möchte ich Ihnen gerne einige der geistlichen Leitgedanken der „Heiligen Schrift“, die historischen Hintergründe und das soziale Umfeld der biblischen Texte so nahebringen, dass Sie einen grundlegenden Überblick bekommen und in Zukunft die vielen bewegenden Geschichten und Texte in ihrem Kontext verstehen und dadurch auch besser in unsere Lebensverhältnisse übertragen können. Ich behaupte mutig: Erst wenn man die Worte der Bibel als Mosaiksteine in einem großen Bild wahrnimmt, entfalten sie ihre eigentliche Kraft. Erst dann wird deutlich, dass das, was da vor Jahrtausenden geschehen ist, eine zeitlose Relevanz hat. Und erst dann bekommt man Lust zu fragen: „Was haben diese Geschichten eigentlich mit mir zu tun?“ Ja, ich wünsche mir, dass Sie am Ende Ihrer Lektüre sagen können: „Hey, jetzt verstehe ich endlich, wie das alles zusammenhängt.“

Eines möchte ich dabei vorneweg noch erwähnen: Nach wie vor gibt es Christinnen und Christen, die der Überzeugung sind, die Worte der Bibel wären so heilig, dass sie überhaupt keiner Erklärung bedürften. Ja, dass es sogar ein Sakrileg sei, sich ihnen mit Hilfe sogenannter „historisch-kritischer“ Methoden zu nähern, die die Hintergründe und die Entstehungsgeschichte der Texte betrachten. Nun, das sehe ich anders. Vor allem erlebe ich es völlig anders. Mir passiert es andauernd, dass ich durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf kostbare Details in einer „göttlichen Geschichte“ aufmerksam gemacht werde, mit deren Hilfe ich sie noch viel tiefer und besser verstehe. Mein Glaube wächst daran. Insofern möchte ich Sie in diesem Buch gerne an solchen „kleinen Offenbarungen“ aus meiner theologischen Arbeit teilhaben lassen, die das Heilige hervorholen.

Allerdings gibt es einen Einwand gegen mein Büchlein, den ich sofort nachvollziehen kann – und wenn Sie kurz mal zum Inhaltsverzeichnis zurückblättern, wissen Sie auch, was ich meine: Ja, es ist eine ziemlich dreiste Vorstellung, die Fülle der biblischen Weisheiten ließe sich in zehn Kerngedanken wiedergeben. Und trotzdem versuche ich es. Wohl wissend, dass ich hochkomplexe Themen stark vereinfache, dass es zu einigen meiner Thesen in der Wissenschaft gut begründbare Gegenthesen gibt und dass bei meinem Vorgehen viele nicht weniger bedeutsame Botschaften unter den Tisch fallen. Aber das macht nichts. Ich habe ja vor allem das Anliegen, Ihnen elementare Einsichten zu vermitteln, die mir und anderen geholfen haben, die Schatztruhe der Bibel neu zu öffnen. Außerdem verrät schon der Titel „Bibel für Neugierige“, dass es sich hierbei um eine unterhaltsame Einführung handelt, die nicht den Anspruch hat, es allen Experten recht zu machen. Und wenn Sie am Ende einen anregenden Überblick über die Bibel haben, steht es Ihnen ja frei, fröhlich einen der tausendseitigen Bibel-Kommentare zu ergattern und ihre Kenntnisse begierig zu vertiefen.

Bleibt noch zu fragen: Warum hat dieses fröhliche Büchlein die anmaßende Bezeichnung „Handbuch“? Ganz einfach: Möchte man im 21. Jahrhundert irgendwoher Antworten bekommen – etwa weil der Computer kryptische Warnmeldungen ausspuckt, das Auto fürchterlich quietscht und qualmt, ein unbekanntes, zwei Meter langes Reptil im Garten herumkriecht oder die Liebesbeziehung in die Weltfinanzkrise gerät – dann besorgt man sich … genau: ein Handbuch. Zum Nachschlagen. Zum Informieren. Und zum Lösungen-Finden. Nun, das, was Sie gerade in den Händen halten, versteht sich in diesem Sinn als Handbuch. Eben eines der Bibel. Und es hat den festen Willen, Ihre Fragen zu beantworten. Fundiert, hilfreich, übersichtlich und dabei fröhlich bietet es so etwas wie eine kleine „Gebrauchsanleitung“ für das Alte und das Neue Testament. Und glauben Sie mir: Ohne solche Anleitungen würde ich vieles in meinem Alltag nicht verstehen. Das heißt aber auch: Wissbegierige können dieses Buch gerne in einem Rutsch durchlesen, andere schauen vielleicht aus einem speziellen Interesse erst einmal nur eine bestimmte Thematik an. Beides ist erlaubt.

So! Und jetzt lassen Sie uns eintauchen: in eine der turbulentesten, farbenfrohsten und folgenreichsten Epochen der Geschichte, in die Gründerzeit des Volkes Israel und in die Zeitenwende, als Jesus den Menschen von einem Gott vorschwärmte, der jede und jeden unfassbar liebt. In eine Welt, in der man es genoss, „göttliche Geschichten zu erzählen“. Es warten zehn inspirierende Ausflüge auf uns. Los geht’s!

Eine anregende Lektüre wünscht
Fabian Vogt

Eine kleine Geschichte Israels

Bevor wir uns mit den großen theologischen Leitbildern der Bibel befassen, kann es sicher nicht schaden, erst mal einen kleinen Abriss des Geschehens zu bekommen. Und dazu sollten wir mit dem Alten Testament beginnen. Tja, und hier fangen auch schon die Herausforderungen an: Will man die rund 1500 Jahre der „Geschichte Israels“ mit all ihren verrückten Wendungen zusammenfassen, dann gelingt das nämlich nur, wenn man sich auf einige wenige Motive beschränkt. Na, versuchen wir’s mal:

Gott beruft einen Mann namens Abraham und macht ihn zum Gründervater eines neuen Volkes. Seine Nachfahren bauen im Land Kanaan einen Staat auf, dessen Pracht im ganzen Orient gerühmt wird. Dann zerstreiten sich die Menschen, vernachlässigen ihren Glauben an Gott, und verlieren dabei so viel Kraft, dass es ihren Feinden gelingt, das Reich zu zerstören. Einige dieser „Israeliten“ überleben in Gefangenenlagern in Babylon und kehren gedemütigt, aber glaubensstolz zurück, um auf eine Neugeburt ihres Volkes zu hoffen.

Kürzer geht es wohl kaum. Und doch zeigt schon dieser kleine Überblick, dass das Volk Israel tatsächlich alle Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz durchlaufen hat. Neben Anerkennung, Erfolg und Macht auch Sklaverei, Elend und Ohnmacht. Ja, man kann sagen: Die Bibel kennt das Leben. Deshalb weint sie mit den Weinenden, lacht mit den Fröhlichen, betet mit den Frommen und zweifelt mit den Hadernden. Nun, ich finde, wir sollten uns gerade deshalb diese erstaunliche Zeit doch noch ein wenig genauer ansehen:

Als Gott zum Urpatriarchen Abraham, dem späteren Gründer dreier Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam), kam und ihm Mut machte, sich auf eine ungewisse Wanderung in das „gelobte Land Kanaan“ aufzumachen, lagen solche Aufbrüche gerade „voll im Trend“. Es war nämlich die Zeit der „Aramäischen Wanderung“, in der viele Stämme die Krisen der umliegenden Großmächte nutzten und ihre Zelte einpackten, um sich eine neue Heimat zu suchen. Ja, schon Abrahams Vater Terach hatte für einen derartigen Umzug gesorgt und war aus der Stadt Ur in Chaldäa ausgezogen, um mit der Familie in den Ort Haran zu ziehen.

Das Unstete war Abraham also vertraut, als die verheißungsvolle Anfrage Gottes an ihn gestellt wurde: „Bist du bereit, in ein fremdes Land zu gehen, das ich dir zeigen werde?“ Irgendwann im 15. Jahrhundert vor Christus könnte das gewesen sein. Vielleicht aber auch einige Zeit früher oder später. Klar ist nur: Ägypter, Babylonier, Assyrer und Hethiter kümmerten sich damals vor allem um den Erhalt ihrer eigenen Staaten und hatten wenig Zeit, auf die fruchtbare, kleine Region am Mittelmeer zu achten. Die Möglichkeit, sich dort eine neue Existenz aufzubauen, schien Abraham daher wie vielen anderen äußerst verlockend – und er zog los, um etwas ganz Neues aufzubauen.

Niemand weiß genau, wann Abraham gelebt hat. Daher ist es auch fast unmöglich, die in der Bibel davor geschilderten Urgeschichten zu datieren: Weder der Bau des gigantischen Turmes von Babel, noch die Sintflut oder der Pakt Gottes mit Noah lassen sich historisch festlegen. Das Gleiche trifft auf die weiteren Vätergeschichten zu, die uns ja in Gestalt einer Familiensaga überliefert sind. Einige Bibelstellen weisen zwar darauf hin, dass die Autoren sehr alte Überlieferungen benutzt haben, in der heute vorliegenden Form wurden die Texte aber erst zwischen dem 8. und dem 2. Jahrhundert vor Christus verfasst.

Tatsächlich klafft zwischen dem historischen Geschehen und der schriftlichen Fixierung eine Lücke von mehreren hundert Jahren. Dennoch beschreibe ich hier die Geschichte Israels erst einmal so, wie sie sich uns beim vordergründigen Lesen der Bibel erschließt – in der theologischen Vertiefung wird später deutlich, dass ein zweiter Blick so manche neue Sichtweise bringt. Also: Wie ging es weiter? Abraham zog tatsächlich nach Kanaan und trennte sich dort wenig später von seinem Bruder Lot, weil er mit ihm kräftig Krach um die Weidegründe bekommen hatte. Als der inzwischen uralte Mann sich im Pistazienhain von Mamre (später in Hebron) angesiedelt hatte, wurde ihm seine Kinderlosigkeit umso schmerzhafter bewusst, und Gott erlaubte ihm, mit seiner Magd Hagar ein Kind zu zeugen, was naturgemäß nicht gerade den Familienfrieden steigerte. Dann aber wurde auch die hochbetagte Frau Abrahams, Sara, noch schwanger. Das erste menschenfreundliche Wunder der Bibel.

Ihr Sohn Isaak – zu deutsch „Es wird gelacht“, weil Sara über die Ankündigung ihrer Altersschwangerschaft herzhaft gekichert hatte – bekam eine Frau aus Mesopotamien, weil Abraham sich strikt gegen eine Verbindung seines Sprösslings mit den Töchtern der einheimischen Kanaanäer wehrte. Offensichtlich pflegte Abraham als Zugezogener in Kanaan bewusst seine alte Kultur weiter. Nix mit Integration. Und: Nach dem Tod Saras heiratete Abraham noch einmal und bekam weitere Kinder. Seine erste Frau aber beerdigte er auf einem eigens dafür erworbenen Stück Land, dem ersten richtigen Grundbesitz der Israeliten.

Auch Isaaks Frau Rebekka hat anfänglich Probleme, Kinder zu bekommen, bringt dann aber die Zwillinge Esau und Jakob zur Welt, die sich von Geburt an als Rivalen empfinden. Jakob, der nur ein kleines bisschen jüngere, haut seinen älteren Bruder mehrfach übers Ohr, luchst ihm das Recht des Erstgeborenen ab und erschleicht sich bei seinem fast blinden Vater Isaak den Segen (und damit den Auftrag, die Familientradition weiterzuführen). Allerdings muss er ob dieser Tricksereien erst einmal fliehen und wendet sich an die Verwandten in Haran. Der dortige Patriarch Laban macht mit dem Mittellosen einen Vertrag: „Sieben Jahre arbeitest du für mich, dann bekommst du meine Tochter Rahel.“ Jakob ist bereit, für Rahel, in die er sich Hals über Kopf verliebt hat, einen solchen Preis zu zahlen, wird aber diesmal selbst hereingelegt, weil ihm Laban in der Hochzeitsnacht Lea, die hässlichere Schwester der Liebsten, ins Bett schiebt. Um Rahel auch noch zu bekommen, muss Jakob weitere sieben Jahre als Knecht bleiben. Doch der Segen, den Jakob sich ergaunert hat, bewährt sich: Im Lauf der Jahre wird der Arbeiter reich und flieht schließlich mit seiner Familie zurück nach Kanaan, wo es eine Versöhnung mit Esau und ein neues Zuhause in Sichem gibt.

Die zwölf Knaben Jakobs – der später den Namen Israel bekommt und nach dem das Land und das ganze Volk benannt werden – geraten einige Jahre später gewaltig in Streit, als das ziemlich von sich überzeugte Nesthäkchen Joseph seine Träume erzählt, in denen sich die ganze Familie demütig vor ihm verneigt. Wütend verkaufen die Brüder den Angeber als Sklaven nach Ägypten. Joseph aber macht in der Fremde Karriere und arbeitet sich hoch bis zum Stellvertreter des ägyptischen Pharaos. In dieser Position gelingt es ihm nicht nur, seiner Familie zu helfen, als die von einer Hungersnot bedroht ist, er siedelt sie auch im fruchtbaren Nildelta an. Aus den bösen Plänen der Brüder hat Gott etwas Gutes gemacht.

Mehrere Jahrhunderte später ist die israelitische Familiengemeinschaft in Ägypten so groß geworden, dass die Unterdrückung durch die Einheimischen immer stärker wird. Die inzwischen versklavten Israeliten rufen Gott zu Hilfe, und der schickt ihnen den am Hof des Pharaos aufgewachsenen Mose. Mit seiner Hilfe und einigen massiven himmlischen Drohgebärden gelingt es dem Volk, eine Erlaubnis zur Heimkehr zu erhalten. Zwar überlegt der Pharao es sich noch einmal anders und verfolgt die Davonziehenden, doch Mose erweist sich als echter Meerteiler, das heißt: Gott ermöglicht den Israeliten durch ein Wunder den Durchzug, während die ägyptischen Krieger vom zurückflutenden Wasser getötet werden. Das Volk ist gerettet und frei. Eine überwältigende Erfahrung, die für alle Zeiten im Gedächtnis bleibt.

Doch die Geduld der Flüchtlinge wird auf die Probe ge­stellt: Vierzig Jahre lang ziehen die Israeliten durch die Wüste des Sinai, bevor sie endlich einen Blick auf das Gebiet erhaschen dürfen, das während der Durststrecken erneut zum Ziel all ihrer Wünsche geworden ist: Kanaan. Der Nachfolger von Mose, Josua, führt dann das Volk an, als es unter schweren Kämpfen gegen die Kanaanäer in das Land einfällt – und sich nach einer umständlichen Verteilung der Regionen unter den zwölf Stämmen dauerhaft dort ansiedelt. Das spielt so etwa im Jahr 1200 vor Christus. Sprich: Die zwölf Söhne Jakobs wurden im Lauf der Zeit mit ihren Familien zu den Keimzellen der zwölf Stämme Israels, die zwar in wesentlichen Punkten zusammenarbeiten, von denen aber jeder ein eigenes Stammesgebiet besitzt. Anfänglich wohnen die Familien nur auf den Anhöhen, weil die Städte in den fruchtbaren Tälern noch von Kanaanäern gehalten werden, dann gelingt es ihnen aber, immer größere Teile des Landes einzunehmen.

Seit dieser Zeit ist die Stämmegemeinschaft immer wieder in Kämpfe verwickelt. Doch weil sie in der Bedrängnis zusammenhält, gelingt es ihr, selbst starke Gegner zu besiegen. Angeführt wird sie dabei lange Zeit von sogenannten „Richtern“, weisen Männern und Frauen, die Gott in der Not beruft, damit sie die Einzelstämme zusammenschweißen. Zu diesen Anführern, die zugleich für die Erhaltung der Ordnung im Land zuständig sind, gehören Deborah, Gideon, Jeftah und Samson. Das heißt: Während der rund 200-jährigen „Richterzeit“ dienen ihre oft verwegenen Abenteuer dazu, das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft und die Bedrohung von außen abzuwehren.

Der letzte große Richter heißt Samuel, ein von Gott ernannter Prophet, der bereits in eine Zeit hineingeboren wird, in der das Richteramt vom Vater auf den Sohn übertragen wird. Diese dynastische Weitergabe führt aber dazu, dass vermehrt machtgierige Männer nach der bedeutenden Position streben. Und sogar die Söhne Samuels – Joel und Abija – erweisen sich als ziemlich untauglich: Sie sind bestechlich, und es wird deutlich, dass das Konzept einer stammesübergreifenden Rechtsprechung nicht mehr funktioniert. Vor allem aber gilt: Die Familienoberhäupter schauen begehrlich auf die Regierungen der Nachbarstaaten und deren höfisches Leben. Verzweifelt versucht Samuel die Fürsten davon zu überzeugen, dass die Einsetzung eines Königs in Israel nicht nur unglaubliche Nachteile hätte, sondern auch Gottes Allmacht in Frage stellen würde. Doch die Israeliten bleiben hart: Sie wollen wie alle anderen Völker einen weltlichen Herrscher haben. Da macht sich Samuel schweren Herzens auf die Suche und findet mit Gottes Hilfe den schönen Saul.

Und tatsächlich kann der gesalbte König dem Stammesbund neues Selbstvertrauen einflößen, sodass sich dieser in mehreren entscheidenden Schlachten erfolgreich schlägt. Doch Saul missachtet konkrete Anweisungen Gottes, und so wird noch zu seinen Lebzeiten der Söldnerführer David von Samuel als Nachfolger aufgebaut. Während Saul wohl nur der charismatische Führer des „Heerbanns“, also der einberufenen kampffähigen Männer der Stämme, war, entwickelt sich David circa 1000 vor Christus zu einem „richtigen“ König: Er baut ein Berufsheer auf, erobert Jerusalem und ernennt den Ort zur Hauptstadt. Er leistet sich einen Hofstaat, begründet die Erbdynastie, betreibt eine starke Expansionspolitik und denkt konsequent an die Errichtung eines Großreiches. So wird aus der Gemeinschaft der Stämme auf einmal ein auch außenpolitisch anerkanntes Land. Fast vierzig Jahre lang regiert David, dann besteigt nach einigen Querelen sein Sohn Salomo den Thron.

Dieser Salomo residiert ebenfalls in Jerusalem und setzt die zielstrebige Politik seines Vaters fort. Das Reich wächst und gedeiht, ein Staatsapparat wird aufgebaut, zu den wichtigsten Nachbarländern gibt es Handelsbeziehungen, und die Weisheit des Königs wird noch Jahrhunderte später gerühmt. In der Hauptstadt versammelt sich eine Kulturelite aus Dichtern und Denkern, die bald einen eigenen Akademikerstand bildet und die sogenannte weisheitliche Literatur verfasst. Doch während Salomo mit dem Bau eines Tempels in Jerusalem ein starkes geistliches Zeichen setzt, geht er in der Wahl seiner Frauen immer größere Kompromisse ein. Er schafft sich aus politischen Gründen einen Harem aus den Töchtern seiner ausländischen Herrscherkollegen an, unterbindet aber deren religiöse Bräuche nicht. Und auch die zunehmende Belastung der Bevölkerung durch Abgaben schafft dem König nicht nur Freunde.

Als Salomo nach ebenfalls vierzigjähriger Herrschaft stirbt, zeigt sich, dass es trotz der so eindrucksvollen Entwicklung des Landes nicht gelungen ist, die verschiedenen Stämme wirklich zu einen. Uralte Konflikte brechen wieder auf, und das Reich zerfällt in zwei Teile: Israel im Norden, Juda im Süden. Da in Jerusalem, das zum Südreich gehört, der Tempel steht, wird das Ringen der beiden Mächte um die Vorherrschaft schnell auch zu einer spirituellen Streitfrage. Sprich: Anstatt sich um Gott und eine neue Einheit zu kümmern, versuchen die Könige im Nord- und im Südreich sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Ja, 200 Jahre lang bekämpfen sich die aufeinanderfolgenden Herrscher und verlieren dabei mehr und mehr an Ansehen. Vor allem aber paktieren sie gegen Gottes Willen immer häufiger mit Andersgläubigen. Der Prophet Elia etwa muss all seine Kraft aufwenden, um das Ausbreiten des Baalskultes im Nordreich Israel zu verhindern. Gott schickt in dieser Zeit viele solcher großen und kleinen Mahner. Vergeblich. Dennoch ist diese Zeit der sogenannten „Propheten“ eine einzigartige Erscheinung in der Kulturgeschichte der Menschheit. Einzelne Personen treten öffentlich auf, um den Herrschern Gottes Willen zu verkünden. Oft klingt das dann ungefähr so: „Kehrt wieder zurück zu eurem reinen Glauben, dann werdet ihr auch wieder eine gesunde Gemeinschaft in einem gelobten Land erleben.“ Doch die Könige vertrauen mehr auf ihre politischen Ratgeber als auf die oft so rätselhaften Worte eines Amos, Hosea, Sacharja oder Jesaja.

Im 8. Jahrhundert vor Christus wird das Nordreich dann in einem Krieg von den Assyrern im wahrsten Sinne des Wortes ausgelöscht. Dieser Schock ist so groß, dass jetzt auch die Bewohner des Südreichs selbstkritischer werden. Unter dem König Josia wird eine Reform durchgeführt, die Gott wieder in den Mittelpunkt setzen will. Dazu gehört unter anderem die Zentralisation des Opferkultes: Fortan darf nur noch im Jerusalemer Tempel geopfert werden. Die Propheten Micha, Zefanja und Jeremia bedrängen die Herrscher, in ihrem Eifer nicht nachzulassen, um nicht das gleiche Schicksal wie das Nordreich erfahren zu müssen. Doch als Josia in einer Schlacht gegen den ägyptischen Pharao Necho ums Leben kommt, nützt alles Taktieren nichts mehr: Im Jahr 597 wird Jerusalem das erste Mal von babylonischen Truppen erobert, die Oberschicht muss ins Exil gehen, und alles, was den Staat Israel kennzeichnete, wird radikal zerstört. Zwar gelingt es dem Statthalter Zedekia noch einmal, eine Koalition gegen Babylon aufzubauen, doch zehn Jahre später fällt Jerusalem ein zweites Mal, und diesmal sorgen die Sieger dafür, dass es keine Chance für einen Neuanfang gibt. Das Königreich der Israeliten existiert nicht mehr.

Im Jahr 538 erlaubt dann der neue König von Persien, Kyrus, den Überlebenden der Gefangenlager am Ufer des Euphrats zurück in ihre Heimat zu ziehen. Und so beginnen die wenigen Übriggebliebenen ungefähr 400 Jahre nach dem Bau des ersten Tempels noch einmal, ein Zuhause für Gott zu schaffen. Esra und Nehemia sind in dieser Phase des Wiederaufbaus die führenden Männer in der kleinen Schar. Doch diese bleibt eine unterdrückte Randgruppe in einem besetzten Land. Zum Glück wird das Land anfangs meist von Herrschern regiert, die den Glauben an Jahwe, den Gott Abrahams, nicht verbieten und dem Volk Zeit lassen, wieder zu wachsen. 332 erobert Alexander der Große Jerusalem, ab 312 steht das Land unter ägyptischer Herrschaft, und 218 beginnen sich die Syrer für Palästina zu interessieren. Als deren Führer Apollonius den jüdischen Gottesdienst verbieten will, kommt es im Jahr 166 vor Christus zu einem jüdischen Aufstand unter Judas Makkabäus. In den Wirren dieser jahrzehntelang dauernden Kämpfe werden die Pharisäer zur mächtigsten Partei in Israel. 64 aber tritt ein ganz neuer Herrscher auf: Pompejus. Er erobert das große syrische Reich und macht es zur römischen Provinz Syria. In dieser Situation bleibt den gedemütigten Israeliten nur noch eines: die Hoffnung auf den Messias, den Gesandten Gottes, der das Heil wiederbringt.

Man kann sowohl das Alte als auch das Neue Testament erst dann wirklich verstehen, wenn man weiß, dass diese Vergangenheit in den Herzen aller Juden – also auch im Herzen Jesu – verankert war und ist. Und man kann die Bibel nur verstehen, wenn man erkennt, dass in der wechselhaften Geschichte des Volkes einige dieser geschichtlichen Erfahrungen zu Schlüsselerlebnissen wurden, die das Denken und das, was „Glauben“ ausmacht, maßgeblich geprägt haben. Zehn dieser Leitideen spüren wir in den folgenden Kapiteln nach.

Gemeinsam sind wir stark

Der Bund zwischen Gott und den Menschen

Wir starten unseren ersten Ausflug direkt in der Mitte Israels. Dort liegt ein lauschiges Tal zwischen den Bergen Ebal und Garizim: Schafherden grasen auf den Weiden, Felder werden bestellt, und vom Meer her zieht ein salziger Wind die Hänge entlang. An diesem Tag, von dem ich zu Beginn erzählen möchte, ist das Tal voller Menschen, die aus allen Teilen des Landes gekommen sind: auf Eseln und Kamelen, mit bewaffneten Reitern; alle in hellen Gewändern, die in der Sonne glänzen. Aus dem Osten kommen die Stammesführer von Gad, aus dem Norden von Ascher, Naftali, Dan, Sebulon, Issachar und Manasse, aus dem Süden von Ephraim, Benjamin, Juda, Simeon und Ruben. Dazwischen Leviten, Geistliche, die überall im Land wohnen. Keiner der Ankömmlinge weiß so recht, was er hier soll – aber sie sind der Einladung Josuas gefolgt. Und alle kennen den Weg, denn im Osten der Stadt Sichem, die in diesem Tal liegt, steht die uralte Eiche „More“, der Baum, unter dem der Urvater Abraham Gott begegnet ist. Damals sagte Gott zu dem mutigen Mann: „Dieses Land will ich deinen Nachkommen geben“ (Josua 24). Ja, neben der Eiche steht noch immer der Altar, den Abraham errichtet hat. Ein Platz voller Verheißung und Geschichte, ein Platz, um Geschichte zu schreiben.

Als alle Stammesführer versammelt sind, fängt Josua, der erfolgreiche Feldherr, an zu reden: „So spricht Gott: ‚Eure Vorfahren haben am Euphrat gewohnt. Und sie haben anderen Göttern gedient. Ich bin damals zu Abraham gekommen und habe ihn gebeten, aufzubrechen. Ich habe eure Stämme begleitet, euch behütet, euch aus Ägypten befreit, euch all die Jahre geholfen, eure Feinde zu besiegen, und ich habe euch dieses Land geschenkt, das ihr nicht selbst fruchtbar gemacht habt und nun aus vollen Zügen genießen könnt.‘“

Dann spricht Josua in eigenem Namen: „Heute sollt ihr euch entscheiden: Wollt ihr diesen Gott anbeten und ihm treu dienen? Seid ihr bereit, den Göttern abzusagen, denen eure Väter gedient haben – oder wollt ihr euch lieber weiter an sie halten? Ihr sollt wählen: Der eine Gott oder die Götter eurer Vorfahren.“ Und weil Josua ein großer Motivator ist, fügt er gleich auffordernd dazu: „Ich – und meine ganze Familie, mein ganzer Stamm – wir haben uns entschieden: Wir wollen dem Gott Abrahams dienen.“

Ich stelle mir vor, was in den Köpfen dieser erfahrenen Stammesführer vorgegangen ist: „Was soll denn das jetzt? Warum können wir nicht wie früher an mehrere Götter glauben? Schließlich gibt es für alle Lebensbereiche eigene Gottheiten, deren Wohlwollen wir brauchen: Fruchtbarkeit, Krieg, Wetter, Jagd oder Liebe. Warum sollen wir den tradierten Göttern, die schon von unseren Vätern angebetet wurden, den Laufpass geben?“

Aber Josua hat eines klargemacht: Es geht um ein Entweder-Oder. Dieser eine Gott lässt sich nicht im Himmel als Fünfter von links einordnen. Man kann nicht „auch“ an Jahwe glauben, wie dieser Gott sich nennt! Da kommt einer ernsthaft daher, der sagt, dass er alleine angebetet werden will – ein eifersüchtiger Gott. Die Männer beratschlagen lange, und dann haben sie einen Entschluss gefasst: „Ja! Wir sind bereit, die Götter der Vergangenheit hinter uns zu lassen und nur noch an den einen Gott zu glauben, der uns Zukunft verheißt.“

Die meisten Theologen sind sich einig: Dieser berühmte „Landtag von Sichem“ ist einer der großen Momente der Weltgeschichte. Hier wird ein doppelter Bund geschlossen: Ein Bund zwischen Menschen und einer zwischen Mensch und Gott. Und dieses Ereignis gilt als ein Meilenstein in der Entwicklung unserer Kultur, denn es wird nicht nur zur Geburtsstunde der Monolatrie, sondern auch zur Geburtsstunde des Volkes Israel. Was heißt das?

1. „Monolatrie“ kommt aus dem Griechischen und heißt: „Es wird nur ein Gott angebetet.“ Eine echte Erneuerung. Es war für die Menschen der damaligen Zeit nämlich ganz klar, dass zahllose Götter existieren „Höre, Israel, nur Jahwe allein ist unser Gott“