Der Aufruhr in den Cevennen

 

Ludwig Tieck

 

 

 

 

Inhalt:

 

Ludwig Tieck – Biografie und Bibliografie

 

Der Aufruhr in den Cevennen

 

Vorwort

Erster Abschnitt

Zweiter Abschnitt

 

 

 

 

Der Aufruhr in den Cevennen, L. Tieck

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

 

ISBN: 9783849637651

 

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Ludwig Tieck – Biografie und Bibliografie

 

Dichter der romantischen Schule, geb. 31. Mai 1773 in Berlin, gest. daselbst 28. April 1853, Sohn eines Seilermeisters, besuchte seit 1782 das damals unter Gedikes Leitung stehende Friedrichswerdersche Gymnasium, wo er sich eng an Wackenroder anschloß, und studierte darauf in Halle, Göttingen und kurze Zeit in Erlangen Geschichte, Philologie, alte und neue Literatur. Nach Berlin zurückgekehrt, lebte er von dem Ertrag seiner schriftstellerischen Arbeiten, die er größtenteils im Verlag des Aufklärers Nicolai veröffentlichte. So erschienen in rascher Reihenfolge die Erzählungen und Romane: »Peter Lebrecht, eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten« (Berl. 1795, 2 Bde.), »William Lovell« (das. 1795–96, 3 Bde.; vgl. Haßler, L. Tiecks Jugendroman »William Lovell« und der »Paysan perverti« des Rétif de la Bretonne, Dissertation, Greifsw. 1903) und »Abdallah« (das. 1796), ferner Novellen meist satirischen Inhalts in der Sammlung »Straußfedern« (1795–98), worauf er, seinen Übergang zur eigentlichen Romantik vollziehend, die bald dramatisch-satirische, bald schlicht erzählende Bearbeitung alter Volkssagen und Märchen unternahm und unter dem Titel: »Volksmärchen von Peter Lebrecht« (das. 1797, 3 Bde.) veröffentlichte. Den größten Erfolg errangen unter diesen Dichtungen die unheimlich düstere Erzählung »Der blonde Eckert« und das phantastisch-satirische Drama »Der gestiefelte Kater«. Die Richtung, die in seinen Schriften immer deutlicher hervortrat, mußte ihn in schroffen Gegensatz zu Nicolai sowie zu Iffland, dem Leiter des Berliner Theaters, bringen, während die Romantiker ihn begeistert anpriesen als ein Genie, das Goethe ebenbürtig sei. Nachdem er sich 1798 in Hamburg mit einer Tochter des Predigers Alberti verheiratet hatte, verweilte er 1799–1800 in Jena, wo er zu den beiden Schlegel, Hardenberg (Novalis), Brentano, Fichte und Schelling in freundschaftliche Beziehungen trat, auch Goethe und Schiller kennen lernte, nahm 1801 mit Fr. v. Schlegel seinen Wohnsitz in Dresden und lebte seit 1802 meist auf dem Gute Ziebingen bei Frankfurt a. O., mit dessen Besitzern (erst v. Burgsdorff, dann Graf Finkenstein) er eng befreundet war. Doch unterbrach er diesen Aufenthalt durch längere Reisen nach Italien, wo er die deutschen Handschriften der vatikanischen Bibliothek studierte (1805), sowie nach Dresden, Wien und München (1808–10). Während dieses Zeitraums waren erschienen: »Franz Sternbalds Wanderungen« (Berl. 1798), ein die altdeutsche Kunst verherrlichender Roman, an dem auch sein Freund Wackenroder Anteil hatte, »Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem guten Geschmack« (Jena 1799), und »Romantische Dichtungen« (das. 1799–1800, 2 Bde.) mit dem Trauerspiel »Leben und Tod der heil. Genoveva« (separat, Berl. 1820) sowie das nach einem alten Volksbuch gearbeitete Lustspiel »Kaiser Octavianus« (Jena 1804), weitschweifige Dichtungen, in denen das erzählende und namentlich das lyrische Element überwiegt, aber aus einem Gewirr mannigfaltigster metrischer Ausdrucksformen gelegentlich doch echte Schönheit hervorleuchtet (vgl. Ranftl, L. Tiecks »Genoveva« als romantische Dichtung betrachtet, Graz 1899). Von den zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen fremder Werke, die T. damals veröffentlichte, seien erwähnt: die fehlerhaften »Minnelieder aus der schwäbischen Vorzeit« (Berl. 1803), die gelungene Verdeutschung des »Don Quichotte« von Cervantes (das. 1799–1804, 4 Bde.), die wertvolle Übersetzung einer Anzahl Shakespeare zugeschriebener, aber zweifelhafter Stücke u. d. T.: »Altenglisches Theater« (das. 1811, 2 Bde.) u. a. Auch gab er u. d. T.: »Phantasus« (Berl. 1812–17, 3 Bde.; 2. Ausg., das. 1844–45, 3 Bde.) eine Sammlung früherer Märchen und Schauspiele, vermehrt mit neuen Erzählungen und dem Märchenschauspiel »Fortunat«, heraus, welche die deutsche Lesewelt lebhaft für T. interessierte. Das Kriegsjahr 1813 sah den Dichter in Prag; nach dem Frieden unternahm er größere Reisen nach London und Paris, hauptsächlich im Interesse eines großen Hauptwerks über Shakespeare, das er leider nie vollendete. 1819 verließ er dauernd seine ländliche Einsamkeit und nahm seinen Wohnsitz in Dresden, wo nun die produktivste und wirkungsreichste Periode seines Dichterlebens begann. Trotz des Gegensatzes, in dem sich Tiecks geistige Vornehmheit zur Trivialität der Dresdener Belletristik befand, gelang es ihm, hauptsächlich durch seine fast allabendlich stattfindenden dramatischen Vorlesungen, in denen er sich als Meister in der Kunst des Vortrags bewährte, einen Kreis um sich zu sammeln, der seine Anschauungen von der Kunst als maßgebend anerkannte. Als Dramaturg des Hoftheaters (seit 1825) gewann er eine bedeutende Wirksamkeit, die ihm freilich durch Angriffe der Gegenpartei mannigfach verleidet wurde. In der Novellendichtung, der sich T. in dieser Dresdener Zeit vor allem widmete, leistete er zum Teil Vortreffliches; aber er bahnte auch jener bedenklichen Gesprächsnovellistik den Weg, in der das epische Element fast ganz hinter dem reflektierenden zurücktritt. Zu den bedeutendsten zählen: »Die Gemälde«, »Die Reisenden«, »Der Alte vom Berge«, »Die Gesellschaft auf dem Lande«, »Die Verlobung«, »Musikalische Leiden und Freuden«, »Des Lebens Überfluß« u. a. Unter den historischen haben »Der griechische Kaiser«, »Dichterleben«, »Der Tod des Dichters« und vor allen der großartig angelegte, leider unvollendete »Aufruhr in den Cevennen« Anspruch auf bleibende Bedeutung. In allen diesen Novellen befriedigt nicht nur meist die einfache Anmut der Darstellungsweise, sondern auch die Mannigfaltigkeit lebendiger und typischer Charaktere und der Tiefsinn der poetischen Idee. Sein letztes größeres Werk: »Vittoria Accorombona« (Bresl. 1840), entstand unter den Einwirkungen der neufranzösischen Romantik und hinterließ trotz der Farbenpracht einen überwiegend peinlichen Eindruck.

 

T. übernahm in Dresden auch die Herausgabe und Vollendung der von A. W. v. Schlegel begonnenen Shakespeare-Übertragung (Berl. 1825–33, 9 Bde.), doch hat er selber nur die Anmerkungen beigesteuert. Die Übersetzungen A. W. v. Schlegels (s. d.) wurden zum Teil mit eigenmächtigen Änderungen wieder abgedruckt, die übrigen Stücke übersetzten Tiecks Tochter Dorothea (geb. 1799) und Wolf Graf von Baudissin (s. d.). Diese beiden verdeutschten auch noch sechs weitere Stücke des alten englischen Theaters, die T. als »Shakespeares Vorschule« (Leipz. 1823–29, 2 Bde.) mit ausführlicher literarhistorischer Einleitung herausgab. Ebenso stammen aus dieser Zeit mehrere mit Einleitungen versehene Ausgaben von Werken deutscher Dichter, auf die er die Aufmerksamkeit von neuem hinlenken wollte. So hatte er schon 1817 eine Sammlung älterer Bühnenstücke u. d. T.: »Deutsches Theater« veröffentlicht (Berl., 2 Bde.). Dann gab er die hinterlassenen Schriften Heinrichs v. Kleist (Berl. 1821) heraus, denen die »Gesammelten Werke« desselben Dichters (das. 1826, 3 Bde.) folgten, ferner Schnabels Roman »Die Insel Felsenburg« (Bresl. 1827) und die »Gesammelten Schriften« von J. M. R. Lenz (Berl. 1828, 3 Bde.). Aus seiner dramaturgisch-kritischen Tätigkeit erwuchsen die wertvollen »Dramaturgischen Blätter« (Bresl. 1825–26, 2 Bde.; Bd. 3, Leipz. 1852; vollständige Ausg., das. 1852, 2 Tle.). 1837 verlor T. seine Frau, seine Tochter Dorothea starb 21. Febr. 1841. In demselben Jahre wurde er vom König Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin berufen, wo er, durch Kränklichkeit zumeist an das Haus gefesselt, ein zwar ehrenvolles und sorgenfreies, aber im ganzen sehr resigniertes Alter verlebte. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Romantiker« (Bd. 17). Seine »Schriften« erschienen in 20 Bänden (Berl. 1828–46), seine »Kritischen Schriften« in 2 Bänden (Leipz. 1848), »Gesammelte Novellen« in 12 Bänden (Berl. 1852–54), »Nachgelassene Schriften« in 2 Bänden (Leipz. 1855). »Ausgewählte Werke« Tiecks gaben Welti (Stuttg. 1886–1888, 8 Bde.), Klee (mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen, Leipz. 1892, 3 Bde.) und Witkowski (mit Einleitung, das. 1903, 4 Bde.) heraus. Aus Tiecks Nachlaß, der sich in der Berliner Bibliothek befindet, veröffentlichte Bolte mehrere Übersetzungen englischer Dramen, unter andern »Mucedorus« (Berl. 1893). Die Ungleichheit von Tiecks Leistungen ist z. T. auf sein improvisatorisches Arbeiten zurückzuführen, das ihn selten zu reiner Ausgestaltung seiner geist-, phantasie- und lebensvollen Entwürfe gelangen ließ; die Gesamtheit seiner Schriften verrät deutlich die Weite und Größe seines Talents. R. Köpke, der T. in den letzten Berliner Jahren nahe stand, veröffentlichte eine ausführliche Biographie u. d. T.: »Ludwig T., Erinnerungen aus dem Leben etc.« (Leipz. 1855, 2 Bde.). Vgl. außerdem H. v. Friesen, Ludwig T., Erinnerungen (hauptsächlich aus der Dresdener Zeit, Wien 1871, 2 Bde.); »Briefe an Ludwig T.« (hrsg. von K. v. Holtei, Bresl. 1864, 4 Bde.); Ad. Stern, Ludwig T. in Dresden (in dem Werk »Zur Literatur der Gegenwart«, Leipz. 1880); Steiner, Ludwig T. und die Volksbücher (Berl. 1893); Garnier, Zur Entwicklungsgeschichte der Novellendichtung Tiecks (Gieß. 1899); Mießner, L. Tiecks Lyrik (Berl. 1902); Ederheimer, Jak. Böhmes Einfluß auf T. und Novalis (Heidelb. 1904); Koldewey, Wackenroder und sein Einfluß auf T. (Leipz. 1904); Günther, Romantische Kritik und Satire bei Ludwig T. (das. 1907). – Tiecks Schwester Sophie T., geb. 1775 in Berlin, verheiratete sich 1799 mit Aug. Ferd. Bernhardi (s. d.), von dem sie 1805 wieder geschieden wurde, lebte dann in Süddeutschland und mit ihren Brüdern, dem Dichter und dem Bildhauer, längere Zeit in Rom, später in Wien, München und Dresden. 1810 schloß sie eine zweite Ehe mit einem Esthländer, v. Knorring, dem sie in dessen Heimat folgte, und starb dort 1836. Sie hat außer Gedichten, z. B. dem Epos »Flore und Blanchefleur« (hrsg. von A. W. v. Schlegel, Berl. 1822), auch Schauspiele und einige Romane, wie »Evremont« (hrsg. von Ludw. T., das. 1836), geschrieben.

 

 

Der Aufruhr in den Cevennen

 

 

Vorwort

 

Schon im Jahre 1820 fing ich diese Erzählung an. Ich lernte auf der Rückreise von Italien im Jahre 1806 den Herrn Sinclair in Frankfurt am Main kennen, der mir drei Schauspiele über diese höchst merkwürdige Begebenheit mitteilte, die, soviel Schönes sie, besonders in den lyrischen Teilen, enthalten, jetzt wohl schon vergessen, und auch damals nicht genug gewürdigt sind. Sie regten mich wenigstens so an, daß ich diese große Geschichte in den französischen Historien nachschlug. Ich fand bald, daß die katholische Partei die merkwürdige Sache, soviel sie nur konnte, ignorierte, und daß die Verfolgten mehr ihre Leiden klagten, als die geschichtliche Ansicht auszusprechen imstande waren.

 

Als ich das Theater der Cevennen, vom Prediger Misson in London 1711 herausgegeben, zufällig kennenlernte, eine Erzählung von Visionen und Schicksalen jener Verfolgten, die sich nach England hin gerettet hatten, wuchs der Plan zu dieser Novelle in meinem Gemüt. Ich las nun in Villars und andern Memoiren, soviel ich nur finden konnte, vorzüglich aber die Histoire des Camisards, Londres 1744. Meine Dichtung war aber fast schon vollendet, als ich die Histoire des Troubles des Cevennes, im Jahre 1819 zu Alais neu gedruckt, kennenlernte. Offenbar die beste Schrift über diesen Gegenstand, und die neue Auflage eines Buchs, welches schon 1760 gedruckt und seitdem selten geworden war.

 

 

Dresden, im Junius 1826.

 

L. T.

 

 

Erster Abschnitt

 

»Ist Edmund noch nicht nach Hause gekommen?« fragte der Vater den Diener, indem er im großen Vorsaale des Landhauses auf und nieder ging.

 

»Nein, mein gnädiger Herr«, sagte der Alte, »und es wäre doch gut, er käme noch vor Abend zurück; denn drüben vom Gebirge her ist ein Gewitter im Anzuge, das uns auch nichts Gutes bringen wird.«

 

Indem kam die kleine Tochter mit ihrem Spielzeuge herein und setzte sich an den großen Tisch der Halle. »Da oben braust es wieder so schrecklich«, sagte sie schmeichelnd, »ich bleibe bei dir, mein liebes Väterchen. Ich kann die Wetter nicht leiden; wozu muß nur so fürchterliches Lärmen und Donnern in der Welt sein?«

 

»Ja wohl«, sagte der Diener Franz, »und all das Elend, das uns nun schon seit Jahren gedrückt, und wovon kein Ende abzusehen ist?«

 

»Das weiß nur der«, sagte der Vater seufzend, »der es uns auferlegt, er wird es auch zu seinem Endzweck hinausführen.« –

 

»Väterchen!« rief das Kind vom Spiele auf, »unser guter Eustach, der Kohlenbrenner, der mir immer so hübsche Steinchen aus dem Walde herunterbrachte, und neulich mal den großen wilden Vogel, den er für eine Drossel ausgab, der schwarze freundliche Mann ist nun auch ein Satan geworden.«

 

»Was schwatzest du da!« rief der Vater unwillig aus; »wer hat dir das gesagt?«

 

»Marthe, meine Amme«, sagte die Kleine; »denn er rebelliert nun gegen Gott und den König, bis sie ihn auch einfangen und verbrennen oder sonst totmachen müssen, denn er will kein Christ mehr sein; so hat mir Marthe heut morgen beim Ankleiden erzählt; sie will auch in der andern Woche zur Stadt hinein, und die andern Satans und armen Sünder umbringen sehn. Erlaube ihr das doch, lieber Vater; sie meint, es soll sie besonders erbauen und in ihrem Glauben stärken, denn sie ist auch schon ein paarmal irregegangen, und fast in des Bösen Stricke geraten: der Böse ist hier in der Gegend gar mächtig, besonders droben in den Bergen, da ist er am liebsten zu Hause; wir haben es hier unten schon besser. Väterchen, die Feigen fangen schon an im Garten reif zu werden.«

 

»Du schwatzest!« sagte der Vater unwillig; »ich werde sorgen, daß du nicht so viel mit der Alten allein bleibst.«

 

»Die Sache an sich«, wandte der Diener ein, »hat seine Richtigkeit, Eustach ist hinauf ins Gebirge zu Roland und hat sich zum Camisard gemacht, Frau und Kinder sitzen in der öden Hütte und heulen; sie haben kein Brot und fürchten noch wegen des Mannes eingezogen, wohl hingerichtet zu werden.«

 

»Ich glaube«, sagte der Herr von Beauvais, »du hast sie schon unterstützt, guter Franz, sonst tu es noch; gib ihnen das Nötige, was sie brauchen, und mit Vorsicht, damit wir nicht in die gleiche Verantwortung kommen. Denn in diesem Drangsal der allgemeinen Not und Verwirrung ist alles verdächtig, man mag handeln, wie man will, wenn man nicht selbst sich zum Tyrannen aufwerfen und zum Henkersknecht erniedrigen mag.«

 

»Wie unser Marschall«, rief der Alte heftig aus, »wie unser Intendant; wie die Herren dort in Nismes, die um Gottes willen ihre Brüder martern. Ich habe schon den Leuten hingeschickt, und will es ferner; es ist zwar nur ein Tropfen im Meere, aber doch werden ein paar Herzen in dieser Trübsal beruhigter sein.«

 

Er ging hinaus, und als der Vater nach den Bergen mit einem wehmütigen Blicke hinaufsah, drängte sich das Kind schmeichelnd an ihn, küßte seine Hand und sagte: »Väterchen, werde du und Franz nur nicht auch noch gottlos und Rebellen, sonst komme ich mit Bruder Edmund ganz allein in den Himmel, und das möchte ich nicht; denn mit Edmund kann ich mich gar nicht vertragen, so schrecklich fromm er auch ist, und du bist viel besser, wenn auch dein Glaube nicht im besten Zustand sein mag.«

 

»Ja wohl, schrecklich fromm«, rief der alte Mann aus; »o Himmel, wann wird es dir doch gefallen, diese Verwirrung zu lösen?«

 

»Da kommt Edmund den Garten herunter«, rief die Kleine; »sage es ihm lieber nicht von dem gottlosen Eustach, sonst haben wir wieder Lärmen und Zank; er kann dergleichen gar nicht vertragen.«

 

Edmund kam herein, grüßte, stellte sein Gewehr in die Ecke und legte die Jagdtasche ab; der große Hund machte sich zum Kinde, das mit ihm tändelte, und ihm dann die aufgehobenen Brocken zusteckte.

 

»Wo warst du heute mittag, mein Sohn?« fragt der Vater.

 

»Beim Intendanten, dem Herrn von Basville«, antwortete Edmund, ohne aufzusehen, »drüben in Alais, wo er sich noch einige Tage aufhalten wird, wegen des Verhörs der Rebellen. Er läßt Sie grüßen, aber er wundert sich, daß Sie die angebotene Stelle ausgeschlagen haben, und er meinte, der Marschall würde es noch weniger begreifen können.«

 

»Der Marschall, mein Sohn«, fing der Vater nicht ohne Bewegung an, »mag manches nicht begreifen können. Ich danke Gott, daß ich mich schon seit länger als zehn Jahren in diese Einsamkeit zurückgezogen habe; denn wäre ich noch im Amte, so würde mein Gewissen mich zwingen, es jetzt abzugeben, und das möchte den beiden wackern Herrn dann noch unbegreiflicher sein. Ich beneide ihnen weder, noch bewundre ich ihren Patriotismus, und Gott soll unsre Familie vor dem Schicksal bewahren, dem Könige auf diese Art Dienste zu tun. Darum, mein teurer, mein geliebter Sohn, wiederhole ich noch einmal meine väterliche Warnung, dich mit diesen Menschen einzulassen, es würde mich zum Grabe führen, dich auf diese Weise tätig zu sehn. Denn, was verlangt man von uns? Keinen offenen, geraden Dienst, keine Hülfleistung, wie sie dem Bürger ziemt, wie sie den edeln Menschen ehrt: sondern wir sollen uns zu Spionen hergeben, unsere eigenen Untertanen und Landsleute verraten und auf die Folter und den Scheiterhaufen liefern, uns dieser Unmenschlichkeit freuen, das Land entvölkern, den Haß Gottes und der Menschen auf uns laden, und wenn wir es genau betrachten, an unserm Vaterlande und Könige zu Verrätern werden.«

 

»Darf der Untertan je fragen?« fiel Edmund heftig ein; »ich kenne diese Gesinnung an Ihnen, mein Vater, ich kenne und betraure sie; aber darf der Untertan so fragen? Wo bleibt der Gehorsam, wo sind dann noch die Bande des Staates, wo das Heiligste, Höchste, Frommste und Ehrenvollste, wodurch wir eben nur Menschen und Bürger sind, worauf alle unsre Tugend, unser Dasein ruht, wenn ich sagen darf: hier kündige ich dir meinen Gehorsam auf, dies darfst du nicht befehlen, obgleich du mein König bist, obgleich das Vaterland, der Himmel selbst durch deinen geheiligten Mund zu mir spricht.«

 

»Du hast nicht unrecht, mein Sohn«, antwortete der Alte, »und weil du, wenn du so fragst, immer im Rechte sein wirst, sollte der Herrscher mit frommer Scheu, mit Gottesfurcht, diese Schranken achten, das Gewissen seiner Untertanen ehren, die Versprechungen und Schwüre, die edle Vorfahren getan und er nach ihnen wiederholt hat, heilig halten, und nicht selbst die Mordfackel in seine Scheuren werfen, als Kläger, Richter und Verfolger zugleich auftreten: – und wehe denen, die sein schwaches Alter, sein verletzbares Gewissen und ihren Einfluß so mißbrauchen! Und wehe jedem, der sich zu diesen Diensten gebrauchen läßt, gute und fromme Menschen zu schlachten; am wehesten aber dem rechtlichen Manne, der aus Ehrgeiz oder mißverstandener Pflicht ebenfalls hinzutritt, und den Scheiterhaufen anschürt, und die Folter noch grimmiger spannt.«

 

»Es tut mir weh, mein Vater«, sagte Edmund mit unterdrücktem Zorn, »und immer wieder bewältigt mich der ungeheure Schmerz, daß ich im Liebsten, Heiligsten, was meinem Herzen das Nächste und Eigenste ist, so durch Welten von Ihnen getrennt mich fühlen muß! Seit ich denke und mich empfinde, ist mir diese unsre alte heilige Religion das Höchste und Göttlichste, nur in ihr lebt mein Herz, und alles, was ich wünsche und ahnde, spiegelt sich glänzend in diesem hellen Kristall. Dies, was die Liebe selbst verkündigt hat, dies, was die Liebe selbst ist, die ewige, unsichtbare, uns Armen, Verlornen sichtbar geworden, als Kind, als Mitbruder zu uns niedergestiegen, als unser nächster Freund und Nachbar, und dann für unsre Verirrung so schmerzhaft gelitten, und in liebevollster Aufopferung nur unser und aller unserer Schwächen und Verderbnisse gedacht, nur unser im Leben und Tode: – dies sollte ich je vergessen, verschmähen können, dies mein Herz, das in Dankbarkeit vergehn möchte, sollte es dulden, daß man diese Welt von Wunder und Liebe vernichtete, in den Staub träte, und hohnlachend frech das Heiligste in Trümmer schlüge, um es dem Niedrigsten zu verbrüdern?«

 

»Wer will das, mein Sohn?« rief der Alte; »selbst Türken und Heiden wollen und können es nicht, geschweige unsre Brüder, die nur in einfacher, schlichter Weise sich jenem unbegreiflichen Wesen nähern wollen, das uns allen, trotz seiner Unermeßlichkeit, in Liebe und Demut unsers Herzens so nahe befreundet und bekannt vertraulich wird.«

 

»In dieser Schilderung«, sagte der Sohn, »wird man freilich diejenigen nicht erkennen, die unsre Priester morden, die Heiligtümer verbrennen, den Landmann berauben, und, wenn sie den Sieg davontrügen, was Gott verhüten wird, ihre Ketzerei mit Feuer und Schwert über das Land ausbreiten würden.«

 

»Du siehst es, mein Sohn«, sagte der Alte, »weil du es so sehen willst; wir mißverstehen uns immerdar in dieser Sache, weil du dem Verständnis widerstrebst, und freilich, solange du in dieser Leidenschaft bist, wird dir nie jener stille ruhige Sinn beiwohnen, der nach meinem Ermessen nötig ist, um der Religion fähig zu werden, und der recht eigen der Geist des Christentumes selbst ist, für welches du zwar mit Schwärmerei streiten, aber nicht in wahrer hingebender Liebe leben kannst.«

 

Der Sohn stand unwillig auf, und ging mit Heftigkeit im Saale auf und ab, dann faßte er die Hand seines Vaters, sah ihm scharf ins Auge und sagte: »Also, Schwärmerei? Mit diesem Worte also, mit diesem toten Laute haben Sie sich genug getan, und meinem trauernden Geist Rede gestanden? Das ist es freilich, was die Welt will, was die Verzweiflung meint, deren Herz erstorben ist. Nicht wahr, die Märtyrer und Helden der christlichen Kirche waren auch nur Schwärmer? Wenn sie lächelnd unter Martern ihr Blut vergossen für den, dem sie nicht Schmerz und Liebe genug opfern konnten, so faselten sie, weil es ihnen an Vernunft und Ruhe gebrach? Alle jene Wunder der Liebe sind nur unreife Verirrungen aberwitziger Leidenschaft, die jene überirdischen Geister nicht mit Rührung und Freude, sondern nur mit mitleidigem Lächeln von oben gesehen haben, und den in Verzückung Verschiedenen wohl alsbald mit Kopfschütteln und zurechtweisendem Tadel entgegengetreten sind? Oh, ehe ich mein schlagendes Herz auf dergleichen Überklugheit und niedrige Zweifelsucht abrichten möchte, möchte ich es mir lebend aus der Brust reißen und mit Füßen treten, und den Bestien zum Fraß hinwerfen.«

 

»Wir wollen aufhören«, sagte der Vater halb zürnend, halb gerührt, indem er ein großes Buch vom Kamin herunternahm. »Dein Gefühl tadle ich nicht, fern sei es von mit, das Heilige zu lästern, aber du weißt es nicht, du mußt es noch erfahren, daß das Große, daß die Wahrheit nur auf der Grenze, auf dem Übergangspunkte dieses Affektes liegt; wie wir sie in der Entzückung gesehen haben, müssen wir auch wieder scheu und mit Ehrfurcht zurücktreten; lockt uns aber in geistiger Schwelgerei zu höherer Entzückung und Vision der Lügengeist hinüber, so gehn wir in Geisteswollust unter, und Truggebilde, furchbarer Wahn nimmt Seel und Herz gefangen, die Liebe stirbt uns ab; und durch diese traurige Schule wirst du gehn müssen, mein Sohn, und Gott weiß, ob nicht vielleicht mit zertrümmertem leeren Herzen oder als Heuchler jenseit heraustreten. Denn leicht und eben wird die Bahn deines Lebens nicht sein.«

 

Mit diesen Worten setzte sich der Herr von Beauvais zum Lesen nieder, der Sohn nahm seine Hand und sagte in sanftem Ton: »Nein, mein Vater, sprechen wir noch über diesen Gegenstand, der einmal mein ganzes Leben ausfüllt. Kann Sie denn wirklich diese Lektüre jetzt, dies Hin- und Herfragen des Platon interessieren? Darf ich denn empfinden wie Sie, muß ich denn nicht blind gehorchen, wenn dieser Gehorsam überdies mit meinem Gemüte selbst in Einklang ist?«

 

»Hetz! hetz!« rief spielend die kleine Tochter, und der Jagdhund fuhr bellend gegen die Tür, und ließ sich nur durch ein Pfeifen seines Herrn beruhigen. Nicht wahr, sagte Eveline, »der Hektor ist ganz rechtgläubig, den könnte man so recht in die Camisards hineinhetzen?«

 

»Einfältige Dirne!« rief Edmund mit glühendem Gesicht, der Vater sah sie kopfschüttelnd an, das Kind aber sprach: »Edmund hat ja selber sein Herz dem Hektor zu essen geben wollen, so kann ich ihn ja wohl für einen besondern Hund halten. Komm, Hektor, sie tun uns immer unrecht.« Mit diesen Worten faßte sie den Hund beim Halsbande und beide gingen in den Garten.

 

»Ich verstehe Sie nicht, mein Vater«, fing Edmund nach einer Pause an; »Sie sind fromm, Sie besuchen mit Andacht die Kirche, ich muß Sie für einen Freund derselben halten, sooft mir auch der Verdacht des Gegenteils kommt, und doch können Sie es gelassen mit ansehn, daß dieser unserer Kirche der Untergang droht? Und erfüllt sie denn nicht auf die holdseligste Art alle Ahndungen und Wünsche unsers Herzens? Ich zürne immer, wenn manche Priester so sehr auf den Wandel, auf Tugend und Moral dringen, was uns die Heiden lehren konnten, und was die Vernunft von uns fordert; sosehr dies geehrt werden muß, so ist es denn doch die zunehmende Entwickelung und Gestaltung des Wundervollen, welche ich in der Geschichte wahrnehme, die mein Herz immer am schönsten bewegt. In der Ferne liegt dunkel und unkenntlich, aber ganz mit Liebe umhüllt, das erste Wunder; nach den Aposteln verstummt die Gabe der Prophezeiung nicht, Heilige und Märtyrer reihen sich an die Verschiedenen, und erfüllen, was die Früheren geahndet; das Geheimnis der Liebe ist ein Unendliches und kann immer nur wieder durch ein neues Geheimnis verstanden werden. Daß die Erklärung des Liebes- und Abendmahles durch kirchliche Beschlüsse sanktioniert wurde, stört mich gar nicht, indem es den Weltlichen nur als zeitliche Begebenheit erscheint, denn im unscheinbaren Keime liegt ja doch schon die Blüte und die Süßigkeit der Frucht, die nur durch das gereift wird, was wir Zeit nennen; so mußte es geschehn, daß erst späterhin die Ahndung der Seele erfüllt wurde und die Gottesgebärerin als Himmlische verehrt und durch Feste gefeiert: ja so geht ein Prophetenmund mit seinem wahrsagenden Gesang durch alle Jahrhunderte und verstummet nie und auch in Zukunft nicht; Fest reiht sich an Fest, Tempel und Gebilde an Bild, die Nachwelt sieht mit gerührtem Auge nach der Liebe der Gegenwart her, wie wir entzückt auf die Vorzeit hinblicken, und nur durch diesen Wechsel, durch dieses Forttönen des ewigen Wortes ist es mir wahrhaft, nur dadurch weiß ich, daß es ehemals klang, dadurch, daß es scheinbar wandelt, wie Blatt in Blüte und Blume in Frucht, und Frucht den Samen der Blüte wieder ausstreut, ist es eine stetige, ewige Wahrheit, durch diese unendliche Fülle, durch diese Unerschöpflichkeit, wie ein Weltmeer von Liebe, dadurch, daß es jedem Sinne, auch dem verschiedensten, entgegenkommt, jede Sehsucht tränkt, jeden Hungrigen sättigt, nur dadurch ist es ein Einfaches, ein Wahrhaftiges und Selbständiges, und ich hasse jene Wortdeutungen dieser Neuerer, die diese Wunderbegebenheit wie eine Geschichte behandeln wollen, die unsre Messe, Bild, Licht, Tempel, Pomp und Musik Götzendienst zu lästern wagen, und indem sie so das Heiligste verfolgen, verfolgen sie nach den Gefühlen meines Herzens Gott selbst, und man muß sie wie schädliches und giftiges Gewürm ausrotten und vertilgen.«

 

»Ich verstehe dich, mein Sohn«, sagte der Vater, »und möchte dir gern ganz recht geben können, so wie du in der Sache selbst nur meine eigene Empfindung angedeutet hast. Fühlst du so, und bist du dieses Glaubens, so sollte eigentlich weder Streit unter uns, noch mit andern sein. Fühlst du, daß das Christentum in seiner vielseitigen Gestaltung kein Bedürfnis und keine Sehnsucht von sich abweist, daß es jedem Sinn erlaubt und möglich ist, die ewige Liebe auf seine Weise und doch im Geiste der Wahrheit anzubeten, so dürfen auch jene stillen Herzen nicht aus der Gemeine ausgeschlossen werden, die vor jenem Prunk und Gesang, vor jenem Glanz der Tempel, vor jener kunstgemäßen vielseitigen Ausbildung des religiösen Geheimnisses erschrecken. Diejenigen, die wie die Jünger Johannis und Jesu Apostel die Wüste des Jordan besuchen und dort in den Schauern der Berge und in heiliger Einsamkeit das ewige Wort hören möchten, und ihre Kirche wie die Hütte zu Bethlehem zu bauen wünschen, um mit ihrer erregten Phantasie nicht in Kunst und Bilderpracht unterzugehen, und darüber des Heils und Gottes zu vergessen: diese, mein Sohn, sind ebenfalls echte Christen, und der Vater wird sie nicht von sich weisen, was auch unsre Priester hier dir darüber sagen mögen. Schon früh entstand in unsern Cevennen und in den Tälern der Albigenser ein einfacher Glaube, ein stilles Zurückziehen von dem Glanz und der Vieldeutigkeit der bischöflichen und päpstlichen Kirche. Es kann wohl sein, daß für das Wohl des Menschengeschlechts, für Religion, Bildung und Freiheit es in frühern Jahrhunderten gut war, daß der Bischof von Rom sich zum ersten Hirten erklärte, und ein geistliches Reich gründete. Daß aber späterhin die christliche Kirche daran verfallen ist, leidet wohl keinen Zweifel. Der Bischof und Priester war nun nicht mehr ein schlichter Lehrer des Worts und Nachahmer der Apostel, sondern er war zuerst Diener seines geistlichen Oberherrn, der im Kampf der Zeiten vorerst nur sich bedenken mußte und seine Gewalt, indem er der Religion nur zukommen ließ, was jener nicht hinderlich sein mochte. So geschah es, daß, als die stillen Leute in Alby sich in ihren waldigen Tälern versammelten, und sich den Mißbräuchen und willkürlichen Satzungen, sowie der Verderbnis der Pfaffen entziehen wollten, man sie als Ketzer verfolgte, die den römischen Stuhl und also das Christentum stürzen wollten. Gab es damals noch die freie unabhängige Kirche der Bischöfe, so fanden diese erleuchteten Gemüter Schutz und Frieden; man ließ sie auf ihre Weise in Bethäusern mit ihren Priestern Gott dienen, statt daß man jetzt einen Kreuzzug gegen sie predigte und noch das unschuldige, gräßlich vergossene Blut von dort zum Himmel schreit. Wäre nicht damals schon die päpstliche Hierarchie und Christentum ein und dasselbe gewesen, so wären wohl aus diesen Gebirgen Reiniger der Kirche und große Priester hervorgegangen. Schon damals verbreitete sich auch in unsern Bergen jene Lehre, und als die päpstliche Herrschaft zusammenbrach, fanden Calvins Schüler schon seit lange alle Gemüter unterrichtet und vorbereitet. Diese Glaubensweise ist hier so naturgemäß und heilig, wie es die deinige in andern Gegenden sein mag, und sie zerstören wollen durch Verfolgung ist nur dem möglich, der den schönen und mannigfaltigen Sinn des Christentums verkennt, ja er erscheint mir selbst wie ein Empörer gegen diese Religion der Liebe. Seit Luther und Calvin wütete fast ein hundertjähriger Bürgerkrieg in allen Provinzen; teuer sollte diese kostbare Freiheit bezahlt werden, die Päpste und Bischöfe widerrechtlich dem Menschengeschlecht entrissen hatten. Aus dieser Nacht leuchtete endlich unser Heinrich der Vierte hervor und senkte die Palme des Friedens auf seine Länder. Durch das Edikt von Nantes ward endlich die Glaubensfreiheit durch den königlichen Eid, durch das Einstimmen des Parlaments, durch die Einwilligung aller Stände und Provinzen gesichert, sein Nachfolger erneuerte diesen Schwur, und unser Herrscher, der vierzehnte Ludwig, konnte nur unser König sein, indem er über katholische und auch evangelische Untertanen herrschen wollte: so versicherte uns auch sein Eid, den er für sich und seine Nachkommen wiederholte. Lange Jahre herrschte er mit Ruhm und Glück, nun aber, im Alter, von abergläubischen und herrschsüchtigen Gemütern umgeben, nun da sein glänzender Stern längst untergegangen ist, jetzt da das Land erschöpft und arm, da seine Heere geschlagen sind, da die Feinde die Grenze, ja selbst die Hauptstadt bedrohen, da Deutschland, England und Holland, hier in der Nähe Savoyen, uns mit dem schlimmsten Unheil dräuen – nun erwacht sein Gewissen, er meint, den Himmel und das Guck zwingen zu können, wenn nur katholische Untertanen ihn König nennen, er sendet – unbegreiflich verblendet – Bekehrungsapostel in die Gebirge; und Drohung, Zwang, Mord und Raub sind die Ermahnungen, die an die Armen ergehen. Nun, wir haben ja in unserer Nähe diese Schrecken gesehn, und so begeistert du für deine Partei bist, mein Sohn, so weiß ich doch, daß dein menschliches Herz mehr wie einmal davon zerrissen war. Plötzlich – und konnte er es, frage dich selbst, ob er es durfte? – nimmt der König jenes Edikt zurück, und löst willkürlich seinen Schwur, ohne zu fragen, zugleich den Schwur der Vorfahren und der Parlamente, aller Landesstände. Er selbst zerreißt im frommen Wahnsinn, was ihn an den Bürger bindet, den Untertan ihm verknüpft; das heilige Palladium, das Unantastbare ist entweiht, vernichtet, und der Wut, dem Morde, der fürchterlichsten Raserei des Blutdurstes sind die armen Gebirgsbewohner preisgegeben. Der stille Weber, der Hirt, der fromme Ackerbauer, der noch gestern ein ehrbarer Christ, ein geachteter Bürger, ein guter Untertan war, ist durch die Zurücknahme des Ediktes, ohne daß er nur etwas gefehlt hätte, heut ein Empörer, eins Geächteter, den Rad und Scheiterhaufen erwarten, gegen den alles, auch die wildeste, verworfenste Grausamkeit erlaubt ist. Seine Tempel werden verschlossen und geschleift, seine Priester vertrieben und ermordet; er begreift sein Unrecht nicht und fühlt nur sein Unglück; es erhebt sich in der Seele Tiefe jener Geist, der sich seiner ewigen, unverlierbaren Rechte erinnert, und wieder ist Krieg da und gegenseitiger Mord; nun hetzt sich Grimm an Grimm, das Leben wird wohlfeil, Marter wird Lust, und wenn es böse Feinde gibt, so müssen sie von den Zinnen der Gebirge schadenfroh in dies unselige Gemetzel hohnlachen, wo von Liebe, Gottesfurcht, Demut wohl auch die letzte Spur mit rauchendem Blut verdeckt ist. Meinst du nun, ich müsse so Christ sein, um die Greuel meiner Partei zu rechtfertigen, oder so Untertan, um diesen Henkersknechten des Marschalls meine Hand zu bieten: so ist unsre Ehrfurcht vor dem Könige, sowie unsre Anbetung Gottes freilich unendlich verschieden.«

 

Edmund hatte ohne Zeichen der Unruhe dieser langen Rede seines Vaters zugehört, endlich sagte er tiefseufzend: »Wir stehen also an zwei verschiedenen Ufern, ein breiter Strom zwischen uns; ich fasse Ihre Gesinnung so wenig, daß ich davor erschrecke, denn sonach möchte unsre heilige Religion nun immerhin in leerem Wahn eines jeden Toren verschwinden, der frech genug ist, sich zum Lehrer aufzuwerfen, und geschickt genug, den unwissenden, neuerungssüchtigen Pöbel zu verführen: so möchte denn das heilige Gebäude des Staates, mit seinem vom Himmel selbst geweihten Stellvertreter, nur immerhin in den Staub sinken, wenn jeder Unzufriedene es wagen darf, grade die Rechte, wegen welcher der König König ist, ihm wegzustreiten und, wenn er Gelegenheit findet, zu rauben. So komme denn Chaos und Anarchie, und bringen sie die grimmigen Hunde des Mordes, der Rachsucht und Schwert und Feuer mit sich, um die Freunde der Krone, um den Adel und die Priester zerfleischend zu morden. O mein Vater, nur dahin führet Ihre Lehre. Kann mein König mir nicht mehr mein sichtbarer Gott auf Erden sein, dem ich mein ganzes Herz mit allen seinen Trieben blind und unbedingt unterworfen, kann ich nicht glauben, daß ihm die Verantwortung einzig obliegt, so kann ich weder handeln, noch denken. Soll meine Kirche, für welche unzählige Wunder und Tausende der erhabensten Geister sprechen und sie bewähren, irgendwo einer aus dem Winkel gekrochenen armseligen Gemeinde von gestern, die mit grobem Trug und Aberwitz das gemeine Elend ihrer Verächtlichkeit decken und putzen will, weichen – – nein, so möchte ich so gut zu den blödsinnigen Heiden am Nordpol flüchten und mich ihnen in dumpfer Gläubigkeit anschließen.«

 

»Wunder?« rief der Alte aus, »und was nennst du denn Wunder? Das blöde Auge sieht sie nicht, eben weil sie zu groß und zu gewaltsam sind. Daß dieses arme Volk, das schon zufrieden war, wenn es oft nur sein kümmerliches trocknes Brot hatte, das hinter seinen Bergen jeden Beamten und Offizier wie eine Gottheit verehrte – daß dieses es wagte, dem Intendanten, dem Marschall mit seinem Heere und dem Könige selbst Trotz zu bieten – daß es dieser gemeine arme Mann vermag, für seine Lehre Weib, Kind, Leben zu opfern und unter Martern zu sterben: ist denn dieses kein Wunder? Eine arme Rotte, ohne Erziehung und Waffen, ohne je den Krieg gesehn zu haben, von Burschen geführt, die kaum wissen, was ein Schwert sei, schlagen regulierte Truppen und bekannte Anführer in mehr als einem Gefechte, und zuweilen einer gegen vier – ist das kein Wunder? – Wie, wenn diese Empörer, wie sie freilich sind, nun auch darauf die Wahrheit ihrer Lehre begründen wollten; was könntest du ihnen entgegensetzen?«

 

»Nennen Sie doch lieber«, sagte Edmund mit Bitterkeit, »auch ihre Propheten, ihre Verzuckungen, ihre abgeschmackten, krampfhaften Verzerrungen, die die Kinder schon von den Alten lernen, und mit dem Namen Gottes im Munde so plump lügen und betrügen.«

 

»Mein Sohn«, sagte der Vater seufzend, indem er dem Jüngling mit Rührung in die dunkeln Augen schaute: »in aller aufgespannten Leidenschaft wird der Mensch in ein unerklärliches, aber meist schreckliches Wunder verwandelt; dann wird leider oft wahr und sein eigenstes Wesen, was die wildeste Phantasie selbst nicht rasender ersinnen könnte. Hüte sich jeder vor diesen Zuständen, noch weniger suche er sie, wie du tust, Edmund; dein Feuer wird dich verzehren. Geh nicht so oft zum Fräulein von Castelnau hinüber; dies nährt deine Schwärmerei und richtet dich zugrunde.«

 

Edmund verließ schnell, und ohne ein Wort zu sagen, den Saal. Der Alte sah ihm seufzend nach und sprach zu sich: leidenschaftliche Liebe und Bigotterie, von einem enthusiastischen Weibe genährt, was können sie noch in dieser Jugend und in unsern Tagen aus dem Armen machen? Wer weiß, welch Elend mir noch bevorsteht.

 

»Um Gottes willen, gnädiger Herr«, stürzte der alte Franz herein, »– was ist es doch mit unserm Sohn? da rennt er ohne Hut drüben den Weinberg hinauf, und das Gewitter ist ganz nahe. Ach, wenn Sie ihn doch lieber nicht ausgescholten hätten! Er läßt doch nun einmal von der Frauensperson nicht!«

 

»Woher weißt du«, fragte der Vater, »daß von der die Rede gewesen ist?«.

 

»Er lief an mir vorüber«, erzählte Franz, »und sah mich mit dem ganz eigenen grimmigen Blick an, den er immer nur hat, wenn man von Fräulein Christine etwas sagt; so stampft er auch nur alsdann mit den Füßen; er hat dort den Apfelbaum umgerissen, und seinen Hektor, der ihm nachlief, mit dem Fuß zurückgestoßen, was er sonst nie tut; unser Edmund tut sich noch einmal ein Leid an.«

 

»Gott wird über ihn wachen«, sagte der Vater; da fuhr aus der finstern Wetterwolke ein roter Blitz nieder und erleuchtete seltsam die Weingebirge umher, gleich darauf erkrachte ein so ungeheurer Schlag, daß das ganze große Haus zitternd erdröhnte. Hektor schmiegte sich an Franz, und die kleine Eveline rannte mit nachflatternden blonden Locken zur Saaltür herein, indem gleich hinter ihr ein Platzregen rauschend niederstürzte.

 

Man sah mit großer Eil allenthalben die Herden zusammentreiben; die Hirten schrieen, die Hunde bellten, und zwischen den Schlägen des Ungewitters brausten die Bäume; die Bäche liefen lautrieselnd die Hügel herunter, und auf das Dach des Hauses schlug der Regen mit starkem Gerassel. Martha fing aus dem obern Stockwerk an laut zu singen; bald darauf hörte man Pferdegetrappel und eilige Fußtritte. Die Tür öffnete sich und herein traten drei Männer, von denen der vordere, welcher vom Pferde gestiegen war, sich mit diesen Worten an den Eigentümer des Hauses wandte: »Not kennt kein Gebot! das Sprichwort, Herr Parlamentsrat, hat wohl recht, denn sonst hätte ich nicht gewagt, eine ehemalige Bekanntschaft so ungestüm zu erneuern: ich bin der Pfarrer von St. Sulpice, hinter St. Hippolite, und bin so dreist, bei dem gräßlichen Unwetter hier in der einsamen Gegend Ihr Obdach auf ein Stündchen anzusprechen.«

 

»Sie sind mir willkommen, mein Freund«, sagte der Parlamentsrat, »so wie die übrigen Herren; ein Feuer soll Sie erwärmen und trocknen, und Sie tun besser, heut abend hier zu bleiben, denn das Unwetter wird gewiß bis zur Nacht währen, wie es in hiesiger Gegend gewöhnlich geschieht.«

 

Franz und ein andrer Diener hatten schon ein Feuer in dem großen Kamin angezündet und die Fremden näherten sich der wohltätigen Flamme, um ihre Kleider zu trocknen, indes der Pfarrer den Diener bat, für seinen Klepper Sorge zu tragen. Die beiden andern Fremden hatten nur durch stumme Verbeugungen ihre Verehrung dem Parlamentsrate bezeigt und ihre Bitte vorgetragen, während die kleine blonde Tochter die augenblickliche Verwirrung benutzte, um sich den Gästen zu nähern und sie neugierig zu prüfen. Der eine schien ein Jäger, denn er trug grüne Kleidung, einen Hirschfänger und Büchse, die er sorgfältig, weil sie geladen war, auf den Kamin legte. Indes alle diese verschiedenen Anordnungen getroffen wurden, hatte Eveline schon mit dem dritten Fremden, der ihr der liebste schien, auf ihre Weise eine Bekanntschaft angeknüpft; sie reichte ihm ihr Tuch, sich den Regen vom Gesichte zu trocknen, sie bot ihm einige Früchte, die er lächelnd ausschlug, und nachdem sie ihn lange angesehen hatte, sagte sie zu ihm: »Wo hast du denn deinen Hut gelassen?« – »Den hat mir draußen auf dem Felde der Sturm genommen«, sagte der fremde junge Mensch, »und ihn weit, weit hinweggejagt, so daß ich ihn nicht wieder fangen konnte.«

 

»Das muß lustig gewesen sein«, sagte Eveline lachend: »du hinter dem Hut her, der Sturm hinter dir, der Regen hinter dem Sturm; den Hut hast du nicht bekommen, aber Regen und Sturm haben dich eingeholt.«

 

Herr von Beauvais näherte sich und fragte: »Du unterhälst schon den Fremden?« – »Sieht er nicht«, rief das Kind, »so gut und freundlich aus, wie der Schulmeister im Dorf, der mich lesen lehrt, der aber mit den jungen dünnen Beinen so früh hinken muß?«

 

»Sei recht artig, mein Kind«, sagte der Rat freundlich, indem er ihr die blonden Locken aus der Stirn strich. Er betrachtete unter Begrüßungen ebenfalls seinen Gast, der wirklich kaum noch sechszehn oder siebzehn Jahre zu haben schien, er war etwas unter der gewöhnlichen Größe, von schwächlichem Körperbau, aber, wie die Tochter gesagt hatte, im Blick und Ausdruck des Gesichts die Freundlichkeit selbst; ein leichtes Rot färbte die schmalen Wangen, das Auge war hellblau und bekam durch einen Flecken auf dem rechten Augenlide einen sonderbaren Ausdruck, kurze blonde Haare lagen schlicht und dicht an der hellweißen, glänzenden Stirn, seine Stimme hatte etwas Mädchenhaftes durch ihre Höhe; und nach seinen Gebärden und dem verschämten Wesen hätte man ihn leicht für eine verkleidete Jungfrau halten können.

 

»Ich komme heut vom Pont du Gard herüber und wollte noch nach Montpellier, als mich dieses Unwetter zum Glück dicht vor Ihrer Tür überraschte, Herr Parlamentsrat«, sagte der Pfarrer, indem er sich wieder näherte. »Ich muß gestehn, daß ich nicht geglaubt hätte, ein solcher Bau, wie diese Wasserleitung, sei möglich, wenn mich nicht jetzt meine Augen überzeugt hätten. Ich zweifle, daß das Coliseum in Rom, oder die ungeheure Peterskirche dort, so großen Eindruck auf mein Gemüt machen könnten, wie diese majestätisch übereinander gewölbten Bogen und Säulen, die so kühn und leicht zwei entfernte Berge miteinander verbinden.«

 

»Wer dieses Wunderwerk alter Zeiten noch nicht sah«, sagte der Parlamentsrat, »muß jede Erzählung davon für übertrieben halten; und so werden Sie es, Herr Pfarrer, vielleicht auch nicht glauben, daß es immer größer wird, je öfter man es sieht, daß man sich nie daran gewöhnt, ohngeachtet gleich der erste Anblick so wohltuend befriedigt, und im Gefühle des Erhabenen die schönste Behaglichkeit uns umfängt. So muß es aber wohl mit allem echten Großen sein.«

 

»Diese heidnischen Römer«, sagte der Pfarrer, »haben darin viel geleistet und müssen uns immer noch zu Lehrern dienen. Auf dem Wege hieher habe ich aber vor dem Gewitter rechtschaffen schießen hören.«

 

»Sie liegen sich heut wieder in den Haaren«, sagte der Jäger, »die Camisards und die königlichen Truppen; heute aber sollen die Hugenotten ganz und gar verspielt haben.«

 

»Wie das?« fragte der Rat.

 

»Ich hörte jenseit dem Wasser – gottlob, daß ich herüber bin! – sie hätten Catinat und Cavalier gefangen, und nun würde es wohl mit dem ganzen Kriege aus sein. Schade um Herrn Cavalier, sag ich, wenn sie ihn auch so totmachen täten, wie manchen andern.«

 

»Warum schade?« fuhr der Pfarrer auf. »Was verdient der Rebell denn anderes? Ihr seid wohl auch ein Anhänger der neuen Lehre?«

 

»Nein, Herr Pfarrer«, sagte der Jäger, »ich war im Lande einer der allerersten, die sich von den Herrn Dragonern bekehren ließen. Sie kamen in des Königs Namen, und – des Brot ich esse, des Lied ich singe – freundlich waren sie nicht sonderlich; dreißig im Dorf wurden totgeschlagen: ›Hund!‹ hieß es, ›den reinen Glauben, oder krepiere!‹ – ›Warum denn so barsch‹, sagte ich, ›ich bin gar nicht gegen den Glauben eingenommen, nur könnt ihr's doch wohl ein bissel freundlich von euch geben.‹ So schlug ich denn in mich, wie ich die greuliche Wirtschaft sah, und diene jetzt bei einem echt katholischen Herrn, dem Intendanten von Basville. Ich meine nur, um den Cavalier sei es schade, denn der ist gut, und hat schon manchem braven Offizier was auf zuraten gegeben.«

 

»Das muß wahr sein«, sagte der Pfarrer begütigt, »er ist der einzige unter den Rebellen, der es versteht, die Sache zu führen; unerschrocken wie ein Löwe, großmütig, immer kaltes Blut, weiß vortreffliche Dispositionen zu machen, ist menschlich gegen die Gefangenen, ist zum Helden und Anführer geboren, und um so mehr zu bewundern, weil er hinter den Schweinen groß geworden ist. Durch ihn bin ich um meine Pfarre gekommen, und treibe mich jetzt hier in der Camargue, Nismes und Montpellier herum, um eine andre Stelle zu erlangen.«

 

»Wie ist das, mein Herr?« fragte der Rat. –