Barry Jonsberg
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DAS BLUBBERN
VON GLÜCK
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Aus dem Englischen
von Ursula Höfker
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2014
© 2013 by Barry Jonsberg
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem
Titel »My Life as an Alphabet« bei
Allen & Unwin, Australia
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Ursula Höfker
Umschlaggestaltung: Geviert, Michaela Kneißl,
unter Verwendung einer Illustration von © Shutterstock/Apolinarias
SK · Herstellung: KW
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-13015-2
V004
www.cbt-buecher.de
Für Janet und Steve
A
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STEHT FÜR AUFSATZ
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A steht für Aufsatz.
Ich bin aufgeregt. Miss Bamford ist meine Englischlehrerin und sie ist die beste Lehrerin auf der Welt.
Warte. Falsch. Noch mal von vorn. Ich hatte (logischerweise) noch nicht mit sämtlichen Lehrern auf der Welt zu tun. Da ich ein großer Fan von Genauigkeit bin, muss ich meine Aussage präzisieren. Exakter ist es, wenn ich sage, dass sie die beste Lehrerin ist – was mich anbelangt.
Miss Bamford ist klein und zwischen dreißig und sechzig Jahre alt. Ich versuche grundsätzlich nicht, das Alter von Leuten zu erraten. Im Interesse der Genauigkeit habe ich sie einmal danach gefragt, doch sie wollte es mir nicht sagen. Sie trägt lange, formlose Kleider, sodass es schwierig ist, eine Aussage über ihre Figur zu machen. Aber wahrscheinlich ist sie schlank. Das einzig Unverwechselbare an Miss Bamford ist ihr Kullerauge. Es ist das rechte und es kullert unkontrolliert herum wie eine Murmel. Diese mangelnde Kontrolle verwirrt viele meiner Mitschüler. Manchmal schimpft Miss Bamford mit einem Schüler, und man kann wegen ihres Kullerauges nicht genau sagen, wen sie meint. Ein Auge hüpft wie verrückt auf und ab und das andere blickt finster auf einen nicht genau zu bestimmenden Ort.
Douglas Benson – er ist mein Freund in Englisch – hat einmal gesagt, dass das Kullerauge hyperaktiv sei und Ritalin nehmen sollte. Als ich Miss Bamford von seinem Vorschlag berichtete, flitzte ihr Auge noch hektischer als gewöhnlich hin und her. Du glaubst jetzt vielleicht, dass Douglas und ich in Schwierigkeiten geraten wären deshalb. Sind wir aber nicht. Ich erzähle dir später mehr darüber.
Zum Aufsatz.
Es ist ein Erlebnisbericht. Miss Bamford hat das Wort an die Tafel geschrieben.
ERLEBNISBERICHT: Schreibe über etwas, das du in der Vergangenheit erlebt hast.
Etwas, das ich bereits erlebt habe, MUSS logischerweise in der Vergangenheit stattgefunden haben, und ich wollte Miss Bamford darauf hinweisen, doch sie ignorierte mich und erklärte weiter, was sie von uns wollte. Wir sollen zu jedem Buchstaben des Alphabets einen Absatz über uns selbst schreiben. Sechsundzwanzig Absätze insgesamt und jeder beginnt mit einem anderen Buchstaben des Alphabets, von A bis Z. Sie gab uns ein Beispiel:
A steht für Albright. Ich wurde in Albright geboren, einer australischen Kleinstadt ungefähr vierzig Kilometer von Brisbane im Staat Queensland entfernt. Da in Albright nicht viel los ist, wurde meine Geburt ganz groß gefeiert. Die Leute tanzten auf den Straßen und zwei Nächte hintereinander gab es ein Feuerwerk. Danach fiel die Stadt wieder in einen tiefen Schlaf. Vielleicht hält sie aber auch nur den Atem an und wartet darauf, dass ich noch irgendetwas Interessantes tue …
Ich habe Miss Bamfords Beispiel in mein Englischheft geschrieben. Unsere Schule ist in Albright, weshalb ich davon ausgehe, dass sie den Schauplatz ihres Beispiels extra dorthin verlegt hat. Was mir nicht gefiel, waren die falschen Behauptungen. Niemandes Geburt sorgt schließlich für so viel Aufregung. Das gibt es einfach nicht. Ich hob die Hand, um meine Zweifel anzumelden. Aber Miss Bamford ist unter anderem deshalb eine so gute Lehrerin, weil sie genau weiß, was ich fragen will, noch bevor ich die Frage gestellt habe.
»Candice, in einem Erlebnisbericht ist es völlig in Ordnung, wenn man es mit der Wahrheit nicht ganz genau nimmt. Die Wahrheit ist manchmal zu langweilig, als dass man einen Leser damit unterhalten könnte. Und eure Aufgabe bei diesem Aufsatz besteht darin zu unterhalten. Wir haben bereits darüber gesprochen, erinnerst du dich?«
Ich erinnerte mich, und ich hätte ihr Argument auch gelten lassen, wenn die Rede von einer Erzählung gewesen wäre. Aber meiner Ansicht nach muss sich ein Erlebnisbericht an die Tatsachen halten. Sonst hätte sie es eine Erlebniserzählung nennen müssen. Ich ließ meine Hand oben, doch ich glaube, sie hat es nicht gesehen. Bei ihrem Auge ist das schwer zu sagen. Jedenfalls hat Jen Marshall dazwischengerufen.
»Ja, halt die Klappe, Ile«, rief sie, obwohl ich überhaupt nichts gesagt hatte.
Etliche Mädchen (und Jungen) an meiner Schule nennen mich Ile. Das ist eine phonetische Wiedergabe von I.LE. und dies wiederum ist die Abkürzung für Individuelle Lernförderung. Viele Leute glauben, ich hätte eine Lernstörung, doch das stimmt nicht. Ich habe Jen einmal einen Zettel geschrieben, dass jeder Mensch ein Individuum ist und auch jeder Mensch gefördert werden sollte. Mit ihrer Beleidigung (denn als solche war es gedacht) liege sie deshalb vollkommen daneben. Sie hat mich nur finster angeblickt, ihr Kaugummi gekaut und den Zettel in kleine Fetzen gerissen. Wenn ich ehrlich sein soll – und ich muss ehrlich sein, ich kann gar nicht anders –, muss ich zugeben, dass Jen Marshall nicht »das hellste Licht im Hafen« ist, wie mein reicher Onkel Brian es ausdrücken würde. Aber das ist nicht ihre Schuld. Und sie ist sehr, sehr hübsch. Deshalb mag ich sie. Aber ich mag fast alle, wie Mum oft feststellt.
»Ruhe!«, blaffte Miss Bamford.
»Verzeihung, Miss, reden Sie mit mir?«, fragte Jen, und alle lachten. Nein, nicht alle. Miss Bamford nicht. Deshalb nur fast alle.
In der Mittagspause ging ich in die Bibliothek, um mit meinem Aufsatz anzufangen. In Freistunden und in der Mittagspause gehe ich oft in die Bibliothek, weil es dort so friedlich ist und die Bibliothekarinnen mir das Gefühl geben, willkommen zu sein. Ich habe meinen eigenen Platz, den sie für mich frei halten. Sie haben nicht einmal etwas dagegen, wenn ich gelegentlich dort ein Sandwich esse, obwohl die Vorschriften es eigentlich verbieten. Ich mache es auch nicht oft, denn Vorschriften sind wichtig. Also setzte ich mich auf meinen Platz und dachte über den Aufsatz nach. Ein Absatz zu jedem Buchstaben und jeder Absatz soll etwas aus meinem Leben beschreiben. Bei ein paar Buchstaben würde es schwierig werden. Beim Q zum Beispiel. Und beim X. Ich habe nie Xylofon gespielt, das kommt also nicht infrage. Aber ich beschloss, mir darüber später Gedanken zu machen. Jetzt war erst einmal das A dran.
Doch je länger ich darüber nachdachte, desto kniffliger erschien mir die Aufgabe. Ich wollte Miss Bamford ja gern etwas über mein Leben erzählen, aber mit einem Absatz pro Buchstaben kam ich einfach nicht hin. Und da hatte ich eine supertolle Idee. Ich würde nicht nur einen Absatz schreiben. Ich würde zu jedem Buchstaben mehrere Absätze schreiben. Achtzehn Absätze habe ich bereits geschrieben (diesen hier nicht eingeschlossen) und ich habe mit meinem Leben noch nicht mal richtig angefangen. Wenn dies der ganze Aufsatz wäre, wäre ich jetzt bei R und niemand wüsste etwas über das Leben von Candice Phee. Merkst du was? Ich habe achtzehn Absätze (achtzehneinhalb, um genau zu sein) gebraucht, nur um dir meinen Namen zu verraten. Und ich will gründlich vorgehen. Denn hier geht es nicht nur um mich. Es geht auch um die anderen in meinem Leben – meine Mutter, meinen Vater, meine tote Schwester Sky, meine Brieffreundin Denille, meinen reichen Onkel Brian, Erdferkel-Fisch und Douglas Benson aus einer anderen Dimension. Das sind Menschen (mit Ausnahme von Erdferkel-Fisch, der ein Fisch ist), die mich geprägt haben, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Ich kann nicht über mein Leben berichten, ohne gleichzeitig über sie zu berichten.
Ich stehe vor einer großen Aufgabe, doch ich bin zuversichtlich, dass ich ihr gewachsen bin.
Es wird Zeit brauchen (wovon ich genug habe). Es wird Ausdauer brauchen (wovon ich ebenfalls genug habe).
Ich habe jetzt schon Bedenken, dass ich vielleicht keinen richtigen Anfang gefunden habe. Deshalb werde ich den ersten Brief abschreiben, den ich an meine Brieffreundin Denille geschickt habe. Ich fertige Kopien von allen Briefen an, die ich Denille schreibe, damit ich mich nicht wiederhole und sie langweile. Denille wohnt in Amerika. In New York City. Eine meiner Lehrerinnen an meiner Schule bekam eine Mail von einer befreundeten Lehrerin in New York. Die befreundete Lehrerin war auf der Suche nach Schülern, die Brieffreundschaften mit Schülern ihrer Klasse führen wollten. Das Ganze ist ein Projekt zum Kennenlernen anderer Kulturen. Ich bekam Denille zugeteilt. Ich habe ihr im letzten Jahr zwanzig Briefe geschrieben. Alle zwei Wochen einen. Das ist der erste. Er erzählt Denille etwas über mich, und das ist gut, da er auch dir etwas über mich erzählt. Es ist ein informativer Anfang.
❊ ❊ ❊
Liebe Denille,
ich heiße Candice Phee und bin zwölf Jahre alt. Ich gehe in Albright zur Schule, einer Kleinstadt einundvierzigeinhalb Kilometer von Brisbane im Staat Queensland entfernt. Ich nehme an, du kennst dich mit Kilometerangaben nicht aus, weil Entfernungen in Amerika in Meilen gemessen werden. Einundvierzigeinhalb Kilometer sind fast sechsundzwanzig Meilen, nehme ich mal an. (Ich habe »nehme ich mal an« geschrieben, weil ich gelernt habe, dass dieser Satz in den Vereinigten Staaten ausgesprochen oft und gern gebraucht wird. Du siehst, ich versuche mich anzupassen.)
Zurück zu mir. Ich bin durchschnittlich groß für mein Alter, weißt du (»weißt du« ist ein weiterer Versuch, mich sprachlich anzupassen), und ich habe langes, schmutzig blondes Haar. Schmutzig bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass ich es nicht wasche, denn das tue ich. Jeden Tag. Es hat eher etwas mit seiner natürlichen Farbe zu tun, die es, wenn ich ehrlich bin, so aussehen lässt, als würde ich es nicht jeden Tag waschen. Was ich tue. Ich habe Sommersprossen. Überall im Gesicht und am Körper. Ich kann nur in die Sonne gehen, wenn ich mich mit einer Creme mit Lichtschutzfaktor tausend eincreme. Dir ist hoffentlich klar, dass ich um des rhetorischen Effekts willen bewusst übertreibe. Mein Dad meint, ich sollte nur mit einer Ganzkörperrüstung in die Sonne gehen. Auch er mag Übertreibungen. Ich habe auffallend blaue Augen. Einige Leute behaupten, sie seien das Schönste an mir. Eigentlich ist es meine Mum, die behauptet, sie seien das Schönste an mir. Sie sagt, sie seien wie Kornblumen (nicht zu verwechseln mit der Kornähre, die gelblich braun ist und aus der man Mehl macht).
Ich hatte eine Schwester, aber sie starb. Ihr Tod hat mich zu einem Einzelkind gemacht.
Ich mag nicht viel von dem, was anderen Zwölfjährigen gefällt. Computer interessieren mich nicht. Die meiste Musik finde ich langweilig. Ich habe kein Handy, da schon im wirklichen Leben kaum jemand mit mir spricht. Weshalb sollte mich dann jemand anrufen oder mir eine SMS schicken? Ich mag nur Filme, die mich zum Weinen bringen. Ich habe keine Freunde, die sich für meine Freunde halten. Außer Douglas Benson aus einer anderen Dimension, von dem ich dir in einem späteren Brief erzählen werde. (Ich mache es spannend.)
Wie ist es so, Amerikanerin zu sein? Ich kenne Amerikaner nur aus dem Fernsehen (noch etwas, das mich nicht besonders interessiert), und mir scheint, Amerikaner zu sein, ist sehr schwer. Dad behauptet, Amerikaner seien arrogant, engstirnig und wüssten nicht, welche Länder im Süden oder Norden von ihnen liegen. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt (doch falls es stimmt, lautet die Antwort: Mexiko und Alaska). Die Fernsehshows, die ich gesehen habe, vermitteln den Eindruck, als seien Amerikaner oberflächlich und als gäbe es nichts Wichtigeres für sie als ihr Image. Bist du oberflächlich? Gibt es für dich nichts Wichtigeres als dein Image?
Albright ist nicht New York, auch wenn ich nicht weiß, wie New York ist. Es ist ein verschlafenes Nest. Ich habe gehört, dass New York nie schläft. Wir passen also gut zusammen. Mit deiner Stadt, die nie schläft, und meiner, die ständig schläft, sind wir wie Yin und Yang.
Schreib bitte bald zurück. Ich freue mich sehr darauf, von dir zu hören.
Deine Brieffreundin
Candice
❊ ❊ ❊
Ich habe nie eine Antwort auf diesen Brief erhalten. Tatsächlich habe ich auf keinen der Briefe, die ich Denille geschrieben habe (einundzwanzig bis jetzt), jemals eine Antwort erhalten. Das hat mich schon gewundert. Entweder Denille ist umgezogen und hat vergessen, dem Postboten ihre neue Adresse mitzuteilen, oder sie ist zu beschäftigt, um zurückzuschreiben. Ich vermute, Letzteres ist der Fall. Amerikaner sind viel beschäftigte Leute. Amerikaner aus New York müssen noch viel beschäftigter sein. Doch ich stelle mir gern vor, dass meine Briefe eine nette Abwechslung für Denille sind, weshalb ich ihr weiter schreibe, auch wenn sie nicht zurückschreibt.
Mein reicher Onkel Brian meint, es sei wahrscheinlich besser, wenn sie nicht antwortet. Er glaubt, dass ich dann auch nicht enttäuscht sein kann. Er kann es nicht haben, wenn ich enttäuscht bin.
B
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STEHT FÜR BEGINN
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Bei meiner Geburt war ich nicht dabei.
Dabei war ich schon, logisch, aber ich bin kein verlässlicher Zeuge, weil ich mich an rein gar nichts erinnere. Deshalb muss ich mich auf die Berichte anderer Anwesender verlassen. Es wäre wundervoll gewesen, hätten sich die tatsächlichen Zeugen meiner Geburt –
meine Mum
mein Dad (kein Zeuge im eigentlichen Sinn)
mein reicher Onkel Brian
die Hebamme
– zu irgendeinem Zeitpunkt zusammengesetzt und ihre Erfahrungen ausgetauscht. Das ist nie passiert. Zum einen war die Hebamme eine Krankenhausangestellte und stand für eine Familienrunde vielleicht nicht zur Verfügung. Zum anderen reden mein reicher Onkel Brian und mein Dad nicht mehr miteinander, und das aus Gründen, die sich noch erschließen werden (oder auch nicht). Aber ich habe irgendwann mit allen über dieses Thema gesprochen. Mit der Hebamme natürlich nicht. Ich weiß nicht einmal ihren Namen und muss sie somit leider außen vor lassen.
Vor ein paar Jahren habe ich Mum gefragt, wie das mit mir begann. Sie hatte einen guten Tag.
»Mum? Wie war es, als du mich geboren hast?«
Mum nippte an ihrem Tee und legte eine Hand über die Augen. Dafür gab es keinen besonderen Grund, weil wir im Wohnzimmer saßen und die Vorhänge geschlossen waren. Mum hat die Vorhänge oft geschlossen. Das Licht tut ihr in den Augen weh.
»Deine Geburt? Das war, wie wenn man einen Basketball abspielt.«
Das verwirrte mich einigermaßen. Ich dachte, sie meinte das Spiel, bei dem ein Spieler den Ball an einen anderen abspielt, damit der einen Korb werfen kann. Ich glaube, so nennt man das. Ich dachte, sie wollte damit ausdrücken, dass es Teamwork war. Ich schwieg dazu.
»Was möchtest du wissen, Pumpkin?«
Mum nennt mich aus mir nach wie vor unerfindlichen Gründen oft Pumpkin, was das englische Wort für »Kürbis« ist. Was immer ich zum Thema Spitznamen gelesen habe (viel ist es nicht), trägt kaum etwas zur Lösung des Rätsels bei. In Frankreich ist es üblich, jemanden »mon petit chou« zu nennen, was »mein kleiner Kohlkopf« bedeutet. Wenn du aus dem gallischen Sprachraum kommst, ist es also offenbar normal, jemanden liebevoll als ein grünblättriges Gemüse zu bezeichnen. Das ist schwer zu verstehen. Und Mums Kürbis zeigt, dass nicht nur die Franzosen so denken. Menschen unterschiedlicher ethnischer Abstammung scheinen die Welt herbstlicher Suppen beziehungsweise von Krautsalat-Zutaten mit Wärme und Zuneigung zu verbinden. Das ist seltsam. Aber viele Dinge sind seltsam und doch SIND sie. Was würde Jen Marshall sagen, wenn ich sie Spargel oder Chinakohl oder Kohlrabi oder Topinambur nennen würde? Sie würde mir eine runterhauen. Selbst wenn ich es liebevoll gemeint hätte. Vor allem wenn ich es liebevoll gemeint hätte. Ich habe meine Brieffreundin Denille einmal gefragt, ob es in den USA üblich sei, Zuneigung zu zeigen, indem man Leute zum Beispiel als Kartoffel bezeichnet, doch wie bereits erwähnt, hat sie nicht geantwortet, weshalb ich immer noch im Dunkeln tappe.
»Alles«, antwortete ich.
»Du warst eine schwierige Geburt.« Mum seufzte. »Ich lag achtzehn Stunden lang in den Wehen, und als du endlich kamst, war ich vollkommen erschöpft. Ich hatte mir geschworen, dass ich nicht schreien und brüllen würde. Ich war in sämtlichen Kursen zur Geburtsvorbereitung gewesen und hatte das Atmen und alle Entspannungstechniken geübt.« Sie rieb sich gedankenverloren die Stirn und schloss die Augen. »Doch als es so weit war, gingen alle meine guten Vorsätze den Bach runter. Ich habe geschrien. Ich habe gebrüllt. Ich habe um eine Epiduralanästhesie gebettelt. Ich musste mich mit deinem reichen Onkel Brian um das Lachgas streiten, so daneben war er.«
»Wo war Dad?«
»Er war geschäftlich in Westaustralien auf einer Konferenz. Du bist früher als geplant gekommen. Er dachte, er wäre rechtzeitig zurück. War er aber nicht. Nicht für die eigentliche Geburt. Als er ins Krankenhaus kam, warst du ungefähr drei Stunden alt.«
»Dann ist also mein reicher Onkel Brian in die Bresche gesprungen?«
»Ja. Er hat mir die Hand gehalten, während ich ihn lautstark beschimpft habe – und versucht habe, ihm das Lachgas wegzureißen. Dein Eintritt in diese Welt war begleitet von Schmerz, Blut und Tränen, Pumpkin. Es war ein brutaler Beginn.«
»War ich es wert?«
Mum öffnete die Augen. »Jede Sekunde, Pumpkin. Jede einzelne Sekunde.«
❊ ❊ ❊
Die Version meines reichen Onkels Brian hörte sich anders an. Er holte mich von der Schule ab und ging mit mir in ein Schnellrestaurant, wo wir etwas ohne Geschmack und Nährwert aßen. Das geschieht jeden Monat ein paar Mal. Ich knabberte an einem Beefburger zweifelhaften Ursprungs, während er aus dem Fenster schaute und mit Münzen in seiner Tasche klimperte. Mein reicher Onkel Brian tut das oft. Es ist eine nervöse Angewohnheit.
»Reicher Onkel Brian?«, begann ich.
Er schaute mich mit seinen hellen blauen Augen an und strich über seinen Schnauzbart. Auch das tut er oft. »Ja, Pumpkin?«
ROB mag Anspielungen auf Kürbisgewächse ebenfalls.
»Mum hat gesagt, ich sei unter Schmerz, Blut und Tränen in diese Welt gekommen. Sind das auch deine Erinnerungen an meine Geburt?«
Er runzelte die Stirn.«Nein, Pumpkin. Nein und nochmals nein.« Er griff über den Tisch und kitzelte mich zwischen den Rippen. Ich glaube, es war dieselbe Hand, die mit den Münzen geklimpert hatte. Ich erklärte ihm, dass Münzen die schlimmsten Krankheitsüberträger seien, weil sie im Laufe ihres Lebens so viele Besitzer haben, und dass ich es nicht angenehm fände, mit einer Hand gekitzelt zu werden, die Krankheiten überträgt. Er schien leicht verwirrt, hörte aber auf. »Es war die schönste Erfahrung meines ganzen Lebens«, fuhr er fort. »Du bist auf einem Meer der Liebe in diese Welt gesegelt. Du bist durch ruhiges Gewässer gefahren und fast ohne ein Wellenkräuseln in unseren Herzen vor Anker gegangen.« Er wollte wieder über den Tisch greifen, überlegte es sich jedoch anders. »Und dort bist du immer noch, mein süßer kleiner Matrose. In Liebe angedockt.«
Es gab eine Zeit, da war mein reicher Onkel Brian einfach nur mein Onkel Brian. Doch dann wurde er reich und kaufte eine Jacht. Seither benutzt er gelegentlich Begriffe der Seefahrt. Einige würden sagen, er übertreibt es damit. Es wundert mich, dass er mich nicht seine Seegurke nennt. Ich aß meinen Beefburger auf und verdaute seine Äußerungen. Was einfacher war, als den Beefburger zu verdauen.
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»Dad?«, begann ich. »Mum hat gesagt, ich sei unter Schmerz, Blut und Tränen in diese Welt gekommen. Mein reicher Onkel Brian dagegen sagt, ich sei über ruhiges Gewässer gefahren und in den Herzen aller vor Anker gegangen. Wer hat recht?«
Ich musste Dad auf die Schulter tippen, damit er seinen Kopfhörer abnahm. Er saß in seinem Büro im Schuppen. Dad verbringt eine Menge Zeit im Schuppen. Er geht um halb acht zur Arbeit und kommt frühestens um fünf zurück. Dad ist selbstständig. Er fährt einen weißen Lieferwagen, auf den er rechts und links »Bits & Bytes« schreiben ließ. Darunter ist ein Bild von irgendeinem elektronischen Ding zu sehen und daneben steht in kleineren Buchstaben: »Computer-Upgrades und -Reparaturen. Ich komme zu Ihnen«. Manchmal arbeitet er für die Stadtverwaltung, doch meist fährt er zu Privatleuten und repariert ihre Computer.
Wenn Dad nach Hause kommt, macht er sich sein Essen in der Mikrowelle warm (Mum liegt um diese Zeit gewöhnlich im Bett). Danach geht er manchmal mit seinem ferngesteuerten Flugzeug in den Park. Er liebt sein ferngesteuertes Flugzeug. Ihm gefällt, dass er alles, was es tut, kontrollieren kann. Er meint, das sei eine willkommene Abwechslung zum Rest seines Lebens. Doch wenn ich ihn bitte, mir das genauer zu erklären, schweigt er. Manchmal begleite ich ihn und beobachte das Flugzeug, wie es steil nach unten sinkt und sich im Slalom zwischen den Bäumen hindurchschlängelt. Es ist entspannend. Die meiste Zeit beobachte ich jedoch nicht das Flugzeug. Ich beobachte Dad. Er legt den Kopf in den Nacken, während er die Flugbahn verfolgt, und seine Hand bewegt sich schnell und sicher über die Fernsteuerung. Er redet nie dabei und seine Augen sind immer zum Himmel gerichtet.
Normalerweise sind Dads Muskeln verspannt, und seine Augen blicken traurig wie auf diesen Fotos von misshandelten Welpen, die man manchmal in Anzeigen des Tierschutzvereins sieht. Sie scheinen vor der Härte des Lebens resigniert zu haben, als sei schlechte Behandlung ein unausweichliches Schicksal. Doch wenn er fliegt … wenn er fliegt, entspannen sich Dads Muskeln, und sein Blick wird weicher. Dann sieht er aus wie jemand, der vollkommen mit sich im Reinen ist.
Doch meistens geht er nach der Arbeit in sein Büro im Schuppen. Es ist ein gemütliches Büro, obwohl es keine freien Flächen gibt, weil alles mit Computerteilen übersät ist. In einer Ecke steht ein Getränkekühlschrank. Dad trinkt oft ein Bier, während er etwas in einen seiner Computer tippt. Auf seinem Schreibtisch stehen zwei riesige Bildschirme. Ich habe keine Ahnung, wozu er zwei braucht. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was er die ganze Zeit dadrin macht. Manchmal macht es mir trotzdem Spaß, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Die Computer haben nicht dieselbe Wirkung auf ihn wie das Flugzeug. Vor ihnen hat er die Schultern hochgezogen und ein Fuß tippt ständig auf den Zementboden. Weshalb ich ihn eher weniger beobachte.
Eines seiner Geräte hat ein durchsichtiges Plastikgehäuse, in dem Lichter an- und ausgehen, und ich konzentriere mich darauf. Die Lichter leuchten rot, blau, orange und grün, und das in Mustern, die sich nie wiederholen. Es ist wunderschön und viel besser als Fernsehen.
Dad schaute mich an. Seine Kopfhörer baumelten wie seltsamer Schmuck von seinem Hals. »Dein Onkel Brian …«, sagte er.
Wenn ich mich besonders literarisch ausdrücken wollte, müsste ich wahrscheinlich »spuckte er aus« schreiben. Da ich jedoch keine Spucke sah, schlage ich mich lieber auf die Seite der Genauigkeit als die der Literatur.
Dad holte tief Luft und begann noch einmal: »Dein Onkel ist nicht unbedingt der glaubwürdigste Mensch auf dieser Welt.« Dad spricht von meinem reichen Onkel Brian nie als von seinem Bruder oder von Brian oder auch nur von reich. Er sagt immer nur »dein Onkel«. Sie haben eine Vorgeschichte.
»Ja, aber wie siehst du es, Dad?«, wollte ich wissen.
Er wandte den Blick ab und sein Fuß tippte einen noch schnelleren Rhythmus. »Ich war bei deiner Geburt nicht dabei, Candice«, antwortete er schließlich. »Ich kam zu spät.«
Dann setzte er seinen Kopfhörer wieder auf und bearbeitete weiter die Tastatur. Ich glaubte, ihn leise etwas von der rote Faden in meinem Leben murmeln zu hören, doch ich kann mich auch täuschen. Das kommt vor.
Dad ist ein Geheimnis für mich, aber er nennt mich wenigstens nicht nach einer Gemüsesorte, was eine willkommene Abwechslung ist.
Allerdings weiß ich jetzt immer noch nicht viel mehr darüber, wie alles mit mir begonnen hat. Wahrscheinlich habe ich nur eines dabei gelernt: dass Leute ein und dasselbe Ereignis höchst unterschiedlich sehen können. Für meinen reichen Onkel Brian war meine Geburt friedlich. Für Mum traumatisch. Dad erinnerte sie immer daran, dass er etwas verpasst hat.
B steht also für meinen Beginn. Ich wurde geboren. Das war’s.