Inhaltsverzeichnis
Einführung
Ich habe Theologie studiert. Ich würde immer wieder Theologie studieren, weil ich vieles lernen konnte, was meinen Geist weitete. Doch was ich suchte, fand ich in diesem Studium kaum. Was ich suchte? Die Gewissheit, dass Gott da ist, und sein fühlbares Ja zu mir, zur Welt, zum Leben. Ich suchte den Weg, der vom Wissen zur existenziellen Erfahrung führt. Und warum fand ich ihn nicht?
Zu großen Teilen lag es an der Sprache, die ich in den Hörsälen vernahm und bald auch selber zu sprechen begann. Welche Sprache ich meine? Die objektivierende, instrumentelle, die primär linear, rational, logisch, gedanklich, analytisch, detaillierend, trennend, zeitorientiert und abstrakt ist. Und welche hätte ich mir gewünscht? Die personale, mediale, die primär komplex, ganzheitlich, gefühlvoll, visuell-räumlich, intuitiv, zeitlos, bild- und symbolhaft ist. Ob allein diese Sprache mich zufriedengestellt hätte? Aus heutiger Sicht gewiss nicht. Denn beide Sprachformen haben ihr Recht und ihre Notwendigkeit, weil nur im Zusammenspiel die Wirklichkeit in ihren Polaritäten zum Ausdruck gebracht werden kann.
Was ich im Studium suchte, war eine Lebensveränderung durch eine ganzheitlich fühlbare Beziehung zu Gott. Doch wie kann eine Lebensveränderung überhaupt zustande kommen? Dadurch, dass sich ein Mensch von einer Einsicht betroffen fühlt und Gedanke und Gefühl ihn berühren, dadurch, dass beide Hirnhälften ausgewogen miteinander korrespondieren. Denn wenn ein Gedanke gefühllos bleibt, dringt er nicht zur gefühlvollen Wurzel des Wortes vor. Bleibt ein Gefühl gedankenlos, dringt es nicht zur Klarheit des Bewusstseins vor. Beides also, die Klarheit des Bewusstseins und das Betroffensein von der gefühlvollen Wurzel eines Wortes, sind Voraussetzung dafür, eine Lebensveränderung erfahren zu können.
Medien der existenziellen Umstellung sind das Wort und das Bild. Das Wort ist das Symbol des Gefühls, das Gefühl das Innere des Wortes. Es geht also darum, dass ein Mensch, der sich existenziell verändern will, im Wort von dessen Wurzel, dem Bild, berührt wird und im Bild das Wort findet, das dem Bewusstsein Klarheit verschafft.
Inzwischen sind über vierzig Jahre seit dem Abschluss des Studiums vergangen. Und schon lange arbeite ich nicht mehr als Theologe, sondern als Psychotherapeut und Mentor für Persönlichkeitsbildung.1 Doch die Frage nach der Brücke zwischen Wissen und Gewissheit ließ mich auch in meinem zweiten Beruf nicht los, nun allerdings ging es nicht mehr um die Brücke zwischen theologischem Wissen und existenzieller Aneignung, sondern zwischen psychologischem Wissen und existenzieller Aneignung.
Was ich damals suchte und nicht fand, ist das, was heute »Erfahrungstheologie« genannt wird. Gemeint ist damit die Versöhnung zwischen Theologie und Religion, also zwischen theologischer Reflexion und religiöser Erfahrung. Denn, so sagt es der Theologe und Publizist Heinz Zahrnt: »Die Religion ist nicht eine Tochter der Theologie, vielmehr die Theologie eine Dienerin der Religion. Und sie ist dies nicht, indem sie der Religion mit der Fackel vorausleuchtet, sondern indem sie ihr die Schleppe nachträgt. Das Erste ist die religiöse Erfahrung, das Zweite die theologische Reflexion, und die theologische Reflexion verhält sich zur religiösen Erfahrung wie die Landkarte zur Landschaft.«2 Woraus speist sich eine Erfahrungstheologie? Aus zwei Quellen: aus den biblischen Schriften und aus dem »Kontext der Welt«. »Zwischen diesen beiden Polen«, so Zahrnt, »schwingt die Erfahrungstheologie ständig hin und her; dabei bildet die Bibel den Grund, die Situation den Horizont der Gotteserfahrung«.3
Vor etwa achtzehn Jahren hörte ich das Wort »Imagination«. Ich wusste lediglich, dass es lateinisch mit »Bild« übersetzt wird und eine von C.G. Jung entwickelte psychotherapeutische Methode ist. Ich erlaubte mir, zunächst auf Lesestoff zum Thema Imagination zu verzichten,4 und begann mithilfe eines mir bekannten tapferen Arztes zu experimentieren (was ihm selbstverständlich bekannt war). Im Lauf der Zeit entwickelte sich daraus die Wertimagination. Um es gleich vorweg zu sagen: Es gibt nichts Aufregenderes, als in der inneren Welt jene »Bilder« wahrzunehmen, die für die Erfahrung des eigenen Lebens und des Lebens überhaupt wesentlich bestimmend sind. Und ich vermute, dass Wertimaginationen zu biblischen Texten kein geringer Beitrag zur Vertiefung der Praxis einer Erfahrungstheologie sein könnten, vor allem aber zur persönlichen Vertiefung der Beziehung zu Gott.
Nun möchte ich Sie zunächst, wenngleich in aller Kürze, mit den Grundlagen der Wertimagination bekannt machen, weil nur so die biblisch orientierten Wertimaginationen verständlich werden. Danach liegt mir daran, Ihnen meine »Theologie von innen« nahezubringen – so nenne ich in aller Stille die Grundlagen dieser Imaginationsform. Um auf die für manche Leser gewiss ungewöhnlichen Imaginationen vorzubereiten, lasse ich dann einige Teilnehmer der Sitzungen zu Worte kommen. Im dritten, dem Hauptteil, mache ich Sie mit der konkreten Arbeit bekannt, also mit biblischen Texten, die sich Teilnehmer unterschiedlicher sozialer und geistiger Herkunft in jeweils halbstündigen Wertimaginationen erschlossen haben. Die Texte selbst – sie begleiten mich persönlich seit mehreren Jahrzehnten – sind ohne Ausnahme Ausdruck der dem Verstand nur schwer nachvollziehbaren »Rede« Gottes, dass die Welt und ihre Menschen Grund haben zu einem freudvollen, starken, vor allem aber versöhnten Leben. Im letzten Teil werde ich die mir besonders wichtigen Erfahrungen zusammenfassen.
Zum Schluss: Auf vielen Seiten dieses Buches ist von »er« und »ihm« die Rede. Natürlich meine ich damit den Menschen, die Frau und den Mann.
Uwe Böschemeyer
Was sind Wertimaginationen?
1. Alle Imaginationen basieren »auf der assoziativen, sprachlich-dialogischen Tätigkeit unseres Denkens, die ständig in uns abläuft«.5 Das bedeutet: Im Unbewussten findet ein ständiges Gespräch statt, kein abstraktes, sondern ein bildhaftes. Das hat zur Folge, dass wir, wenn wir uns den inneren Bildern annähern, jene seelischen Prozesse wahrnehmen, die in uns ablaufen. Nicht nur das: Die Wahrnehmung, Deutung und Auseinandersetzung mit ihnen verschafft uns die Möglichkeit, auf die Bilder so Einfluss zu nehmen, wie es weder im Traum noch im Gespräch auf der Bewusstseinsebene möglich ist. Und wenn wir auf sie Einfluss nehmen, beeinflussen wir nicht nur »bloße« Gefühle, sondern auch die Gefühlskräfte, die durch die Bilder symbolisiert werden. Die Bilder sind, so könnte man sagen, die »Gesichter« der Gefühle und der Gefühlskräfte.
2. Das Unbewusste ist alles andere als eine nur chaotische, furchterregende Welt. Das kann sie auch sein, jedenfalls dann, wenn wir uns ohne einen kundigen Begleiter auf den dunklen Bereich des Unbewussten einlassen. Der Bereich des »geistig Unbewussten« jedoch – Viktor Frankl prägte diesen Begriff – ist anderer Art:
Unbewusster Geist meint das jedem Menschen potenziell zugängliche Wissen von den großen und kleinen Zusammenhängen des eigenen Lebens und des Lebens überhaupt. Darüber hinaus stellt er das stärkste Energiezentrum dar, zu dem wir Zugang haben können.
Unbewusster Geist – das ist unbewusste Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Hoffnung, das ist unbewusster Mut, Intuition, Gewissen, das Ästhetische, das Künstlerische, das sind unbewusste Wertgefühle, das ist unbewusster Sinn, unbewusste Religiosität etc. Er ist das Land des inneren Friedens, der inneren Einheit, ein Land der Wärme und Geborgenheit.
Unbewusster Geist – das ist die schöpferische, gestaltende, sinnstiftende Kraft, von deren Wirksamkeit primär abhängt, in welcher Weise der ganze Mensch existiert. Und in dem Maße, in dem er Zugang zum unbewussten Geist findet, findet ein Mensch die ihm entsprechenden Werte, findet er sich selbst, findet er Sinn, findet er auch die Kraft, ihn zu leben.
Unbewusster Geist – das ist die Basis des bewussten Geistes, mehr als das: Er ist die Basis menschlichen Daseins überhaupt. Er ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Menschenbildes. Er ist die »Mitte« der Seele. Er ist zugleich der Grund, die Mitte und das Ziel der Wertimagination.
Der unbewusste Geist stellt keine für sich bestehende Wirklichkeit dar, weil menschlicher Geist und göttlicher Geist untrennbar im Menschen verbunden sind. Daher finden wir ihn in uns vor, aber er geht nicht in uns auf. Er ist immanent erfahrbar, doch behält er seinen transzendenten Charakter. Wir können ihn erleben, aber nicht erfassen. Er ist weit »mehr«, als wir begreifen können.
Wahrscheinlich ist über kein menschliches Phänomen so viel nachgedacht, gesprochen, geschrieben und diskutiert worden wie über das Phänomen »Geist«. Wie viel anders stellt er sich allerdings aus der Sicht des unbewussten Geistes dar, also nicht »von oben«, aus dem Bereich des Verstandes, sondern »von unten«, aus der Sicht der inneren Welt!
3. Wertimaginationen – sie dauern in der Regel dreißig Minuten und werden von einem Therapeuten oder Mentor für Persönlichkeitsbildung begleitet – sind bewusste, zielorientierte »Wanderungen« zum unbewussten Geist. Sie finden sowohl in Einzel- als auch in Gruppensitzungen statt.
4. Entscheidend sind nicht die vom Bewusstsein vorgestellten oder eingebildeten, sondern die vom unbewussten Geist
ausgebildeten Bilder, und gerade darin liegt ihr besonderer Wert. Denn jede neue Erfahrung eines bislang nicht oder nicht hinreichend gelebten unbewussten Inhalts bedeutet einen Zuwachs an Identität und damit neue Sinnerfahrung. Die ausgebildeten Bilder werden nicht gemacht, sondern
erwartet. Sie erscheinen dem Imaginanden plastisch, dreidimensional, unmittelbar.
Was sind innere Bilder? Von ihnen sagt Jörg Zink treffend: »Das ›Bild‹ ist überall, wo wir über die Welt unserer Sinne und unseres schmalen Verstandes hinausdenken, die Weise, in der uns Wahrheit begegnen kann, und die Weise, wie wir die geschaute und geahnte Wahrheit einander zeigen können.«6 Die Bilder, von denen in diesem Buch die Rede ist, nennen wir Symbole. Ein Symbol ist ein Sinnbild mit komplexer Bedeutung, ein Zusammenspiel von inneren und äußeren Erfahrungen. Symbole liegen außerhalb des Herrschaftsbereiches der Vernunft und können daher nicht von einem logischen Konzept erfasst werden.
5. Zentrum der Wertimaginationen ist die Beziehung zu den hilfreichen männlichen und weiblichen Gestalten, die die Selbst- und Sinnverwirklichung fördern. Ich nenne sie »Wertgestalten«. Ich verstehe sie als personifizierte Aspekte des unbewussten Geistes, also als Gestalt gewordene Werte, die im unbewussten Geist ihren Grund haben. Sie sind uns zugehörig, aber sie gehören uns nicht.
7 Sie sind dem Spannungsfeld der Polarität enthoben und können daher als Personifizierungen des Geistes nicht erkranken. Und darin liegt ihre außerordentliche Kraft! Erscheinen sie doch einmal ambivalent, liegt eine Projektion des Imaginanden auf die Wertgestalt vor.
Das Unbewusste hat also nicht nur die Tendenz, sich in allgemeinen Bildern zu zeigen, sondern auch in personifizierten Symbolen. So gibt es nicht nur Symbole zum Beispiel für Freiheit, Liebe, Verantwortung, Lebensbejahung, für die Selbstheilungskräfte oder die Lebenskunst, sondern auch für die Freien, die Liebenden, die Verantwortlichen, die Lebensbejaher (ich nenne sie die Inneren Verbündeten), die Inneren Ärzte, die Lebenskünstler. Und gerade die Begegnung mit diesen lebendigen Vertretern der inneren Welt ist für die Erkenntnis und Aneignung der verborgenen Lebenskräfte und damit für die Weiterbildung der Persönlichkeit von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus führen sie uns in Tiefen, in die wir mit dem Verstand niemals vordringen könnten. Die Begegnung mit den Wertgestalten bewirkt eine höchstmögliche kognitive, emotionale und energetische Annäherung an die erwarteten Ziele.
Weil sich jede menschliche Eigenschaft personifiziert zeigen kann, gibt es selbstverständlich auch Gestalten mit destruktivem Charakter, zum Beispiel den Lebensverneiner (ich nenne ihn den Inneren Gegenspieler), den Ungeduldigen, den Unwahrhaftigen oder den Maßlosen. Doch davon soll in diesem Buch nicht die Rede sein.
Die Wertimagination ist keine Technik. Auch der Begriff »Methode« trifft nicht ausreichend das, worum es hier geht. Die Wertimagination öffnet dem Imaginanden jenen Bereich, in dem Werte und Sinn verwurzelt sind und der »Grund des Seins« (Meister Eckart) sichtbar wird. Und wer ihm begegnet, erfährt, dass dieser Grund kein unpersönlicher ist.
6. »Methodisch« gilt für Wertimaginationen generell:
Nur wer bereit ist, alle Tagesgedanken loszulassen, sich auf den unbewussten Geist einzulassen, sich ihm anzuvertrauen, wird die Zugänge zu ihm finden. Die einzelnen Schritte sind folgende:
• die Verabredung des Zieles,
• eine Entspannungsphase von ca. drei Minuten,
• die Einstellung auf ein Eingangssymbol, etwa auf den inneren Garten oder den Lebensbaum,
• die Erwartung einer oder mehrerer Wertgestalten (wenn potenzierte Kräfte erforderlich sind).
• Die sich zeigenden Widerstände werden in aller Regel auf dem Weg zum Ziel bearbeitet. Erweisen sie sich als zu stark, ist eine separate imaginative Arbeit – stets in Begleitung einer der Situation entsprechenden Wertgestalt – erforderlich. Dabei gilt: Wir leugnen nicht die Sümpfe, aber wir gehen nicht in sie hinein.
• Jede Wertimagination bedarf eines ausführlichen Nachgesprächs.
7. Anwendungsgebiete
Die Wertimagination kann sowohl als eigene Therapieform oder integraler Bestandteil psychotherapeutischer Systeme verstanden werden als auch als integraler Bestandteil der »Wertorientierten Persönlichkeitsbildung«.
Angezeigt ist sie generell dann, wenn ein Patient/ Klient nicht hinreichend fühlt, was er denkt, und das Denken nicht jene Bereiche berührt, die für die Überwindung von Störungen oder die Weiterbildung der Persönlichkeit erforderlich sind. Die Wertimagination ist also angezeigt
• bei Menschen, die ihre Persönlichkeit weiterbilden wollen,
• bei Menschen mit psychischen und psychosomatischen Störungen,
• bei Menschen mit Beziehungs-, besonders Paarproblemen,
• bei Menschen mit irreversiblem Schicksal,
• bei Menschen, die die »Dimension der Tiefe« suchen.8
Ein Beispiel aus dem Bereich der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung, das zugleich zu unserem spirituellen Thema hinführt: Eine Wertimaginationsgruppe nahm sich vor, den Inneren Revolutionär aufzusuchen und sich von ihm dorthin führen zu lassen, wovon er meinte, das sei ein wichtiger »Ort«. Die nun folgende innere Wanderung erlebte eine Frau, die von »der« Kirche sehr enttäuscht worden und nach ihren eigenen Aussagen durch die wertimaginative Arbeit zu neuer Spiritualität gelangt war. Ihre Wertimagination:
Kurz nach Beginn meiner inneren Wanderung »weiß« ich,9 dass ich auf dem heiligen Berg Sinai stehe. Doch ratlose Verwirrung und Schrecken erfüllen mich, denn der Ort, den ich vorfinde, ist grauenvoll zerstört. Der einst strahlende Berg wurde seines majestätischen Gipfels beraubt und über seine Flanken fließt zäh schwarz geronnenes Blut.
Da fährt ohne Vorwarnung eine Krallenhand von oben auf mich nieder. Sie ist mit einem verletzenden Gegenstand bewaffnet. Es dauert lange, ehe ich erkenne, dass es eine schwarze, steinerne Gebotstafel ist.
Eine kreischende Stimme verliest, was auf ihr geschrieben steht: »Du sollst...! Du musst...! Du bist verantwortlich für...! Tu das...! Du hast kein Recht auf...! Du bist schlecht, wenn du nicht...! Du machst dich schuldig...!«