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Thomas Müller

BESTIE MENSCH

 

Thomas Müller

BESTIE MENSCH

Tarnung. Lüge. Strategie

 

 

7. Auflage

 

 

 

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Thomas Müller

Bestie Mensch

Tarnung. Lüge. Strategie

 

 

 

Umschlagidee und -gestaltung: kratkys.net Image

 

 

 

7. Auflage

© 2010 Ecowin Verlag, Salzburg

Umschlagfoto: Martin Vukovits

Gesamtherstellung: www.theiss.at

Gesetzt aus der Sabon

Printed in Austria

ISBN 978-3-7110-5029-8

 

www.ecowin.at

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6. Die Tarnung …

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Kapitel 25.

Kapitel 26.

Kapitel 27.

Kapitel 28. Die Lüge …

Kapitel 29.

Kapitel 30.

Kapitel 31.

Kapitel 32.

Kapitel 33.

Kapitel 34.

Kapitel 35.

Kapitel 36.

Kapitel 37.

Kapitel 38. Die Strategie …

Kapitel 39.

Kapitel 40.

Kapitel 41.

Kapitel 42.

Kapitel 43.

Kapitel 44.

Kapitel 45.

Kapitel 46.

Kapitel 47.

Kapitel 48.

Kapitel 49.

Kapitel 50.

Kapitel 51.

Kapitel 52.

Kapitel 53.

Epilog

… ein Buch, für das man getrost ein paar Thriller weglassen kann …

Der vierzigjährige Tiroler hat eine stattliche Aufklärungsliste aufzuweisen; er hat sich vom Streifenpolizisten über ein Psychologiestudium und eine FBI-Schulung zu einem weltweit gesuchten Berater hochgearbeitet, der in Wien den Kriminalpsychologischen Dienst leitet.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

Thomas Müller entschlüsselt Verhalten und Psyche eines Täters. In Gesprächen mit Serienmördern erfährt er mehr über deren Motive – immer leitet ihn die Hoffnung, zukünftige Verbrechen verhindern zu können.

J. B. Kerner im ZDF

 

Der Österreicher Thomas Müller ist der Star unter Europas Kriminalpsychologen. An Hunderten von Fällen hat er gelernt, aus Tatorten die Persönlichkeit eines Verbrechers herauszulesen. Er träumt davon, den Code des Bösen zu entschlüsseln.

In den vergangenen zehn Jahren ist Müller zu einem der besten Kriminalpsychologen der Welt geworden, er hat Tausende Tatortfotos analysiert und Dutzende Mörder im Gefängnis besucht.

Müller will zeigen, dass die Entscheidungen, die ein Täter am Tatort trifft, wie eine Sprache sind, ein Code, ähnlich aufschlussreich wie die DNA.

Der Spiegel

 

Müller ist ein Einzelgänger, er strahlt etwas Rätselhaftes, fast Unheimliches aus, wenn er über Serienmörder, verirrte Seelen und grausame Morde spricht – ohne nach außen hin Gefühle zu zeigen.

Süddeutsche Zeitung

Leserhinweis

 

 

Die Namen der deutschsprachigen Täter und Opfer in diesem Buch, mit Ausnahme von Lutz Reinstrom, wurden aus grundsätzlichen und juristischen Überlegungen verändert und sind mit einem * gekennzeichnet.

 

Für alle 518 Männer, Frauen, Kinder und Neugeborenen, die ich im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit kennengelernt habe, ohne mit ihnen jemals gesprochen zu haben – die Opfer von Tötungsdelikten.

1.

 

17.10.2003, 9.05 Uhr

 

 

Die Taube erhob sich mit diesem typischen klatschenden Geräusch auf den halbrunden Abschluss der wuchtigen Backsteinmauer. Vier Meter hoch – man sah der Mauer an, dass Frost, Sonne und Wind über Jahrzehnte hinweg den Zerfall eingeleitet hatten, aber eben nur eingeleitet. Die Taube hüpfte noch eine Weile auf der Mauer weiter und ließ durch die Bewegung erahnen, dass ihr ein Fuß fehlte oder verkrüppelt war. Bei jedem Sprung schien es, als ob der Kopf das Gleichgewicht halten würde, indem er sich zurückbewegte, wenn der Körper vorwärts sprang. Gurrend blickte sie kurz in meine Richtung, bevor sie in einem Mauerloch verschwand, welches Teil jenes Gebäudes war, wo ich eigentlich hinwollte. Der Innenhof war an zwei Seiten von jener Backsteinmauer umgrenzt, die in ihrer Ausstrahlung an alte Umfriedungen englischer Schlösser erinnerte. Ich war geneigt, mir die rote Mauer ihrer beständigen Schönheit wegen auf dem Titeleinband eines esoterischen Kleinformatbüchleins vorzustellen. Darunter steht der Satz: „Liebe lässt sich nicht aufhalten.“ Er soll dem Leser, der Rat in solchen Büchern sucht, optisch assoziieren, dass positive Lebenseinstellung auch durch den größten Widerstand nicht aufzuhalten ist. Die beiden anderen Seiten des Innenhofes endeten in wuchtigen, mehrgeschossigen Trakten, ebenfalls ganz aus Backstein.

Das tiefe Blau des Himmels strahlte eine Kälte aus, die nur an jenen letzten Oktobertagen zu spüren ist, wo die morgendliche Entscheidung für die angemessene Oberbekleidung zur Qual wird. Der Mantel, der in der Früh noch zur Wohltat gereicht, wird zu Mittag, spätestens jedoch am Nachmittag, zum Garant für klebrige Hemden und Blusen. Gerader könnte der Strich nicht sein, den das Flugzeug in den Himmel zeichnete und dabei den durch die Backsteinmauern eng begrenzten Ausschnitt des Blaus in zwei nahezu gleich große Hälften teilte. Die Beständigkeit des kleinen weißen Balkens unterstrich die scheinbare Kälte und erinnerte an die übliche Ansage des Piloten, dass die Flughöhe jetzt erreicht sei und eine Außentemperatur von minus 50 Grad Celsius herrsche.

Die hüpfende Taube, die Ausstrahlung der Backsteinmauer, der Jet in seinem luftigen Kaltbad ließen an Reisefreiheit, Venedig oder Wanderungen durch den Garten einer schottischen Grafschaft erinnern: der krasse Gegensatz zur Realität. Ich war hier, um im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel ein besonderes Gespräch zu führen. Ich war auf dem Weg zu Lutz Reinstrom, dem die Medien Anfang der 90er-Jahre den Namen „Säuremörder“ gaben, weil er zwei Frauen in große Plastiktonnen gestopft und sie anschließend in Salzsäure aufgelöst hatte.

Die Formalitäten am Eingang des Gefängnisses waren schnell erledigt, ich war angemeldet. Abgabe meines Dienstpasses, Handys, jeglicher Metallgegenstände, kurze Einweisung in den Sicherheitsstatus, der Lutz Reinstrom zugedacht war, und prägnante Wegbeschreibung über den Innenhof, der zu jenem Teil des Komplexes führte, auf den ich zusteuerte. Dieser Teil strahlte übrigens genau das aus, was der Name kurz und bündig vermittelte: Hochsicherheitstrakt. Der verantwortliche Offizier begrüßte mich beim Eingang, wies mich nochmals in die Sicherheitsvorschriften ein und brachte mich in jenen Besucherraum, in dem ich mein Gespräch mit Lutz Reinstrom führen wollte. Ein länglicher Raum, spärliche Einrichtung, ein Holztisch, zwei Stühle, vergittertes Fenster. Was auffiel, war die extreme Höhe des Raumes, sodass der metallene Lampenschirm unerreichbar an einem fast zwei Meter langen Kabel hoch oben in der Luft zu schweben schien.

Ein kurzer Blick aus dem Fenster gab mir den Blick auf einen kleineren Innenhof frei, der offensichtlich jener Teil der Anlage war, in dem nach festgesetzten Regeln die Insassen der Anstalt alleine oder in Gruppen ihren täglichen Ausgang hatten. Ich weiß nicht mehr, das wievielte Gespräch es war, das ich in Hochsicherheitsgefängnissen geführt hatte, irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen: 80, 90 …

Es ist jener Teil meiner Arbeit, der mir immer wieder am interessantesten erscheint. Direkte Gespräche mit Leuten zu führen, welche in Erfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können. Was wissen wir denn wirklich von jenen, welche aus dem Bedürfnis der Machtausübung heraus andere quälen und töten? Können wir denn nur annähernd nachvollziehen, was es bedeutet, ein Glück darin zu empfinden, wenn sich andere Menschen vor Schmerzen winden? Ein Gespräch mit Lutz Reinstrom ist notwendig, um, zumindest ansatzweise, zu verstehen, dass wir in der Bearbeitung und auch in der Beurteilung von außergewöhnlich strafbaren Handlungen immer wieder Irrtümern unterliegen, weil wir glauben, erkennen zu können, wie das „Böse“ auszusehen hat. Lutz Reinstrom wurde wegen Mordes in zwei Fällen, wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung sowie wegen erpresserischen Menschenraubes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Es wurde nach deutschem Strafrecht die Schwere der Schuld festgestellt und die Sicherheitsverwahrung angeordnet: ein irdisches Urteil. Ist Lutz Reinstrom deshalb böse? Aus Sicht der Kriminalpsychologie ist er es nicht. Denn diese Beurteilung hilft weder dabei, sein Verhalten zu verstehen, noch mit ihm ein vernünftiges Gespräch zu führen bzw. von ihm zu lernen, wie wir eine dramatische Entwicklung, die er im Laufe seines Lebens eingeschlagen hat, irgendwann verhindern können. Der Mann ist für den Rest seines Lebens eingesperrt, war und ist aber ein brillanter Kürschner. In meiner beruflichen Tätigkeit verurteile ich nicht, ich beurteile und ich nehme mir die Freiheit heraus, mit jedem Menschen zu sprechen, mit dem ich sprechen möchte. Ich zwinge mich auch dazu, mit jenen zu sprechen, mit denen ich nicht sprechen möchte, weil ich nur dann an Informationen herankomme, die für meine Tätigkeit wichtig sind.

2.

 

 

Menschen, die komplexe Verbrechen begehen, haben keine gelben Augen. Sie kratzen nicht mit ihren Fingernägeln am Boden dahin oder haben ein Kainsmal auf der Stirne, auf dem geschrieben steht: Ich habe drei Menschen umgebracht. Das Außergewöhnliche kann manchmal sehr gewöhnlich ausschauen. Wenn Sie vor etwas mehr als 17 Jahren in München auf dem Oktoberfest gewesen wären, hätte es Ihnen theoretisch passieren können, dass Sie neben einem höflichen, auffallend zuvorkommenden 55-jährigen Mann gesessen wären, der Ihnen erzählt hätte, wie fleißig er in den letzten 30 Jahren gearbeitet hätte. Hans* war ein Maler, allerdings kein Kunstmaler. Er hat keine Bilder gemalt, sondern Häuser, Garagentore und Lehrsäle mit Farbe versehen. Fleißig, beständig, nahezu sein ganzes Leben lang hat er mit einer katzenartigen Geschwindigkeit seinen Beruf ausgeübt und wenn er es Ihnen erzählt hätte, wären Sie fasziniert gewesen, wo er überall gearbeitet hat. Dieser Mann hat aber noch etwas getan. Soweit er zugegeben hat, hat er in einem mehrjährigen Zeitraum sieben Menschen umgebracht und drei davon auf eine Art und Weise, dass es zunächst niemand erkannt hat.

Keine zwei Sätze habe ich in meiner beruflichen Laufbahn öfter gehört als die folgenden: Wenn irgendwo ein komplexes Verbrechen aufgeklärt wird, die Polizei präsentiert einen Tatverdächtigen, ist die erste Reaktion von Leuten, die diese Person näher gekannt haben, in der Regel immer die gleiche. Ein allgemeines Entsetzen macht sich breit und dann kommen von Emotionen getragene Feststellungen wie: „Doch nicht derjenige, das war der liebe nette Neffe, welcher der alten ergrauten Tante die Kohlen hinaufgetragen hat. Es war der nette Nachbar, der den Rasen gemäht, das Wochenende mit seinen Kindern am nahen Fluss beim Grillen verbracht hat.“ Doch je nach Komplexität des Verbrechens dauert es bloß wenige Stunden bis einige Tage und plötzlich finden sich genügend Leute, welche die Meinung vertreten: „Das haben wir ja immer schon gesagt. Dieser Mensch war immer schon etwas anders.“

Was sagt aber nun dieser allgemeine Wandel? Nichts anderes, als dass wir unfähig sind, nach außen hin zu erkennen, was jemand in der Lage ist zu tun oder auch nicht. Der zweite Irrtum, dem ich in meiner Karriere immer wieder begegnet bin, ist die Annahme, dass das Böse sehr weit weg ist. Ein sudanesisches Sprichwort sagt: „Suche den Feind im Schatten deiner Hütte!“ Und so grotesk es klingt, aber die meisten Menschen, die geschlagen, betrogen, vergewaltigt, belogen und umgebracht werden, könnten uns den Namen desjenigen sagen, der es getan hat. Die Annahme, zu wissen, was man jemandem zutrauen kann und was nicht, ist der größte Irrtum und bestenfalls die Basis für Vorurteile. Dieser Irrtum ist der Nährboden, in dem die Tarnung der Falschheit zu wachsen beginnt. Und wir düngen selbst den Boden, indem wir glauben, andere Menschen beurteilen zu können. Falsch!

Verhalten und Entscheidungen einer Person kann man nicht mit einem Metermaß messen. Es existiert auch keine Waage, mit deren Hilfe man feststellen könnte: Eine Person ist zu 31/2 kg gefährlich oder nicht. Das einzig adäquate Mittel, um in der Beurteilung ein Verhalten messen zu können, bietet der Vergleich. Das Verhalten einer Person ist mit dem Verhalten vieler anderer Personen unter ähnlich gelagerten Umständen zu vergleichen. Nur dieser objektive Vergleich einer bestimmten Entscheidung sichert uns die Möglichkeit, ein bestimmtes Verhalten einordnen und unter Umständen auch beurteilen zu können. Aus diesem Grunde werde ich auch mit Lutz Reinstrom sprechen.

3.

 

 

Natürlich kannte ich ihn von Bildern, von Zeitungsberichten, aus den Akten. Aber es ist eben ein Unterschied, was man über einen Menschen weiß oder von ihm selbst erfährt. Denn gerade das direkte Gespräch eröffnet die Möglichkeit der Manipulation und der verbalen und nonverbalen Täuschung. So gesehen, betrat er nicht den Raum. Er füllte ihn vom ersten Moment an aus, als er die Türe öffnete und sich zuerst dafür entschuldigte, dass er etwas zu spät kam. Er teilte mir zwar mit, dass man ihn verständigt hatte, dass ich kommen würde, ergänzte aber, dass er nicht wusste, wann genau. Es war genau jene Ausstrahlung der Selbstsicherheit, die man nur bei wenigen Menschen findet, die selbst in der Zeit der Krise noch aufrecht stehen und sich nicht anmerken lassen, dass sie verloren haben. Seine Stimme war fest, etwas überhöht vielleicht, sein Augenkontakt eindeutig und der Händedruck bestimmend. Selbst nach all den vielen Gesprächen, die ich in Hochsicherheitsbereichen geführt hatte, wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht, ob es besser sei, den Raum zu betreten, wenn der Gesprächspartner bereits anwesend war oder umgekehrt. Nachdem Lutz Reinstrom eingetreten war, wusste ich es. Es war ein Fehler, gewartet zu haben. Ich hätte es eigentlich wissen müssen: Dieser Mann war ein anderes Kaliber. Er unterschied sich so ziemlich in allem von jenen Leuten, die junge Frauen vergewaltigt und umgebracht, oder jenen, die Leichen geschändet oder Dutzende Brandstiftungen begangen haben. Er besaß diese nicht zu beschreibende Bestimmtheit. Er strahlte Dominanz und Kontrolle aus, ohne dass er etwas sagte. Es war die Art, wie er sich bewegte, die Form der Entschuldigung, seine Stimme und seine zurückhaltende Einladung, mit ihm ein Glas Tee zu trinken.

Er hatte alles in einem Jutesack mitgebracht: zwei Gläser, Teelöffel, Zucker, unterschiedliche Teebeutel und eine Thermoskanne mit heißem Wasser. Er nahm am Tisch Platz, entsprechend der Anordnung, so wie wir es immer und immer wieder, auch beim FBI, trainiert und besprochen hatten – in jener Anordnung, dass ich den Blick zur Ausgangstüre frei hatte, in angemessener Distanz zum Gesprächspartner. Er entschuldigte sich abermals für seine mangelhafte Vorbereitung, schob die Schuld aber keinesfalls irgendjemand anderem zu, sondern ließ sie einfach offen. Mit gezieltem Humor ließ er mir noch die Wahl zwischen Pfefferminz- und Früchtetee und fügte der freundlichen Einladung noch hinzu, der Staat übernehme die Kosten.

Er öffnete eine kleine Mappe, in der er, wie er selbst feststellte, rasch ein paar Unterlagen von sich und aus den Gerichtsverfahren zusammengerafft hätte, und teilte mit, dass er eigentlich schon auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei, als man ihm mitgeteilt habe, dass ich heute gerne mit ihm sprechen würde.

Man geht nie unvorbereitet in solche Gespräche. Man liest Akten, analysiert die Tatorte, spricht mit den Rechtsmedizinern oder liest deren Gutachten. Man studiert Landkarten, Biografien, toxikologische Berichte und Zeugenaussagen. Es ist wie bei einem Schachspiel. Wer mit der weißen Figur beginnt, ist um einen einzigen Zug voraus, aber nur um einen. Bei diesem Gespräch mit Lutz Reinstrom war mir nach kurzer Zeit bereits klar, dass ich alles andere als einen Zug voraus war. Seine Entschuldigung ohne Schuldzuweisung, seine freundliche, aber bestimmte Einladung, sein dominierendes und festes Auftreten und seine nahezu feine, wenn nicht sogar in seinem Klang manipulierende Stimme gaben mir rasch das Gefühl, dass dieses Gespräch anders sein würde als Dutzende davor. Es war seine offene Art, mir bestimmte Fragen zu beantworten. Er hörte manchmal gar nicht auf zu reden. Er sprach über sich selbst, die Haft, das Gerichtsverfahren, die Anklagevertretung, die Medien, seinen Gesundheitszustand, und ich hatte das Gefühl, eine kleine Frage meinerseits brachte bereits einen Schwall von Informationen hervor. Dieser Umstand gab mir einerseits die Möglichkeit, über Gefahrenmomente, denen man zweifelsohne bei solchen Gesprächen – gerade was die Manipulation betrifft – ausgeliefert ist, nachzudenken, andererseits, mir weitere Fragestellungen zu überlegen. Es war keinesfalls ein unangenehmes Gespräch. Er teilte mir auch sehr offen mit, dass er sich über mich erkundigt hätte. Schön, das war nichts Neues!

Mir ging es vor allem darum herauszufinden, wie es passieren kann, dass ein angesehener Kürschnermeister irgendwann in seinem Leben so weit kommt, dass er im Garten seines Hauses einen Bunker baut. Darin verstirbt eine Frau. Ihre sterblichen Überreste werden in einer riesigen Plastiktonne gefunden, die im Garten vergraben ist. Der Garten gehört Lutz Reinstrom, das Fass mit der Leiche ist mit Salzsäure gefüllt. Was geht hier vor?

Das Gespräch war meinerseits zunächst nur darauf ausgelegt, einen groben Überblick zu erhalten, die objektiven Fakten, welche ich von den Rechtsmedizinern kannte, von emotionell dargebrachten Geschichten zu unterscheiden. Das Gespräch war aber auch darauf ausgelegt, etwas mehr über das „Wie“ einer Manipulation zu erfahren. Ich war der Meinung, ein Gespräch mit Lutz Reinstrom könnte mir dabei weiterhelfen.

Wo soll man denn sonst solche Dinge erfahren bzw. lernen? Im Elfenbeinturm der Wissenschaft wohl kaum. Menschliches Verhalten ist zu komplex, als dass wir es in zehn oder zwölf Schubladen hineinstecken könnten, obwohl wir es tagtäglich immer wieder versuchen. Wer von uns hat noch nicht sein Horoskop gelesen und war dann bei positivem Inhalt eher geneigt, der Ausrichtung der Sterne und deren Bedeutung Glauben zu schenken? Stellt das Horoskop jedoch ein vernichtendes Zeugnis der vermeintlichen Zukunft und Gegenwart aus, messen wir der Astrologie keine Bedeutung mehr bei.

Wir begehren eben immer das, was wir gerade nicht haben, und versuchen deshalb für uns selbst und damit auch für andere Einordnungen zu treffen, um in klaren Kategorien denken zu können: schwarz – weiß, gut – böse, gerecht – ungerecht, wissenschaftlich – unwissenschaftlich.

Aber so wie es Dutzende verschiedene Grautöne gibt, liegt die Individualität jedes Einzelnen auch in der Art und Weise, wie er auf bestimmte äußere Reize reagiert. Das zu erfahren, ist eine der Zielstellungen solcher Gespräche wie mit Lutz Reinstrom. Wie wird er versuchen, mir seine Geschichte zu verkaufen? Auf welche Art und Weise wird er versuchen, mich zu manipulieren? Wo wäre seine Schwäche gewesen, dass wir bei zukünftigen Delikten früher einschreiten hätten können? Wo könnte ich denn nachlesen, was ihn so weit getrieben hat, dass er nunmehr mit allem, was das deutsche Strafrecht hergibt, in Hamburg-Fuhlsbüttel sitzt, anstatt seiner ursprünglichen Tätigkeit als Kürschnermeister nachzukommen und viele Leute glücklich zu machen, indem er „Kunstwerke“ aus tierischen Leichenteilen herstellt?

Das Schachspiel hatte also begonnen und ich war nach kurzer Zeit überzeugt, dass Lutz Reinstrom aufgrund seiner verbalen Fähigkeiten, seiner umfangreichen Lebenserfahrung, seiner Kombinationsgabe und seiner Fähigkeit zu beobachten schon einige Züge voraus war, nicht einen, sondern mehrere Züge. Aber was konnte ich schon verlieren? Ich ließ mir in immer genaueren Details die beiden Tötungsdelikte, die aus seiner Sicht Unfälle waren, schildern. Ich versuchte immer genauere Informationen über Einzelentscheidungen und Gedankenvorgänge zu erhalten und genoss irgendwie den Umstand, dass wir beide an einem kalten Oktobertag in einem leicht überheizten Gesprächsraum in Fuhlsbüttel saßen und Tee tranken.

Offen gesagt, war ich ihm dankbar, dass er mir Tee angeboten hatte, denn ich war an jenem 17. Oktober 2003 gemeinsam mit Gunther Scholz bereits um fünf Uhr morgens in seinem Auto von Bremen nach Hamburg gefahren und musste auf der Autobahn zur Kenntnis nehmen, dass die Heizungsanlage des Autos defekt war. Eingefroren wie ein Tannenzapfen im Winter, gab mir zuerst das Schälchen Früchtetee und im Anschluss die Schale Pfefferminztee nach und nach jene innere Wärme wieder, die ich benötigte, um mich dem Gespräch mit voller Aufmerksamkeit zu widmen. Mit Gunther Scholz war ich deshalb nach Hamburg gefahren, weil er vom ZDF beauftragt worden war, einen Dokumentarfilm über Sexualstraftäter zu drehen, und er mich gebeten hatte, im Rahmen meiner Sachverständigentätigkeit als Konsulent behilflich zu sein. Für den Nachmittag des 17. Oktober waren in Bremen noch Drehaufnahmen an einem nachgestellten Tatort geplant, den ich auf eventuelle inhaltliche Fehler beurteilen sollte.

So saß ich also gegen zehn Uhr immer noch mit Lutz Reinstrom in jenem Gesprächszimmer, mit dem Rücken zum Fenster, lauschte den Ausführungen, wie, wann und wo er wie viel Salzsäure in die Fässer gegossen hatte, um die sterblichen Überreste seiner Opfer verschwinden zu lassen. Die Heizung in meinem Rücken gab mir die nötige Wärme von außen und der Früchtetee von innen. Wir waren gerade an dem Punkt angekommen, an dem Lutz Reinstrom über die todesursächlichen Umstände des zweiten Opfers sprach, als ich subjektiv das Gefühl hatte, dass irgendetwas nicht stimmte. Er sprach, ich hörte zu. Rein sicherheitstechnisch gab es keinen Anlass zur Sorge, aber es war irgendwie ein Gefühl, das ich zwar erfasste, aber noch nicht einordnen konnte.

4.

 

 

Ich erinnerte mich, dass ich dieses Gefühl schon einmal verspürt hatte, als ich 1992 in einem Gefängnis in Graz Jack Unterweger interviewte. Unterweger war im Verdacht gestanden – so stand es zumindest in der Anklageschrift –, in drei verschiedenen Ländern auf zwei verschiedenen Kontinenten insgesamt elf Prostituierte umgebracht zu haben. Seine Biografie glich mehr der eines Hauptdarstellers in einem Hollywoodspielfilm als der Realität eines österreichischen Knaben, der, im Jahre 1950 in Judenburg in der Steiermark geboren, zum angeblichen transkontinentalen Serientäter heranwuchs. Unterweger war Diskjockey und Tankwart, hatte zahlreiche Vorstraftaten, als er schließlich in den 70erJahren in einer kalten Winternacht in Hessen eine Frau nackt mit einer Stahlrute durch den Wald trieb, sie anschließend umbrachte und teilweise mit Laub bedeckte. Als österreichischer Staatsbürger wurde er Mitte der 70er-Jahre zu lebenslanger Haft verurteilt und avancierte im Laufe der Zeit zum Darling der „Champagner-Schickeria“ in Österreich. Er schrieb Bücher über sein Leben, hielt im Laufe seiner Haftzeit auch Lesungen und wurde Anfang der 90er-Jahre als resozialisiert entlassen. Mit ausgezeichneten Kontakten zu unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und entsprechenden Empfehlungsschreiben ausgestattet, war Jack Unterweger äußerst mobil zwischen den Vereinigten Staaten, Österreich, der Tschechischen Republik und Italien herumgereist und hatte, gemäß Anklageschrift des Staatsanwaltes, in Österreich sieben, in Prag eine und in Los Angeles drei Prostituierte getötet.

Nachdem er von dem Tatverdacht gegen ihn erfahren hatte, floh Jack Unterweger nach Miami, wurde dort festgenommen, nach rechtlicher Prüfung durch US-Behörden nach Österreich ausgeliefert und in das Landesgericht Graz überstellt. Noch zum Zeitpunkt der Voruntersuchung hatte ich Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Ich führte damals ein sehr langes Gespräch über ihn, die strafbaren Handlungen, die Anschuldigungen und einzelne Details, die die Sonderkommission damals am Tatort feststellte. Ich selbst war nicht Teil oder Mitglied der Sonderkommission, sondern war eben erst von meiner Ausbildung bei der Verhaltensforschungseinheit des FBI in Quantico/Virginia zurückgekehrt und sollte den kriminalpolizeilichen Akt so aufbereiten, dass die amerikanischen Kollegen die Beurteilung aus kriminalpsychologischer Sicht im Auftrag des Gerichtes durchführen konnten.

Verständlicherweise betrachtete mich Herr Unterweger jedoch als Teil jener „Maschinerie“, die gegen ihn ermittelte und vorging, sodass sich der Einstieg in unser Gespräch ganz anders als erwartet abspielte. Ich wartete außerhalb des Zellentraktes mit Genehmigung des Untersuchungsrichters, als Unterweger den Vorraum der Vernehmungszelle betrat. Es war ein langer Gang von etwa zehn bis zwölf Metern, den er mir entgegengehen musste, um schließlich auf meiner Höhe zu sein, lediglich durch die üblichen Eisenstäbe, wie man sie aus einem Gefängnis kennt, getrennt. Wir hätten dann beide durch zwei verschiedene Türen einen einzigen Raum betreten, der in logischer Fortsetzung der Eisenstäbe durch eine Glaswand getrennt war. Dort sollte das Gespräch stattfinden, dachte ich. Unterweger kam tatsächlich den Gang entlang auf mich zu und fragte mich, ob ich den Leiter der Sonderkommission, Dr. Ernst Geiger, kennen würde. Ich bejahte seine Frage, worauf er sich, nachdem er mir durch die Gitterstäbe seine Hand gereicht hatte, mit den Worten von mir abwandte: „Damit hat unser Gespräch begonnen und ist auch gleichzeitig beendet.“ Anschließend marschierte er die zehn Meter den Gang entlang, um im daran anschließenden Zellentrakt wieder zu verschwinden. Jung, unerfahren, gerade erst mit der Ausbildung durch die amerikanischen Kollegen fertig, wusste ich nur, dass ich etwa zehn Sekunden Zeit hatte, Jack Unterweger davon zu überzeugen, dass es vielleicht doch vernünftig wäre, ein Gespräch mit mir zu führen, indem ich mich für kurze Zeit in irgendeinem Bereich unserer beider Biografien mit ihm auf einen gemeinsamen Nenner einigte. Ich wusste, dass er aus Judenburg in der Steiermark stammte. Ich stamme aus Innsbruck in Tirol, was man zumindest damals unschwer an meiner Sprache erkennen konnte. Der Sitz der Sonderkommission, des Innenministeriums, der Regierung und überhaupt der Macht Österreichs liegt in Wien. Nun existiert in Österreich ein altes Vorurteil, dass alle Leute, die nicht aus Wien stammen und aus welchen Gründen auch immer ihren Lebensmittelpunkt in Wien aufschlugen, grundsätzlich benachteiligt sind, ob nun als junger auszubildender Kriminalpsychologe aus Tirol oder als verdächtigter Serienmörder aus der Steiermark. Was ich sehr wohl bis zu diesem Zeitpunkt meiner Ausbildung bei den amerikanischen Kollegen in Erfahrung bringen konnte, war die krankhafte Selbstüberschätzung dieser Personen, sodass sie in der Regel dankbar jeden Umstand aufgreifen, um größer, besser, intelligenter und auch unschuldiger dazustehen. So gestattete ich mir, Herrn Unterweger noch den Satz zuzurufen: „Glauben Sie denn, mir würde es in Wien als Tiroler anders gehen als Ihnen, wo Sie aus der Steiermark stammen?“ Dieser Satz machte mich für ihn zu einem idealen Opfer der Manipulation. Er sah in mir den idealen Kandidaten, um mich als „Wurm“ in die Sonderkommission einzuschleusen, für ihn als „Informant“ tätig zu sein. Ein Brief, den mir Jack Unterweger viel später schrieb, zeugt noch heute von dem Versuch, mich zu bewegen, für ihn Ermittlungen durchzuführen.

 

Jack Unterweger griff diesen Satz auf, teilte zustimmend meine Meinung, dass es auch für mich als Tiroler schwer wäre, in Wien zu existieren, und lud nun mich seinerseits zu einem Gespräch ein, das sich über mehrere Stunden hinzog.

Auch während dieses Gespräches hatte ich zu einem bestimmten Zeitpunkt das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Subjektiv, undefiniert, nicht fassbar, glaubte ich, aus welchem Grund auch immer, einen Schritt hinter ihm zu gehen, das Gespräch nicht mehr selbst zu leiten, sondern geleitet zu werden, das Gespräch nicht mehr zu kontrollieren, sondern selbst zum Kontrollierten geworden zu sein, bis ich bemerkte, warum.

Jack Unterweger, der im Übrigen in all diesen elf angeklagten Mordfällen aus rein juristischer Sicht als unschuldig zu gelten hat, da er zwar in neun Fällen verurteilt wurde, aber nach der erstinstanzlichen Aufarbeitung den Freitod wählte und sein Urteil daher nie bestätigt wurde, dieser Jack Unterweger hatte eine körperliche Eigenart, die nur sehr wenige Menschen besitzen. Mehr oder minder regelmäßig müssen wir unkontrolliert unsere Augen schließen, um sie zu befeuchten, vier-, fünfmal in der Minute, je nach Nervosität und Anspannung öfter. Was bei anderen Menschen ein Reflex ist, konnte von Unterweger teilweise kontrolliert werden. So hatte ich subjektiv das Gefühl, dass er auch nach einem Zweieinhalb-Stunden-Gespräch in seinen Gedankengängen, seinen Überlegungen, in seinen zweifelsohne vorhandenen naturpsychologischen Fähigkeiten und dem schier unglaublichen Macht-, Dominanz- und Kontrollbestreben immer um zwei, drei Züge voraus war. Während ich meine Augen etwa 30-mal – und sei es auch nur jeweils für eine Zehntelsekunde – schließen musste, tat er es nicht einmal halb so oft. Zunächst nicht wissend, was die Ursache dieses subjektiven Unbehagens war, war es zwar nach Kenntnis der Ursache immer noch nicht angenehm, einem Menschen gegenüberzusitzen, der einen bewegungslos, gleichsam wie eine Schlange ohne Augenlider fixierte, aber ich konnte zumindest an diesem Umstand arbeiten, nachdem ich ihn erkannt hatte. Ursache und Wirkung sind wichtige Punkte in der Beurteilung des Verhaltens anderer Menschen.

5.

 

 

So wie zehn Jahre vorher im Gespräch mit Jack Unterweger überfiel mich während des Treffens mit Lutz Reinstrom das subjektive Gefühl, dass in dem scheinbar so friedlichen Bild von zwei kommunizierenden Menschen irgendetwas nicht stimmte. Ich versuchte mich auf seine Sprache, seine Gestik, seine Stimmlage, die Art der nonverbalen Kommunikation zu konzentrieren. Ich verglich seine Augen, die Stellung seines Mundes, die Gestik seiner Hände sowie seine Haltung mit allen anderen Gesprächen, die ich bisher geführt hatte. Ich durchleuchtete die nächste Ebene der inhaltlichen Manipulation, der unterschwelligen Fragestellungen bis hin zur schärfsten intellektuellen Waffe, ob er denn nicht durch geschickte Tarnung bereits versucht hatte, mein Verhalten zu antizipieren, also meine Entscheidungen vorherzusehen. Die Antwort war unbefriedigend. Ich fand nichts, was mich darin bestärkte, dieses subjektive Gefühl ernst zu nehmen, trotzdem war es da. So war es nicht nur der Inhalt des Gespräches, den ich mit den objektiven Kriterien, also den Fakten, die ich mitgebracht hatte, zu vergleichen versuchte, es waren nicht nur die üblichen psychologischen Sicherheitsmerkmale der möglichen Manipulation der versteckten Lüge, auf die ich achtete. Es war auch noch der Versuch, die ständig auftauchende Frage zu beantworten: Was stimmt hier nicht?

Mehr durch Zufall, nämlich durch den Umstand, dass ich beim dritten Glas Tee rein aus Faulheit vergessen hatte, den Löffel aus dem Glas zu nehmen, und ich beim Trinken nicht als tölpelhafter Idiot dastehen wollte, indem ich mir den Löffel ins Auge bohrte, erkannte ich, in welcher Falle ich saß. Ich neigte meinen Kopf kurz zur Seite, damit mir der Löffel nicht im Weg war, und hob mein Glas etwas schwungvoller zu meinen Lippen. Dadurch entstand der unglaubliche Effekt, dass mein Tee, von dem nur noch ein kleiner Rest übrig war, mit nahezu 45 Grad geneigt, am Boden meines Glases haftete – nur für den Teil eines Augenblickes schien der Tee in einer physikalisch unmöglichen Position zu hängen. Dieser kurze Augenblick gab mir aber durch den durchsichtigen Boden meines Glases den Blick auf das Teeglas von Lutz Reinstrom frei!

Es war voll. Es war immer noch voll.

Ich saß seit eineinhalb Stunden mit Lutz Reinstrom zusammen. Er sprach und sprach. Er rührte seinen Tee um, aber er hatte ihn bis jetzt nicht getrunken, er hatte den Tee nicht einmal angerührt. Mir war, als ob in diesem Teil des Augenblickes sich alle meine Poren öffneten wie ein durchlöcherter Gartenschlauch. Es erübrigte sich, zeitliche und inhaltliche Einordnungen zu treffen, wer von uns welches Glas, das Wasser, die Teebeutel, den Zucker oder auch nur die Löffel gebracht hatte. Und dieser Mann hatte sein Teeglas noch nicht einmal an die Lippen geführt!

So kurz der Augenblick auch war, der letzte Rest meines Tees konnte unmöglich in dieser physikalisch unnatürlich schrägen Haltung verharren und bahnte sich den Gesetzen der Schwerkraft folgend zügig den Weg in meine offene Mundhöhle. Der Löffel bohrte sich in meine Schläfe. Wissend, dass das Zeigen von Schwäche bei Leuten mit den Fähigkeiten eines Lutz Reinstrom etwas ganz anderes auslöst, als wir vielleicht annehmen würden, versuchte ich so rasch wie möglich die Beobachtung zu umgehen. Zu spät! Ein paar Tröpfchen Tee stürzten an meinen Lippen vorbei ins Freie und benetzten mein Hemd. Für einen weiteren kurzen Augenblick vermeinte ich das Zucken seiner Mundwinkel wahrzunehmen und bevor ich die Augen schloss, war mir bewusst, dass ich alle Fehler begangen hatte, die man bei solchen Gesprächen begehen kann. Gerade noch rechtzeitig, um mir mit Verzweiflung und Selbstanklage die Situation noch etwas schwieriger zu machen, fielen mir rein akademische Begriffe wie das Stockholm-Syndrom, die Selbstüberschätzung, das Verhandeln von Angesicht zu Angesicht und der Begriff des malignen Narzissten ein. Ich sah im Schnelldurchlauf all jene, die auf den kalten rostfreien Tischen der Rechtsmediziner lagen und nach Mandeln rochen. Blausäure. Vergiftete blickten in der Regel sehr starr durch die Leichenkeller – wie mir schien –, starrer als andere Leichen. Mir war klar, dass ich meine Augen nicht um den kleinsten Teil eines Augenblicks länger geschlossen halten durfte als üblich. Das wäre dem eigenhändigen Umwerfen des Königs auf dem Schachbrett gleichgekommen, ohne zu wissen, wie das Spiel eigentlich ausgeht.

Aber so wie die geschlossenen Augen des aus dem Schlaf Erwachenden scheinbar noch die Möglichkeit bieten, unendlich lange und intensive Träume zu verspüren, so wie der wahrnehmbare Ruf eines anderen, mit dem Zweck, den Schlaf zu beenden, oft noch ein in sich geschlossenes Traumgebäude hervorruft, so haben diese paar Tröpfchen Tee für mich während des kurzen Augenblickes meiner geschlossenen Lider etwas anderes bei mir ausgelöst. Warum ich? Warum jetzt? Warum sitze ich überhaupt hier, trinke einen Tee, der mir vielleicht das Leben nimmt, mir aber mit Sicherheit für kurze Zeit den Verstand raubt? Man sagt, selbst der intensivste Traum dauert nur ein paar Sekunden. Auch Tagträume – vielleicht ist das Folgende der Beweis dafür …