Jasmin

Orangenblütenzauber

Mareike Allnoch

Für alle Träumer unter uns,

die noch an Märchen glauben

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Bücher von Mareike Allnoch

Prolog

1848

Eine dunkle Gestalt schleicht durch die finstere Nacht, die Kapuze des schwarzen Umhangs tief in das Gesicht gezogen. Fahles Mondlicht beleuchtet die Gasse. Bis auf das schrille Rufen eines Käuzchens und das Geräusch von aneinanderreibendem Stoff ist es totenstill. Motten schwirren um eine einzelne Straßenlaterne.

Die Palmen zwischen den Lehmhäusern werfen unheimliche dunkle Schatten auf den Wüstensand. Ansonsten liegt die Stadt still und friedlich da, beinahe gespenstisch. Hinter den Fenstern regt sich nichts, die Bewohner schlafen tief und fest.

Aus der Ferne ertönt das Rauschen des Ozeans und das Geräusch von Wellen, die an den Strand rollen. Ein Windspiel, das über der Tür eines Hauses hängt, klimpert leise im Wind.

Der Boden wird unebener und die Person gerät ins Straucheln, die Sohlen sinken tief ein. Feiner orangefarbener Wüstensand wirbelt auf und weht der vermummten Gestalt ins Gesicht, woraufhin diese einen verärgerten Laut von sich gibt.

Die Schritte und die Atmung der Person beschleunigen sich. Der schwarze Umhang flattert und verhüllt den schmalen Körper der Gestalt.

Sie bleibt stehen, dreht sich um und wirft einen Blick hinter sich. Nebel wabert in dicken Schwaden durch die Stadt. Die Person hebt mit der einen Hand ihren Umhang an, eine goldene Öllampe blitzt darunter auf. Die andere Hand umklammert ein Amulett, das im flackernden Licht der Straßenlaterne türkisfarben glitzert.

Die dunkle Erscheinung bleibt für einen Moment reglos stehen, dann wird sie von der Nacht verschluckt.

Kapitel Eins

Der Pausengong ertönte, etliche Schüler strömten an mir vorbei und machten sich auf den Weg zu ihren Klassen. Gespräche und Gelächter drangen an meine Ohren, Freundinnen zeigten sich gegenseitig ihre Fotos aus den Osterferien. Kaum hatte ich unseren Kursraum betreten, rempelte mich jemand an und ich stieß mit der Hüfte unsanft gegen einen der Tische. Ein stechender Schmerz machte sich bemerkbar und ich rieb über die Stelle. Ich hatte mich kaum auf meinem Platz niedergelassen, mein Federmäppchen auf den Tisch gelegt und meinen Kugelschreiber hervorgeholt, als ich einen kalten Lufthauch in meinem Nacken vernahm.

»Hey, Brillenschlange.«

Bei dem Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen und machte mich kleiner. Nervös rückte ich meine Brille zurecht.

»Schickes neues Outfit. Aus der Altkleidersammlung gefischt?«

Marco tauchte vor mir auf und blickte auf mich herab. Sein Mund war zu einem fiesen Grinsen verzogen. Krampfhaft starrte ich auf die Tischplatte und kämpfte mühsam gegen die Tränen an, die sich in meinen Augen sammelten. Mit allerletzter Kraft schluckte ich sie gemeinsam mit dem dicken Kloß in meinem Hals hinunter.

Ich hasste mich für meine Hilflosigkeit. Jedes Mal, wenn sich Marco oder einer seiner Kumpels vor mich stellte, hatte ich plötzlich das Gefühl, meine Zunge wäre verknotet. Marco beugte sich noch ein Stück weiter zu mir herunter. Die Feindseligkeit in seinen Augen ließ mich zusammenzucken.

»Ich hasse Streberinnen wie dich«, zischte er.

Ich wollte etwas erwidern, doch ich brachte kein einziges Wort über meine Lippen.

»Was ist? Hast du was gesagt?« Marco formte mit seiner Hand einen Trichter um sein Ohr. »Ich kann gar nichts verstehen.«

Mittlerweile war auch der Rest seiner Clique in dem Klassenraum eingetrudelt. Die Jungs klatschten sich grölend gegenseitig auf die Schulter, einige Mädchen hielten sich leise tuschelnd und kichernd die Hände vor den Mund.

»Alle setzen, der Unterricht hat begonnen!«

Und wieder einmal war ich unserem jungen Geschichtslehrer Herrn Marx sehr dankbar dafür, dass er zum richtigen Zeitpunkt im Türrahmen erschien. Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus.

Marco sah mich gereizt an, griff nach meinem Federmäppchen und warf es hinunter, sodass sich dessen kompletter Inhalt über den Boden verteilte. Während ich mit hochrotem Kopf meine Stifte wieder einsammelte, spürte ich die teils belustigten, teils mitleidigen Blicke meiner Mitschüler auf mir. Marco lachte schadenfroh und ich hörte, wie sich Nikkis schrilles Lachen daruntermischte. Ich schrumpfte noch mehr in mich zusammen. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr unter dem Tisch hervorgekommen.

Sanny, die schräg von mir saß, kam mir zu Hilfe und drückte mir die restlichen Utensilien in die Hand, wofür ich ihr einen dankbaren Blick von der Seite zuwarf.

Mit gesenktem Blick und noch immer heißen Wangen nahm ich wieder auf meinem Stuhl Platz.

Ich war nicht die Einzige, die unter den gehässigen Kommentaren von Marco zu leiden hatte, doch aus irgendeinem Grund hatte er es besonders auf mich abgesehen. Dabei verstand ich nicht einmal warum, schließlich hatte ich ihm nie etwas getan. Wahrscheinlich bereitete es ihm bei mir noch mehr Spaß, weil ich mich nicht gegen seine Gemeinheiten wehrte. Ich besaß einfach nicht den Mut dazu.

Jeder hier wusste, dass es kein Vergnügen war, Marcos Spott ausgesetzt zu sein. Daher gab es auch niemanden, der ihm oder dem Rest seiner Clique mal Paroli bot. Wer wollte schon freiwillig Marcos Zorn auf sich lenken und zu seiner persönlichen Zielscheibe werden?

In den letzten Jahren hatte ich einen richtigen Schutzwall um mich aufgebaut. Wenn man ständig den verletzenden Kommentaren seiner Mitschüler ausgesetzt war, verlor man irgendwann den Glauben daran, dass es so etwas wie richtige Freundschaft gab. Marco, Nikki und deren Freunde zeigten mir schließlich jeden Tag aufs Neue, wie gehässig und kalt Menschen sein konnten.

Ich hätte gerne eine Freundin an meiner Seite gehabt, doch es fiel mir mittlerweile immer schwerer, auf andere zuzugehen und ihnen Vertrauen zu schenken. Mir war durchaus bewusst, dass ich kaum noch jemanden an mich heranließ oder jemandem eine richtige Chance gab. Bevor ich wieder das Risiko einging, enttäuscht zu werden, blieb ich lieber allein. Manchmal war das die bessere Option.

»Marco, lass Jasmin endlich in Ruhe und setz dich hin!«, donnerte Herr Marx plötzlich. »Ich habe dir bereits vor den Ferien mehr als einmal deutlich gemacht, dass ich ein solches Benehmen nicht dulde. Daher wirst du den ersten Schultag heute auch mit Nachsitzen verbringen!«

»Aber …«, setzte Marco fassungslos an, doch Herr Marx ließ nicht mit sich reden.

»Setz dich hin und keine Widerworte mehr!«

»Das ist total unfair. Die Brillenschlange hat ihn provoziert!«, mischte sich Nike alias Nikki in die Unterhaltung ein.

»Nike, möchtest du Marco beim Nachsitzen vielleicht Gesellschaft leisten? Ansonsten würde ich dir raten, jetzt besser den Mund zu halten.«

Ihre roten Haare zurückwerfend, ließ sich Nikki auf ihren Platz fallen. Marco tat ihr Letzteres gleich und nahm missmutig in der zweiten Reihe neben seinen Freunden Platz, sodass mein Blick auf seinen Rücken fiel.

Endlich hatte ich meine Ruhe. Wenigstens für heute.

Doch während Herr Marx bereits die Tafel vollschrieb und ich aufsah, begegnete ich erneut Marcos finsterem Blick. Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Nach dem Unterricht ging ich zu den Fahrradständern und wollte mich bereits auf mein Rad schwingen, als ich sah, dass mein Hinterreifen komplett zerstochen war.

Ich schob es zwei Kilometer weit nach Hause.

Völlig erledigt schmiss ich zu Hause meine Tasche auf den Boden und warf mich aufs Bett. Was für ein beschissener Tag! Konnten mich die anderen aus meinem Jahrgang nicht einfach ein einziges Mal in Ruhe lassen? Wieder einmal verfluchte ich diese Hilflosigkeit.

Es war jeden Tag das Gleiche. Jeden Tag die gleiche Prozedur. Jeden Tag die gleichen Sprüche. Die Sticheleien und die bissigen Kommentare meiner Mitschüler. Am schlimmsten war jedoch Marco.

Ich verschränkte die Arme hinter meinem Kopf und starrte an die Decke. Bestimmt war auch er es gewesen, der meinen Reifen zerstochen hatte, da war ich mir hundertprozentig sicher. Seit drei Jahren schon hatte es Marco auf mich abgesehen, dabei hatte ich ihm nie etwas getan. Marco war das größte Arschloch auf diesem Planeten, aber leider nun einmal einer der beliebtesten Jungs an der gesamten Schule. Die Mädchen lagen ihm praktisch zu Füßen und die anderen Jungs sahen zu ihm auf.

Er war ein begnadeter Fußballspieler und Mitglied des Schulteams. Für unsere Schule hatte Marco schon so einige Male den Pokal geholt. Jeder kannte ihn und wusste, wer er war. Ich denke, was viele Personen wirklich an ihm beeindruckte, war seine Selbstsicherheit. Zum Glück waren es nur noch sechs Wochen bis zu den Abiturprüfungen. Danach würde ich meine Mitschüler lediglich einmal beim Abiball wiedersehen, von dem ich mir nicht mal sicher war, ob ich überhaupt hingehen würde.

»Jasmin«, drang die Stimme meiner Mutter gedämpft von unten zu mir herauf.

Ich drückte meinen Kopf in das weiche Kopfkissen und stöhnte leise. Vielleicht würde sie einfach wieder verschwinden, wenn ich nicht reagierte.

»Jasmin!«

Okay, Verstecken war zwecklos. In spätestens zehn Sekunden würde meine Mutter sonst in mein Zimmer gerauscht kommen und nicht lockerlassen. Sie konnte es nicht leiden, wenn ich nicht reagierte.

»Ja, was ist denn?«, rief ich nun ebenfalls zurück und rutschte langsam vom Bett. Als meine Füße den Teppichboden berührten, schlüpfte ich in meine rosafarbenen Pantoffeln.

Ich trat aus meinem Zimmer und blickte die Wendeltreppe hinab, an deren Absatz meine Mutter stand und mich aus großen Augen ansah.

»Komm her, deine Tante ist aus Dubai zurück und hat uns ein Paket vor die Tür gestellt.«

Oh nein, nicht auch das noch. Dann konnte ich mich ja wieder auf was gefasst machen.

»Was es wohl diesmal ist?«, spottete ich, als ich neben meiner Mutter auf der abgewetzten Couch im Wohnzimmer Platz nahm.

»Vielleicht eine Wahrsager-Kugel mit Tarotkarten. Würde sich zumindest gut neben der karibischen Voodoo-Puppe und dem Büchlein der Schamanen-Rituale in meinem Schrank machen.«

Oder neben der afrikanischen Stammesmaske, bei deren Fratze man das Gefühl bekam, sie würde einen jeden Moment lynchen wollen. Weswegen ich sie auch in die hinterste Ecke meines Schrankes verbannt hatte.

Meine Tante Doris war ein wenig speziell. Sie hatte einen Fimmel für alles Übernatürliche.

Von ihren vielen Reisen, die Doris schon von Buxtehude bis nach Timbuktu geführt hatten, brachte sie Mama und mir jedes Mal eine Kleinigkeit mit. Was an sich ja auch wirklich nett war, aber ihr Geschmack dabei war eben wie sie auch … besonders. Ich brachte es allerdings auch nicht über mein Herz, die Mitbringsel meiner Tante einfach in den Müll zu werfen, denn so schräg Doris auch sein mochte, wusste ich, dass sie es nur gut mit uns meinte.

Zum Glück hatte ich sie bisher immer noch davon abhalten können, mir die Zukunft aus dem Kaffeesatz vorherzusagen (nach dem Reisen ihr größtes Hobby!) und anhand der Lebenslinien an meiner Hand irgendwelche Prophezeiungen auszusprechen.

Ne, danke. An solchen Firlefanz glaubte ich nicht.

»Ach, die Sachen waren doch ganz … nett«, holte mich meine Mutter aus meinen Gedanken zurück. Ich warf ihr einen prüfenden Blick zu. Dazu ging mir sofort der Spruch ›Nett ist die kleine Schwester von Scheiße‹ durch den Kopf.

Doris war die Schwester meines Vaters. Eigentlich konnte man ihn nicht mal als meinen Vater bezeichnen, da er kurz vor meiner Geburt abgehauen war und jetzt bei ›Ärzte ohne Grenzen‹ durch Dritte-Welt-Länder reiste. Letztere Leidenschaft hatte er definitiv mit Doris gemeinsam.

Mama und ich blickten in den schon etwas mitgenommenen Karton. Ein rotes Päckchen, mit silbernen Ornamenten verziert, und ein blaues Päckchen, mit goldenen Sternen versehen, lagen zusammen mit zwei Kärtchen darin.

»Schau mal, ich glaube, das hier ist für dich. Da steht dein Name drauf.« Mama hielt mir das Päckchen mit den Sternen entgegen, während sie selbst nach dem roten griff.

Vorsichtig wickelte ich das blaue Papier ab und öffnete den Karton. Zum Vorschein kam schließlich eine goldglänzende Öllampe. Sie war mit feinen Smaragd-Steinchen an der Seite versehen, die im Licht glänzten. Zu meiner eigenen Überraschung musste ich mir eingestehen, dass sie mir wirklich gut gefiel.

»Wow, da hat sich Doris echt mal Mühe gegeben«, meinte ich mit einem anerkennenden Nicken. »Und was hast du bekommen?« Neugierig blickte ich meine Mutter an, die gerade ein wunderschönes Amulett aus goldfarbenem Stoff auswickelte. Es leuchtete in einem intensiven Türkis.

»Hmmh, für den merkwürdigen Geschmack deiner Tante ist das wirklich mal etwas anderes.«

Es klang so, als würde ein empörtes Schnauben direkt aus der Wunderlampe kommen. Aber da dies unmöglich war, fragte ich meine Mutter: »Hast du was gesagt?«

Überrascht sah sie mich an. »Ich habe lediglich gesagt, dass das Geschenk für den Geschmack deiner Tante …«, wiederholte sie, doch ich schüttelte den Kopf.

»Das meinte ich nicht, ich … egal, ich hab mich wohl vertan.« Ich winkte ab und schenkte meiner Mutter ein Lächeln. Seltsam. Ich dachte, ich hätte etwas gehört.

»Wie war eigentlich die Schule?«, fragte meine Mutter mich beim Essen.

Einen Moment verharrte ich in meiner Position, doch ich hatte mittlerweile gelernt, meine Rolle zu spielen. Ich setzte ein Lächeln auf.

»Alles bestens«, sagte ich bemüht gut gelaunt, auch wenn sich bei diesen Worten ein Knoten in meinem Bauch bildete.

Ich betrachtete das Amulett, das sich meine Mutter bereits umgelegt hatte. Es stand ihr wirklich gut und passte hervorragend zu ihrem blauen, tief ausgeschnittenen Shirt. Mein Blick wanderte schließlich weiter zu der Wunderlampe, die direkt neben dem Wohnzimmerbrunnen mit dem kleinen Buddha darin (der wurde ausnahmsweise auf Mamas Wunsch hin gekauft) auf der Anrichte stand.

Meine Mutter sah mich prüfend an, als erwartete sie noch eine weitere Antwort von mir, doch glücklicherweise schwieg sie. Als das vor etwa drei Jahren mit den abfälligen Kommentaren von Marco angefangen hatte, hatte ich versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden. Doch irgendwie hatte ich den richtigen Zeitpunkt dafür verpasst. Ich schämte mich, meiner Mutter die Wahrheit zu sagen. Das Schlimmste von allem war, dass ich mich mittlerweile selbst als Verliererin sah.

Wortlos löffelten wir beide den Schokopudding, bis meine Mutter erneut das Wort ergriff.

Sie räusperte sich und wirkte etwas nervös, ihre Hände spielten an ihrer Kaffeetasse herum.

»Jasmin-Schätzchen, … ich …«

»Mama, kannst du mich bitte einfach nur Jasmin nennen?«

Meine Mutter wirkte ein wenig aus dem Konzept gebracht. »Ähm,  … äh, ja, wenn du das so möchtest, natürlich, Jasmin-Schätz … Jasmin«, verbesserte sie sich im letzten Moment und knetete ihre Finger. So langsam übertrug sich ihre Nervosität auch auf mich und ich wippte mit meinen Füßen.

Mama räusperte sich erneut. »Jasmin, ich habe einen Mann kennengelernt.«

Meine Miene verfinsterte sich. »Und was habe ich damit zu tun?«, fragte ich bitter.

»Ich möchte, dass du ihn kennenlernst. Bernd ist

wirklich …«

»Ach, Bernd heißt er? Ich kann mich entsinnen, dass der Typ von vor zwei Wochen noch Thomas hieß.« Meine Mutter schluckte schwer.

»Warum soll ich dabei sein, wenn du dich mit deinem neuen Lover triffst? Geschweige denn mir seinen Namen überhaupt merken?«

Wieder begann meine Mutter an ihrer Kaffeetasse herumzuspielen, bis sie sie schließlich absetzte und mich eindringlich einsah.

»Es ist mir wichtig, Jasmin. Diesmal ist es der Richtige.« Zaghaft lächelte sie mich an und streckte ihre Hand nach mir aus, doch ich lehnte mich zurück und schüttelte den Kopf.

Ich hatte es so satt. Die vielen Männer meiner Mutter, von denen jede Woche ein anderer in unser Haus spazierte und sich hier ausbreitete. Ich war es wirklich leid.

»In spätestens einer Woche ist er doch sowieso wieder weg und der nächste Typ steht auf der Matte. Hast du dich eigentlich mal gefragt, wie es mir damit geht?«, brachte ich wütend hervor. Meine Stimme war lauter geworden.

Das Lächeln meiner Mutter fiel in sich zusammen und ihre Augen strahlten tiefe Traurigkeit aus.

»Jasmin, ich … du bist das Wichtigste in meinem Leben, das weißt du doch hoffentlich?« Ihre Stimme klang brüchig. Mittlerweile standen ihr Tränen in den Augen. Auch wenn es in diesem Moment eine Seite an mir gab, der dies leidtat und die meine Worte bereute, so war die andere doch viel zu aufgebracht, um darauf einzugehen.

»Ich geh nach oben. Ich muss noch eine Hausarbeit für nächste Woche vorbereiten.« Was nicht stimmte, aber das musste sie ja nicht wissen.

Mit diesen Worten schob ich den Stuhl über den Boden, griff im Vorbeigehen nach der Wunderlampe und stampfte die Treppe zu meinem Zimmer hoch.

Ich war so aufgebracht und erzürnt zugleich, dass ich in meinem Zimmer auf und ab lief. Bernd! Als ob ich so nicht schon genug Probleme in meinem Leben hätte, jetzt durfte ich mich wieder mit einem neuen Typ von Mama rumärgern! Mit grimmiger Miene strich ich über Doris’ Mitbringsel, das ich noch immer fest in meiner Hand hielt.

Die goldene Wunderlampe glänzte im Licht der Sonne, das durch mein Fenster fiel. Die filigranen Verzierungen und Ornamente in Form von Blüten glitzerten und die Smaragde funkelten. Gedankenverloren rieb ich darüber, fuhr die Umrisse mit meinem Daumen nach und lächelte zaghaft.

Ein süßlicher Duft drang mir in die Nase. Fruchtig und exotisch, als wäre er aus einem fernen Land. Eine Mischung aus Zimt, Orangen und Rosen.

Rauchschwaden zogen wie ein wehender Schleier durch mein Zimmer und ich musste husten.

Ich blinzelte verwirrt – und erschrak beinahe zu Tode, als ich plötzlich einen dunkelhaarigen Jungen vor mir stehen sah. Der schmale Körper war in ein weißes dünnes Hemd und eine merkwürdige Pumphose gehüllt. Und der Junge lief barfuß.

Mein Blick glitt höher und ich hielt unwillkürlich den Atem an, als ich in zwei kohlrabenschwarze Augen schaute, die mich an Kristalle erinnerten.

Dunkle, glänzende Kristalle.

Und dann setzte endlich wieder mein Verstand ein und ich schrie los.

Kapitel Zwei

»Was zur Hölle machst du in meinem Zimmer?« Da ich gerade nichts anderes parat hatte, griff ich kurzerhand nach meinem dicken Erdkundebuch. Mehr oder weniger bedrohlich hielt ich es in die Höhe, während ich den Fremden mit Argusaugen fixierte. Schwarze Haare fielen ihm locker in die Stirn. Seine ebenmäßige Haut erinnerte mich an Bronze und Kaffee. »Soll das irgendein schlechter Scherz von Marco und seinen Freunden sein? Eine neue Demütigung?«

Ich blickte zum Fenster, das jedoch verschlossen war. Wie war der Typ unbemerkt in unser Haus gelangt?

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon Ihr sprecht, Meisterin. Außerdem würde ich mir nie einen Scherz mit Euch erlauben, das steht mir nicht zu.« Er klopfte sich den unsichtbaren Staub von seiner gewöhnungsbedürftigen Pumphose, richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf mich und deutete eine leichte Verbeugung an.

»Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Dalan. Stets zu Euren Diensten. Die Djinns seien mit Euch.«

»Bitte wer ist mit mir?«, fragte ich irritiert.

»Ihr habt mich befreit und von meinen Qualen erlöst. Ich stehe tief in Eurer Schuld und bin Euch zu ewigem Dank verpflichtet. Als Zeichen meiner Freude und weil der Brauch es so will, gewähre ich Euch fortan drei Wünsche.«

Was faselte er? Ich stand da wie vom Donner gerührt und starrte den Typen völlig perplex an.

»Allerdings muss ich Euch darauf hinweisen, dass jegliche Geldwünsche oder Liebeszauber davon ausgeschlossen sind.«

Der Unbekannte besaß tatsächlich die Unverschämtheit, mich bei letzteren Worten anzüglich anzugrinsen, woraufhin mein Gesicht zu meinem eigenen Ärger ganz heiß wurde.

»Euer Wunsch ist mir von nun an Befehl, Gebieterin.«

Meisterin? Gebieterin? Der Typ war ja wohl nicht mehr ganz dicht. Ob der aus irgendeiner Anstalt entlaufen war?

Ich stemmte meine Hände in die Hüften. »Und du kommst jetzt woher, wenn man fragen darf?«

Der junge Mann legte seinen Kopf schief und musterte mich aus seinen dunklen Augen. Jetzt war ausgerechnet er derjenige, der mich mit einem Blick bedachte, als wäre ich nicht mehr ganz bei Verstand. Allerdings zweifelte ich gerade durchaus an meiner eigenen Zurechnungsfähigkeit.

Dalan deutete auf die Wunderlampe. »Ursprünglich komme ich aus Agrabah. Seit 1848, dem Jahr meines einundzwanzigsten Geburtstags, bin ich nun schon dazu verdammt, mein Leben als Flaschengeist zu verbringen. Ihr habt mich aus diesem Gefäß befreit und mir meine lieb gewonnene Freiheit zurückgegeben. Es ist wirklich nicht angenehm, in solch einer kleinen, stickigen Lampe gefangen zu sein.«

Während der junge Mann seine Worte mit einem Kopfschütteln betonte, starrte ich ihn noch immer unverhohlen mit offenem Mund an.

Agra-was? Lampe? 1848? Wenn es stimmte, was der Junge erzählte, dann wäre er … 1827 geboren und jetzt … hundertneunzig Jahre alt!

Ich rückte meine Brille zurecht.

Dieses Gespräch konnte sich hier gerade nicht tatsächlich abspielen, das war unmöglich!

Meine Hand wanderte zu meiner Schläfe. »Alles gut. Das ist nur eine lächerliche Halluzination. Nur-eine-Halluzination«, redete ich mir gut zu, drehte mich um, ohne noch einen Blick auf die seltsame Erscheinung zu werfen, und lief schnurstracks in Richtung Badezimmer. Angespannt rieb ich mir über die Schläfen. Wahrscheinlich war ich einfach nur gestresst.

Ich nahm meine Brille ab, ließ kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen und verteilte vorsichtshalber auch gleich noch ein wenig davon in meinem Gesicht. Langsam öffnete ich meine Augen wieder, schob mir die Brille zurück auf die Nase und …

»AAAAAAAAHHHHH!« Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als Dalan im Spiegel hinter mir auftauchte. Vor Schreck stieß ich den Zahnputzbecher von der Anrichte.

Dalan thronte so selbstverständlich im Schneidersitz auf dem Klodeckel, als würde er zur Badezimmerdekoration dazugehören.

Ich fuhr herum. »Sag mal, hast du sie noch alle, mich so zu erschrecken?«

»Wieso?« Der Typ sah mich unverständlich an. »Ihr habt mir übrigens noch gar nicht Euren Namen verraten.«

»Der tut nichts zur Sache«, erwiderte ich knapp. »Was soll das hier werden?« Ich machte mit den Händen eine ausholende Bewegung in seine Richtung.

»Ich versuche, Konversation zu betreiben. Aber wie ich sehe, seid Ihr äußerst unwillig. Tzz, tzz, tzz.« Dalan schüttelte missbilligend den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine, warum du …« Ich stoppte abrupt und strich mir erneut über die Schläfen. »Jasmin, du wirst jetzt ganz sicher nicht mit einem Flaschengeist diskutieren.«

»Führt Ihr des Öfteren Selbstgespräche? Mir scheint, als würde es Euch nicht gut gehen. Und ich dachte schon, dass ich über all die Jahrhunderte in meiner Lampe etwas merkwürdig geworden bin …« Dalan runzelte die Stirn und drehte seinen Zeigefinger kreisförmig neben seiner Schläfe.

Ich gab ein Knurren von mir, zog mein Handy aus der Gesäßtasche meiner Hose und lief damit in mein Zimmer. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, meine Mutter zu rufen, entschied mich dann aber dagegen. Es war besser, wenn sie hiervon nichts erfuhr.

Sollte ich die Polizei informieren? Die würden mich vermutlich auslachen. Allerdings kam mir noch eine andere Idee in den Sinn.

Ich googelte kurz den Namen und fand schließlich eine passende Telefonnummer dazu. Hoffentlich hatte ich da mehr Glück.

»Psychiatrische Klinik Wahnfried, Sie sprechen mit Gundel Tölle.«

»Guten Tag, Jasmin Winterberg hier«, sagte ich mit fester Stimme, senkte sie jedoch gleich darauf, da mich Dalan von meinem Bett aus beobachtete.

»Wissen Sie …«, raunte ich und hielt eine Hand über den Hörer, »… ich habe hier jemanden, der sich für einen Flaschengeist hält. Vermissen Sie zufällig ein derartiges Exemplar in Ihrer Sammlung?«

»Wir sind noch mit zwölf Weihnachtsmännern und acht Osterhasen vom letzten Jahr ausgelastet. Ein Flaschengeist gehört zum Glück noch nicht dazu«, kam es patzig von einer Frauenstimme am anderen Ende des Hörers zurück.

»Ja, aber ich …« Ein Klicken ertönte in der Leitung.

Tut, tut, tut …

»Hallo?«, fragte ich irritiert. Da hatte die doch einfach aufgelegt.

»Frechheit«, murmelte ich und drückte missmutig auf den roten Hörer.

»Sieht ganz so aus, als würdet Ihr mich nicht so schnell loswerden, Gebieterin«, ertönte es vergnügt. Erwartungsvoll sah Dalan mich an.

»Und was stellen wir zwei jetzt noch mit diesem wundervollen Tag an, Orangenblüte?«

Ich stand kurz vor einem Schreikrampf und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als mich meine Mutter unterbrach.

»Jasmin?« Im nächsten Moment vernahm ich dumpfe Schritte, die die Treppe hinaufkamen, kurz darauf klopfte es an meiner Zimmertür.

»Schätzchen, wegen vorhin … es tut mir leid.« Mamas Stimme hörte sich ein wenig verschnupft an. »Darf ich reinkommen?«

Ich zuckte zusammen und musste mit Schrecken feststellen, dass die Türklinke nach unten gedrückt wurde.

»Moment, ich komme gleich!«, erwiderte ich hektisch und stemmte mich gegen die Tür. Meine Mutter durfte jetzt auf keinen Fall in mein Zimmer kommen! Wie sollte ich ihr erklären, dass ein fremder Junge in meinem Zimmer stand, der sich noch dazu als Flaschengeist ausgab?

»Ich, ähm … ziehe mich gerade um!«

»Oh, okay«, ertönte es leise von draußen. »Dann warte ich unten in der Küche auf dich.«

»Ich beeile mich«, schickte ich schnell hinterher. Einen Moment blieb ich noch stehen, bis ich hörte, wie sich ihre Schritte langsam wieder entfernten. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus und warf Dalan dann einen strengen Blick zu.

»Und du gehst jetzt zurück in deine Lampe oder sonst wohin«, befahl ich ihm und wartete seine Antwort erst gar nicht ab, sondern schloss die Tür von außen hinter mir.

Kapitel Drei

Dalan

Ich rieb mir über die Augen, da ich es noch immer nicht glauben konnte, nach hundertneunundsechzig Jahren endlich wieder Tageslicht zu sehen. Meine nackten Füße bewegten sich stolpernd über den dreckigen Asphalt. Zig Gedanken strömten durch meinen Kopf, während ich desorientiert durch eine kleine Seitenstraße irrte.

Immer wieder blieb ich stehen und betrachtete meine Beine, als würde ich diese zum ersten Mal sehen. Wie ein kleines Kind hüpfte ich auf und ab und schüttelte meine Arme aus. Endlich war ich wieder in menschlicher Gestalt! Ich hatte schon befürchtet, bis ans Ende meiner Tage als Lufthauch in einer Lampe leben und Selbstgespräche mit mir führen zu müssen.

Eine ältere Dame mit gräulichem Haar blieb vor mir stehen und sah mich besorgt an.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie mich, woraufhin ich ein überschwängliches »Ich sehe wieder aus wie ich selbst« ausstieß. Ich wirbelte die Frau einmal herum und gab ihr vor lauter Freude anschließend sogar noch einen Kuss auf die Wange.

Die Dame wusste gar nicht, wie ihr geschah, und noch im gleichen Moment entschuldigte ich mich für mein törichtes Verhalten.

»Bitte verzeiht mir vielmals, da sind die Kamele mit mir durchgegangen«, sagte ich und verbeugte mich vor ihr, um der alten Frau meinen Respekt zu erweisen.

Gut gelaunt ging ich weiter, bis ich irgendwann an eine Weggabelung gelangte. Ich blieb stehen und sog für einen Moment den fremden Geruch in der Luft in mich auf. Es fiel mir schwer, ihn näher zu bestimmen. Er ähnelte keineswegs den Gerüchen, die ich von zu Hause kannte. In Agrabah hatte es immer nach allen möglichen Gewürzen gerochen: Zimt, Kardamom, Curry, Ingwer und viele weitere.

Mir fiel auf, dass mich die Menschen mit skeptischen, teils misstrauischen Blicken bedachten. Ein kleines Kind zog am Rockzipfel seiner Mutter, machte große Augen und deutete mit dem Zeigefinger auf mich.

»Mama, Mama, guck mal! So ein Kostüm möchte ich auch haben.«

Die Mutter packte ihr Kind bei der Hand und zog es mit sich. »Schau da nicht so hin.«

Ich kniff meine Augen zusammen und musterte meine Umgebung. Geräusche, die ich nicht einordnen konnte und die ich noch nie zuvor gehört hatte, drangen von überall an mein Ohr. Es war alles so fremd.

Nirgendwo standen Marktstände oder Häuser aus Lehm, und die Gehwege waren auch nicht von orangefarbigem Wüstensand bedeckt. An den Straßenrändern lag kein Dung und ich konnte auch keine Ochsenkarren ausfindig machen. Meine Gedanken glitten weiter zu meiner Meisterin. Durch das Reiben der Lampe war ich an dieses Mädchen gebunden. Und wie es aussah, war Jasmin alles andere als begeistert über mein unerwartetes Auftauchen. Was für eine Beleidigung, dass sie mich einfach in meine Lampe hatte zurückscheuchen wollen!

Wie konnte jemand mit einem so lieblichen Namen dermaßen kratzbürstig sein?

Warum freute sie sich nicht, drei Wünsche geschenkt zu bekommen? Ich wüsste schon, was ich mir dann gewünscht

hätte … Freiheit.

Ich dachte an mein Zuhause und Traurigkeit breitete sich in mir aus. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals.

Würde ich den Bann brechen und Agrabah jemals wiedersehen können? War es möglich, dass ich zurück in meine Zeit konnte, sobald ich diesem Mädchen die drei Wünsche erfüllt hatte? Zumindest besagte das der Brauch.

Aber was wusste ich schon? Jasmin war schließlich meine erste Meisterin. Und nach all den Jahren in der Lampe hatte ich noch immer keine Ahnung, wer mir das angetan hatte und vor allem: aus welchem Grund!

Diese Ungewissheit bereitete mir Kopfschmerzen. Irgendetwas quietschte abrupt und ich blickte erschrocken auf das merkwürdige Fahrgestell, das nur wenige Zentimeter vor mir zum Stehen kam.

Ein Mann beugte sich daraus hervor.

»Pass doch auf, Junge, ich hätte dich fast über den Haufen gefahren«, schrie er.

Doch ich reagierte nicht darauf, da ich meine Augen nicht von diesem schwarzen Ungeheuer vor mir abwenden konnte. Was zur Hölle war das? Es hatte definitiv keine Ähnlichkeit mit einem der Ochsenkarren in Agrabah.

Der bärtige Mann stieg wild gestikulierend aus seinem fahrbaren Untersatz aus und schaute mich äußerst verärgert an.

»Wird’s bald, jetzt geh endlich von der Straße runter!«

Ich tippte mit dem Finger auf das fremde Gestell. »Herr, wie zieht Ihr diesen Karren ohne Ochsen oder Pferd? Wo ist Euer Tier?«, fragte ich interessiert.

»Bitte was? Willst du mich verarschen?« Er blickte gen Himmel und schüttelte den Kopf.

»Hat man es heutzutage eigentlich nur noch mit Verrückten zu tun?«

Was zum Djinn redete er da?

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, stieg er, irgendwas vor sich hin murmelnd, wieder in seinen Wagen, der daraufhin ein Brummen von sich gab.

Der Mann würde schon noch sehen, was er von seiner Unfreundlichkeit hatte …

Ich trat zur Seite und löste mich vor seinen Augen in Nebel auf. Der entgeisterte Blick in seinem Gesicht bescherte mir ein wahres Glücksgefühl und immer noch kichernd verzog ich mich zurück in meine Lampe.