FELIX A. MÜNTER

The Rising

Für K. Prost und M. Münter.
Danke für eure Ausdauer, euren Zuspruch und eure
Unterstützung zu jeder Zeit
.

Ein besonderer Dank gebührt Oliver Haase.
Freund, Sparringspartner und Probeleser der ersten
Stunde
.

1. Auflage

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Text © Felix A. Münter

Titelbild: Ignacio Bazán Lazcano
Lektorat: Nora-Marie Borrusch
Satz: Karl-Heinz Zapf
Bildbearbeitung: Helge Balzer

ISBN: 978-3-945493-01-4

Felix A. Münter

THE RISING

Buch 1: Neue Hoffnung

Roman

Inhalt

Kapitel 1 Der Überfall

Kapitel 2 Station

Kapitel 3 Nach Norden

Kapitel 4 Yard

Kapitel 5 Belagert

Kapitel 6 Institut 18

Kapitel 1

Der Überfall

Irgendwann war die Welt vor die Hunde gegangen.

Was genau den Kollaps ausgelöst hatte, vermochte heute kaum noch jemand zu sagen. Eine Seuche, eine Naturkatastrophe oder ein folgenschwerer Unfall. Vielleicht auch ein globaler Krieg, in dem irgendeine Partei zuerst auf den roten Knopf gedrückt und damit die Tore zur Hölle aufgestoßen hatte. Vielleicht war es eine Mischung aus all diesen Ereignissen, eine unglückliche Verkettung – oder aber nichts dergleichen.

Fragte man eine Handvoll Menschen danach, so erhielt man mindestens doppelt so viele Antworten. Letzten Endes war es völlig egal. Denn es war Vergangenheit. Und damit für das Leben im Hier und Jetzt völlig unwichtig. Wer überleben wollte, der konnte sich den Luxus, in Erinnerungen einer längst vergangenen Zeit zu schwelgen, nicht erlauben. Im kollektiven Gedächtnis hatte sich einfach nur eine markante Trennlinie eingebrannt. Sie markierte die Zeit DAVOR und die Zeit DANACH.

Der tägliche Kampf ums Überleben hatte das Erbe einiger tausend Jahre Menschheitsgeschichte fast völlig aus den Köpfen der Übriggebliebenen verbannt. Der Zusammenbruch der eigenen Zivilisation war nicht spurlos an der Menschheit vorbeigegangen. Die Anzahl der Spezies Mensch sank innerhalb weniger Jahre von einigen Milliarden auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Stärke. Kaum dass der Mensch dezimiert war, begann die Natur, sich unbarmherzig auszubreiten, und verschlang an vielen Orten das, was die angebliche Krone der Schöpfung in mühevoller Arbeit in den letzten Jahrhunderten geschaffen hatte.

Jene, die der Katastrophe standgehalten hatten, suchten Sicherheit in der Gruppe und bildeten Gemeinschaften. Einige dieser Gemeinden gingen im Chaos der Folgejahre unter, andere wiederum schafften es, sich zu behaupten. Sie siedelten sich irgendwo in den Weiten der entvölkerten, wilden Landstriche an und versuchten, den Gefahren der neuen Welt zu trotzen. Doch die Welt DANACH konnte kein friedlicher Ort sein. Denn die Menschheit hatte überlebt.

Flach auf dem Bauch liegend hob Eris den alten Feldstecher an die Augen. Das rechte Objektiv des Gerätes war schon vor Jahren zersplittert, doch davon abgesehen befand es sich in gutem Zustand und leistete dem hochgewachsenen Mann vortreffliche Dienste. Seine schulterlangen, dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf gebunden und ein stoppeliger Bart verriet, wie lange er bereits in der Wildnis unterwegs war. Er war kräftig, seine Bewegungen routiniert und sicher. Seine Kleider waren von den Tagen in der Wildnis gezeichnet, ausgeblichen und verwaschen. Rechts und links von ihm erstreckte sich urtümlicher, wild wuchernder Wald, während genau vor ihm, fast schnurgerade, eine Schneise durch das Gehölz verlief. In der Zeit DAVOR war dies untrüglich eine der vielen Straßen gewesen, die einem Spinnennetz gleich das ganze Land durchzogen hatten, doch heute war davon kaum mehr als brüchiger Asphalt übrig. Aus den Schlaglöchern und den klaffenden Rissen sprossen Pflanzen und Büsche, hier und da hatten Bäume den undurchdringlich erscheinenden Asphalt durchbrochen. Unzweifelhaft würde die Natur nur noch wenige Jahre brauchen, dann wäre auch dieses Zeugnis der menschlichen Zivilisation verschwunden. Abseits der Straße, fast vom Wald verschlungen, waren einige Autowracks zu erkennen. Von ihnen war mittlerweile kaum mehr als Rost und sprödes Plastik übriggeblieben, das von Moos und Schlingpflanzen überwuchert wurde. Sie waren völlig nutzlos und wahrscheinlich schon vor Jahren all ihrer brauchbaren Teile beraubt worden.

Durch das Okular spähte Eris die alte Straße hinauf. Er verharrte, als er durch die Linse Bewegungen wahrnahm. Seine Finger tasteten nach der Vergrößerung. Vorsichtig stellte er die Optik des Feldstechers ein und die Schemen, die er erkannt hatte, bekamen Konturen, wechselten von einem verschwommenen, milchigen Etwas zu klar erkennbaren Formen.

In etwa zwei Kilometern Entfernung – so schätzte er – bewegte sich langsam eine Karawane.

Eris zählte ein halbes Dutzend schwer bepackter Maultiere, die, von vier Personen geführt, langsam vorantrotteten. Er nahm die Menschen in Augenschein und entdeckte bei dreien von ihnen größere Schusswaffen, während der vierte, ein eher schlaksiger, fast ausgemergelter Mann, unbewaffnet schien. Bei ihm handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den Händler. Die drei anderen mochten demnach nichts weiter als sein Begleitschutz sein.

Auch wenn die drei Männer einen durchaus fähigen und gefährlichen Eindruck machten, so war das alles eher ungewöhnlich. Niemand, der klar bei Verstand war, würde eine Karawane mit nur so wenigen Wächtern auf den Weg schicken – das musste selbst der geizigste Händler wissen. An der Sicherheit seiner eigenen Karawane zu sparen, das bedeutete nichts anderes, als leichtfertig sein Leben aufs Spiel zu setzen. Eris runzelte die Stirn. Normalerweise schickte man immer einen Späher voraus. Das war eine Grundregel – hier aber war das offenbar nicht der Fall.

Skeptisch nahm Eris die Straße und den Wald vor der Gruppe noch einmal in Augenschein, konnte aber keine Vorhut entdecken. Es mochte fähige Kundschafter geben, denen es leicht fiel, nicht aufzufallen, aber hier hatte Eris den Eindruck, dass man sich fähige Leute nicht hatte leisten wollen.

Er legte das Fernglas zur Seite und schüttelte irritiert den Kopf, während sein Verstand zu arbeiten begann.

Vielleicht waren die vier Männer bereits überfallen worden – und was er gesehen hatte, war der klägliche Rest? Vielleicht handelte es sich bei dem Händler, der sich leichtsinnigerweise an der Spitze seines Trupps bewegte, wirklich um einen Bastard, der am falschen Ende sparen wollte? Er zuckte gleichgültig mit den Schultern und robbte vorsichtig einige Schritte zurück.

Dann stand er auf und eilte das Trümmerfeld hinunter, das die eingestürzte Brückenruine umgab, auf der er seinen Beobachtungsposten bezogen hatte. Zielstrebig hielt er auf einige Büsche am Rand der alten Straße zu. Kurz bevor er die Buschgruppe erreichte, schnalzte er zweimal mit der Zunge. Ein Geräusch, das kaum mehr als einige Meter weit hörbar war. Er schob einige Blätter beiseite und bahnte sich seinen Weg in das dichte Buschwerk. Unvermittelt stand er vor seinen drei Begleitern, die ihn erwartungsvoll ansahen.

„So wie es aussieht“, begann Eris, „hat es sich wirklich gelohnt, einen Teil von unserem Zeug für die Informationen einzutauschen. Da kommt tatsächlich eine Karawane die Straße herunter. Sechs Maultiere, drei Söldner, ein Händler. Keine Späher, keine Nachhut.“

„Das gefällt mir gar nicht. Das stinkt“, grummelte einer seiner Freunde, ein vollbärtiger, stämmiger Mann, augenscheinlich der Älteste der kleinen Gruppe.

Eris nickte. „Ich glaube auch, dass da was im Busch ist, Perry. Keiner, der ein bisschen was im Schädel hat, würde mit so wenig Wachen reisen. Vor allem nicht bei so einer Ladung. Wenn es denn stimmt.“

„Leute, ich glaube, Ihr seht Gespenster. Vielleicht haben wir einfach nur Glück. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben“, warf der augenscheinlich Jüngste der Gruppe ein.

„Was hast du denn schon für eine Ahnung vom Leben, Tyler?“, knurrte Perry. „Bei wie vielen Überfällen warst du dabei? Glaub mir, sowas wie Glück gibt es in dieser Welt nicht. Diese Welt ist hart und dreckig – du denkst, du hast Glück, und im nächsten Moment verschluckt sie dich, kaut dich durch und spuckt dich wieder aus!“

Der Junge biss sich auf die Unterlippe und funkelte Perry für einen Moment zornig an.

„Glaubst du, ich …“, setzte er herausfordernd an.

„Was ich glaube, spielt gar keine Rolle. Ich habe deiner Mutter versprochen, ein Auge auf dich zu werfen, und das bedeutet auch, dass ich dich bestimmt nicht ins offene Messer laufen lasse“, unterbrach ihn Perry und hob mahnend seinen Zeigefinger. Ihre Blicke trafen sich. Seine Tonlage hatte sich nur um eine Nuance geändert, aber es war spürbar, dass der Alte keinen Widerspruch dulden würde. Der Junge sah ihn noch einen Moment trotzig an und blickte dann zu Boden.

„Und was meinst du?“ Eris wandte sich an die einzige Frau der kleinen Gruppe.

„Ich denke, der Kleine hat gar nicht so unrecht. Vielleicht ist das einfach eine Chance, ganz egal, was Perry sagt. Warum lassen wir die Karawane nicht einfach herankommen und entscheiden dann? Ich meine, sie müssen doch eh an uns vorbei.“ Damit drehte die Frau sich wieder um, legte sich auf den Bauch und sah durch die Blätter in Richtung Straße, das Gewehr im Anschlag.

„Grandiose Idee, Sal. Und wenn uns die Wachen zufälligerweise entdecken sollten und einen nervösen Finger haben, was dann?“

„Was dann? Dann schießen wir zurück und verteilen ihr Blut auf der Straße. Einfach.“ Sal hatte ihren Blick nicht von der Straße gelöst.

„Pragmatisch wie immer, Sal. Weißt du, eigentlich hatte ich nicht vor, heute ein Blutbad anzurichten. Zuschlagen, die Ware schnappen und weg sein, noch bevor sie überhaupt begreifen, was ihnen gerade passiert ist.“

Zugegeben, ein solches Vorgehen verkomplizierte die Überfälle immer wieder. Wahrscheinlich wäre es einfacher, sich wie alle anderen Banden zu verhalten. Ein paar Kugeln, ein paar Tote und keine Fragen. Dieses brutale Vorgehen hatte Eris jedoch immer widerstrebt. Es gab keinen Grund, jemanden umzubringen, wenn man auch so an seine Waren kommen konnte. Und was ihn anging, so wollte er sich auch in einigen Jahren noch im Spiegel betrachten können. Für seine Freunde galt wahrscheinlich das Gleiche, ungeachtet ihrer Wortmeldungen.

„Eris, das ist dein Plan. Wenn er nicht klappt und die Wachen das machen, wofür sie bezahlt wurden, sehe ich bei der Durchführung ein paar Probleme“, gab die Frau zu bedenken.

Eris schüttelte den Kopf „Ich nicht. Vergiss nicht: Wir sind keine blutrünstigen Diebe. Wir sind … keine Ahnung. Wir haben uns nur auf diesen Überfall eingelassen, weil wir alle gerade eine schwere Zeit haben, nicht mehr und nicht weniger.“

„Also gut. Ich finde den Vorschlag von Sal nicht schlecht. Man sollte sich immer alle Möglichkeiten offen halten. Und wenn wir alle unsere Nasen schön in den Dreck drücken, werden uns die Wachen schon nicht sehen.“ Perry kratzte sich am Kinn. „Und keine Sorge, Eris. Wenn sie nah genug herankommen, dann werden sie diese feinen Teile hier schon genug ablenken, um uns die nötige Zeit zu verschaffen.“ Damit streichelte der ältere Mann liebevoll einige Betäubungsgranaten an seinem Waffengürtel.

„Vorausgesetzt, dein Wurfarm macht nicht schlapp, alter Mann“, grinste Eris diebisch.

„Keine Sorge, das wird er nicht. Und wenn, könnte eine von den Dingern rein zufällig vor deinen Füßen landen“, meinte Perry trocken.

Für einen Moment schwieg Eris, während er überlegte, dann nickte er zur Bestätigung aller.

„Dann los. Sal, von hier aus kannst du die Straße gut sehen. Du bleibst hier. Perry, du und der Kurze marschiert gleich rüber auf die andere Straßenseite. Da steht ein Autowrack am Rand des Waldes, dort versteckt ihr euch. Und pass auf, dass der Finger des Kleinen uns nicht vorzeitig verrät.“ Eris deutete auf die Pistolen des Jungen. Dieser wiederum blickte einen kurzen Moment wütend, schluckte den Ärger aber herunter, als er den Blicken von Perry und Eris nicht standhalten konnte.

„Ich werde oben auf der Brücke in Stellung gehen. Wir schlagen erst auf mein Zeichen zu – und erst dann, wenn sie auf unserer Höhe sind. Alles klar?“

Perry nickte und bedeutete dem Jungen, ihm zu folgen, während Sal zur Bestätigung die Zieloptik ihrer Waffe justierte.

Die auf dem Asphalt klappernden Hufe der Lasttiere waren das einzige Geräusch, das die Karawane begleitete. Die Wachen und der Händler schwiegen und setzten seelenruhig einen Fuß vor den anderen. Tatsächlich schien es sie nicht zu interessieren, was neben der Straße war – oder ob sich etwas hinter ihrem Zug tat. Sie waren ganz mit sich selbst beschäftigt und unaufmerksam.

Diese Art der Leichtsinnigkeit war es, die in der Welt von DANACH über Sieg und Niederlage, ja über Leben und Tod entschied. Wären die Wachen ihr Geld wert gewesen, dann hätten sie sich umgesehen, dann hätte es Späher gegeben, und zuletzt hätte ihnen die Ruine der längst eingestürzten Brücke auffallen müssen. Das Trümmerfeld war unübersichtlich und würde jedem Angreifer Schutz bieten. Einen besseren Ort für einen Hinterhalt konnte es kaum geben.

Rechts und links der Straße hoben sich die Überreste der Brücke einige Meter in die Höhe. So hatte sich ein Engpass gebildet, ein Flaschenhals, durch den man die Maultiere mühsam führen musste.

Der Händler ließ die Karawane etwa fünfzig Schritt vor dem Hindernis halten und gab den Wachen ein paar knappe Anweisungen, dann nahm er das erste Maultier beim Strick und führte es auf die Trümmer zu.

Eris bemerkte, wie die altbekannte Anspannung über ihn kam. Das war ein gutes Zeichen, nach all diesen Jahren noch. Sein Körper bereitete sich auf die nächsten Minuten vor, sein Geist schärfte sich. Je mehr er von dem stümperhaften Vorgehen der Karawanenmitglieder sah, desto weniger schien ihm die Anspannung notwendig. Die Wachen trieben die anderen Lasttiere hinter ihrem Anführer her, bis sie die Stelle fast erreicht hatten. Hier konnte immer nur ein Maultier die Engstelle passieren – und jedes Mal würde es einen Menschen brauchen, der es führte. Während der Händler also den Anfang machte, bereiteten sich die Wächter vor, die anderen Maultiere durch den Flaschenhals zu bringen.

Vorsichtig kroch Eris auf den Rand des Brückenpfeilers zu.

Er lugte über die Kante aus verwittertem Beton, vorbei an rostigem, verbogenem Metall, und erkannte, dass der Händler beinahe die Stelle unter ihm erreicht hatte. Er konnte sehen, dass die Wächter vor den Trümmern warteten – worauf auch immer. Sie benehmen sich wirklich wie Amateure, überlegte Eris spöttisch.

Behutsam schob er sich wieder in Deckung, schloss die Augen, atmete tief ein und zählte die Sekunden. Plötzlich sprang er hervor und landete mit seinem vollen Gewicht auf dem Nichtsahnenden. Der Aufprall riss beide Männer um, ließ sie dumpf auf dem Asphalt aufschlagen. Das Muli blieb abrupt stehen, tänzelte einen halben Meter zurück, stellte seine Ohren auf und begann mit nervenzerfetzendem Gewieher.

Der Aufprall hatte den Händler gelähmt. Eris fegte den zaghaften Widerstand des zitternden Mannes beiseite und zog seinen Revolver. Er stemmte sich ächzend nach oben und zerrte den benommenen Mann am Kragen auf die Füße. Dieser taumelte und blieb wackelig auf seinen Beinen stehen.

Das nervtötende Gewieher des Maultiers musste die anderen Wachen mittlerweile alarmiert haben. Eris verlor, ungeachtet der Blessuren, die er sich bei der waghalsigen Aktion zugezogen hatte, keine Zeit. Er drückte dem Händler die Waffe in den Rücken und schob ihn durch die Trümmer in Richtung der Eskorte.

Die Karawanenwachen hatten ihre Waffen gezückt und drängten schon auf die Engstelle zu, als sie auf Eris und den Händler trafen. Die Männer hielten inne und legten auf ihn an. Er aber verstand es, den immer noch benommenen Händler als Schutzschild zu benutzen. Ihre Blicke trafen sich. Eris konnte in den Augen der anderen Verunsicherung lesen. Zweifel keimten in ihm auf – diese Situation war gefährlicher, als er erwartet hatte. Amateure konnten in solchen Momenten unberechenbar sein. Irgendwo löste sich ein Schuss und der Asphalt vor den Füßen der Wachen spritzte auf. Unverkennbar war das die Arbeit von Sal gewesen, die aus ihrer Deckung einen sicheren Schuss gesetzt hatte. Die Männer machten einen Satz zurück und panisch nach rechts und links.

„Das kann alles ohne Tote ablaufen“, knurrte Eris hinter dem Händler.

Dieser nickte benommen und blinzelte. Ein feiner Blutstrom rann von einer Platzwunde auf seiner Stirn und lief ihm in die Augen, nahm ihm teilweise die Sicht.

„Tut, was er sagt“, brachte der Händler mühevoll über die Lippen.

„Aber Thomas …“, stieß einer seiner Begleiter hervor.

„Verdammt!“, gab der Angesprochene zornig zurück. „Tut, was er sagt!“

Eris hielt Thomas an der Schulter, während er mit dem Revolver auf die verunsicherten Männer zielte. „Werft eure Flinten weg. Und dann geht ganz langsam rüber zum Waldrand. Da vorne hin, zu dem Autowrack mit euch.“

Die Leute brauchten einen Moment zu lang, um sich einig zu werden, und so peitschte der nächste Schuss aus Sals Gewehr. Das Projektil sauste mit schrillem Pfeifen über die Köpfe der Männer hinweg.

„Wird‘s bald?“, brüllte Eris die Männer an.

Schließlich warfen sie ihre Waffen zu Boden, hoben die Arme und trotteten langsam hinüber zum Autowrack. Als sie es fast erreicht hatten, schälten Perry und der Junge sich aus ihrem Versteck, ihre Waffen im Anschlag.

„Perry, wärst du so gut?“, rief Eris dem älteren Mann zu, während er Thomas unsanft in Richtung der Maultiere stieß.

„Mit Vergnügen!“, antwortete der Alte und machte einige Schritte auf die Männer zu, während der Junge sie mit seinen beiden Pistolen in Schach hielt.

„Also, das ist nichts Persönliches“, fing Perry an und fuchtelte bedrohlich mit seiner alten Schrotflinte herum, „aber lasst die Hosen bis zu den Knöcheln herunter und legt euch auf den Bauch, kapiert?“

Widerwillig taten die drei Wachen, was von ihnen verlangt wurde.

Eris hatte mit Thomas mittlerweile die Maultiere erreicht.

„Es gibt so ein Gerücht, dass ihr Medikamente transportiert. Wo ist das Zeug?“

Unbeholfen taumelte der Händler auf eines der Maultiere zu und machte sich an den Satteltaschen zu schaffen. Einige Sekunden später zog er einen Plastikbeutel hervor, schwenkte ihn in der Luft und hielt ihn Eris entgegen.

„Du willst mich verarschen, oder? Das ist alles? Das ist der normale Vorrat, den jede ordentliche Karawane bei sich hat.“ Eris hob den Revolver und zielte auf die Brust des Mannes. „Wenn du dir eine Kugel fängst, kann ich auch allein suchen. Dauert dann halt nur länger.“

„Das ist alles!“, beteuerte Thomas und warf dabei nervös einen Blick zur Seite, der einen Sekundenbruchteil zu lang dauerte. Eris war dem Blick des Mannes gefolgt und grinste schief.

„Na, wenn das so ist, dann wirst du nichts dagegen haben, wenn wir uns die anderen Satteltaschen ansehen?“ Eris deutete auf das Tier, das Thomas zuvor mit seinem Seitenblick verraten hatte.

Der Händler erstarre und blickte Eris fassungslos an. Seine Lippen bewegten sich tonlos, als wolle er etwas sagen, dann aber nickte er zaghaft und bewegte sich resigniert auf das Muli zu.

„Geht doch. Warum denn nicht gleich so?“, kommentierte Eris das Geschehen, während er einen schnellen Blick in Richtung Perry und des Jungen warf. Die beiden schienen die Situation im Griff zu haben. Von Sal hingegen fehlte jede Spur. Sie lag wahrscheinlich immer noch in den Büschen und betrachtete die Szenerie durch ihre Zieloptik. Mit zittrigen Händen öffnete der Händler die Satteltaschen und wühlte darin herum. Was er zum Vorschein brachte, war zu großen Teilen Plunder. Für die Mitglieder in irgendeiner Gemeinde mochten diese Dinge wichtig sein, aber für Eris und seine Begleiter waren sie völlig wertlos. Als letztes förderte der Mann einen durchsichtigen Plastikbeutel zutage. Dem Zittern seiner Hand nach zu urteilen, musste es sich dabei um etwas Wertvolles handeln. Eris kniff die Augen zusammen und betrachtete den Plastikbeutel. So wie es aussah, war das der übliche elektronische Müll, den man überall finden konnte. Kleine Bauteile, Platinen, Module. Warum aber war der Händler dann so nervös?

„Das ist nicht dein Ernst! Du scheißt dich wegen dem Schrott so ein?“ Eris entriss dem Mann den Plastikbeutel, während er ihn mit dem Revolver in Schach hielt. Neugierig wendete er den Beutel in der linken Hand, befühlte ihn und versuchte, eine Besonderheit daran zu erkennen. Doch von so etwas hatte er keine Ahnung – wie die meisten Menschen – und so war es nichts anderes als Schrott.

„Dann sag mir mal, was so besonders an dem Zeug sein soll. Und versuch nicht, mich anzulügen. Du hast nicht umsonst so einen Wind um den Kram gemacht.“

„Ich … ich habe keine Ahnung“, setzte Thomas an und wischte sich Blut aus dem Gesicht. „Das ist noch nicht mal mein Zeug. Ich habe es in einer Siedlung aufgenommen und soll es zur nächsten bringen. Man hat mir dafür eine ganze Menge versprochen. Und gedroht, mir alle Knochen zu brechen, wenn die Sachen verschwinden.“

„Also ist es wichtiger Kram. Teurer Kram. Zeug, für das einige Leute eine ganze Menge zahlen würden, oder?“

Zaghaft nickte der Händler.

„Wunderbar. Ich habe zwar keine Ahnung davon, aber wenn es so ist, wie du sagst, dann werden wir es sicher irgendwo umsetzen können. Und was dich und deine Wachen angeht, drei Ratschläge hätte ich noch. Erstens: Das nächste Mal sei nicht knauserig und heuere mehr Wachen an, das schreckt Leute wie uns ab. Zweitens: Schick immer einen Späher voraus, wenn der seinen Namen wert ist, entdeckt er Leute wie uns vorher. Und drittens: Wenn das stimmt, was du sagst, dann solltest du zu deiner eigenen Sicherheit ein paar Monate einen Bogen um die Gegend hier machen. Wäre doch eine Schande, wenn dir was passieren würde.“ Eris klopfte dem Mann lächelnd auf die Schulter. „Sei froh“, bemerkte er flapsig. „Der Weg ist weit und ich hab‘ dir ein bisschen was von der Last abgenommen.“

Es waren einige Minuten vergangen, bis die Wachen sich wieder aufgerafft hatten. Schweigend sammelten sie ihre entladenen Waffen ein und trieben die Maultiere zusammen. Eris und seine Begleiter hatten sie zum Abschied in alle Richtungen gejagt. Eine gute Stunde später hatte die Eskorte auch das letzte der störrischen Tiere zur Brücke gebracht.

Thomas hatte sich von dem Angriff immer noch nicht ganz erholt, und jetzt, wo das Adrenalin aus seinem Körper gewichen war, fühlte er sich nicht nur schwach, sondern wütend und hilflos. Zudem spürte er auch die vielen Schrammen und merkte, dass er den rechten Fuß nicht mehr vollständig belasten konnte. Er hatte sich schwerer verletzt, als er zuerst dachte. In seinem Schädel hatte ein dumpfer Schmerz eingesetzt, aber immerhin hatte die Platzwunde aufgehört zu bluten. Während seine Freunde die Maultiere zusammengetrieben hatten, war er damit beschäftigt gewesen, sich notdürftig den Kopf zu verbinden. Zuerst war er auf seine Begleiter wütend gewesen, hatte sich dazu hinreißen lassen, sie nutzlose Bastarde zu schimpfen, dann aber legte sich sein Zorn. Immerhin waren es nicht irgendwelche Söldner. Es waren seine Freunde. Ihm wurde klar, dass er mehr auf sich selbst wütend war als auf irgendjemand anderen. Wütend, nicht mehr Wachen mitgenommen zu haben – die Möglichkeit dazu hätte durchaus bestanden. Wütend, dass er das verlockende Angebot von diesem merkwürdigen Kauz angenommen und die verdammten Datenspeicher transportiert hatte. Und vor allem war er wütend darüber, dass es seine Nervosität gewesen war, die der Bande den entscheidenden Hinweis gegeben hatte.

Doch all das half nicht viel. Thomas musste eine Entscheidung treffen. Keinem war geholfen, wenn die Karawane länger als nötig unbeweglich im Nirgendwo, kilometerweit von der nächsten Siedlung entfernt, auf der Straße kampierte. Er dachte über die letzten Worte des hochgewachsenen Anführers nach. Wahrscheinlich war es tatsächlich das Beste, den ursprünglichen Plan zu ändern und in eine ganz andere Richtung zu ziehen. Immerhin war er lebend aus dem Überfall herausgekommen – und wenn es nach ihm ginge, dann sollte das nicht umsonst gewesen sein.

Mit einem Stöhnen stemmte er sich hoch und rief die Eskorte zu sich.

„Das war’s, Jungs“, teilte er ihnen mit. „Wir kehren um.“

„Die werden Fragen stellen“, meinte einer seiner Begleiter.

„Und uns auslachen.“

„Das ist ja wohl das kleinste Problem“, entgegnete Thomas. „Hoffen wir, dass der Tumult nicht noch andere Aasgeier angelockt hat.“

Obwohl der Himmel bedeckt war, lief Thomas der Schweiß in Strömen über den Körper. Sein Kreislauf sackte immer wieder ab, und die Abstände zwischen den Pausen, die die Karawane deshalb einlegen musste, wurden immer kürzer. Jeder Schritt tat dem Mann weh, und sein Knöchel war inzwischen angeschwollen. Doch immerhin konnte er noch laufen.

Mehrfach hatte er mit dem Gedanken gespielt, eines der Maultiere für sich zu nutzen, doch dies immer wieder verworfen. Die Tiere waren bis an die Grenzen des Machbaren beladen und es hätte zwangsläufig bedeutet, einen Teil der Ware zu verlieren. Damit wollte und konnte Thomas sich nicht anfreunden. Sicher, es war möglich, auch noch Ware auf das Gepäck seiner Freunde zu verteilen, wenn es sein musste. Aber wie er es auch drehte und wendete, letzten Endes würde er Teile seiner Schätze hier im Nirgendwo zurücklassen müssen. Das Zeug ist unersetzbar, kalkulierte er. Ein verstauchter Knöchel hingegen – der konnte heilen.

Zuerst verfluchte er Eris und seine Begleiter nur in Gedanken, dann kamen die Flüche leise über seine Lippen – und am Ende verwünschte er die Bande lauthals, während er sich Meter für Meter über den Asphalt quälte und die Karawane aufhielt. Natürlich hatten sie die Medikamente mitgenommen – ausgerechnet. Die Tableten waren in fast allen Siedlungen von unschätzbarem Wert und noch dazu leicht zu transportieren. Natürlich waren die Verbrecher gerade auf solche Dinge besonders scharf, abgesehen von Munition, Waffen, Zigaretten und Kaffee.

Der Händler warf einen Blick auf seine Kumpane. Immerhin konnte er darauf vertrauen, dass sie loyal zu ihm stehen und weiterhin seinen Anweisungen folgen würden. Wäre es eine rein geschäftliche Beziehung gewesen, wäre diese wohl bereits beendet. Söldner, so hatte er gehört, hätten ihren Auftraggeber bereits einen Kopf kürzer gemacht und zusammen mit den Maultieren das Weite gesucht. Dieser Umstand machte ihm neuen Mut und seine Gedanken hellten sich ein wenig auf.

„Nehmt das Gepäck von dem Muli hier runter“, entschied er schließlich. „Verteilt das, was geht, auf die anderen Tiere, und dann nehmt ihr eure Rucksäcke. Seht nach, was ihr entbehren könnt.“

Mittlerweile kam die Karawane wieder gut voran. Thomas saß auf dem letzten Maultier und versuchte, irgendwie das Gleichgewicht zu halten, was allein aufgrund des fehlenden Sattels und des Dröhnens in seinem Kopf ein kleines Kunststück war. Immerhin ging es ihm nun aber erheblich besser und er hatte nicht alle paar Minuten mit tanzenden Sternen vor seinen Augen zu kämpfen.

Zwei der Bewaffneten waren inzwischen an der Spitze der Karawane, während der dritte das Schlusslicht bildete und damit auch immer mindestens ein besorgtes Auge auf Thomas warf. Die Maultiere trotteten ungerührt voran. Wenn alles klappte und sie auch in der Nacht in Bewegung blieben, konnten sie schon am kommenden Morgen die Siedlung erreichen. Immer mehr kam er zu der Überzeugung, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, umzukehren und den Schutz des Dorfes zu suchen. Alle waren sie nach dem Überfall angespannt und würden erst wirklich zur Ruhe kommen, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hätten.

Plötzlich knallte ein Schuss. Thomas zuckte zusammen. Im nächsten Moment kippte einer seiner Freunde an der Spitze der Karawane um, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Thomas‘ Hände krallten sich in die Zügel des Maultiers. Kopflos blickte er sich um.

Überall nur Wald. Eine Wand aus Grün und Braun, in der die Konturen fast vollständig verschwammen. Nirgendwo konnte er einen Angreifer entdecken.

Der zweite Wächter an der Spitze griff hastig nach seinem Gewehr und war damit beschäftigt, die Waffe in den Anschlag zu bringen, als der nächste Schuss knallte. Getroffen stürzte der Mann zur Seite und verlor dabei sein Gewehr.

Der dritte hatte seine Pistole gezogen und sprang, mit langen Sätzen, in Richtung des nächstgelegenen Waldrandes. Er kam drei oder vier Meter weit, dann krachte es erneut. Der Schuss riss ihn mitten in der Bewegung aus der Luft. Ungelenk schlug der Mann auf dem harten Asphalt auf, rollte noch einige Schritte und blieb dann regungslos liegen.

Thomas fluchte und riss das bockende und kreischende Muli mit aller Kraft am Zügel herum. Er presste seine Waden in die Flanken des Tiers, trieb es mit roher Gewalt an. Das Muli raste los. Dabei duckte sich Thomas so tief wie möglich und presste sich an den Hals des Tieres, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten.

Ein vierter Schuss fiel. In Erwartung des explodierenden Schmerzes kniff er die Augen zusammen. Doch stattdessen schrie das Muli unter ihm auf, als es in die Seite getroffen wurde. Es taumelte und brach zusammen. Thomas wurde aus dem Sattel geworfen und landete unsanft mit dem Kopf auf dem Asphalt. Seine Schmerzen vergingen, die schrecklichen Bilder verblassten und fast augenblicklich umfing ihn eine segensreiche Schwärze.

Schmerzhaft wurde Thomas wieder ins Hier und Jetzt zurückgeholt. Sein Schädel dröhnte mehr den je, während der Rest des Körpers langsam, aber unweigerlich in das schräge Orchester der Schmerzen einstimmte. Er hatte den Geschmack von Blut im Mund und spürte, dass sein rechtes Auge zugeschwollen war.

Er wollte die Hand heben, um sein malträtiertes Gesicht zu betasten, doch er konnte den Arm nicht bewegen. Es brauchte einen Moment, bis er realisierte, dass sein Arm nicht gebrochen, sondern seine Hände gefesselt waren. Reflexartig versuchte er, seine Beine zu bewegen, doch stellte panisch fest, dass man auch seine Knöchel zusammengebunden hatte. Sein Herz begann zu pumpen, Adrenalin breitete sich in seinem Körper aus und er rang nach Luft, bemühte sich, die Panik niederzukämpfen. Unter Schmerzen versuchte er, wenigstens die Augen zu öffnen, um zu sehen, in welcher Lage er sich befand.

Er saß mit dem Rücken an einem Baum, die Arme um den Stamm geschlungen und gefesselt. Mit einem Kabelbinder hatte man seine Beine zusammengezurrt.

Der Händler versuchte, den Kopf zu drehen, um mehr von seiner Umgebung zu sehen, doch sofort meldete sich sein dröhnender Schädel. Übelkeit rollte wie eine Welle heran und schlug über ihm zusammen, während er sich hustend erbrach. Sein Kopf sackte kraftlos auf seine Brust. Erneut wurde er bewusstlos.

„Hey Schlafmütze, wach auf!“, hörte er jemanden sagen, als er aus der Ohnmacht erwachte.

Eine raue Hand strich unsanft über sein Gesicht. Das Pochen in seinem Schädel war mittlerweile nur noch dumpf, obgleich es immer noch da war. Als die verschwommenen Schemen sich langsam aufklarten und zu einem Bild zusammensetzten, erkannte er das markante, harte Gesicht eines Mannes, der neben ihm hockte und ihn anstarrte. Bösartige, kalte Augen blickten Thomas an. In einem raubtierhaften Grinsen bleckte der Mann seine Zähne. Thomas hatte kaum einen Zweifel daran, wie sich diese Unterhaltung entwickeln würde.

„Wer bist du?“, brachte er mühevoll hervor.

„Tut nichts zur Sache. Ich habe ein paar Fragen an dich“, erklärte der Mann und setzte sich in das vertrocknete Laub auf dem Waldboden.

„Du hast meine Karawane. Alles, was ich besitze. Mehr habe ich nicht.“

„An dem Müll bin ich nicht interessiert“, knurrte der andere. „Es geht um was ganz anderes. Es heißt, du hast es transportiert, aber ich hab‘s nicht finden können.“

Thomas wusste sofort, was der Mann suchte. Er schüttelte hastig den Kopf und setzte zu einer Erklärung an, aber dem Kerl hatte das Kopfschütteln wohl nicht gefallen. Mit Nachdruck und einem spöttischen Lächeln betastete er unsanft den geschwollenen Knochen des Händlers. Thomas stöhnte vor Schmerz auf.

„Versuch es nochmal“, forderte ihn der Fremde auf.

„Ja … ja. Die Datenspeicher, richtig?“, presste Thomas hervor, als er wieder zu Atem gekommen war.

„Genau die. Wo hast du sie versteckt?“

„Hab‘ ich nicht.“ In Erwartung weiterer Schmerzen biss der Händler die Zähne vorsorglich zusammen, diesmal aber tat ihm der Fremde nichts.

„Hast du nicht? Und wo sind sie dann?“

„Gestohlen.“

„Was?“, zischte der Mann und hob drohend die geballte Faust.

„Ja, gestohlen, wirklich!“, presste Thomas hastig hervor. Er zuckte vor der Geste des Mannes zusammen, erwartete den Schlag in der nächsten Sekunde.

„Dann erzähl, verdammt nochmal!“, fluchte der Fremde, die Faust immer noch drohend erhoben.

„Vor ein paar Stunden haben sie uns überfallen. Drei, vielleicht vier Angreifer. Ein paar Kilometer die Straße hinunter ist eine alte Brücke, da haben sie auf uns gewartet.“

Der Fremde stieß einen leisen Fluch aus und schlug auf den Oberschenkel des Händlers, der vor Schmerzen aufschrie.

Einige Sekunden vergingen, in dem brennender Hass auf den Kerl in Thomas aufloderte.

„Gut. Ich bin ehrlich“, sagte sein Peiniger. „Du wirst nicht in einem Stück aus der Sache kommen. Du hast es aber in der Hand, ob es schnell geht oder lange dauern wird. Liegt ganz bei dir. Ich will ein paar Antworten.“

Die Gruppe bahnte sich in lockerer Formation ihren Weg durch das Unterholz, als das Geräusch von Schüssen durch den Wald hallte. Instinktiv gingen sie alle in Deckung, bis sich die Erkenntnis manifestierte, dass die Schüsse nicht ihnen gegolten und sie nur deren entferntes Echo vernommen hatten.

Eris sah sich um und versuchte, auszumachen, aus welcher Richtung die peitschenden Geräusche gekommen waren, kam aber zu keinem Ergebnis. So etwas hier im Wald einzuschätzen, das war nicht seine Stärke, und er zweifelte daran, ob das überhaupt jemand konnte. Abgesehen von Sal. Er warf einen fragenden Blick in ihre Richtung. Sie hatte die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt und horchte konzentriert in den Wald hinein. Nach einigen Sekunden öffnete sie die Augen und deutete in eine bestimmte Richtung. Wenn Eris nicht alles täuschte, lag dort die Straße.

Nachdem sie mit der Karawane fertig waren, hatten sie sich einen guten Kilometer in den Wald zurückgezogen und dann im weiten Bogen gen Westen gewandt. Nun bewegten sie sich einigermaßen parallel zur Straße. So kamen sie zwar nicht unbedingt schnell voran, aber immerhin mieden sie einsehbares und potenziell gefährliches Gelände. Eine Reisegruppe war immer eine Verlockung für die verschiedensten Leute. Und Eris hatte beschlossen, Ärger vorerst aus dem Weg zu gehen. Er wollte mit den anderen einfach nur die nächste Siedlung erreichen.

„Das kam von der Straße“, kommentierte Perry die Geräusche und sprach damit aus, was allen eigentlich schon klar war. Eris nickte zur Bestätigung.

„Was da wohl passiert ist?“, fragte Tyler zaghaft.

„Ich nehme an, da wird die nächste Karawane überfallen. Oder irgendwer versucht sich daran, sich sein Abendessen zu erjagen“, bemerkte Sal. Eris schüttelte den Kopf.

„Unwahrscheinlich. Auf der Straße war keine zweite Karawane unterwegs. Und wer Ahnung vom Jagen hat, der braucht nicht gleich vier Schuss.“

„Aber was dann?“, fragte der Junge neugierig.

„Was wohl, Kleiner? Da wird jemand ganze Arbeit leisten und unsere Karawane auseinandernehmen. Wahrscheinlich sind es Typen ohne Anstand, nicht so wie wir. Die fackeln nicht lange und pusten die Leute gleich über den Haufen“, brummte Perry und rappelte sich stöhnend aus seiner Deckung auf.

„Wahrscheinlich“, murmelte Eris und tat es dem Vollbärtigen gleich. „Drei Wachen und ein Händler. Vier Schuss. Alle Achtung.“

Sal schnellte in die Höhe. „Das ist kein Kunststück, so wie die sich verhalten haben. Das hätte sogar der Kleine fertigbekommen können“, zischte sie ärgerlich.

Eris winkte ab. „Wie auch immer. Ich denke, wir sollten nachsehen.“

„Das ist nicht dein Ernst, Eris! Ich bin froh, wenn wir von der Straße weg sind. Außerdem ist es nicht mehr weit bis zur nächsten Siedlung. Was auch immer da passiert ist, es geht uns nichts an!“ Perry schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Mein voller Ernst, Perry. Wenn die Karawane wirklich irgendeiner Bande zum Opfer gefallen ist, dann sollten wir vorsichtig sein. Ich habe keine Lust, dass wir den gleichen Typen in die Arme laufen. Sowas wird schnell blutig. Daher sollten wir uns einen Überblick verschaffen, schauen, was es war und dann einen gehörigen Sicherheitsabstand wahren. Hier im Wald marschieren wir aber blind.“

Sal nickte bestätigend. „Eris hat recht, Perry. Wenn es nur fünf oder sechs sind, dann werden wir wenig Probleme mit ihnen haben, wenn es mehr sind, könnte es übel enden. Also sehen wir besser nach, und wenn es sein muss, halten wir uns eben versteckt. Was macht es denn, ob wir morgen oder in zwei Tagen die Siedlung erreichen?“

Perry kratzte sich am Kinn. „Das macht eine ganze Menge. Im Gegensatz zu euren schreien meine Knochen nach einem ordentlichen Bett …“

„Jetzt tu nicht so, alter Mann!“, lachte Sal. Perry grinste und nickte Eris dann zustimmend zu. Der Jüngste von ihnen hatte bisher noch gar nichts zum Gespräch beigetragen, aber irgendwie war klar, dass seine Meinung hier wenig zählte.

„Also gut. Zurück zur Straße. Sal, du schlägst dich allein durch, wir folgen. Wenn dir was auffällt, gib uns das übliche Zeichen. Alles andere wird sich dann klären.“

Eris hob den Kopf über den entwurzelten Baumstamm und setzte den Feldstecher an die Augen. Von hier aus hatte er einen guten Überblick auf die schnurgerade Straße, lediglich ein paar Bäume und Sträucher versperrten ihm die volle Sicht.

Durch das staubige Okular erblickte er die drei toten Karawanenwachen. Aber etwas ganz anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Das Gepäck der Maultiere war auf der Straße verstreut und schien durchwühlt. Von den Tieren jedoch fehlte jede Spur. Eris befeuchtet sich die Lippen und betrachtete die Szene noch etwas eingehender. Konzentriert suchte er das gesamte Areal ab. Einige Meter hinter den Toten, die Straße hinab, wurde er fündig. Hier lag eines der Mulis, offensichtlich erschossen. Er schwenkte zu den Leichen zurück, als ihm eine Bewegung auffiel. Vorsichtig justierte er die Vergrößerung. Am Waldrand, verborgen von Büschen, erkannte er eines der Lasttiere. Es graste dort teilnahmslos, als sei nichts geschehen.

Eris nahm den Feldstecher von den Augen, trat wieder in den Schatten des Waldes zurück und drehte sich zu den anderen herum.

„Komisch …“, kommentierte er seine Beobachtungen, während Perry und Tyler ihn fragend anblickten. Eris dachte einen Moment nach und setzte dann zu einer Erklärung an.

„Scheint wirklich so, als habe man es auf unsere Karawane abgesehen. Die drei Wachen liegen tot auf der Straße, eines der Maultiere haben sie auch erwischt. Aber von unserem Händler fehlt jede Spur. Noch dazu hat die Bande scheinbar kein Interesse an den Waren gehabt. Die liegen wild verstreut auf der Straße, keine Ahnung, ob was fehlt. Die Mulis haben sie auch nicht mitgenommen. Zumindest grast eins davon treudoof ein paar Meter neben den Leichen.“

„Und jetzt?“, platzte Tyler heraus. Perry legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und bedeutet ihm so, zu schweigen.

„Ich werde es mir einmal näher ansehen“, beschloss Eris. „Perry, du und Tyler geben mir vom Waldrand aus Deckung.“

Damit streifte er seinen Rucksack von den Schultern und entledigte sich allen Gepäcks. Perry und der Junge teilten das Gepäck unter sich auf, dann machten die drei sich gebückt zum Waldrand auf. Dort angekommen schnalzte Eris zweimal mit der Zunge und hielt inne. Irgendwo von rechts wurde das Signal von Sal erwidert. Eris nickte zufrieden. Es war ein beruhigendes Gefühl, von der Schützin gesichert zu werden. Er zog seinen Revolver, überprüfte automatisch die Kammern und schlich auf die Straße.

Bei der ersten Leiche machte er einen kurzen Zwischenstopp. Der Mann lag in seinem Blut, eine Kugel in den Hals hatte ihn zu Fall gebracht. Die Pistole hielt er immer noch umklammert, die Augen weit aufgerissen. Offenbar war der Mann dabei gewesen, in den rettenden Wald zu flüchten, als er erschossen wurde. Eris‘ Blick blieb an den Füßen des Mannes hängen. Er trug seine Stiefel noch. Ordentliche Stiefel waren in dieser Welt von unschätzbarem Wert und konnten in der nächsten Siedlung ein kleines Vermögen einbringen. Welcher Räuber würde sich diese Beute entgehen lassen? Er beschloss, die Taschen des Mannes später zu durchsuchen, und hastete weiter. Als nächstes erreichte er die wild auf der Straße verstreuten Gepäckstücke.

In dem Durcheinander konnte er keinen Sinn erkennen. In der Tat schien es, als seien die Sachen planlos von den Maultieren gerissen und durchwühlt worden. Plastikbeutel und Bündel waren aufgerissen und deren Inhalt überall verstreut. Eris beschloss, dieses Chaos später zu begutachten, und bahnte sich dann den Weg zu den beiden anderen Toten am Anfang des kleinen Schlachtfeldes.

Die beiden Söldner lagen nur einige Meter voneinander entfernt. Der erste schien dort gefallen zu sein, wo er gestanden hatte. Ein großer dunkler Fleck auf seiner Brust verriet, wo er getroffen worden war. Der Mann hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, seine Waffe klarzumachen – wahrscheinlich war er als Erster erschossen worden. Der zweite Söldner bot ein grauenhaftes Bild. Sein Gewehr lag einige Schritte von ihm entfernt. Offenbar hatte eine Kugel ihn in der Magengegend getroffen. Der Blutspur zufolge musste er sich danach noch bewegt haben. Das Schreckliche war nicht etwa das Blut oder die klaffende und stinkende Bauchwunde. Vielmehr waren es die verkrallten Hände, mit denen der Tote versuchte hatte, die Blutung zu stoppen. Und dann war da noch dieses schmerzverzerrte Gesicht und die erstarrten Augen, panisch, fast flehentlich aufgerissen.

Das eigentümliche Wiehern des Maultiers ließ Eris erschrocken herumfahren, den Revolver schussbereit. Das Muli hatte ihn entdeckt und quittierte seine Beobachtung mit Geblöke. Eris verfluchte das Tier leise und sah sich um, ob das Geräusch vielleicht noch irgendjemand anders alarmiert hatte. Als er sich sicher war, unentdeckt geblieben zu sein, eilte er zu den anderen zurück und berichtete. Sal war mittlerweile wieder zu ihnen gestoßen.

Eris beendete die Schilderung seiner Eindrücke. „Sal, du gibst den Jungs von hier Deckung. Ihr sammelt das ein, was wir gebrauchen können. Ich glaube, ich habe auch ein bisschen Alkohol gesehen. Und nehmt auch das Maultier. Dann müssen wir unsere Rucksäcke nicht schleppen. Ich schlage mich in die Büsche und werde mir die Gegend einmal ansehen. Vielleicht finde ich ja noch Spuren von unserem Händler.“

„Oder du läufst genau denen in die Arme, die dafür verantwortlich waren“, stichelte Sal.

„Keine Angst. Ich bin vorsichtig und werde mir schon nicht in meinen Hintern schießen lassen, Sal“, grinste Eris. Die Frau knurrte etwas zur Entgegnung, lächelte dann aber. „Pass einfach auf dich auf. Ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.“

Für einen Moment überlegte Eris, ob es echte Besorgnis war, die er da in ihrer Stimme zu hören glaubte.

Mit der Waffe in der Hand schlich Eris durch das Unterholz. Alle paar Meter hielt er inne und lauschte in den Wald hinein. Auf diese Art durchkämmte er den Wald auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.

Da war ein Geräusch. Eris hielt inne. Er konzentrierte sich, schloss die Augen und hörte genau hin. Er vernahm es wieder. Es brauchte einige Sekunden, bis Eris es richtig eingeordnet hatte. Es war ein unrhythmisches, röchelndes Atmen. Dazwischen mischte sich ein leises Stöhnen.

Vorsichtig schob er die Zweige beiseite. Vor ihm lag eine flache Mulde. Am anderen Ende der Mulde erhob sich ein Baum, an dessen Stamm gelehnt jemand saß. Das Geräusch kam von ihm. Eris erkannte Thomas sofort. Er sah, dass man ihn gefesselt hatte. Mit einem schnellen Blick suchte er nach anderen Personen, konnte aber außer einigen Spuren in der Mulde nichts erkennen.

Der Händler war in einem erbärmlichen Zustand. Der notdürftige Verband an seinem Kopf schimmerte rot, sein Gesicht war eine Ansammlung aus Schwellungen und Blutungen. Der Kopf des Mannes war nach vorne gesackt. Nur das leichte, unregelmäßige Heben und Senken des Brustkorbs verriet, dass der Händler noch am Leben war. Irgendwer hatte ihm das Hemd aufgerissen und über seinen geschundenen Oberkörper zog sich ein Geflecht aus gezackten Schnitten. Keiner der Schnitte war tief genug, um lebensgefährlich zu sein, aber sie alle mussten ihm höllische Schmerzen bereiten. Auf dem Oberschenkel des Mannes klaffte eine tiefe Wunde.

Eris hastete aus der Deckung in Richtung des Verletzten. Kaum angekommen, zog er mit der Linken sein Messer aus dem Gürtel und machte sich an den Fesseln des Mannes zu schaffen. Als der Verletzte nicht mehr gehalten wurde, kippte er unweigerlich zur Seite, und Eris bemühte sich, ihn aufzufangen und behutsam ins trockene Laub gleiten zu lassen.

Er steckte seine Waffen weg und legte sich den Schwerverletzten über die Schulter. Mit schnellen Schritten, diesmal weniger auf Vorsicht bedacht, eilte er durch die Büsche zurück zur Straße. Dort war Perry gerade damit beschäftigt, aus den verstreuten Sachen das Beste zusammenzusuchen, während Tyler ein wenig abseits stand, das Muli am Zügel. Beide blickten erstaunt auf, als Eris, mit dem Verletzten über der Schulter, aus dem Wald auf sie zulief. Perry ging ihm mit fragendem Blick entgegen, doch Eris dachte gar nicht daran, halt zu machen oder sich irgendwie zu erklären. Zielstrebig überquerte er die Straße, drang wieder in den Wald ein und hielt auf die Stelle zu, an der sie ihr Gepäck zurückgelassen hatten. Hier legte er den Mann vorsichtig ab und schob ihm einen der Rucksäcke unter den Kopf. Perry war Eris eilig gefolgt und ließ sich auf die Knie sinken. Noch bevor der bärtige Mann fragen konnte, begann Eris mit der Erklärung. „Ich hab ihn auf der anderen Seite in einer Mulde gefunden, an einen Baum gefesselt. Scheinen ihn übel zugerichtet zu haben, wahrscheinlich Folter. Keine Ahnung, wie schlimm es ist.“

Das war alles, was Perry wissen musste. Er nickte und begann, den schwerverletzten Mann zu untersuchen. Keiner aus der kleinen Gruppe wusste genau, woher Perry seine medizinischen Kenntnisse hatte, aber letzten Endes war das auch egal. Sein Wissen hatte sie schon mehr als einmal vor dem Schlimmsten bewahrt. Völlig in seinem Element, führte Perry einige routinierte Handgriffe aus und bedeutet Eris mit einem Wink, dass er seinen Rucksack brauchte. Daraus fischte er, neben einer schwarzen Ledertasche voller medizinischer Apparaturen, auch ein Stethoskop heraus und horchte den Händler ab.

Eris ließ den bärtigen Arzt seine Arbeit machen und ging die paar Schritte zur Straße zurück. Mitten auf der Straße stand der Junge, in der einen Faust den Strick des Mulis, während er mit der anderen ungelenk in den Waren herumwühlte. Eris schloss zu ihm auf und gemeinsam bepackten sie eilig das Lasttier, bevor sie zu ihrem provisorischen Lager zurückkehrten. Dort war Sal mittlerweile aufgetaucht und beobachtete die Arbeit des Arztes fasziniert.

„Ehrliche Meinung: Ich glaube nicht, dass er es schaffen wird. Seine Kopfverletzung macht einen üblen Eindruck, aber das scheint ohne Brüche verlaufen zu sein, wenn man mal von seiner Nase absieht. Sorgen macht mir sein Oberkörper. Die Schnitte sind Kinderkram, aber er hat mindestens vier gebrochene Rippen, drei weitere scheinen angeknackst. So wie es aussieht, hat man ihn ziemlich heftig verprügelt. Würde mich nicht wundern, wenn irgendein Organ dabei was abbekommen hätte – nur kann ich das von außen nun mal nicht beurteilen. Was den Oberschenkel angeht, so ist das ‘ne schwere Verletzung, für sich genommen aber nicht lebensbedrohlich. Und sein Knöchel, naja, der scheint verstaucht. Alles in allem ein ziemliches Trümmerfeld.“

Perry beendete seine Zusammenfassung und wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab. Eris beobachtete den bewusstlosen Händler einen Moment und nickte dann.

„Danke, Perry. Deine Fähigkeiten sind unbezahlbar.“

„Ja genau. Und weil sie so unbezahlbar sind, muss ich mich mit euch dreien herumschlagen anstatt irgendwo ein ruhiges Leben in einer Siedlung anzufangen“, murmelte der ältere Mann sarkastisch und grinste schief unter seinem Bart.

„Nun stell dich nicht so an, du hättest es schlimmer treffen können“, meine Eris.

„Schlimmer als das Kindermädchen für einen halbstarken Jugendlichen und den Knochenflicker für euch beide zu spielen? Was hätte das denn sein können, hm?“

„Naja … du hättest dir eine Frau suchen und heiraten können, alter Mann“, grinste Eris und klopfte dem Arzt freundschaftlich auf die Schulter.