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Die Sage
vom
Mäuseturm

1

Erklär es mir«, sagte Jenny. »Du mit deiner Bildung mußt es doch wissen: Was ist das Leben?«

»Der vorübergehende Aufenthalt eines Sonnenstrahls auf seinem Weg in das Weltall«, sagte ich. Noch bevor ich etwas hinzufügen konnte, rief eine resolute Frauenstimme: »Wir schließen jetzt.«

Im Spiegel mir gegenüber sah ich, wie sich eine Gestalt sofort aufrichtete. Der dort – das sollte ich sein? Ich hatte doch noch nie zuvor bis tief in die Nacht in einem Café gesessen? Ich kehrte meinem Spiegelbild den Rücken; erleichtert wandte ich mich dem Ausgang zu. Auf der Schwelle wurde prickelnd frische Luft herangetragen; ein zaghafter Wind ließ die Blätter rascheln. Für einen Augenblick teilte eine feurige Gabel den Himmel, aber es folgte kein Donnerschlag. Vorsichtig steuerte ich auf einen Laternenpfahl zu, lehnte mich dagegen. Jenny stand neben mir, ohne sich irgendwo festzuhalten. Es schien, als sei sie größer als ich. Sie trug eine blaue Jacke und einen abgetragenen Rock. Unter dem ausgefransten Saum glänzten weiße Stiefel mit erstaunlich hohen Absätzen. Sah sie deshalb größer aus?

»Wollen wir noch etwas bei mir zu Hause trinken?« fragte ich.

»Nein«, sagte sie, »ich denk nicht dran, du bist schon jetzt sternhagelvoll.«

Hinter uns hörte man die angetrunkenen Stimmen von zwei Jungen und einem Mädchen. Auch sie kamen aus dem Café; nicht weit von uns blieben sie am Randstein stehen. Das Mädchen öffnete seine Tasche und fischte ein Geldstück heraus.

»Was hast du vor?« fragte einer der Jungen.

»Losen, wer von euch beiden mit mir nach Hause darf«, sagte das Mädchen.

Der schnell auffrischende Wind trug jetzt die milde Luft von Jelängerjelieber heran, und ich sagte: »Aber ich kann doch zu Hause Kaffee machen.«

»Nein«, sagte sie, »ich geh wirklich nicht mit.«

Ich griff nach ihrem Arm und versuchte, sie mit mir zu ziehen.

»Verdammt noch mal, laß mich los«, fluchte sie laut.

Gleich darauf war die helle Stimme des Mädchens zu hören. »Was willst du, Bas, Kopf oder Zahl?«

»Kopf«, sagte der von ihr angesprochene Junge.

»Dann du Zahl, Gerard«, sagte sie.

Das Mädchen ließ einen Rijksdaalder fallen. Er rollte schwankend über die Pflastersteine in unsere Richtung. Als ob er auch betrunken ist, dachte ich gleichmütig. Das Geldstück erreichte mich; ich hob meinen rechten Fuß, um es durchzulassen. Gemächlich rollte es in den engen Spalt zwischen den kleinen weißen Stiefeln. Dann fiel es um.

»Können wir nicht auch losen?« fragte ich.

Aber Jenny hörte nicht zu, schaute nur voller Abscheu auf den Rijksdaalder zwischen ihren Füßen, trat beiseite, stieß mich weg, so daß ich mich ein Stück weiter an eine Linde klammern mußte.

»Können wir nicht auch losen?« wiederholte ich.

»Kopf, dann kommst du mit mir, Zahl, dann gehst du allein nach Hause.«

»Sei nicht albern. Geh jetzt nach Hause, ich gehe auch, und dann ruf ich dich noch mal an, oder du rufst mich an.«

»Nein, nein«, sagte ich.

»Doch, laß mich allein, ich finde dich sehr nett, das weißt du doch, aber zuerst mußt du mit Leonie reden.«

»Ach, hör doch endlich damit auf.«

Ich schlang den rechten Arm um sie und hob sie hoch. Sie wehrte sich heftig, stieß mir die linke Hand in den Rücken, rief etwas, das ich nicht verstand, weil ich das glänzende Geldstück ansah, das noch immer nicht aufgehoben worden war. Warum blieb es da einfach so liegen? Weil die beiden Jungen und das Mädchen aufmerksam unseren Ringkampf beobachteten? Und warum fiel ich auf einmal hin? Hatte Jenny mich über einen ihrer Stiefel stolpern lassen? Jedenfalls nutzte sie die Gelegenheit, um wegzulaufen. Hastig rappelte ich mich auf. Nach wenigen Schritten stand ich neben ihr, und ich umarmte sie, und sie schlug mich, und ich schlug nicht zurück, hielt mich nur fest, hörte mich nur sagen: »Nicht, nicht schlagen«, faßte sie an der Schulter und sah, wie die drei anderen sich nun mit abgewandten Rücken über das Geldstück beugten. Drei Köpfe kamen hoch, und dann lief das Mädchen mit dem Jungen, den sie Gerard genannt hatte, zu einem blauen Mazda, und der andere Junge stand da, stand da genau wie ich, der Jenny schon längst losgelassen hatte, und er sah zu, wie der Junge und das Mädchen einstiegen. Dankbar dachte ich: Gut, daß dem Jungen, der Bas heißt, schon Trunkenheitstränen in den Augen stehen, dann können meine Augen wenigstens trocken bleiben. Die ruhigen, stillen Tropfen dieses anderen, so aus nächster Nähe, erschienen mir lächerlich: Er hatte an einem Spiel teilgenommen, an einem frivolen Spiel, und er hatte jetzt verloren, aber morgen würde er vielleicht gewinnen oder an einem anderen Tag, während ich genau wußte, daß ich zum letztenmal ihren weißen Stiefeln in der Nacht nachblicken konnte. Morgen würde Leonie zurück sein; es war nicht daran zu denken, daß ich dann mit Jenny nachts in einem Café sitzen könnte. So sicher war ich gewesen, sie würde mit mir kommen, daß ich es noch immer nicht glauben konnte, als sie dort wegging, ganz allein und dazu noch so aufreizend langsam. Die kleinen weißen Stiefel schienen nicht so weit weg zu sein wie die dunkle schlanke Gestalt darüber. Wenn der andere dort nicht gestanden hätte, dieser ausgeloste Genosse wider Willen, wäre ich ihr bestimmt gefolgt. Aber solange er blieb, mußte ich auch bleiben. Wenn er fort war, konnte ich ihr noch immer nachlaufen.

Gelassen murmelte ich: »Gleich wird sie sich umdrehen und zurückkommen. Es kann nicht wahr sein, daß sie jetzt wegläuft. Wir haben den ganzen Abend zusammen gegessen, und zusammen sind wir von einer Kneipe zur andern gezogen, bis wir schließlich in diesem Café landeten, dem einzigen, das nach ein Uhr nachts noch offen hatte.« Dann war es, als wechselte mein Geist über eine Weiche auf eine andere Schiene, und während die Bäume heftig rauschten, hörte ich mich murmeln: »Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie etwas suchend, verdrossen, weil er es nicht findet.« Und ich dachte an das, was folgte, an den »schauerlichen Takt der Atemzüge eines Schlafenden«, wobei eine immer wiederkehrende Sorge »die Melodie zu blasen« schien, und ich sagte, während ich nach alter Gewohnheit laut mit mir selbst redete: »– wir wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe; die Nacht überredet zum Tode.«

Da erhob sich der Wind erst richtig; er rüttelte verzweifelt an den Dachluken des Cafés, schlug die Eingangstür mit Gewalt zu, heulte durch die Bäume und jagte die Wolken ungestüm auseinander, so daß eine helle Mondsichel zum Vorschein kam, die sich hastig wieder hinter einer grauen Gewitterwolke verbarg. Langsam ging ich fort, sah mich immer wieder nach den kleinen weißen Stiefeln um, die nun schon über eine Brücke gingen, immer wieder vor mich hin murmelnd: »Die Nacht überredet zum Tode.« Die Stiefel gingen auf einen mächtigen Kirchenbau zu. Dahinter würden sie verschwinden. Auf einer breiten Brücke über den Singel blieb ich stehen, genau neben einer kleinen steinernen Statue, die das Geländer schmückte. Ich legte meine Wange an den kühlen Stein. Im Wasser schaukelten die roten, sich spiegelnden Fensterscheiben des Cafés. Der Wind versuchte, zwischen meiner Wange und der kleinen Statue hindurchzugleiten. Damit ich mich besser aufrecht halten konnte, umarmte ich sie, drückte sie beinahe leidenschaftlich an mich und sagte, wie um mich für mein Verhalten zu entschuldigen: »Ja, nun weiß ich, was in einem vorgeht, wenn man abgewiesen wird.«

Jetzt lief sie um die Kirche herum. Gleich würde sie verschwunden sein. Sollte ich ihr folgen? Aber noch immer stand der Junge, dem es sicher leid tat, daß er Kopf gewählt hatte, beim Eingang des Cafés. Er sah nicht zu mir herüber, er hörte bestimmt nicht, daß ich der kleinen Statue zumurmelte: »Wie das ist, wenn man abgewiesen wird? Nun, das ist wie ein Wadenkrampf, nur sitzt der Krampf in der Seele.« Der Junge stand da, versperrte mir den Weg, und ich dachte: Gut, daß diese Stadt so seltsam gebaut ist, wenn ich schnell am Singel entlanggehe, kann ich, auch wenn ich einen anderen Weg einschlage, mühelos noch vor ihr bei ihrer Wohnung sein. Jeder Weg in dieser Stadt ist ja ein Umweg, auch der ihre.

Noch einmal blickte ich kurz die kleine steinerne Statue an, begriff erschrocken, daß sie ein Kind darstellen sollte, und seufzte nur, um es schnell wieder zu vergessen. Dieser eine Seufzer schien allen verdampften Alkohol zu enthalten, denn danach schien ich wieder nüchtern zu sein. Es gelang mir ziemlich gut, schnell zu gehen, und das war auch nötig, denn hoch über mir erklang ein dumpfes Grummeln. Es fielen ein paar warme Regentropfen. Über dem Café glänzte ein feuriger Zickzack, dem kurz darauf ein heftiger Donnerschlag folgte.

2

Als ich am nächsten Morgen ziemlich spät ins Labor kam, schaute mich Alex, der in einem braunen Stoffkittel ergraute Pfleger meiner Versuchstiere, böse an.

»Heute nacht sind sie untereinander wieder hübsch zugange gewesen«, sagte er grantig.

»Das kann eigentlich nicht sein«, sagte ich, »sie hungern erst seit vier Tagen.«

»Nun, und doch sind sie wieder übereinander hergefallen, sieh dir das an, wie vollgefressen sie daliegen und schlafen. Es sind abscheuliche Versuche.«

»Ganz deiner Meinung, aber wir hören bald damit auf, wir wissen inzwischen auch genug.«

»Gott sei Dank! Dann kann dieser riesige Käfig wenigstens weg. Man könnte ja einen Zwergelefanten darin unterbringen. Warum mußte das Ganze eigentlich so groß aufgezogen werden?«

»Weil wir dann höhere Subventionen bekommen.«

»Ja, aber die landen nicht in meinem Portemonnaie, und doch soll ich dabei mitmachen.«

»Also, weißt du was, von jetzt an machst du hierbei nicht mehr mit. Du versorgst alle unsere anderen Ratten außer diesen Kannibalen hier und unsere Spinnen und die Schildkröten und Albinet, und ich werde mich um diese Nager selbst kümmern. Sind übrigens noch junge Ratten geboren?«

»Ja, aber die habe ich schon an die Schildkröten verfüttert.«

»Komisch, daß du das nicht schlimm findest.«

»Nein, warum? Junge Ratten an Schlangen und Schildkröten zu verfüttern, das ist die Natur, aber Ratten in einen großen Käfig zusammenzusetzen und sie dann auszuhungern, um zu sehen, ob sie sich gegenseitig auffressen, das ist … das sind …«

»In der Natur kommt Kannibalismus bei Ratten übrigens auch vor.«

»Und doch bleibe ich dabei, daß wir das nicht im Labor nachzumachen brauchen. Warum arbeiten wir nicht mehr mit Spinnen? Du gabst ihnen ein bestimmtes Mittel, und sie bauten so ein eigenartiges Netz. Diese phantastischen Spinnweben, die hier früher hingen! Hinreißende Luftschlösser! Und Luftschlösser verlangen normalerweise hohe Unterhaltskosten, aber diese waren gratis.«

»Ja, gerade deshalb«, sagte ich, »wir mußten damit aufhören, weil es zuwenig kostete. Spinnen kannst du draußen fangen, außer den Schwarzen Witwen, aber die waren auch nicht teuer, und du brauchtest minimale Mengen. Unser Budget war einfach zu klein, und deshalb dachten die Kuratoren, daß wir hier nur herumhockten.«

»Und das, wo ich den Dreh so verflixt gut heraus hatte, wie man diese verrückten Spinnweben nachzeichnet.«

»Sicher, aber das war nicht deine Aufgabe, das brachte uns in die denkbar größten Schwierigkeiten, als hier jemand aus der Personalabteilung wegen deiner Stellenbeschreibung kam.«

»Genau«, sagte er, »deshalb mußten wir aufhören, mußte ich wieder Kötel wegräumen, es ging natürlich darum, daß sie mich nicht befördern wollten, daß ich im Tal bleiben und nie die andere Seite des Berges sehen sollte.«

»Hast du heute nacht das wahnsinnige Gewitter gehört?« fragte ich, um ihn abzulenken.

»Nein, nichts gehört, einfach durchgeschlafen, es ist mir recht, von jetzt an werden die Ratten in diesem Kannibalenkäfig nicht mehr von mir versorgt.«

Und so stand ich selbst vier Tage später, am Montagmorgen, in aller Frühe mit der Schwanzspitze einer jungen Ratte in der rechten Hand da, als die Tür zum Saal, in dem wir arbeiten, geöffnet wurde. Zwei Männer, ein Riese und ein Fettwanst, schauten herein. Alex stand am großen Bassin mit den Schildkröten. Über dem Bassin brannte eine mattrote Lampe, die seinen Zügen etwas Verbissenes verlieh. Eine der Schildkröten kam halb aus dem Wasser heraus und sperrte ihren Rachen weit auf. Schweigend starrten die beiden Besucher auf die rosafarbene, baumelnde junge Ratte, die Alex, mit dem Kopf nach unten, langsam in das weit geöffnete Maul gleiten ließ. Für einen Augenblick schloß das Monster Rachen und Augen; der kleine rosa Schwanz schlug hin und her und verschwand. Sogar als Alex eine zweite junge Ratte packte, bemerkte er noch nicht, daß die Besucher sich leise näherten. Rosig glänzte das noch unbehaarte Tierchen im Sonnenlicht. Wieder öffnete die Schildkröte lautlos ihren faltigen Rachen. Doch bevor Alex die junge Ratte hineingleiten ließ, erschrak die Schildkröte vor den schwerfälligen Männern. Verblüfft schaute Alex auf; beide Männer streckten ihre Hand aus, und es war geradezu, als hätten sie die Geste der Schildkröte abgeguckt, die gerade ihren Kopf mit dem langen Hals herausgestreckt hatte.

Der Riese brummte: »Merkwürdige Art der Geburtenkontrolle.«

»Ja«, sagte Alex, »aber Abtreibung ist noch immer verboten, also dann so.«

»Sind Sie Thomas Kuyper?«

»Nein«, sagte Alex, während er die junge Ratte in den jetzt wieder geöffneten Rachen gleiten ließ.

»Oh«, sagte der Riese erstaunt zu mir, »dann sind Sie …«

»Ja«, sagte ich.

»Wir würden gern kurz mit Ihnen reden. Paßt es Ihnen jetzt?«

»Hängt davon ab, worum es sich handelt«, sagte ich, »wenn Sie uns eine neue Apparatur …«

»Apparatur? Nein, nein, deswegen kommen wir keineswegs, es handelt sich um etwas ganz anderes, um etwas, das wir gern kurz mit Ihnen unter vier Augen besprechen möchten.«

»Wir können uns vielleicht hier nebenan hinsetzen«, sagte ich.

Ich ging ihnen in mein kleines Arbeitszimmer voran. In dem kahlen Raum erschien der Riese größer und der Fettwanst unheimlicher. Der Riese schlug seine Beine übereinander, als wäre er ein Seestern, und streckte mir eine große, haarige Klaue entgegen: »Lambert mein Name, und dies ist mein Kollege Meuldijk.«

Er wartete einen Augenblick, beugte sich ein wenig vor und sagte, während perlende Staubteilchen im Sonnenlicht davonflogen: »Wir hätten gern von Ihnen ein paar Informationen über Jenny Fortuyn. Sie ist nämlich, um Ihnen sofort zu sagen, was los ist, und Sie werden auch gleich merken, daß wir von der Polizei sind, seit ein paar Tagen verschwunden.«

»Verschwunden«, sagte ich, »aber das sagt doch nichts, sie hat überall Freundinnen und Freunde, sie kann an vielen Orten übernachten, sie war oft tagelang allein unterwegs.«

Meuldijk hob den Kopf, seine Brille glitzerte im Sonnenlicht. Auch Lamberts Augenbrauen hoben sich, und er sagte: »Ihre Eltern haben sich schon bei all ihren Freunden und Freundinnen erkundigt und …«

»Oh, aber sie hat so viele Freunde. Und unter ihnen gibt es welche, von denen ihre Eltern nichts wissen.«

»Sie zum Beispiel? Sie kannten sie erst seit kurzem, stimmt das?«

»Nein, ich kannte sie schon sehr lange, sie arbeitet seit Jahr und Tag in der Stadtbücherei, und dort sah ich sie immer, wenn ich Bücher auslieh und zurückbrachte.«

»Aber erst letzte Woche wurden Sie auch außerhalb der Bibliothek dauernd in ihrer Gesellschaft gesehen. So ist es doch?«

»Ja, ich habe in der letzten Woche ein paarmal mit ihr zusammen gegessen, und ich …«

Schweigend starrte ich in die freundlichen Gesichter mir gegenüber. Lambert verschob seinen Arm, und es kam eine Digitaluhr zum Vorschein, mit giftigen blauen Ziffern. Meuldijk nahm seine Brille ab und begann, sie in aller Ruhe zu putzen.

»Was Sie letzte Woche gemacht haben, ist weiter nicht von Bedeutung, es geht nur darum, daß sie verschwunden ist, während ihr Auto noch immer in der Gasse hinter der Bibliothek geparkt ist. Und ihren Eltern zufolge zog sie nie ohne ihre Ente los. Außerdem sind Sie wahrscheinlich der letzte gewesen, der sie gesehen hat. Sie ist in der Nacht verschwunden, als dieses schreckliche Gewitter war. In der ersten der beiden Gewitternächte, denn in der nächsten Nacht hatten wir auch so einen tropischen Schauer. Die erste Gewitternacht – wie spät war es, als Sie sie zuletzt gesehen haben?«

»Als wir das Café Pardoeza verließen, war es etwa drei Uhr, meine ich.«

»Und dann? Was haben Sie dann gemacht?«

»Uns verabschiedet. Sie ging auf ihr Zimmer, ich nach Hause.«

»Genau. Vielleicht eine seltsame Frage oder vielleicht auch nicht, es war ja schon weit nach Mitternacht, warum brachten Sie sie nicht nach Hause?«

»Weil sie das nicht wollte.«

»Aber konnten Sie es verantworten, sie allein durch all diese dunklen Gassen nach Hause gehen zu lassen?«

»Ja, warum nicht? Sie war oft allein im Pardoeza und ging dann auch oft, wenn dort geschlossen wurde, allein nach Hause.«

»Was trug sie?«

»Was für Kleider trug sie?« ergänzte Meuldijk, eifrig nickend, während er Kondenswasser von seinen Brillengläsern abwischte.

»Sie trug eine blaue Jacke mit einer kleinen Schlange darauf, eine Brosche in Form einer kleinen Schlange und einen blaugrau karierten Rock, der völlig abgetragen war, und ziemlich lange Ohrringe und einen weißen Pullover unter ihrer Jacke und … und … nein, das ist alles.«

Ich wußte, daß ich etwas vergessen hatte, und ich schaute auf die Kleidung der beiden Herren mir gegenüber, um daran abzulesen, was ich weggelassen haben könnte.

»Sie trägt keine Brille«, sagte ich zu Meuldijk, und fast hätte ich auch zu Lambert gesagt: »Sie hat keinen Nietzsche-Schnurrbart.«

Mein Blick wanderte an Lamberts Kopf und Schnurrbart entlang abwärts.

»Sie trug ein Kettchen um den Hals, ein kleines, versilbertes Kettchen.«

Mein Blick wanderte hinab bis zu Lamberts haariger Klaue, die leise auf meinen Schreibtisch trommelte.

»Sie hatte gerade an dem Tag ihre ungewöhnlich langen Nägel abgeschnitten«, sagte ich, »aber das ist natürlich nicht so wichtig.«

»Jedes Detail ist nützlich«, sagte Lambert, »aber kurze Nägel sind nicht interessant für eine Personenbeschreibung, sehr lange natürlich durchaus.«

Mein Blick wanderte hinab bis zu Lamberts Knien. Der Rest seines Körpers verschwand hinter meinem Schreibtisch.

»Wir werden die Personenbeschreibung verbreiten lassen«, sagte Meuldijk, »und dann wollen wir hoffen, daß sie schnell wiederauftaucht. Haben Sie ihr vielleicht noch nachgesehen, nachdem Sie sich von ihr verabschiedet hatten?«

»Ja«, sagte ich, »sehr lange sogar. Bis sie über die Brücke gegangen war.«

»Und nichts Besonderes gesehen?«

»Nein, sie ging ruhig nach Hause.«

Ohne einander ein Zeichen zu geben, standen die beiden Männer gleichzeitig auf. Meuldijk öffnete die Tür meines Zimmers. Er lief quer durch eine sonnige Staubbahn hindurch, so daß die schlafenden Ratten für einen Augenblick im Dunkeln waren. Albinet, das weiße Meerschweinchen, verschluckte sich an einem Stückchen Kohlstrunk. Grüne Schlangen schlummerten auf kahlen Ästen, die quer durch ihre Käfige verliefen. Alex war nicht da, wahrscheinlich war er in der Cafeteria.

»Was sind das für dunkle Hätscheltiere in dem großen Käfig dort?« fragte Lambert.

»Ratten«, sagte ich.

Lambert ging zu einem Terrarium, hob den Deckel an und fragte: »Was haust hier drin?«

»Vorsicht«, rief ich, »darin sitzen kleine, sehr giftige Spinnen.«

»Nicht sehr vernünftig, die dann frei und offen hier stehen zu lassen«, sagte er, »ich würde zumindest ein Schloß an den Deckel machen.«

»Ja«, sagte ich, »das muß auch gemacht werden, vor allem, da jeder, der zum erstenmal hierherkommt, den Deckel hebt und seine Hand hineinsteckt.«

»Jenny auch?« fragte Lambert beiläufig.

»Ja«, sagte ich, und ich fühlte, wie mein Gesicht rot wurde, und ich sagte: »Aber es ist noch nie ein Unglück passiert. Erst wenn man zwischen den Steinen wühlt, kommen die Spinnen zum Vorschein.«

Nachdenklich ging Lambert zu einem Käfig mit Rattenweibchen. Mit seinem Zeigefinger tippte er gegen die Gitterstäbe. Ein schwangeres Weibchen umklammerte mit den Vorderpfoten die Stäbe. Vorsichtig streichelte Lambert das Näschen der Ratte, und sie biß, weil schwangere Weibchen immer beißen.

»Mein Gott«, rief Lambert, »sie hat mich gebissen.« Alex kam in den Saal, sah sofort, was passiert war, und lief schnurstracks zu einem Wandschränkchen, in dem das Jod verwahrt wurde.

»Verdammt schmerzhaft«, sagte Lambert, an seinem Finger saugend.

»Ach«, sagte Alex, als er einen Tropfen Jod auf den Finger strich, »ich sage nur immer mit Florence Nightingale: Wenn es keinen Schmerz gäbe, hätten wir auch keine Möglichkeit zu helfen, und was sollten wir dann tun?«

3

Die Beine unter sich gekreuzt, saß Leonie in unserem gemütlichsten Sessel. Sie las die Lokalzeitung, die den Bericht enthielt. Aber wie es schien, war sie noch nicht so weit. Während ich ab und zu heimlich über den Rand meiner überregionalen Abendzeitung, die den Bericht glücklicherweise nicht enthielt, ihr klares, ruhiges Gesicht betrachtete, dachte ich an eine amerikanische Studie, wonach Studentinnen in Universitätsbibliotheken viel öfter mit untergeschlagenen Beinen sitzen als Studenten. Und das hängt nicht davon ab, ob diese Mädchen einen Rock tragen oder nicht. Nein, diese Fötushaltung, wie der Forscher sie genannt hatte, wurde von Frauen bevorzugt. Anerzogen natürlich, dachte ich, Mädchen läßt man in ihrer Kindheit so sitzen, Jungen nicht. Auf diese Weise müssen heutzutage die Unterschiede zwischen Mann und Frau erklärt werden. Und dann dachte ich: Und es wird Frauen auch immer eingeredet, daß sie schrecklich gern Mutter werden wollen. Daher sehnt Leonie sich nach nichts anderem. Wieder betrachtete ich über den Rand meiner Zeitung ihr recht breites, flaches Gesicht und ihre hohen Wangenknochen, und ich hörte einen meiner früheren Freunde neidisch sagen: »Wenn man Leonie ansieht, ist es gerade so, als ob alle Probleme für immer gelöst wären, wenn man nur ein einziges Mal mit ihr ins Bett dürfte.«

»Aha«, hatte ich gesagt, »und warum, bitte?«, und er hatte gesagt, geflüstert: »Weil sie so unsagbar schön … nein, das ist es nicht, weil sie mich immer an eine große braune Schwebefliege erinnert, die im Sommersonnenlicht unbeweglich auf einer Stelle in der Luft bleibt und die an ihrem eigenen Flug, der sie nirgendwohin bringt, für immer genug zu haben scheint.«

Aber sie ist längst nicht mehr so schön wie damals, und sie hat an ihrem eigenen Flug nicht genug, dachte ich, während ich ihr welliges dunkelbraunes Haar betrachtete, sie sehnt sich leidenschaftlich nach Kindern, genau wie ich früher. Doch ich sehne mich nicht mehr, ihr Sehnen reicht für mehr als für uns beide, und ich dachte auch: Ob Menschen, die Kinder haben oder keine Kinder wollen, wohl jemals begreifen können, wie es ist, wenn man keine Verhütungsmittel braucht, sondern sich allein wegen der Nachkommenschaft lieben muß, daß man dann nämlich einen solchen Abscheu davor bekommen kann und nicht mehr mit seiner Frau ins Bett will? Ich sah die Temperaturkurven vor mir, an denen man ablesen konnte, wann die Ovulation stattgefunden hatte oder stattfinden würde, und an den Tagen hatte ich, sozusagen auf Kommando, mit ihr ins Bett gehen müssen, weil dann, dem Gynäkologen zufolge, die Chance am größten war, daß eine Befruchtung stattfinden würde. Und dadurch war ich, es ist nun schon wieder Jahre her, nicht mehr wirklich fähig gewesen, mit ihr zu schlafen, es sei denn, wir (und wer würde das jemals glauben können, der das nicht selbst erfahren hätte?) benutzten ein Kondom. Nur dann richtete er sich auf.

Dennoch war Leonie – es war schon wieder fast zwei Wochen her – zu ihrer behinderten Mutter gefahren, um in ihrer Heimatstadt einen neuen, berühmten Gynäkologen zu konsultieren. Und der hatte ihr, indem er nicht sofort »nein, es ist unmöglich« gesagt hatte, doch wieder Hoffnung gemacht, so daß die hellbraunen fröhlichen Pünktchen in der Iris ihrer Augen glänzten und sie wieder angefangen hatte, ihr Haar offen zu tragen. Sie schaute von ihrer Zeitung auf. »Warum siehst du mich so an?« fragte sie.

»Weil du mit deinen kurzen, offenen Haaren so ganz anders aussiehst«, sagte ich.

»Besser oder schlechter?«

»Anders«, sagte ich.

Sie las wieder weiter, und ich dachte: Hätte ich mich, wenn nicht diese Kinderlosigkeit zwischen uns stehen würde, je nach einer anderen gesehnt? Ich wußte, daß das zwar etwas damit zu tun hatte, daß ich mich aber aus anderen – tieferen – Gründen in Jenny verliebt hatte. Als ich sie zum erstenmal in der Bibliothek sah, hatte ich fasziniert auf ihre schwarzen Vogelklauen gestarrt, überrascht, daß ein solches Detail soviel an Abscheu grenzende Erregung verursachen konnte. Später, als ich sie kennengelernt hatte, war ich ebenso fasziniert von ihren Launen und ihrer Reizbarkeit, die so ganz anders waren als Leonies, in Nietzsches Worten, »gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele«, bei der man nicht vor »Tücken und plötzlichen Wutausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte«.

Leonie streckte ihre Beine, erhob sich aus ihrem Sessel und kam mit der aufgeschlagenen Zeitung auf mich zugelaufen. Sie zeigte auf ein Foto, sagte: »Das ist doch das Mädchen aus der Bibliothek?«

Um mich nicht zu verraten, nickte ich nur und sah aufmerksam das Foto an, auf dem sie reizvoller aussah, als sie in Wirklichkeit gewesen war.

»Zum letztenmal gesehen in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, den 1. August, sie trug damals eine blaue Jacke, einen weißen Pullover, lange Ohrringe, ein silbernes Kettchen, einen blaugrauen, karierten Rock«, las Leonie sachlich vor.

Leise fügte ich hinzu: »Und weiße Stiefel«, und begriff sofort, daß es das war, was ich vergessen hatte, als Lambert mich verhörte.

»Was sagtest du?« fragte Leonie.

»Daß sie es ist, das Mädchen aus der Bibliothek«, sagte ich.

»Nein, du sagtest etwas anderes.«

»Ja, ich sagte so etwas wie: Ach, ich habe sie vor ein paar Wochen noch in der Bibliothek gesehen.«

»So ein langer Satz war das nicht.«

»Nein, vielleicht dachte ich das nur.«

»Du sagtest etwas mit dem Wort ›weiß‹ darin.«

»O ja, das war es, sie trug fast immer weiße Stiefel, und das sagte ich, weil ich erwartete, daß du das auch vorlesen würdest.«

»Nein, davon steht da nichts. Aber es wundert mich nicht, daß sie verschwunden ist. Sie nahm Drogen, sie roch nach Drogen.«

»Ist das nicht ihre eigene Sache?«

»Natürlich.«

»Dabei fällt mir ein«, sagte ich, »ich muß noch zwei Bücher in die Bibliothek zurückbringen, sonst muß ich Mahngebühr zahlen.«

Wenig später lief ich durch die staubigen, sonnigen Straßen der Stadt. In den Grachten war es ungewöhnlich still; die Studenten verbrachten ihre Ferien woanders. Die normalen Bürger tranken drinnen in den Häusern ihren ersten Abendkaffee.

Eilig ging ich am Pardoeza vorbei und folgte von dort ihrem Weg. Über die Brücke und an der Kirche entlang erreichte ich das Gäßchen mit dem Kopfsteinpflaster, das sich zwischen den von Mauern umgebenen Gärten der Herrenhäuser zur Bibliothek schlängelte. Sobald ich die runden Steine unter meinen Schuhen spürte, begann ich, langsamer zu gehen. Auf halbem Wege dort, wo es passiert war – blieb ich stehen und blickte die Glasscherben auf einer dieser niedrigen Gartenmauern an. Sie warfen das Sonnenlicht zurück, und wieder sah ich, was ich, als es passierte, zum erstenmal gesehen hatte: Daß alle diese Glasstückchen von einem alten Spiegel stammen mußten. In jeder Scherbe sah man einen Teil der Welt, aber verzerrt, weil sie entweder nach außen oder nach innen gewölbt war. Und an jenem Abend hatte ich viele verschiedene Jennys in den Scherben gesehen, mit dem späten Sonnenlicht auf den vielen Gesichtern, und alle diese Jennys hatten sich vorsichtig zu mir hingebeugt, und ich konnte mich nicht satt sehen an der beinahe ekstatischen Glut auf all diesen Gesichtern und auf all diesen geschlossenen Augen, und ich selbst hatte der Versuchung widerstehen müssen, auch meine Augen zu schließen, als sie mich küßte. Und ich wußte, daß ich das nie wieder vergessen würde, nicht nur, weil sie einen Augenblick später triumphierend gesagt hatte: »Menschenskind, wie klappt das gut mit uns«, sondern auch, weil ich bei diesen Spiegelscherben immer an diese eine Zeile aus dem kurzen Gedicht von Leigh Hunt hatte denken müssen: »Jenny kissed me when we met.«

Über die Mauer schlang sich hier und dort ein Efeutrieb durch das Glas hindurch. An jenem Abend hatten sie ausgesehen wie kleine Fangarme. Jetzt schienen sie schnell zu wachsen, schienen die Glasscherben wegschieben zu wollen. Langsam ging ich weiter, war immer nahe daran zu summen: »Jenny küßte mich, als wir uns trafen«, und schließlich wiederholte ich dann auch das Ende des Gedichts: »Say I’m weary, say I’m sad, Say that health and wealth have missed me, Say I’m growing old, but add, Jenny kissed me.«[13] Dann dachte ich: Es steht nur ein einziges kurzes Gedicht von diesem Leigh Hunt in The Golden Treasury von Palgrave. Vielleicht hat er nur diesen kleinen Vers geschrieben, um die einzige Erfahrung, auf die es ihm ankam, in den Worten auszudrücken: »Jenny küßte mich.« Vielleicht ist er nicht einmal mit ihr im Bett gewesen; vielleicht hat er sie nur geküßt, und doch konnte er da schon sagen: »Sag, daß ich müde bin und traurig, sag, daß Gesundheit und Reichtum mir versagt sind, sag, daß ich alt werde, aber füge hinzu: Jenny küßte mich.«

Ein Stück weiter, dort, wo etwas größere Scherben auf der Mauer lagen, sagte ich leise: »Und hier habe ich an demselben Abend Hundedreck von ihren Schuhen abgewischt, und sie hat mich dann noch einmal geküßt.«

Noch immer lag überall auf dem Kopfsteinpflaster Hundekot. Noch immer mußte ich vorsichtig gehen, mußte ich stehenbleiben, wenn ich sehen wollte, wie der Abendhimmel sich in dem Glas auf der Mauer widerspiegelte, und nochmals hörte ich sie sagen: »Nun mußt du meinen Schuh saubermachen, denn es ist deine Schuld.«

Mit einem Stück Zeitungspapier, das dort herumlag, hatte ich ihren Schuh saubergemacht, und beinahe hätte ich jetzt, wo ich allein durch diese Gasse lief, meinen eigenen Schuh mit Kot beschmutzt, um einen Vorwand zu haben, nicht in die Bibliothek hinaufgehen zu müssen. Aber ich konnte es einfach nicht lassen; ich mußte kurz in ihr Zimmer schauen. Schweren Herzens stieg ich die Treppe hinauf, ging durch einen schmalen Flur am Zeitungssaal entlang, ging durch eine kleine Kammer, von der aus man in einen anderen Flur kam, wo eine Leiter schräg unter einer Luke aufgestellt war. Die Luke war geschlossen. Warum konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, schnell die Leiter hinaufzusteigen und die Luke aufzustoßen?

Die Rolle, die das Kontergewicht hielt, quietschte, und jemand schien den Fuß von der Luke zu nehmen. Es waren Männerstimmen zu hören. Als ich die Luke wieder zuziehen wollte, hinderten mich mindestens zwei Hände daran, und die zogen die Luke schnell hoch. Im Halbdunkel sah ich zuerst nur den herabbaumelnden, schlecht geknoteten Schlips von jemandem, der sich weit vorgebeugt hatte.

»Guten Abend«, sagte Lambert, »welch eine Überraschung!«

Ich nickte stumm, brachte dann heraus: »Ist sie schon zurückgekommen?«

»Nein, aber kommen Sie erst einmal herauf.«

»Ach, das ist nicht nötig, ich wollte nur kurz sehen, ob sie vielleicht schon zurück ist, ich mußte ohnehin wegen ein paar Büchern vorbeikommen.«

»Und doch wäre es nett, wenn Sie noch etwas weiter heraufkämen. Es gibt noch ein paar offene Fragen.«

»Gut«, sagte ich und stieg die Leiter hinauf, richtete mich zwischen den beiden gebückt dastehenden Kriminalbeamten auf, die sich in demselben Tempo, wie ich hinaufkletterte, aufrichteten, so daß wir wie ein Mann gleichzeitig hochkamen.

»Nun siehst du doch wenigstens, daß es wahr ist, sie kommen immer an den Ort ihres Verbrechens zurück«, sagte Lambert vergnügt zu Meuldijk.

Als ich auf dem Korbstuhl saß, auf dem ich schon so oft gesessen hatte, sagte Lambert: »Es sind ein paar merkwürdige Dinge ans Licht gekommen. Erstens ist es ziemlich sicher, daß sie in der Nacht vom 31. auf den 1. nicht mehr zu Hause gewesen ist. Weil es so donnerte und goß, hat das andere Mädchen, das hier über der Bibliothek wohnt, mitten in der Nacht überall Töpfe und Eimer aufgestellt, um das heruntertropfende Himmelswasser aufzufangen. Während sie damit beschäftigt war, sah sie, daß die Tür zum Zimmer von Mejuffrouw E offenstand, und sie hat vorsichtig hineingeschaut. F. war nicht zu Hause. Sie ist auch danach nicht mehr zu Hause gewesen, denn ihre Dachbodengenossin, sage ich mal, ist bis zum Morgengrauen aufgeblieben, um das Wasser in allen verfügbaren Töpfen aufzufangen. Auch am nächsten Tag ist sie zu Hause geblieben, und die ganze Zeit über hat sie Mejuffrouw E nicht gesehen. In der nächsten Nacht donnerte es wieder, und die Dachbodenfreundin hat Mejuffrouw E auch da nicht zu Hause angetroffen. Ihre Katzen sind seit dem 1. August nicht mehr versorgt worden. Mit anderen Worten: Mejuffrouw F. ist verschwunden, nachdem Sie sie zuletzt gesehen haben. Daß sie danach Freunde besucht haben soll, ist höchst unwahrscheinlich, weil sie sonst doch zuerst von hier Kleidung und Toilettensachen mitgenommen hätte, meinst du nicht auch, Krijn?«

»Ja«, sagte Meuldijk, der diesmal eine dunkle Brille trug.

»Aber ist es nicht möglich, daß sie mitten in der Nacht von jemandem aufgegabelt worden oder mit jemandem mitgegangen ist? Sie hatte so viele Freunde«, sagte ich.

»Ja, das haben wir inzwischen allerdings auch herausgefunden. Aber um drei Uhr nachts laufen auch die Freunde eines solchen Mädchens nicht scharenweise auf der Straße herum. Sehen Sie, das einzige Café, das noch offen hatte, war das Pardoeza, und wenn unsere Angaben richtig sind, haben Sie mit ihr kurz vor drei Uhr, zur Sperrstunde, das Café verlassen. Um vier Uhr ist das Gewitter mit voller Wucht losgebrochen. Da mußte sie schon irgendwo ein Dach über dem Kopf haben. Man läuft bei einem solchen Guß nicht draußen herum, wenn man so nahe wohnt. Aber gut, erzählen Sie uns erst mal, mit welchen Freunden sie sich in der letzten Woche getroffen hat.«

»Sie war«, sagte ich, »gut befreundet mit einem Brasilianer, der sie nachts immer anrief, um zu fragen, ob er kommen dürfe.«

»Nachts? Waren Sie nachts denn auch hier?«

»Nein, nein, aber das erzählte sie mir immer. Sie fand es ziemlich lästig. Früher war er ein guter Freund gewesen, aber jetzt … naja, so geht das.«

»Und weiter?«

»Weiter habe ich hier Robert kennengelernt, einen Juristen.«

Ich wartete einen Augenblick, schaute Lambert an, der auf dem hohen Ölofen saß und trotzdem noch immer mit seinen Füßen die Quadrate des Strohteppichs berührte. Warum fragten sie nicht nach seinem Zunamen?

»Ich nehme an«, sagte Lambert, »daß der Brasilianer nicht kommen durfte, wenn Sie schon hier waren.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich überhaupt nicht hier war, sondern daß sie mir erzählte …«

»Ach, kommen Sie, ist schon gut. Und die anderen Freunde?«

»Ja, noch ein Psychiater, den ich nie gesehen habe, ebensowenig wie den Brasilianer übrigens, aber dieser Psychiater hatte sie nach einem Selbstmordversuch behandelt, und seitdem sind sie Freunde. Und dann noch ein Journalist, der bei der Zeitschrift Zero arbeitet, und einer aus der Pop-Szene, mit dem sie, wenigstens erzählte sie mir das, Marihuana rauchte und ein paarmal Kokain schnupfte, und weiter Dutzende von Freundinnen, die sie im Frauenhaus kennengelernt hatte. Aber von denen weiß ich nichts.«

»Wenn ich richtig verstehe«, sagte Lambert, »haben Sie von all diesen Freunden nur einen hier gesehen.«

Drohend zuckte sein linkes Bein. Meuldijk lächelte.

»Jawohl«, sagte ich, »nur Robert habe ich hier gesehen.«

»Welchen Eindruck hat sie nun eigentlich auf Sie gemacht?«

»Ein unheimlich nettes Mädchen, und außerdem unheimlich anziehend, Sie haben ja selbst ihr Foto gesehen, aber sie war auch, ja, wie soll ich es sagen, sie war auch ein bißchen …«

»Verlottert?«

»Nein, das nicht, heruntergekommen vielleicht, nicht verlottert.«

»Was meinen Sie? Spritzte sie?«

»Das weiß ich nicht, aber es könnte schon sein, denn …«

»Denn …?«

»Ach, das darf ich nicht sagen, weil ich dafür keine konkreten Hinweise habe.«

»Dann formulieren Sie es eben abstrakt. Meuldijk, dies nicht protokollieren, das erleichtert es Meneer K. vielleicht, seinen Satz zu vollenden.«

Erwartungsvoll und eher väterlich als streng schaute Lambert mich an. Seine langen Beine bewegten sich langsam vor dem Ölofen hin und her, und seine Schnurrbartspitzen wiegten sich in demselben Rhythmus mit.

»Von Haus aus bin ich Pharmakologe«, sagte ich, »und ich habe ziemlich viele Versuche mit Ratten gemacht, die mit stark betäubenden Medikamenten gespritzt wurden. Bevor sie völlig betäubt waren, gab es eine Phase, in der sich ihre Aufmerksamkeit verringerte. Sie nahmen nicht mehr wahr, was in der Außenwelt passierte. Und das war bei ihr genauso, ihre Aufmerksamkeit war eingeschränkt, aber das kann ja auch in ihrem Charakter gelegen haben.«

»Interessant! Hörst du das, Krijn, was für ein Fachwissen! Die meisten Menschen sehen schon an einem nackten Bein oder einem nackten Arm, ob jemand spritzt. Aber Meneer hier … Paß auf, weißt du, es kann ja auch sein, daß Meneer hier vielleicht gar nicht erzählen will, daß er die Einstichstellen gesehen hat, weil er dann denkt, wir könnten denken, daß er … tja, tja, tja …«

Er schloß kurz die Augen, stieß sich, die Hände auf dem Ofen weit gespreizt, für einen Augenblick hoch und wiegte seinen großen Körper hin und her. Dann öffnete er die Augen, blickte mich direkt an und fragte: »Warum mochten Sie sie eigentlich so gern?«

Wenn Meuldijk nicht da gesessen und protokolliert hätte, würde ich es ihm vielleicht gebeichtet haben, aber im Beisein von Krijn konnte ich nichts von ihrer Launenhaftigkeit erzählen, von ihrem fröhlichen, sorglosen, immer irgendwie kichernden Lachen, von ihren langen, meistens schwarzlackierten Fingernägeln, von der rätselhaften Tatsache, daß ihr Spiegelbild mich zu Tränen rührte, und nicht einmal, wenn ich mit Lambert allein gewesen wäre, hätte ich »Jenny kissed me«[14] über die Lippen bringen können, und daher sagte ich nur: »Sie war jung und schön.«

Lambert nickte, fragte dann beiläufig: »Woran forschen Sie zur Zeit?«

»An der Relation zwischen Hunger und Durst und dem Kannibalismus bei Ratten.«

»So, dieser Satz sitzt, den haben Sie öfter gesagt. Aber warum sind Sie als Pharmakologe gerade daran interessiert?«

»Weil es mir die Gelegenheit bietet zu erforschen, ob es Medikamente gibt, die den Kannibalismus stimulieren.«

»Können Sie uns das bitte etwas näher erklären?«

»Nun, sehen Sie«, sagte ich, »wenn man hundert Ratten zusammensperrt und sie nicht füttert, werden sie nach fünf Tagen zu Kannibalen. Was mich interessiert, ist, ob man ihnen irgendeinen Stoff spritzen kann, der sie zum Beispiel schon nach einem Tag übereinander herfallen läßt. Gesetzt den Fall, man findet eine solche Droge – das wäre ein Durchbruch in der Rattenbekämpfung.«

»Na, Krijn, davon werden wir auch nicht klüger. Erzählen Sie uns lieber mal, in welche Cafés sie normalerweise ging.«

»Ins L’Espérance, ins Café Het Gerecht, ins Café Den Uyl, in De Bonte Koe, oft in De Twee Spiegels, und wenn alle anderen um ein Uhr schlossen, ging sie meistens noch ins Pardoeza.«

»Sie sind mit ihr in all diesen Cafés gewesen?«

»Ja, aber meistens im Pardoeza und in De Twee Spiegels.«