Thilo Sarrazin

»Wir schaffen das«

Erläuterungen zum politischen
Wunschdenken

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Teile des Textes wurden bereits in dem Buch
»Wunschdenken« (2016, DVA) veröffentlicht.

© 2021 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8413-6

www.langenmueller.de

Inhalt

Prolog

KAPITEL 1
Angela Merkels Kanzlerschaft: Eine Fallstudie

Aufstieg und Kanzlerschaft im Überblick

Leistungsbilanz früherer Bundeskanzler

Die Personalpolitik Angela Merkels

Angela Merkel und das Meinungsklima in Deutschland

Das Dilemma des Erbes und der Nachfolge

Die Bilanz der verpassten Möglichkeiten

KAPITEL 2
Das Moralische in der Politik

Der vorrationale Charakter politischer Grundeinstellungen

Politik und Religion

Politik und Gefühl

Politik und Philosophie

Politik und Freiheit

Politik und materielle Güter

Politik und Utopie

Politik und Verbrechen

Politik und Legitimation

Politik und Recht

Politik, Konformität und Opportunismus

KAPITEL 3
Das Menschliche in der Politik

Politik als Beruf

Politik und Intelligenz

Politik und Eitelkeit

Politik und Erotik

Politik und Sucht

Politik und Treue

Politik und Freundschaft

Politik und Klientel

Politik und Korruption

KAPITEL 4
Das Handeln in der Politik

Politik und Macht

Politik und Demokratie

Politik und Strategie

Politik und Torheit

Politik und Verblendung

Politik und Krise

Der politische Kairos

Politik und Gewalt

Politik und Wahrheit

Politik und Wissenschaft

Politik und Logik

KAPITEL 5
Politik und Gesellschaft

Politik und Nation

Politik und Weltgesellschaft

Politik und Medien

Politik überall

Anmerkungen

Personenregister

Prolog

Als im Spätsommer 2015 die damalige Flüchtlingskrise ihrem ersten Höhepunkt zustrebte, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August vor der Bundespressekonferenz: »Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!« Der Satz bekam Flügel und wurde seitdem von vielen in Kritik und Zustimmung über Jahre hinweg bis zum Überdruss variiert und wiederholt.

»Wir schaffen das« ist ein schillernder Begriff. Ermunterung, Utopie und Missbrauch liegen bei seiner Verwendung dicht beieinander. Viele Feldherren feuerten mit ähnlicher Wortwahl vor der Schlacht ihre Truppen dazu an, ihr Äußerstes zu geben. Auch Joseph Goebbels hielt am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast nach der Niederlage von Stalingrad eine »Wir schaffen das«-Rede, und ungezählte Fußballtrainer haben ihren verzagten Mannschaften während der Pause in der Mannschaftskabine mit solchen und ähnlichen Formulierungen Mut zugesprochen. Wo man kämpfen soll, darf man nicht an die Niederlage glauben, und da sind solche und ähnliche Formulierungen schnell zur Hand.

Die Amerikaner nennen das Pep Talk, und die dabei benutzten Redefiguren sind zunächst einmal wertfrei. Sie können für gute und schlechte Ziele, für reale und irreale Strategien, für utopische und realistische Konzepte, für kontroverse und einvernehmliche Politiken eingesetzt werden.

Angela Merkel verwendete die Metapher wenige Tage, bevor sie die Grenzen endgültig öffnete und mit deutscher Willkommenskultur eine europäische Krise auslöste. Ihre diesbezügliche Politik, wie immer man zu ihr steht, enthielt einen utopischen Überschuss, und mit diesem utopischen Überschuss ist der Satz »Wir schaffen das« seitdem untrennbar verbunden.

Die Bundeskanzlerin stellte den Begriff prominent in den Mittelpunkt ihres politischen Aufrufs, mit dem sie im Herbst 2015 ihre Entscheidung zur Grenzöffnung für Millionen Flüchtlinge und illegale Einwanderer vor der Öffentlichkeit verteidigte. Er steht aber auch symbolisch für die Richtung und das Scheitern anderer »großer« Entscheidungen in ihrer Regierungszeit wie:

Utopie und Wunschdenken sind aber nur zwei der vielen Aspekte von Politik, auch wenn sie zu den gefährlichsten gehören. Das Politische wirkt in viele Bereiche hinein, und so entsteht in seinem Umfeld eine verwirrende Vielfalt von Bezügen. Diese ähneln einem Spinnennetz, und man würde sie stellenweise zerstören, wenn man sie nach Belieben oder eng nach einer vorgegebenen Idee anordnet. Auf diese Vielfalt der Blickwinkel und Bezüge gehe ich nachfolgend ein und stelle dort Zusammenhänge her, wo dies erhellend ist. Man muss aber immer im Auge haben, dass auch und gerade das Zusammenhanglose, Erratische, Widersprüchliche zum Wesen von Politik gehört. So vertragen sich Machtgewinn und Machterhalt häufig schlecht mit ehernen Prinzipien. Dem Reichskanzler Bismarck wird das Bonmot zugeschrieben, dass ein Politiker mit Prinzipien einem Mann gleiche, der mit einer quer auf den Rücken gebundenen Bohnenstange durch einen Wald gehen wolle.

Wo sich Katastrophen ereignen, wo der technische Fortschritt die Produktionsverhältnisse umstülpt oder ganz einfach die Bürger andere Bedürfnisse entwickeln, wird und muss auch der demokratische Politiker reagieren und notfalls seine Ziele und Meinungen ändern, wenn er die Macht gewinnen und erhalten will.

Politik wird deshalb auch in der Hand wohlmeinender Machthaber schnell prinzipienlos. Und wo die Machthaber vor allem auf Macht und persönlichen Vorteil aus sind, kann ihre Politik auch zynisch und gewissenlos werden. Die Übergänge sind gleitend und die Versuchungen groß – auch dort, wo im Grundsatz demokratische Kontrolle durch gewählte Parlamente, eine gesetzestreue Verwaltung und eine unabhängige Justiz herrschen.

Ausgangspunkt für den Text dieses Essays sind die allgemeinen Betrachtungen zur Politik, die ich 2016 im Anhang zu Wunschdenken zusammengefasst hatte. Die 16 Jahre währende Kanzlerschaft Angela Merkels, die im Herbst 2021 zu Ende geht, liefert mit ihren Brüchen, Wendungen und einer sich zunächst unmerklich vollziehenden grundsätzlichen Kursänderung anschauliche Beispiele für das Irrlichternde und Inkonsequente, das politischen Prozessen häufig anhaftet. An die Spitze dieses Buches habe ich deshalb einen Rückblick auf Angela Merkels Regierungszeit gestellt.